3 minute read

FÖRDERER, UNTERSTÜTZER UND SPONSOREN

RAJA BREIG, 2002

DAS LICHT IST AUS, HENRY

Ich mochte die Stadt, ich mochte sie wirklich. Ich war ein Stadtkind durch und durch, liebte die Techno-Keller, die heruntergekommenen Metrostationen, die Tauben, Abertausende von Tauben, wie sie rastlos durch die tristen Pärke stolzierten, und ich liebte die Ampeln, obwohl ich Autorität hasste, vor allem, wenn sie von einem lausigen Gegenstand ausging. Ich liebte die Wohnblöcke, bei denen sich in jedem beleuchteten Fenster eine eigene kleine Geschichte abspielte, und die belebten Plätze, wie Wimmelbilder, sodass ich aufpassen musste, nicht instinktiv nach Walter zu suchen.

Ich versuchte, den Donner zu überhören. Die Tropfen waren nicht besonders zahlreich, dafür tellergross, Kaffeeunterteller vielleicht. Ein Glück, dass ich im Trockenen stand. Ich beobachtete eine ältere Frau, die sich aus dem Fenster der Wohnung im zweiten Stock des Mehrfamilienhauses an der Virchowstrasse 11 lehnte. Sie war nicht so alt, als dass sie sich nicht darüber geärgert hätte, dass ich sie als ältere Frau bezeichnete. Sie trug eine altrosafarbene Schürze, um ihre Festtagskleidung, von der ich bloss den Rollkragen eines weissen Pullovers erkennen konnte, vor Krumen zu schützen. Sie hielt die Schürze mit der rechten Hand fest und schuf so eine Art Schüssel aus rosa Stoff. Mit der linken Hand warf sie Brotstück für Brotstück aus dem Fenster. Sie musste Linkshänderin sein. Ich wünschte mir, sie wäre meine Mutter. Die Stücke fielen meterweit zu Boden und wurden von der unten versammelten Taubenschar aufgepickt. Fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Tauben. Im Schätzen war ich immer schon schlecht gewesen, aber das waren eigentlich alle Menschen. Ich hörte jedenfalls nie jemanden «Ich kann gut schätzen» sagen, genauso wie kaum einer «Ich bin gut mit Namen und Geburtstagen» sagte. Jedenfalls waren die Tauben richtig aus dem Häuschen vor Freude. Das war ihr eigenes kleines Festmahl. Fragt mich nicht, wie sich ihre Freude bemerkbar machte. Sie lachten nicht direkt und machten auch keine Freudensprünge, aber sie pickten mit ihren kleinen Schnäbeln unermüdlich auf den Boden und frassen Brotstück für Brotstück. Ich wollte eine von ihnen sein, heute mehr als alles andere. An einem anderen Ort als in einer leer stehenden Garage, aber ich war kein Fan von hartem Brot.

Die Wohnung im zweiten Stock war nicht die einzige, in der Licht brannte – noch. Bald würden sie alle zur Messe aufbrechen und ihre warmen Stuben zurücklassen. Die Leute im ersten Stock hatten sich mit der Weihnachtsdekoration am meisten Mühe gegeben und am Fenstersims eine bläulich leuchtende Eiszapfenlichterkette montiert. Der grosse weisse Stern am Balkongeländer des vierten und obersten Stockes wäre viel schöner gewesen, hätte ich nicht gewusst, dass er das ganze Jahr über hing. Ich konnte mir beim besten Willen nichts Trostloseres vorstellen als ausgeschaltete Weihnachtsbeleuchtung im Sommer, ausser vielleicht ich. Es hatte andere Jahre gegeben, bessere Jahre, in denen Heiligabend für mich ebenfalls Zimt, Orgelmusik und Tannennadeln gewesen war, genau wie für die Leute im Mehrfamilienhaus an der Virchowstrasse 11.

«Bist du sicher, dass die Messe um 18 Uhr beginnt?»

Ich schaltete meinen Benachrichtigungston aus. Ich hatte es ihm mindestens dreissig Mal gesagt, und ausserdem hörte man bereits die Glocken. Es war kurz vor 18 Uhr und schon stockdunkel. Die echten und künstlichen Sterne vermochten die Nacht nur gering zu erhellen, und der Mond war weit hinter den Wolken. Die Frau mit der Schürze war inzwischen weg, dafür sass auf dem Fenstersims nun eine dösende weisse Katze. Ich hatte mir als Kind immer eine Katze gewünscht, aber mein Vater fand, sie seien unfreundlich und sowieso die ganze Zeit nur müde oder am Schlafen. Ich weiss nicht, ob das einer kennt. Man ist so müde, dass einem alles egal ist. Dass das Knistern im Kamin zu Beifall wird und die Stimmen der Menschen zu Podiumsdiskussionen, die sich irgendwo in einer Besenkammer zwischen Realität und Traumwelt abspielen. Genau in diesem Zustand befanden sich Katzen meinem Vater nach neunzig Prozent der Zeit, und wahrscheinlich hatte er recht.

«Das Licht ist aus, Henry.»

Ich sah seine Nachricht erst, nachdem ich selbst bemerkt hatte, dass das Ehepaar im vierten Stock seine Wohnung verlassen hatte. Es dauerte knappe fünf Minuten, bis alle Fenster des Hauses dunkel waren.

«Los geht’s.»

Ich mochte Ausbrüche. Ausbrüche aus toxischen Beziehungen, aus der eigenen Komfortzone, aus dem Turnverein, bei dem ich als Kind schon Mitglied und deshalb immer noch dabei war, obwohl ich all diese Menschen mit ihrem Horizont bis zum nächsten Quartierladen kaum mehr sehen konnte. Ich mochte Ausbrüche lieber als Einbrüche und ich mochte den Winter, auch wenn es im Land der ewigen Übergangszeit nie schneite, und ich war nur ein Dieb, aber wenigstens spürte ich den Regen auf der Haut und die Sonne in den Eingeweiden.

BETTINA NITSCHKE, 2003