UT 2 Praxisprüfungen

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Umsetzungstipp

Praxisprüfungen

Berufliche Praxis in ihrer Komplexität geprüft

In unserem Vademecum «ÜberPrüfen» haben wir die Herausforderungen kompetenzorientierter Prüfungen vorgestellt und ein Spektrum verschiedener Prüfungsformen aufgezeigt, das das Überprüfen von Handlungskompetenzen möglich macht.

Die Umsetzungstipps knüpfen an das Vademecum an und vertiefen jeweils eine darin aufgeführte Prüfungsmethode.

Fokus der Umsetzungstipps – sie tragen ihn bereits im Namen – ist die Umsetzung. Während im Vademecum vor allem das WAS ins Zentrum gestellt wurde, so geht es in den Umsetzungstipps nun um das WIE bei den zentralen Prüfungsmethoden.

Wir hoffen, Ihnen mit den Umsetzungstipps wertvolle, praxisnahe und vor allem hilfreiche Impulse für die Umsetzung der Prüfungsmethoden in die «Prüfungsrealität» geben zu können.

Praxisprüfungen umfassen all jene Prüfungsaufgaben, die direkt in der beruflichen Praxis der Kandidat/innen erbracht werden. Dazu zählen zum Beispiel Projektarbeiten, individuelle Praxisarbeiten in der Grundbildung (IPA) oder auch Praxiseinsätze, die von den Prüfungsexpert/innen direkt vor Ort beobachtet werden. Mit der Methode der Praxisprüfungen wird ein ganzheitlicher Blick auf die Handlungskompetenz des Kandidaten / der Kandidatin geworfen, wobei die praktische Umsetzung und die Reflexion der Tätigkeit im Mittelpunkt der Bewertung stehen.

Bei Praxisprüfungen wird die praktische Arbeitssituation zum Prüfungsgegenstand und die Leistung der Berufsleute wird in diesem Kontext beurteilt. Es bedarf somit keiner Simulation der betrieblichen Realität, vielmehr wird der Auftrag so formuliert, dass er in der Praxis direkt umgesetzt werden kann. Die Bearbeitung des Auftrags erfolgt entweder schriftlich oder durch die konkrete Umsetzung in der Praxis, die von Prüfungsexpert/innen beobachtet wird. Beispiele dafür sind Verkaufsgespräche am Schalter oder handwerkliche Umsetzungen direkt am Arbeitsplatz.

Im Rahmen von Praxisprüfungen zeigen die erfolgreichen Kandidat/innen Analysefähigkeit, Planungs­ und Umsetzungskompetenz und allenfalls auch Problemlösekompetenz. Das «Abprüfen» von Wissen entfällt, da ein erfolgreiches Handeln im Arbeitskontext ohne das entsprechende Grundlagenwissen gar nicht erst möglich ist. Eine aufwändige und anspruchsvolle, aber sehr zuverlässige Form des Prüfens.

Sollen mit Prüfungen berufliche Kompetenzen abgebildet werden, bedarf es neuer Konzepte, die der Vielschichtigkeit der Handlungskompetenzen Rechnung tragen. Dies bedeutet auch neue Herausforderungen für die Beurteilung dieser neuen Prüfungsformen.

Folgende Literatur ermöglicht einen theoretischen Einblick in die Anforderungen an Praxisprüfungen und die Stolpersteine bei deren Beurteilung:

Ebbinghaus, Margrit (2005): Stand und Perspektiven bei beruflichen Prüfungen – Ansätze zur Reform des Prüfungswesens in der dualen Ausbildung (Artikel)

Frey, Karl (2010): Korrektur­ und Beurteilungsfehler. In: Frey, K. & Frey­Eiling, A. (Hrsg.): Ausgewählte Methoden der Didaktik. Zürich: VDF Hochschulverlag. S. 421–437.

Der aufgeführte Artikel ist auf unserer Homepage www.ectaveo.ch im Themenfokus unter dem Stichwort «Kompetenzmessung» aufgeschaltet. Das Buch ist im Handel erhältlich.

Der Erfolg der Prüfungsmethode hängt wesentlich von der Konstruktion der Aufgabenstellungen und der klaren Definition des Beurteilungsverfahrens ab.

Anforderungen an die Aufgabenstellung:

> Praxisrelevanz

> Praxisnah formuliert, damit sich die Aufgabe auch tatsächlich in der Praxis umsetzen lässt

> Ist auf die Kompetenzen abgestimmt und beinhaltet wesentliche Handlungen des Berufs

> Umfassende Aufgabenbeschreibung

> Klare formale und inhaltliche Anforderungen

> Konkrete Angaben zur Bewertung

Anforderungen an die Beurteilungskriterien:

> Klare Definition des Referenzrahmens (Was wird beobachtet?)

> Klare Definition des Anspruchsniveaus (Was ist eine gute Leistung?)

