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Geschichte

Die Gebirge sind stumme Meister und machen schweigsame Schüler. (Johann Wolfgang Von Goethe)

Kein Satz könnte die Atmosphäre an den von uns so sehr geliebten Berghängen besser beschreiben. Auf der einen Seite sie, die Berge, unsere undurchschaubaren Meister. Egal ob rau und steil, oder sanft und von Wäldern und Büschen bedeckt, nie werden sie aufhören, uns etwas beizubringen, auch nach tausend Besteigungen nicht und auch nicht, wenn wir der Überzeugung sind, sie beherrschen zu können. Auch die Apuanischen Alpen gehören zu diesen Bergen: ihre unbestrittene Einzigartigkeit verleiht ihnen seit jeher einen tiefgehenden Romantizismus. Ihr für einen Apenninengrat so untypisches Profil erinnert vielmehr an ein Zucken in einem, seit langem regelmäßig verlaufendem Elektrokardiogramm. Die Rebellion einer Natur, die es leid ist, sanfte Linien zu zeichnen, die nur für einen kurzen Moment aufgewacht ist und uns raue Gipfel mit faszinierenden Formen geschenkt hat. Wie die Buckel des Monte Cavallo, die beeindruckenden Türme des Corchia und das Fenster des Forato. Oder wie der Procinto, der „Pannettone“, wo die Inspiration der Natur einen sehr fruchtbaren Boden gefunden zu haben scheint und mitten im Wald einen riesigen Felssporn emporragen lässt. Sie alle stehen im Schutz des Königs (der Pisanino) und der Königin (die Pania), majestätische Pyramiden, die in ihrer Ästhetik den berühmten Alpengipfeln in Nichts nachstehen. Auf genau diesen Gipfeln haben schweigsame Schüler ihre Spuren hinterlassen, mit Routen, die uns auch heute noch tolle Erlebnisse bescheren. Es sind die Geschichten großartiger Alpinisten, die in diesen Bergen ihr Glück versuchten; Berge, die wegen ihrer besonderen Morphologie und Geologie als „schlüpfriger Kalkstein mit Hang zur Verkarstung“ stets eine faszinierende Herausforderung darstellte. Die Protagonisten der ersten Besteigungen sind Aristide Bruni, Efisio Vangelisti und Angelo Bertozzi (Erstbesteigung des Procinto), Emilio Quésta (Winterbegehung auf die Pania Secca und Besteigung des gleichnamigen Gipfels) und Lorenzo Bozano (Erstbesteigung von Contrario und Cavallo). Die ersten Versuche, die Nordwand des Pizzo d’Uccello zu bezwingen gehen auf das Konto der Genueser A. Sabbadini, A Daglio und A. Frisoni, und schließlich

Ende der 40er Jahre ↓

die Brüder Sergio und Vinicio Ceragioli, wahrhaftige Legenden des damaligen Alpinismus: ihnen verdanken wir die Besteigung der Nordostkante des Procinto, der erste V. Grad in den Apuanen, und die Route in der Westwand des Pannettone. Die alpinistischen Unternehmungen der Gebrüder Ceragioli führte außerdem zu der Erschließung zweier wichtiger Linien: die gleichnamige Route in der Westwand des Monte Contrario und die Westkante des Monte Penna di Sumbra, die auch heute noch ein Klassiker für zahlreiche Alpinisten ist. Die Erschließung (10. Juni 1935) war für damalige Verhältnisse eine schwierige Unternehmung und zudem, nach der Besteigung der Genueser Alpinisten, eine der ersten Besteigungen der Nordwand des Pizzo d’Uccello. Auf Basis der Linie, die die Gebrüder erschlossen hatten, entstand im Jahr 1940 die Route Oppio-Colnaghi (der Lombarden Nino Oppio und Serafino Colnaghi), die heut die am meisten genutzte Linie ist, um die steile Nordwand des Pizzo zu bewältigen. Beginnend mit den ersten Seillängen dieser berühmten Routen erschließen die Alpinisten Nerli, Biagi und Zucconi die gleichnamige Route (genannt auch die Via dei Pisani), die mit der zuvor genannten Linie auch den letzten Abschnitt gemeinsam hat. Angelo Nerli, der zahlreiche Routen in den Apuanen erschlossen hat (darunter der Canalino Nervi, zauberhafte Linie in der Nordost des Grondilice, die Route Nerli-Amadei-Scatena am Altissimo und die Nerli in der Nordwand des Pisanino) bleibt auch dank seines Führers „Alpi Apuane“ (Guide ai Monti d’Italia – Club Alpino Italiano e Touring Club) in Erinnerung, ein wahrhaftiges Traktat zur Geschichte des Alpinismus in den Apuanischen Alpen und auch heute noch ein wichtiger orientierungspunkt für alle, die eine Besteigung in den Apuanen in Angriff nehmen wollen. Für die zweite Auflage des eben genannten Führers (1979) arbeitete Nerli mit Attilio Sabbadini und dem damals legendären Alpinisten Euro Montagna zusammen. Wie Nerli war Montagna ein einzigartiger und unermüdlicher Alpinist, der und eine beeindruckende Bibliographie der Apuanen hinterlassen hat, die Grundlage für jede neue Veröffentlichung zu diesem Thema ist.

