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Wortesammeln

Florian Illies

Liebe in Zeiten des Hasses

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 Bertolt Brecht heiratet Helene Weigel – und holt unmittelbar nach dem Jawort eine seiner Geliebten vom Berliner Bahnhof ab. Jean-Paul Sartre fiebert seinem ersten Rendezvous mit Simone de Beauvoir entgegen – während sie ihn in einer Pariser

Teestube einfach sitzen lässt. Henry Miller leidet darunter, dass seine Frau June ihre Geliebte Mara Andrews in die gemeinsame New Yorker Wohnung eingeladen hat – und er, der Ehemann, seine Kissen zusammenpacken und aufs Sofa ziehen muss. Erich Mühsam vergisst oft, dass er verheiratet ist. Nicht, dass er seine Zensl nicht liebt, nein, das nicht. Er liebt sie schon. Also: vor allem ihren Charakter. Es ist die Zeit der Weltwirtschaftskrise, der Verzweiflung, aber auch der Exzesse. Vor allem ist es die Zeit sexueller Freizügigkeit. Es geht wild zu, Ende der 1920er Jahre. Schon schwankt der Boden der Weimarer Republik. Vielleicht lebt deshalb die Bohème in den Metropolen Paris, New York, Wien oder Berlin so, als gäbe es kein Morgen mehr. „Niemand hoffte 1929 noch auf die Zukunft. Und niemand will an die Vergangenheit erinnert werden. Darum sind alle so hemmungslos der Gegenwart verfallen.“ Florian Illies hat diese Zeit patchworkartig zum Leben erweckt. Ungeniert und voller Insiderwissen schleicht er sich vor allem an das damalige Berliner Intellektuellen-Milieu heran, hangelt sich von Episode zu Episode, lässt uns abtauchen in Szenen der Liebe, der sexuellen Hörigkeit, der Exzesse und des Verstoßenwerdens. Und erweckt dadurch eine Epoche zum Leben, die auch anderweitig Furore gemacht hat: in Kinofilmen wie „Fabian“ oder „Die Schachnovelle“, in TV-Serien wie „Babylon Berlin“. Die Berliner Jahre um 1930 sind, so der legendäre Tennisspieler Gottfried von Cramm, die schönsten seines Lebens, während Sigmund Freud sich in diesen Tagen aus Wien mit den Worten meldet: „Die Sexualität gehört zu den gefährlichsten Betätigungen des Individuums.“ Die Frauen in der großstädtischen Künstlerszene sagen sich los von Kinderkriegen, Hausfrauenlangeweile und Ehegattinnen-Alltag. Sie wählen ihre Sexualpartner*innen aus, betrügen, tauschen und

 verlassen sie. Dabei tragen sie Helene Weigel – und Bubikopf. Verdienen eigenes holt unmittelbar nach Geld. Scheren sich nicht um Konventionen. So wie eine damals bekannte Tänzerin und Schriftstellerin, die laut Florian Illies diese Zeit aufs trefflichste verkörperte. Ruth Landshoff rast durch die 20er Jahre wie in einem Rausch, mit wechselnden Bekanntschaften, wechselnden Automobilen, wechselnden Schoßhunden. Erika Mann verliebt sich in Therese Giehse, während Gustav Gründgens zur Eröffnung einer Herrenbar mit seinem neuen Freund Carl Forcht, dem ehemaligen Geliebten von Klaus Mann, im Smoking erscheint, Forcht im Abendkleid. Mit dieser schrankenlos ausgelebten Toleranz ist ab 1933 Schluss. Das Romanische Café in Berlin hört schlagartig auf zu vibrieren, und niemand wagt es mehr, in endlosen Debatten die Welt zu zerstören, zu retten und neu zusammenzusetzen. Vorbei ist es mit offen gleichgeschlechtlicher Schmuserei. Der Umbruch ist radikal. Niemals zuvor wurde der Umschwung von den „roaring twenties“ hin zu den staubtrockenen, gefährlich verklemmten Nazis derart eindringlich anhand von Zeugnissen so vieler selbst Betroffener dargestellt. Wie bei einem Puzzle ergibt sich erst nach und nach in dieser sprachlich berührenden Dokumentation das Bild des dramatischen Niedergangs einer Epoche am Beispiel von Liebe in Zeiten der uneingeschränkten Toleranz, mündend in Hass, Flucht, Armut und Verzweiflung. Ein ungewohnter Blick, aus dessen Winkeln heraus Illies Weltgeschichte dokumentiert und der Frage nachgeht: Was wird eigentlich aus der Liebe in derartigen Zeiten? Ein ganz besonderes Werk, Ergebnis einer hemmungslosen Recherche. Gleichermaßen verstörend und faszinierend.

