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Regeneration
NEUROPERSPEKTIVE: PRIORITÄTEN
Die höheren geistigen Funktionen des Menschen, wie beispielsweise Aufmerksamkeit, Nachdenken, Entscheidung und Planung, finden im präfrontalen Kortex statt. Dieser gehört zum Frontallappen, der größten Hirnstruktur des Menschen. Neben motorischen Aufgaben dient dieses Hirnareal auch als Regisseur unseres Lebens. Denn unsere gerichtete Aufmerksamkeit ist entscheidend für das Setzen von Prioritäten. Auch das Unterdrücken von Störungen (beispielsweise durch Ablenkung durch soziale Medien), die zeitliche Planung in sinnvollen Reihenfolgen und das Arbeitsgedächtnis sind hier vernetzt.
NEUROPERSPEKTIVE: SELBSTBESTIMMTE ERHOLUNG
Der bereits beschriebene präfrontale Kortex hat reziproke Verbindungen zu den meisten neokortikalen Assoziationsfeldern und zu subkortikalen Regionen. Diese sind an Emotionen, Belohnungsprozessen und motorischer Steuerung beteiligt. Diese integrative Funktion und gleichzeitige Kontrollfunktion ist essenziell, wenn es um die Selbstbestimmung geht. Der Fokus soll nicht extern vorgegeben werden, sondern durch intrinsische Motivation getrieben sein. Die Antizipation zukünftiger Bedürfnisse gilt es hier gezielt zu trainieren. Ein Regenerationstraining sollte immer individuell gestaltet sein. Was für einen Kunden angenehm und beruhigend ist, kann bei einem anderen Stress oder Unwohlsein auslösen.
Laut Duden versteht man unter „Regeneration“ erstens die Erneuerung und erneute Belebung, zweitens die erneute
Bildung, Entstehung, natürliche Wiederherstellung von verletztem, abgestorbenem Gewebe o. Ä. und drittens die Wiederherstellung bestimmter physikalischer oder chemischer Eigenschaften von etwas. Beziehen wir diese Definitionen also auf den menschlichen Körper, handelt es sich um die Wiederherstellung des physiologischen Gleichgewichtszustandes.
Die Regeneration ermöglicht es also, die Homöostase und die Leistungsfähigkeit (wieder-)herzustellen.
Es ist mittlerweile bekannt und akzeptiert, dass Regeneration extrem wichtig ist. Nur noch vereinzelt trifft man auf Trainingsansätze gemäß dem Ansatz „Es muss weh tun“ oder „Nur viel hilft viel“. Die wenigsten
Trainer und Kunden trainieren die Fähigkeit zu regenerieren bewusst und gezielt. Um die Einbindung von Regenerationstraining in den Alltag zu erleichtern, sind effiziente Regenerationsstrategien notwendig.
ZIELE DES REGENERATIONSTRAININGS
Regeneration ist wichtig, um einen Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen Training und Erholung, zwischen Beruf, Familie und Freizeit und zwischen Verantwortung und Abschalten zu erzielen.
Im Leistungssport nimmt das Thema „Regeneration“ einen immer größeren Stellenwert ein. Mannschaften und Einzelathleten haben professionelle, auf diesen Bereich spezialisierte Mitarbeiter. Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit der Athleten aufrechtzuerhalten. Übertragen auf unsere Kunden wäre dies die Erhaltung bzw. Steigerung der Leistungsfähigkeit im Berufs- und Alltagsleben.
Ein Regenerationstraining führt nicht nur zur Steigerung der Trainingserfolge, sondern hilft auch dabei, die Gefahr von Verletzungen und dadurch bedingte Trainingsausfälle zu reduzieren, und sorgt damit wiederum für bessere Leistungen.
WIE VIEL REGENERATION IST NOTWENDIG?