Pizzo Saette, 1969 Monte Nona, 1972

Eine seiner faszinierendsten Linien ist der Klassiker Pilastro Montagna an der Pania Secca, erschlossen 1963. Fünfter Grad, eine lange Besteigung mit schwierigem Rückzug und einem ungemütlichen und ziemlich abenteuerlichen Zustieg. Das Gleiche gilt für das Material in der Route, das in manchen Abschnitten noch aus der Erstbegehung stammt. Zu den Protagonisten des italienischen Alpinismus der 50er und 60er Jahre gehört mit Sicherheit Gian Carlo Dolfi (Jahrgang 1930), dessen Erstbegehungen heute oftmals Klassiker sind. Seine wichtigste Linie ist die Via Luisa, besser bekannt als Dolfi-Rulli, in der Ostwand des Procinto. Ein Meisterwerk an Schönheit und Logik. Sie ist jedoch nur eine vielen seiner Abenteuer, die uns lebhaft in Erinnerung geblieben sind: dazu gehören die Torre Francesca (genannt Spigolo Dolfi) am Ausläufer des Pizzo delle Saette, sowie die vielen Routen des Corchia und der erste Alleingang der Oppio-Colnaghi am Pizzo d’Uccello. Das einzige Bollwerk, das in dieser legendären Epoche unberührt blieb, ist die Südwestwand des Monte Nona, die aus diesem Grund auch für unbezwingbar erklärt wurde. Sogar die starken Brüder Ceragioli mussten vor dieser Wand kapitulieren. Erst die Erfindung des heiß diskutierten Bohrhakens machte eine Besteigung möglich. Es waren die Brüder E. und G.L. Vaccari (daher auch der Routenname, Via Vaccari), die die Erstbesteigung im Jahr 1966 für sich verzeichnen konnten. Ihnen folgten Agostino Bresciani und Mario Piotti, die 1969 die Via Licia erschlossen und 1971 Giovanni Bertini, Emilio Dei, Michele Lopez und Mario Verin, die links von der Via Vaccari die Via dei Fiorentini kletterten. In den 60ern schafft Mario Verin dann den ersten Alleingang der Via dei Pisani und, gemeinsam mit G. Bertini, L. Benincasi, A. Bresciani, G. Crescimbeni und M. Piotti, erschließt er die Routen Via Gamma (Originalname nach den Initialen der Erschließer G.A.M.M.), Via Stefania, Via Gabriella und Via XXXV Aprile am Procinto.

Ein weiterer wichtiger Protagonist ist Mario Piotti, in Genua geboren und akademisches Mitglied des CAI: eine legendäre Figur des Alpinismus in jenen Jahren. Er trainierte und kletterte stets allein, das Klettern schien für ihn mehr als nur ein einfacher Sport zu sein. In der Szene ist er vor allem dafür bekannt, die enorme Nordwand des Pizzo d’Uccello mehrmals durchstiegen zu haben, als ob es etwas ganz Einfaches wäre. Zu seinen Routen zählen die Gran Diedro Nord, die Piotti-Cacagno und die Winterbesteigung der Via dei Genovesi und der Fessura Obliqua. Die Vergangenheit kann mit diesen Legenden glänzen, aber auch die Gegenwart hat nicht weniger zu bieten: dank der Protagonisten haben viele junge Leute ihren Weg zum Alpinismus gefunden und mit ihnen kamen das moderne Klettern und moderne Ausrüstung (allen voran der Bohrhaken). Dadurch waren neue Schwierigkeiten möglich und zuvor Unmögliches wurde auf einmal machbar. Der erste Name, der zu dieser neuen Generation gehört, ist Claudio Ratti, ein starker Alpinist und Bergführer, auf dessen Konto viele neue Linien gehen, darunter die Ratti-Guadagni und die RattiMartini in der Nordwand des Pizzo d’Uccello. In diesen Jahren (70er Jahre) klettern G. Crescimbeni, S.Trentarossi und G. Banti die Via dei Genovesi in der Nord des Piyyo d’Uccello zum ersten Mal komplett im Winter. Die eigentliche Revolution beginnt aber erst mit den 80er Jahren. Ein Protagonist dieser Zeit ist Roberto Vigiani (Jahrgang 1961), dem wir zwei der extremsten Routen in den Apuanen zu verdanken haben: Muro delle Ombre (mit Federico Schlutter) in der Nordwand des Pizzo d’Uccello, eine anstrengende Linie mit langen Runouts in instabilem Fels, und Nona Sinfonia, in der Südwestwand des Monte Nona, die sicherlich eine der schwierigsten Multipitch-Routen der Apuanischen Alpen ist. Roberto Vigiani sind außerdem die zahlreichen Routen am Procinto zu verdanken, die diesen Berg auch für Sportkletter*innen zugänglich gemacht hat.

