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Einführung

Alltag in Odessa

– Fotografien von David Grigoryan

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Das Hohenloher Freilandmuseum dokumentiert und präsentiert in siebzig umgesetzten historischen Gebäuden die Lebensverhältnisse der Menschen auf dem Land in der Region Württembergisch Franken in früheren Jahrhunderten. Über diese Kernaufgabe hinaus werden regelmäßig Sonder- und Dauerausstellungen erarbeitet und gezeigt, die mit ihren Themen auch historische und aktuelle gesellschaftliche und politische Fragestellungen aufwerfen. So waren und sind der Erste Weltkrieg, die Reformation, die europäische Integration, die Lebensbedingungen der Angehörigen von Minderheiten und vieles mehr Gegenstand von Ausstellungen des Freilandmuseums. Zum zweiten Mal veranstaltet das Freilandmuseum im Jahr 2022 das Ars-Conectit-Festival, bei dem regionale und überregionale Künstlerinnen und Künstler ihre ganz unterschiedlichen Kunstwerke präsentieren. Der Bogen spannt sich von Grafik und Malerei über Fotografie und Videokunst bis zu großen dreidimensionalen Arbeiten, an besonderen Tagen während des Festivals ergänzt um Musik und Akrobatik. Ziel soll sein, den verbindenden Charakter der Kunst insgesamt erfahrbar werden zu lassen, der zutage tritt, wenn Künstlerinnen und Künstler, Besucherinnen und Besucher miteinander ins Gespräch kommen, Neues und auch sich untereinander kennenlernen.

Durch persönliche Vermittlung gelang es, den in Odessa lebenden Künstler David Grigoryan für eine Ausstellung zu gewinnen. Seine Werke bilden eine in sich abgeschlossene Ausstellung innerhalb des Gesamtprojektes. Der Wunsch, seine Bilder auszustellen, entstand aus der Überlegung heraus, der Solidarität mit den Opfern des Krieges und der von der militärischen Aggression bedrohten Menschen auch im Freilandmuseum Ausdruck zu verleihen.

Odessa als Ausstellungsthema hat auf dramatische und tragische Weise Aktualität. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es Verbindungen zwischen unserer Region und Odessa gibt, die weit zurückreichen. So haben seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der Schwarzmeerregion Bessarabien deutsche Kolonisten gelebt, die „Bessarabiendeutschen“. Viele von Ihnen stammten ursprünglich

David Grigoryan: Alltag in Odessa 2010–2022

Über den Fotografen

aus Württemberg. Die religiösen und administrativen Obrigkeiten der Bessarabiendeutschen lagen über viele Jahre in Odessa. Im Vorfeld des Einmarschs der Sowjetunion in Bessarabien 1940 wurden die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe ausgesiedelt. Nach einigen Zwischenstationen ließen sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges in und um Schwäbisch Hall viele bessarabiendeutsche Familien nieder, die Geschichte und die Lebensverhältnisse einer dieser Familien wird künftig in der Wohnbaracke aus Gschlachtenbretzingen präsentiert, die derzeit in das Freilandmuseum umgesetzt, restauriert und wiedereingerichtet wird. An diesem Beispiel lässt sich aufzeigen, dass Migration, aber auch Krieg, Flucht und Vertreibung seit Jahrhunderten Teile der europäischen Geschichte sind.

Beim Betrachten der Bilder von David Grigoryan gerät zwangsläufig der Künstler selbst in den Mittelpunkt. Hier zeigt sich exemplarisch die Tragik der Kriege auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion: Die Familie des Künstlers floh selbst vor den Kriegen der 1990er-Jahre in Georgien und übersiedelte nach Odessa. Der Künstler wuchs in seiner neuen Heimatstadt auf und begann bereits als Jugendlicher zu fotografieren und den Alltag der Menschen in der Stadt zu dokumentieren. Aktuell wird Odessa von russischen Angriffen und militärischer Gewalt bedroht, bei derzeit völlig ungewisser Perspektive.

Der vorliegende Begleitband bietet eine Auswahl der ausgestellten Bilder. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern interessante Einblicke in die Realitäten einer weit entfernten und doch mit Europa und der Region verbundenen Stadt.

Michael Happe Museumsleiter

David Grigoryan wurde 1987 in Tiflis in Georgien geboren. Seine Familie floh mit ihm 1993 vor dem Bürgerkrieg in Georgien nach Odessa in der Ukraine. Mit 16 Jahren begann er zu fotografieren und hat seitdem nicht mehr damit aufgehört.

„Ich bin Straßenfotograf und Fotojournalist und interessiere mich für das Alltägliche und die Seele der Menschen. Ich arbeite freiberuflich für verschiedene Medien und realisiere auch eigene Projekte. Dabei reise ich soviel ich kann. Von den Orten, die ich besuche, erzähle ich in Fotografien: Geschichten über Geopolitik, Denkmalschutz, Natur, Kultur und natürlich über die Menschen, die dort leben. Hierfür nutze ich meine analogen Kameras mit unterschiedlichen Objektiven und Fotofilmen.

Zudem fahre ich seit 20 Jahren begeistert Skateboard und skate an ganz unterschiedlichen Orten in der Ukraine und anderen europäischen Ländern. Da ich auch Aufnahmen für ukrainische Skateboardmarken mache, hat mich das Skaten sozusagen zur Fotografie gebracht.