Regeneration muss genauso individuell betrachtet werden wie jede andere Trainingsform. Jeder Mensch ist individuell und somit sind es auch die Ansprüche und Anforderungen des Nervensystems an das Training genauso wie an die Regeneration. Essenziell ist die Betrachtung der Trainingsintensität und der Alltagsintensität: Eine erfolgreiche Managerin mit einem wöchentlichen Arbeitspensum von 70 Stunden hat andere Ansprüche an die Regeneration als ein alleinerziehender Vater; ein Sachbearbeiter, der 40 Wochenstunden am Rechner sitzt, braucht andere Regenerationsreize als eine Unternehmerin, die von Meeting zu Meeting hetzt. Regeneration sollte sich hier immer an den vorhandenen beziehungsweise fehlenden Reizen orientieren. Ist der Alltag beispielsweise sehr bewegungsarm und mit viel Sitzen verbunden, sollte die Regeneration aus Bewegung und vielseitiger Mobilisation bestehen. Ist der Alltag gekennzeichnet von vielen
Wegstrecken und Zeitdruck, sind Entspannung und Ruhe zielführend. Werden im Job die Augen durch viel Arbeit am Bildschirm beansprucht, sollte der Fokus auf Entspannung des visuellen Systems gelegt werden.
REGENERATIONSREIZE DOKUMENTIEREN
Beliebte Regenerationsreize sind unter anderem Mobilisierung, Entspannungsverfahren, Infrarotlicht, Massage, Eisbäder, Spielen und Schlaf.
Wichtig ist, sich auf die Regeneration einzulassen und sie gezielt zu trainieren. Es muss getestet und analysiert werden, welche Reize individuell funktionieren und welche nicht. Je nach Arbeitsweise empfiehlt es sich, die Trainingsreize schriftlich festzuhalten – analog oder digital –, um die Intensität entsprechend anpassen zu können. Das schriftliche Erfassen trägt zudem dazu bei, sich bewusst mit dem Thema zu beschäftigen. Auch wird dadurch die Selbstwahrnehmung geschult und gestärkt.
Anhand der Informationen aus dem Protokoll kannst du als Trainer
Beispiel für ein Tagesprotokoll zur Dokumentation körperlicher Parameter mit dem Kunden besprechen, ob die Intensität ausreicht und wie sich die Regeneration auf das restliche Training und den Alltag auswirkt. Wearables helfen dabei, u. a. die Anzahl der zurückgelegten Schritte, die Schlafphasen, den Blutdruck sowie die Herzratenvariabilität HRV zuverlässig zu tracken. Wichtig ist dabei, den Fokus nicht nur auf die technischen Daten zu legen, sondern auch die Selbstwahrnehmung zu schulen. Wie fühlt sich welcher Regenerationsreiz an? Welche Gefühle löst er aus? Die technischen Daten können dabei eine Hilfe sein, die eigenen Körperreaktionen detaillierter kennenzulernen.
KONKRETE REGENERATIONSPLANUNG
In der Trainingsplanung und -gestaltung sollte immer die Balance aus fordernder Anstrengung und Belastung auf der einen Seite und Regeneration und Erholung auf der anderen Seite gewahrt bleiben. Zusätzlich sollten alle Komponenten im Einklang mit dem eigenen Alltag stehen, d. h. mit dem familiären und dem beruflichen Umfeld abgestimmt sein.
Man sollte immer bedenken, dass sowohl die metabolische Flexibilität als auch die genetische Prädisposition und die Epigenetik individuell sind. Dieser Tatsache sollte man entsprechen und sie bei der Prioritätensetzung bedenken. Denn nur wenn dem Schlaf, der Ruhe und der Erholung genügend Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet wird, können sich Geist und Körper erholen, regenerieren und dann wieder optimale Leistungen erbringen.
Tipp: Einmal in der Woche eine gemeinsame „10 Minuten Regenerationszeit“ mit Kollegen, Familie oder Freunden im Kalender eintragen. Das kann ein gemeinsamer Spaziergang um den Block, eine bewusst eingelegte Kaffeepause oder eine Auszeit in der Sonne sein.
ERHOLUNG SELBSTBESTIMMT GESTALTEN
In vielen Bereichen unseres Lebens sind wir in einem reaktiven Modus.