Torrione Figari, Scarpe al tennis, 70er Jahre ↓

In der 80ern ging es auch in Sachen Winteralpinismus stark voran: Massimo Boni erschließt die ersten modernen Eislinien in hohen Schwierigkeitesgraden, die berühmteste ist die anspruchsvolle Canale Elisabetta (mit Giuliano Pasqui) in der Nordwand des Pizzo delle Saette. Stefano Funck hat ebenfalls zahlreiche Linien in den Apuanen erschlossen (Nord des Pizzo d’Uccello, Contrario, Torri di Monzone, etc.), ein besonderer Verdienst sind jedoch die Routen Fantastica am Nona und Dimensione Montagna in der Südwand des Sumbra (wurde bis jetzt noch nicht komplett frei durchgestiegen), eine Wand, sie bis dato nur wenige Alpinisten zu Gesicht bekam. Um den Jahrtausendwechsel richtet die Seilschaft Mauro Franceschini und Fabrizio Recchia (der leider 2017 ums Leben kam) viele Routen an den Torri di Monzone und in der Südwand des Pizzo d’Uccello ein und außerdem die Routen Pinacolada an der Torre Torracca (Garnerone), sowie Scorzausei und D’angelo Custode (gemeinsam mit Antonella Gallo) am Monte Campaccio. Dann ist da noch die Schule Monte Forato, die unter anderem mit Namen wie Alberto Benassi, Claudio Bacci, Giancarlo Polacci und Alessandro Angelini glänzen kann, alle sehr aktiv bei der Erschließung neuer alpinistischer Routen in den Apuanen. Zu ihren Werken gehören: E se fossero stati gli alieni? am Monte Croce, Baccie Abbracci am Procinto, die Routen Amico Almo, StellaPolare, Per un pugno di spit, Indietrotutta, und Spinix am Corchia. Am Monte Corchia verlaufen auch die oft wiederholten Linien Padre Corchia und La Volpe e la Folaga von Alessandro Bertagna, ein weiterer Protagonist in der Alpinszene der Apuanen der 90er Jahre. Im Hier und Jetzt angekommen, kann man vor allem drei Gruppen nennen, die das alpine Erbe aufrechterhalten und an Neuem arbeiten: die Schule Monte Forato, die Führer Prorock Outdoor und Versante Apuani, die Kletter- und Alpinkurse organisieren und mit zahlreichen Veranstaltungen den Alpinsport in diesem Gebiet vorantreiben.

Biagi, Nerli, August 1971 ↑

Garnerone, September 1973 ↓

Viele sind es, auf die wir hier nicht näher eingehen konnten, darunter Bruno Barsuglia, Paolo Bertolucci, Fabrizio Convalle, Giorgio Giannaccini, Massimo Innocenti, Giampietro Lucchetti, Albino Malerba, Cesare Maestri, Leonardo Piccini, Cristiano Virgilio, sowie die Jungs aus Carrara Andrea Marchetti, Renzo Gemignani, Fedele Codega und Silvano Bonelli. Wir entschuldigen uns, falls wir jemanden nicht genannt haben sollten, aber der Platz reicht leider nicht für alle. Wir versprechen euch aber, dass es bestimmt noch genügend Möglichkeiten geben wird, um an eure unvergesslichen Beiträge zum alpinen Leben in den Apuanen erinnern zu können.

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