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Ein pazifistischer Kapitalist
J Rgen Gr Sslin Hat Seine Politische Autobiografie Geschrieben
Er zählt zu Deutschlands bekanntesten Friedensaktivisten und fundiertesten Rechercheuren in Sachen Waffenexporte: Jürgen Grässlin. Seit mehr als 40 Jahren ist der inzwischen pensionierte Freiburger Lehrer deutschen Firmen auf der Spur, die weltweit und oft auch illegal mit mörderischem Kriegsgerät handeln; drei davon hat er erfolgreich vor den Bundesgerichtshof gebracht. Nun legt er seine Autobiografie vor, die er auch unter dem Entsetzen über den Krieg in der Ukraine geschrieben hat.
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„Mehrere Schlüsselerlebnisse“, sagt der streitbare Pazifist, hätten ihn zu dem Menschen gemacht, der er heute ist – nicht nur in politischer Hinsicht. Dabei machte er die erste Erfahrung, die für seinen Lebensweg richtungsweisend war, ausgerechnet bei der Bundeswehr: Am 1. April 1977 hatte er seinen Grundwehrdienst in Kempten angetreten, im Sanitätsbataillon, weil er „nicht schießen, sondern Gutes tun“ wollte.
ter blieb, der nachträglich den sogenannten Dienst an der Waffe verweigerte.
Einschüchtern zwecklos
Unermüdlich gegen Krieg und Gewalt – was ein Einzelner bewegen kann
Von: Jürgen Grässlin
Verlag: Heyne, 2023
384 Seiten, broschiert
Preis: 14 Euro
Im Handel ab 14. Juni
Dennoch, schreibt er, habe man ihm, dem „freiheitsliebenden 19-jährigen Möchtegern-Akademiker, der gerade das erste Semester an der PH Freiburg absolviert, sich lustvoll mit der Lyrik des Mittelhochdeutschen beschäftigt, die in Jamben verfassten Dramen Schillers und Goethes genossen, sich in Geologie und Glazialmorphologie fortgebildet und zudem mit Erziehungsfragen in Zeiten der Adoleszenz auseinandergesetzt hatte“, eine „Soldatenbraut in die Hand gedrückt“: ein G3-Sturmgewehr von Heckler & Koch.
Zwar habe er sich von Anfang an mit dieser gänzlich unromantischen Braut nicht anfreunden können. Zum endgültigen Bruch mit ihr sei es aber gekommen, als die erste Schießübung aus „Kopfschusstraining an Chinesen“ bestand. Da weigerte sich der bis dahin nicht besonders Aufmüpfige, in die Mitte der gelben Gesichtsattrappe zu zielen und abzudrücken. Mit dem Ergebnis, dass er ewiger und untauglicher Gefrei-
„Die Bundeswehr hat mich zum Pazifisten gemacht“, schreibt Grässlin, der Jahre später sein zweites Schlüsselerlebnis haben sollte. Seine erste Lehrerstelle hatte der heute zweifache Familienvater nämlich in Sulz am Neckar. Und das liegt unweit von Oberndorf entfernt, wo die Waffenschmieden Heckler & Koch und Mauser ansässig waren. Er nahm Kontakt zum Schwarzwälder Friedensforum auf, begann sich mit Geschichte und Verstrickungen des Herstellers seiner ehemaligen „Soldatenbraut“ zu beschäftigen – und lernte den Filmemacher Wolfgang Landgraeber kennen.
Der zeigte seinen Film „Fern vom Krieg“, der das Morden mit H&K-Waffen auf den Schlachtfeldern der Welt zum Thema hat, „in der Höhle des Löwen“ – im Oberndorfer Kino. Und er habe gegenüber den anwesenden H&K-Mitarbeitern eine „derartige Standhaftigkeit gezeigt“, dass der junge Aktivist beschoss, es ihm gleichzutun. Grässlin wartet noch mit weiteren Erlebnissen auf, etwa, wie er seine „Liebe zum Kapitalismus entdeckte“ und Blutaktien von den von ihm angeprangerten Waffenkonzernen kaufte und sich mit anderen zu Kritischen Aktionärsgruppen zusammentat, um Einfluss nehmen zu können. Ein erhellendes Stück Zeitgeschichte und ein Mutmachbuch für künftige Aktivisten.
DER DREISAM-MÖRDER 22 BAHNEN
von Caroline Wahl
Verlag:
Dumont, 2023 208 Seiten, gebunden
Preis: 22 Euro
Weindunst und Chlorgeruch
(ewei). Die 22 Bahnen, die Tilda abends im Schwimmbad ihrer namenlosen Heimat-Kleinstadt schwimmt, sind nicht die einzige täglich wiederkehrende Routine in ihrem Leben.