NEUROPERSPEKTIVE: REGENERATIONS ZYKLEN
Um Regenerationszyklen zu planen, müssen wir uns mit unserer Umwelt, mit anderen Menschen, mit unserem Beruf und unserem Privatleben auseinandersetzen. Dafür bedarf es der sogenannten exekutiven Funktionen, die das menschliche Denken und Handeln steuern. Sowohl die selektive Aufmerksamkeit, also sich auf einen Reiz zu konzentrieren oder eben auszublenden, als auch unser Arbeitsgedächtnis, das für die Planung und das Aufteilen in einzelne Schritte und Muster zuständig ist, kann trainiert werden. Diese exekutiven Funktionen hängen wiederum von der bereits erklärten Neuroplastizität sowie der Myelinisierung, dem Aufbau neuer Wege und synaptischer Verbindungen ab. Für eine effiziente Planung wird die Information benötigt, welche Zeiten realistisch sind und wie es diese umzusetzen gilt. Hierfür muss man mental eine korrekte Synthese aller Daten erstellen können. Hierbei spricht man auch von kognitiven Fähigkeiten. Diese im Training gezielt zu trainieren ist sehr hilfreich.
NEUROPERSPEKTIVE: HIPPOCAMPUS
Der Hippocampus wird oftmals auch als „News-Detektor“ bezeichnet. Er überprüft, ob bloße Wiederholungen oder neue Bewegungs- und Denkmuster stattfinden. Seine Aufgaben sind u. a. die Ressourceneinsparung und die Effizienzsteigerung. Im Gehirn werden Informationen als Verbindungsstärken zwischen Nervenzellen gespeichert. Werden diese Verbindungen aktiviert und trainiert, können sie sich entsprechend der Abhängigkeiten und Aktivitäten zueinander verändern. Man spricht hierbei von Plastizität. Je mehr unterschiedliche Aktivität und Abhängigkeit stattfindet, desto mehr neuroplastische Prozesse laufen ab. Im Hippocampus spricht man in diesem Zusammenhang oft von Labilität, also einer hohen Dynamik dieser Plastizität. Das bedeutet ein schnelles Reagieren und Verarbeiten von neuen Informationen, was auch als Kurzzeitgedächtnis bekannt ist. Gerade bei neuen Bewegungsabläufen, neuen mentalen Aufgaben erfolgt hier ein hoher Aktivierungsgrad. Wir bekämpfen Brände, wenn sie aufflammen, statt proaktiv zu handeln und vorauszuplanen. Doch bereits kleine, einfache Änderungen des Lebensstils können sich innerhalb weniger Tage positiv auf die Energie, die Stimmung und die Leistungsfähigkeit auswirken. Wichtig dabei ist, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Kleine Dinge konsequent gut zu machen, führt zu nachhaltigen Ergebnissen. Ausreichend können hier, wie bereits beschrieben, auch 10-Minuten-Slots sein, um eine Veränderung zu etablieren; diese kann man dann sukzessive ausbauen.
Tipp: Diskutiere mit deinen Kunden, wie für sie eine selbstbestimmte Erholung gestaltet werden kann. Beispielsweise könnten sie jeden Tag eine dreiminütige Quality Time für sich selbst einplanen. Diese kann beispielsweise aus einem guten Espresso ganz in Ruhe oder einer kalten Dusche am Morgen bestehen. Dabei ist unwichtig, was andere davon halten oder darüber denken.
REALISTISCHE ANSÄTZE VERFOLGEN
Es bringt nicht viel, sich vorzunehmen, besser zu schlafen, sich gesünder zu ernähren, zweimal die Woche in die Sauna zu gehen und jeden Abend eine Wechseldusche zu nehmen, wenn der Alltag bereits vollgepackt ist. Ein realisierbarer Ansatz ist notwendig, um Regenerationsmaßnahmen dauerhaft in die eigenen Gewohnheiten einzubinden.