> Konkrete Messlatte für die Einschätzung von ungenügenden Leistungen

Anforderungen an den Beurteilungsprozess:

> Strukturiertes Beurteilungsinstrument

> Einheitliches Vorgehen bei der Beurteilung

tipps für die entwicklung der prüfungsaufgaben

Für das Ausarbeiten von Praxisprüfungen ist es wichtig, zunächst ein geeignetes Praxisfeld auszuwählen und eine dazu passende Prüfungsform zu definieren, welche die Beobachtung und Beurteilung der zu überprüfenden Kompetenzen zulässt.

Die konkrete Prüfungsform (wie zum Beispiel Projektarbeit, individuelle Praxisarbeit, Videoleistungen etc.) muss sinnvoll und in der Praxis der Kandidat/innen umsetzbar sein.

Ist eine Prüfungsform gewählt, so geht es in einem weiteren Schritt um die Ausarbeitung der entsprechenden Aufgabenstellung. Die folgenden Punkte sind beim Formulieren von Prüfungsaufgaben im Allgemeinen wichtig, haben bei Praxisaufgaben im Speziellen eine besondere Relevanz, damit eine zielgerichtete Prüfungsleistung sichergestellt werden kann.

Folgende Punkte sind bei der Ausarbeitung zu beachten:

> Einbettung der Aufgabenstellung in den praktischen Kontext

> Wichtige Informationen zur Ausgangssituation

> Klare Aufgabenstellung

> Teilaufgaben nach Bedarf

> Inhaltliche Anforderungen an die Leistung

> Formelle Anforderungen an die Leistung

> Beurteilungsdimensionen, die durch den/die Prüfungsexpert/in beobachtet werden

tipps für die entwicklung der prüfungsaufgaben

Um eine Beurteilung der Prüfung zu ermöglichen, werden neben den Prüfungsaufgaben Beurteilungskriterien ausgearbeitet. Ein Beurteilungskriterium ist ein Beurteilungsinstrument, das sich aus einer Beurteilungsdimension (= Leitfrage) und einem Massstab in Form einer ausformulierten Skala zusammensetzt. Für die Entwicklung von Beurteilungskriterien werden auf Basis der Handlungskompetenzen zunächst erfolgsrelevante Themenbereiche in der Umsetzung identifiziert. Daraus werden die Beurteilungsdimensionen abgeleitet. Das heisst, es wird eine Leitfrage formuliert, anhand der beantwortet werden kann, ob ein/e Kandidat/in über eine Kompetenz verfügt oder nicht. Somit ist die Brille für die Beobachtungsphase geschärft. Das eine ist zu wissen, was beobachtet werden soll, etwas ganz anderes hingegen die Beurteilung der Qualität der Leistung. Damit die Beurteilung zielgerichtet und fair erfolgen kann, wird in einem nächsten Schritt der Massstab definiert. Dazu wird pro Beurteilungsdimension eine Skala von sehr gut bis nicht ausreichend erstellt, in welcher die Leistung (resp. die fehlende Leistung) pro Einheit der Skala beschrieben wird. Damit die Beobachtung zielgerichtet erfolgen kann, ist es empfehlenswert in der Beurteilungsskala nicht mehr als drei bis vier Abstufungen pro Beurteilungsdimension festzulegen und auf eine klare Abgrenzung der einzelnen Abstufungen untereinander zu achten. Die durch eine Beurteilungsskala konkretisierte Beurteilungsdimension wird als Beurteilungskriterium bezeichnet.

Beispiel: «Beurteilungskriterium»

Leitfrage: Schätzt der/die Kandidat/in die beschriebene Situation richtig ein und schildert er/sie geeignete Massnahmen, um eine solche Situation künftig zu vermeiden?

3 Die Antwort des/der Kandidat/in ist umfassend: Der/die Kandidat/in erkennt alle Fehler, die in der Situation passiert sind. Er/Sie nennt plausible Massnahmen, um eine solche Situation künftig zu vermeiden.

2 Die Antwort des/der Kandidat/in zeigt kleinere Abweichungen zur umfassenden Antwort.

1 Die Antwort des/der Kandidat/in zeigt grössere Abweichungen zur umfassenden Antwort.

0 Die Antwort des/der Kandidat/in ist unbrauchbar und weicht ganz von der umfassenden Antwort ab UND/ODER der/die Kandidat/in verletzt entscheidende Sicherheitsbestimmungen.

