
2 minute read
Hotelmärchen
Als die deutsche Verlagserbin Ute Funke einst das verstaubte Hotel Lausanne Palace kauf te, wusste sie lange nicht, was sie mit dem versnobten Palast eigentlich anfangen sollte. Doch dann hatte sie vor gut einem Vierteljahrhundert die rettende Idee: Sie verpflichtete Jean-Jacques Gauer.
Der leise Tod einer Ikone
Wer in den 70er- und 80er-Jahren sichergehen wollte, wenn es um die Wahl von Hotels und Restaurants ging, hatte für fast jedes Land einen roten Guide Michelin zur Hand. Mit Vorteil besuchte man ein Restaurant, das dort aufgeführt war und wohnte in einem Hotel, das von den MichelinTester n mit den berühmten roten und schwar zen Häuschen ausgezeichnet worden war. Am besten fünf rote, das Maximum. Die Liebe zum roten Guide Michelin hat uns alle angesteckt. Plötzlich reisten wir nicht mehr ohne dieses Buch nach Spanien, Italien und Frankreich oder sonstwohin. Die Bewer tungen hauten einfach hin. Überall und zu fast 100 Prozent. Bei Hotels und Restaurants gleicher massen. Wirkliche Reinfälle gab es nicht. Als vor 29 Jahren der erste rote Michelin für die Schweiz erschien, nahmen wir den natürlich ganz genau unter die Lupe – und wurden nicht enttäuscht. Das Buch etablier te sich auch hier als die Bibel aller Hotel- und Restaurantführer. Was die Restaurants betrifft, wird das auch so bleiben.
***
Aber die Hotels? Das ist ein anderes, ein ganz trauriges Kapitel. Es begann schleichend vor drei Jahren mit der letzten Ausgabe des roten Michelin Schweiz, als die Auswahl an getesteten und empfohlenen Hotels plötzlich massiv zusammengestutzt wurde. Danach ver zichtete Michelin mit dem Hinweis auf Corona und die neue digitale Strategie des Unter nehmens ganz auf die gedruckte Ausgabe – und bewertet seither überhaupt keine Hotels mehr. Für die Hotelempfehungen ver weist Michelin auf das Internetpor tal TabletHotels, mit dem man seit ein paar Jahren zusammenarbeite. TabletHotels? Was da geboten wird, ist jenseits von Gut und Böse. Gefühlt die Hälf te der besten Schweizer Hotels sind gar nicht aufgeführt, die andern sind von Laien fehlerhaft oder glattweg falsch beschrieben, andere sind längst geschlossen. Die Liste des Grauens liesse sich endlos for tsetzen. Auf dem sinnfreien Portal sind die Häuser nach dem JekamiPrinzip völlig beliebig aufgeführt und werden nicht bewertet. Dafür wird versucht, dem Besucher eine Tablet-Plus-Mitgliedschaft für 99 US-Dollar anzudrehen. Wie Michelin sich auf sowas einlassen konnte, bleibt schleierhaft. www.lausanne-palace.ch
Der 1900 erstmals erschienene rote Guide Michelin wurde zur Ikone, zum weltweit besten, zuverlässigsten und angesehensten aller Restaurant- und Hotelführer. Kein anderer Guide konnte je mit der Professionalität und Seriosität der Michelin-Tester mithalten. Doch alles hat seine Zeit. In der Schweiz und bald wohl auch in den andern Ländern gibt es den Führer nur noch digital. Das rote Buch, das Millionen gekannt und geschätzt haben, ist Geschichte. Damit kann man leben. Weit trauriger ist, dass Michelin zum reinen Restaurantführer geschrumpft ist. Dass man sich von den höchst populären Hotelbewer tungen verabschiedet hat.
Gauer hatte zwanzig Jahre lang familieneigene Hotels in vier Ländern geführt und sich ein geradezu einzigartiges Netzwerk aufgebaut. Ebenfalls zwanzig Jahre war er denn auch Präsident der Leading Hotels of the World, dem Zusammenschluss der weltbesten Luxushotels. Das absolute Meisterstück aber, ein kleines Wunder, lieferte er in Lausanne, nachdem er das Angebot von Ute Funke angenommen hatte.
Mit gesundem Menschenverstand und einer Menge Talent machte der begnadete Hotelier und Charmeur den Palast, der meist halb leer gestanden hatte, zu einem der besten Stadthotels Europas. Gauers Konzept beruhte auf vier Eckpfeilern, die bis heute wegweisend sind: perfekte Dienstleistung, Spitzengastronomie und eine edle Wellnesswelt. Vor allem aber gelang es ihm, die einheimische Bevölkerung ins Palace zu locken. Seine Präsenz bei den Leuten er wies sich als das beste Marketing. Dass er an Geburtstagen guter Gäste gern ein paar Champagnerkorken auf Kosten des Hauses knallen liess, dankten diese ihm auf ihre Weise: Sie machten das Palace zum In-Place der Stadt.
2016, nach zwanzig Jahren am Genfersee, verabschiedete sich Gauer und ist heute mit seinem Familienunternehmen Gauer Hospitality erfolgreich. Die Nachfolger im Palace führen das Werk in seinem Geist weiter, und Gauer durf te vor kurzen im The Dolder Grand den Lifetime Award entgegennehmen. Es war die hochverdiente Ehrung für einen Mann, der zu den herausragenden Schweizer Hoteliers der vergangenen fünfzig Jahre zählt.