Ingrid Müller-Münch

Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses –Chronik eines Gefühls 1929-1939. Fischer 2021, 24 Euro. ISBN 978-3-10397-073-9 Ellery Lloyd

Like Hate

 Emmy Jackson ist Influenzerin auf Instragram. Supererfolgreich. Eine Instragram. Supererfolgreich. Eine Million Follower erreicht sie mit ihrer Million Follower erreicht sie mit ihrer Mama-Plattform. Sie schleimt sich an die Mütter ran, plaudert ihnen Episoden aus dem eigenen Familienleben vor. Gibt Tipps bei Familienchaos, nächtlichen Schreikindern und vollgeschissenen Windeln. Total ehrlich, wie sie immer wieder betont, führt sie die eigenen Kinder, die dreijährige Coco oder den acht Wochen alten Bear vor. Ihre Fans lieben sie. Endlich mal jemand, der das Leben mit Kindern nicht verherrlicht sondern mit all seinen anstrengenden Seiten darstellt. Der das größte Durcheinander kennt, der auch immer wieder verzweifelt, dafür Lösungen parat hat. Wie gesagt total ehrlich. So jedenfalls betont Emmy Jackson immer wieder. Dass sie in ihrer – vom Ehemann - aufgeräumten Wohnung erstmal ein Chaos herstellen muss, Spielsachen verteilt und dreckige Windeln herumliegen lässt, wenn denn ein Fotoshooting angesagt ist… Schwamm drüber. Dafür ist ihr Job einfach zu lukrativ, als dass Emmy den Vorbehalten ihres skeptischen Ehemann folgen würde, dem das ganze Theater einfach zu viel ist, der skeptisch beäugt, wie Emmy mit Crash und Trash die Kohle nach Hause bringt. Kohle, die er einfach in der Menge mit seinem Roman niemals verdienen wird, der ja auch, bei all dem Durcheinander, keine Chance hat, jemals vollendet zu werden. So weit, so gut. Wäre da nicht unter der einen Million Follower tatsächlich jemand, der genau weiß, was an Emmys Internetauftritt Fake ist, was sie verschweigt, wo sie verschönt oder einfach lügt. Und dieser Jemand will das nicht hinnehmen. Dazu hat er gewichtige Gründe. Und so braut sich denn, während Emmy nichts ahnend weiterhin ihre vornehmlich erdachten Geschíchten postet, ein Unwetter über ihr zusammen, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Familie zu zerstören droht. Die neuen ‚Nicci Frenchs‘ aus Great Britain. Ellery Lloyd, das Pseudonym eines britischen Autorenpaares, sie Journalistin, er Professor für englische Literatur. Mit „Like Hate“ stürzen sie sich mitten hinein in die Jetztzeit, in der es um Fake News und deren Konsequenzen geht. Manchmal zu viel Windelgedöns, aber insgesamt schon bemerkenswert aktuell und vor allem drohend widerlich.

Ingrid Müller-Münch

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Foto: Nicole Homburg Was soll ich sagen, ich bin nun Opa! Ein fast zahnloser Opa. Nach langer Zeit, in der mein Magen wieder Probleme machte, war ich neulich stabil genug für eine große Operation. Frauchen war mit mir vorher beim Hundeherzarzt und hat testen lassen, ob mit meinem Herz alles gut ist. Ihr wisst sicher noch, dass ich da ja auch nicht ganz fit bin. Die Ärztin war total lieb. Sie sagte, dass mein Herz ganz in Ordnung ist. Da haben der Doc und mein Dosenöffner gesagt: Jetzt können wir endlich die Zähne machen! Die hatten es auch nötig. Ich hatte schon eine ganze Weile Probleme, aber Frauchen wollte kein Risiko eingehen mit einer Narkose. Nun habe ich nur noch wenige Zähne – zehn Stück mussten raus, weil sie locker waren. Deswegen konnte ich manchmal nicht so gut fressen. Damit nicht genug, es wurden noch ganz viele Bilder von meinen Knochen gemacht. Na ja, sagte der Doc dann zu der Ollen, ich hätte Arthrose und so komische Sachen an der Wirbelsäule, die hat er Frauchen auf den Bildern gezeigt. Das seien so komische Ablagerungen, die da eigentlich nicht hingehören, sagte er, aber wohl keine Tumore. Das könnte man auch nicht operieren. Mein Dosenöffner war ganz schön geknickt und wollte wissen, ob ich Schmerzen hätte und was man dagegen tun könne. Wegen meinem Magen kann ich ja nicht so viele Medis nehmen. Meine Olle war ganz schön traurig. Sie will nicht, dass ich mich mit Schmerzen quälen muss. Sie fragte nach, wie es mit dem Laufen ist. Ich muss ja viele Treppen steigen, um in mein Körbchen zu kommen. Der Doc sagte, dass dann nur die Möglichkeit bleibt, mir Spritzen zu geben, wenn es mir nicht gut geht oder ich humpele. Frauchen sagt, nächstes Jahr müssten wir uns eine Wohnung suchen, bei der wir keine Treppen mehr steigen müssen. Nun macht sie mein Futter immer wie eine Suppe, weil mir ja die Zähne fehlen. Zweibeinern geht das wohl auch so, nur das die dann so ein Teil kriegen, das Gebiss heißt. Für Hunde gibt es das leider nicht. Passt also auf eure Zähne auf! Es grüßt euch …

● ● ● Hallo, ich bin Clayd aus Rumänien. Von dort bin ich zu meinem Frauchen, der DRAUSSENSEITER-Verkäuferin Kölsche Linda, gezogen. In meiner Kolumne erzähle ich, was ich so alles in meinem Alltag erlebe.