Seitdem 2022 der Krieg in der Ukraine begonnen hat, unterstütze ich ausländische KriegsberichterstatterInnen und dokumentiere weiterhin das tägliche Leben in Odessa.“

Ausstellungen

2022: „Odessa, Sole Mio“ – Galerie Zanzara, Ferarra, Italien

2021: „Without concept“ – Berliner Studio, Odessa

2019: „Ephemeral moments“ – Mojäk Galerie, Heilbronn

2019: „Street photography“ – Ukrainisches Institut für Fotografie, Kiew

2018: „Georgian scenery“ – Museum der Stadt Odessa für die Privatsammlung von A. W. Bleshunow, Odessa

2015: „Street photography“ – Kunst- und Kulturwerkhaus Zigarre, Heilbronn

David Grigoryan: Alltag in Odessa 2010–2022

Seite 12 / 13: Skateboarder auf dem Weg zum Meer, Odessa, 2020

Seite 14: Wachmann hinter einem Baum, Odessa, 2020 —

Seite 15: Junge Frau mit Kunstwerk, Odessa, 2018

Oben: Menschen am Strand, Odessa, 2021

Rechte Seite oben: Möwen am Strand, Odessa, 2019

Rechte Seite unten: Junge Frau fotografiert, Odessa, 2021

David Grigoryan: Alltag in Odessa 2010–2022 —

Seite 18: Jacke hängt zum Trocknen in Hinterhof, Odessa, 2015 —

Seite 19: Frau verkauft ihren Mantel für 150 UAH (zu der Zeit umgerechnet 5 Euro), Odessa, 2018

Oben: Im Bus, Odessa, 2021

Rechte Seite: In der Straßenbahn, Odessa, 2018

David Grigoryan: Alltag in Odessa 2010–2022

Linke Seite: Katze schläft an Bushaltestelle, Odessa, 2018

Oben: Identisch gekleidete Männer auf der Straße, Odessa, 2017

David Grigoryan: Alltag in Odessa 2010–2022

Oben: Großvater mit Enkel, Odessa, 2018

Oben: Mann bietet Priester Hilfe beim Tragen von Blumen an , Odessa, 2018

— repariert Geldautomaten,

Oben: Ein verlassenes Paar Schuhe, Odessa, 2021

Rechte Seite oben: Menschen schieben einen Bus, Odessa, 2020 —

Rechte Seite unten: Entspannung an einem Sommertag, Odessa, 2018

Linke Seite: Menschen tanzen im Stadtgarten, Odessa, 2016

Oben: Frau mit Hunden in Hinterhof, Odessa, 2011

„2011 fotografierte ich eine Frau mit ihren beiden Hunden in einem Hinterhof von Odessa. Als ich einige Jahre später zufällig wieder durch diesen Hinterhof kam, sah ich sie erneut – dieses Mal saß sie auf der Terrasse vor ihrem Wohnhaus.

Das Foto, das ich von ihr gemacht habe, reiste mit mir nach Deutschland, wo ich es 2015 in einer Ausstellung zeigen konnte. Die Frau in diesem Hinterhof in Odessa hatte das Foto, das heute als Ausstellungsplakat, in Kunstkatalogen und in Museen zu sehen ist, selbst noch nie gesehen.

2021 beschloss ich, sie zu suchen und ihr endlich einen gerahmten Abzug ihrer Fotografie zu schenken. Aber als ich in den vertrauten Hinterhof kam, teilte mir eine Nachbarin mit, dass

Tamara – die Frau auf meiner Fotografie – leider bereits verstorben sei. Ich ließ die Aufnahme bei der Nachbarin und sie versprach, sie zusammen mit meinen Kontaktdaten Tamaras Sohn Victor zu übergeben.

Einige Wochen später erhielt ich tatsächlich eine Nachricht von Victor und er besuchte mich bei einer meiner Ausstellungen. Wir sprachen über seine Mutter und wie glücklich ihn mein Geschenk gemacht hat. Zum Abschied überreichte er mir noch einen kleinen Band mit selbst geschriebenen Gedichten.“

David Grigoryan: Alltag in Odessa 2010–2022

Oben: Eingangshalle „Neuer Markt“, Odessa, 2011 (Auf dem Schild: „Vermietung von Handelsausrüstung“)

Oben: In der „Cheremushki“-Markthalle, Odessa, 2018

Seite 38 / 39: Verkäufer auf dem ältesten und größten Lebensmittelmarkt der Ukraine „Privoz“, Odessa, 2011

David Grigoryan: Alltag in Odessa 2010–2022

Oben: Kinder an Obststand, Odessa, 2014

Oben: Stillleben mit Wassermelonen und Felge, Odessa, 2018

Seite 42: Katze auf dem „Cheremushki“-Markt, Odessa, 2020 —

Seite 43 oben: Jemand entspannt sich auf dem„Privoz“-Markt, Odessa, 2016 —

Seite 43 unten: Paar küsst sich bei Kartoffelsäcken auf dem „Privoz“-Markt, Odessa, 2020

Oben: Paar spielt Badminton neben Panzersperre, Odessa, 2022

Oben: Geflüchtetes Mädchen aus Mykolajiw / Verladung von Wasser für Mykolajiw, Odessa, 2022

Seite 48: Molotowcocktails, Odessa, 2022

Seite 49: Mann demonstriert den Bau von Molotowcocktails, Odessa, 2022

Seite 50 / 51: Richelieu-Denkmal, mit Sandsäcken gesichert, Odessa, 2022 —

Seite 52 / 53: Gesicherte Fensterscheiben, Odessa, 2022

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