Entsprechend dem Transtheoretischen Modell der Verhaltensänderung gibt es sechs Stufen: In der ersten Vorbesinnungsphase oder Präkontemplation überwiegen die Nachteile der Veränderung gegenüber den Vorteilen. Es folgt Stufe Nummer zwei, die Besinnungsphase oder Kontemplationsphase. In dieser Vorbereitungsphase wiegen sich Pro und Kontra für die Veränderung auf. In der nächsten Stufe geht es um die Vorbereitung. Die Vorteile der Veränderung sind nun größer als die Nachteile. Erst dann kommt die vierte Phase der Aktion. Hier erfolgen spezifische Änderungen. In der fünften Stufe geht es um die Erhaltung der Veränderung; diese kann von fünf Monaten bis zu fünf Jahren dauern. Erst wenn man nicht mehr versucht, zu früheren Verhaltensmustern zurückzukehren, befindet man sich in der letzten Stufe, der Termination.
Tipp: Regeneration ist multimodal. Daher hilft es, sich wöchentlich oder monatlich auf einen Fokus zu konzentrieren, beispielsweise einen Monat täglich zur gleichen Zeit schlafen zu gehen. Um es sich leichter zu machen, empfiehlt es sich, mit etwas zu beginnen, das wenig Überwindung erfordert.
REGENERATIONSZYKLEN PLANEN
Fast jede Sportart hat eine Nebensaison, in der entlastende und regenerative Trainingsphasen auf dem Plan stehen. Freizeitsportler sollten daher den Urlaub oder weniger arbeitsintensive Phasen nutzen, um den Fokus verstärkt auf Regeneration zu legen. Wenn wir lernen, besser mit Stress umzugehen, dann können wir in der Arbeit und insgesamt im Leben bessere Leistungen erbringen, ganz gleich, vor welcher Herausforderung wir stehen. Und wir können mit chronischem Stress besser umgehen, wenn wir uns unserer Gedanken bewusst und in der Lage sind, den Rest des Tages aktiv zu gestalten und einen Teil unseres Gehirns zu entlasten.
Tipp: Deine Kunden sollten bei der Wochenend- und Urlaubsplanung berücksichtigen, wo und wie sie am besten regenerieren. Das kann bedeuten, eine Unterkunft mit Sauna oder Pool auszuwählen oder einen Ausflug in die Natur statt einen Städtetrip zu planen.
IMMER WIEDER NEUES ENTDECKEN
Unsere Gesellschaft ist immer mehr auf Leistung ausgerichtet, was sich
auch auf das Privatleben vieler Menschen auswirkt. Ab und zu sollte jedoch der Leistungsgedanke bewusst beiseitegeschoben werden und dem Spielen und Neuentdecken Raum gewährt werden. Ungewissheit aktiviert uns. Sie weckt uns auf und fordert uns heraus, darauf zu reagieren. Während Unsicherheit zwar einerseits Stress erzeugt, lernen Gehirn und Körper dadurch, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Somit werden Herausforderungen nicht mehr als Bedrohung bewertet, sondern als Spontanität, auf die sowohl unser Gehirn als auch unser Körper reagieren muss. Neue Bewegungsmuster und Herausforderungen helfen zudem, in den „Flow-Zustand“ zu kommen.
Tipp: Immer mal wieder sich spielerisch zu bewegen oder eine neue Sportart auszuprobieren lohnt sich. Ob ein Tanzkurs, Bouldern in der Natur oder ein paar Körbe werfen im Park – spielerisch Neues auszuprobieren bietet nicht nur eine mentale Abwechslung, sondern hilft dem Körper auch, sich besser an die diversen Anforderungen des Alltags anzupassen. W
LUISE WALTHER
Die Berliner Personal Trainerin arbeitet an der Schnittstelle Medizin-Fitness. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Reha- und Trainingsprozessen mit Fokus auf die Schmerzreduzierung und Bewegungsoptimierung ihrer Kunden. www.neurozentriertestraining.de

NEUROPERSPEKTIVE: REALISTISCHE ANSÄTZE
Für die realistische Einschätzung bedarf es einerseits der Aufrechterhaltung und der gleichzeitigen Abschirmung zielrelevanter Informationen. Dafür ist der laterale präfrontale Kortex verantwortlich. Der Fokus liegt hier u. a. auf einem Belohnungsaufschub in Hinblick auf langfristige Ziele. Es erfolgt also das Training der Abkoppelung des Verhaltens von der unmittelbaren Reizsituation. Man spricht hierbei auch vom reflektierten System. Dieses zu trainieren ist sehr sinnvoll.