Streng getaktet ist es: Je nach Stundenplan pendelt sie morgens oder nachmittags mit der S-Bahn zur nahen Universitätsstadt, wo sie ein Mathestudium absolviert. Danach oder davor arbeitet sie als Kassiererin im örtlichen Supermarkt – und sorgt zwischendrin dafür, dass ihre kleine Schwester Ida regelmäßig zur Schule geht, etwas zu essen hat und in Ruhe Hausaufgaben machen kann.
Mit ihrer Mutter kann Tilda dabei nicht rechnen, sie muss sich im Gegenteil oft auch um sie kümmern: Sie ist meistens betrunken und kriegt nur selten etwas auf die Reihe. Die drei wohnen zusammen im Weindunst des traurigsten Hauses in der Fröhlichstraße; einen Vater, der für Ida Verantwortung übernehmen könnte, gibt es nicht. Also ist Tilda nach dem Abi geblieben, als einzige ihrer Klasse. Die anderen sind in Amsterdam, Berlin und anderswo – jedenfalls weit weg. Als kleine Flucht bleiben ihr nur die täglichen 22 Bahnen im Chlorgeruch. Bis ihr ein Promotionsstudium in Berlin angeboten wird und die Situation zu Hause außer Kontrolle gerät. Überzeugendes Debüt der jungen Autorin Caroline Wahl.
von Walter Roth Verlag: Gmeiner, 2023 506 Seiten, Paperback Preis: 19 Euro
Irreführende Spuren
(ewei). Schon im ersten Kapitel ist klar, wer der Mörder ist, der die Leser über die folgenden knapp 500 Seiten in Spannung halten wird. Minutiös lässt sie der Autor und ehemalige Freiburger Kriminalkommissar Walter Roth dabei zusehen, wie sein „Dreisammörder“ einen Plan entwickelt und umsetzt, der die Ermittler ins Leere laufen lässt.
Dabei gelingt es ihm, dass die Leser streckenweise ebenso an der Täterschaft des zwar verbitterten, doch bis dahin nicht auffälligen Frauenhassers zweifeln wie die Polizei selbst. Es ist auch nicht von Anfang an ersichtlich, dass dieser Fritz Gerster tatsächlich ein Frauenhasser ist und wie er dazu wurde. Erst nach und nach ist zu erfahren, warum jeder Anflug von Unterlegenheitsgefühl, jede angeblich herablassende Behandlung seiner Person durch eine Frau in ihm diese blinde, mit grenzenlosem Zorn gepaarte Vernichtungswut auslöst, die schließlich mehrere Frauen das Leben kostet.
Auch an Männern vergreift er sich. Die bringt er zwar nicht um, doch er (miss)braucht sie, um ihnen Haare, Hautpartikel und andere Eigenheiten zu entnehmen, die er dann auf seinem nächsten Opfer hinterlässt. Ein raffiniertes und packendes Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, die am Ende doch noch auf die richtige Fährte kommt.
von Klaus Theweleit Verlag:
Matthes & Seitz, 2023 287 Seiten, gebunden
Preis: 28 Euro
Spekulative Seefahrt
(ewei). Heutige Menschen, in deren Schriftsprache auch Vokale selbstverständlich sind, denken vermutlich selten drüber nach, ob das schon immer so war. Wer sich aber mit diesem Thema beschäftigen will, der oder dem sei Klaus Theweleits neues Buch empfohlen. Darin sucht der Freiburger Kulturwissenschaftler nach schlüssigen Beweisen für seine bereits im sperrigen Titel „Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues“ aufgestellte These, dass das Vokalalphabet auf dem Wasser entstanden ist.
„Wellenroman“ nennt er seine mit Gewinn und Vergnügen zu lesende spekulative Reise zu den Ursprüngen der europäischen Schriftsprachen. Und diese liegen für ihn zwar schon bei den Griechen, doch nicht etwa bei den Dichtern und Philosophen, sondern bei den Händlern und Piraten, die vor gut 3000 Jahren auf dem Mittelmeer unterwegs waren. Diese hatten laut Theweleit keinen festen Heimathafen und kein politisches Zentrum mit einer „Priesterkaste, die darüber entscheiden konnte, wie die ohne Schriftzeichen für Vokale verfassten Texte zu verstehen waren.“
In großer Distanz und auf stürmischer See sind Konsonanten jedoch nicht zu hören, Vokale schon. Deshalb mussten sie verschriftlicht werden.
Ob diese Geschichte so stimmt? Wunderbar erzählt ist sie jedenfalls. Und schön bebildert obendrein.