Ein wichtiger Aspekt einer Prüfungsaufgabe ist das Beobachtungs­ bzw. Beurteilungsinstrument. Dazu werden die formulierten Beurteilungskriterien in ein Instrument für den Prüfungsexperten / die Prüfungsexpertin integriert, welches eine systematische Beobachtungs­ und Beurteilungsleistung unterstützt. Neben den Beurteilungskriterien als Teil des Inhalts muss ein solches Beobachtungsinstrument den nachfolgend aufgeführten Ablauf unterstützen:

> Schritt 1: Beobachtung der Leistung

> Schritt 2: Protokollieren der Beobachtungen

> Schritt 3: Beurteilung auf Basis der einzelnen Beurteilungsdimensionen

> Schritt 4: Beurteilung der Gesamtleistung

Bei schriftlichen Praxisaufgaben sind die Kandidat/innen aufgefordert, eine Arbeit in ihrem Praxiskontext zu erstellen und einzureichen. Die Prüfungsexpert/innen beurteilen die Leistung auf Basis der Beurteilungskriterien und diskutieren die Arbeit allenfalls in einem Prüfungsgespräch mit dem Kandidaten / der Kandidatin.

Eine weitere Form von Praxisaufgaben – diese wurde vorgängig bereits erwähnt – ist die direkte Beobachtung der Leistungserbringung in der Praxis der Kandidat/innen oder in einer simulierten Praxissituation. Hierbei kann an die Beobachtung eines Kundengesprächs, die Umsetzung einer handwerklichen Leistung, die Anwendung von therapeutischen Massnahmen direkt am Patienten etc. gedacht werden. In dieser Prüfungssituation sind die Prüfungsexpert/innen bei der Beobachtung und der Beurteilung der Leistung besonders gefordert, denn die Forschung zeigt, dass es in solchen Prüfungssituationen zu Beurteilungsfehlern kommen kann.

Ein Grund dafür sind die tendenziell längeren Beobachtungszeiträume bei Praxisaufgaben gegenüber klassischen mündlichen Prüfungen. Es lohnt sich deshalb, den Effekten, die bei mündlichen Prüfungen generell und bei Praxisaufgaben im Speziellen auftreten, besondere Beachtung zu schenken:

> Kontrasteffekt: Vergleich der Leistungen der Kandidat/ innen anstelle einer Beurteilung der aktuellen Leistung auf Basis der Kriterien

> Sprechtempoeffekt: Wer schnell spricht, erhält die bessere Note

> Vorkenntniseffekt: Man hat schon gehört, der Kandidat / die Kandidatin soll richtig gut sein

> Aussehen und Kleidung: Adrett gekleidete Kandidat/innen werden bevorzugt

> Soziale Herkunft: Man weiss, dass Vater und Grossvater schon gestandene Berufsleute waren

> Fraueneffekt in technischen Berufen: Leistungen von Kandidatinnen werden schlechter beurteilt

(vgl. Frey, Karl (2010): Korrektur­ und Beurteilungsfehler.

In: Frey, K. & Frey­Eiling, A. (Hrsg.): Ausgewählte Methoden der Didaktik. Zürich: VDF Hochschulverlag. S. 421–437.)

Die Prüfungsexpert/innen sind immer wieder gefordert, ihre Beobachtungs­ und Beurteilungsleistungen zu reflektieren und dabei Fehlern entgegenzuwirken. Dies bedingt eine unvoreingenommene Haltung gegenüber den Kandidat/innen und eine konsequente Orientierung an den Beurteilungskriterien.

In unserer Reihe «Umsetzungstipps» unterstützen wir Sie bei der Ausgestaltung kompetenzorientierter Prüfungen. Wir zeigen Ihnen, wie Sie kompetenzorientierte Prüfungsmethoden punktgenau im Prüfungsalltag umsetzen können.

Unsere Publikationsreihe «Umsetzungstipps» umfasst folgende Prüfungsmethoden:

Prüfungsmethode «Critical Incidents»

Prüfungsmethode «Praxisprüfungen»

Sozialkompetenz prüfen – Utopie oder Realität?

Prüfungsmethode «Postkorb»

Prüfungsmethode «Mini­Cases»

Prüfungsmethode «Geleitete Fallarbeit»

Prüfungsmethode «Fallstudie»

Prüfungsmethode «Wissensfragen»

Prüfungsmethode «Gesprächsanalyse»

Prüfungsmethode «Fachgespräch»

Mündliche Prüfungen

Prüfungsmethode «Rollenspiel»

Prüfungsmethode «Handlungssimulation»

Prüfungsmethode «Präsentation»

Bewerten mit Kriterien

Prüfungsmethode «Gruppendiskussion»

Prüfungsmethode «Projektarbeit»

Prüfungsmethode «Praxisarbeit»

Prüfungsmethode «Werkschau»

Prüfungsmethode «Kompetenzstatus»

Prüfungsmethode «Statusgespräch»

Möchten Sie die Umsetzungstipps in gedruckter Form beziehen, tragen Sie sich ein unter: www.ectaveo.ch/abonnement-umsetzungstipps

Herausgeberin

Ectaveo AG

Riedtlistrasse 15a

CH­8006 Zürich info@ectaveo.ch www.ectaveo.ch

Autorin

Ectaveo AG

Gestaltung und Satz dezember und juli gmbh www.dezemberundjuli.ch

Auflage 2. Auflage, August 2024

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