5 minute read

Radikal gegenwärtig

Von Peter Uehling

Riccardo Minasi ist wahrscheinlich der vielseitigste, neugierigste, virtuoseste, expressivste, kurz: aufregendste Musiker, den Italien in den letzten 50 Jahren hervorgebracht hat. Er begann als Geiger, stürzte sich in die historisch informierte Aufführung von Barockmusik, spielte solistisch und in Ensembles, entwickelte sich vom Konzertmeister zum Dirigenten und arbeitet heute mit allen möglichen Formationen und Organisationen und verfügt über ein Repertoire, das vom Barock bis in die Gegenwart reicht.

Minasi ist ein Musiker, der vor allem eines zu fürchten scheint: die Langeweile – und mit ihr die Gewohnheiten des Hörens, die Routinen der Arbeit, die Besserwissereien der Tradition. Minasi weiß alles über die historischen Bedingungen des Musizierens, und ist doch radikal darin, die Musik, die er macht, in die Gegenwart zu holen. Das sagt man oft so dahin –aber bei Minasi ist es, gerade auch bei Mozart, den er mit den Berliner Philharmonikern aufführen wird, eine schier bestürzende Wahrheit.

Das hat vielleicht mit der besonderen Geschichte der historisch informierten Aufführungspraxis in Italien zu tun. Seinen Ausgang nahm das Spiel auf historischen Instrumenten und unter Anleitung historischer Traktate in Österreich, Deutschland, in den Beneluxstaaten und England, etwas später folgte auch Frankreich. Italien dagegen hielt sich lange fern – ausgerechnet Italien, das in der Barockzeit die Musik nahezu aller anderen europäischen Länder dominierte! Nicht nur waren italienische Musiker in ganz Europa tätig, die Musiker anderer Nationen bis hinauf zu Henry Purcell, Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach lernten vom italienischen Stil. Später wurde die historische Aufführungspraxis, wie wir sie kennen, durch italienische Musik auf die Spur gebracht: Nikolaus Harnoncourt fragte sich, ob Arcangelo Corelli seine Musik wirklich so langweilig gemeint hatte, wie sie in den 1950er-Jahren gespielt wurde. Wer sich in Italien für das Spiel auf historischen Instrumenten interessierte, konnte damals an italienischen Hochschulen nicht viel lernen, sondern musste sich im Ausland fortbilden: bei Ton Koopman in Amsterdam, an der Schola Cantorum in Basel oder in Genf. Die Italiener des Barock schrieben die expressivste, fantasievollste, virtuoseste und zuweilen anarchischste Musik der Welt; wie man ihre Potenziale entfesselt, lernten die Italiener der Moderne allerdings von Nicht-Italienern. Aber sie lernten es auf ihre eigene Art: Italienische Ensembles generieren den Ausdruck mit ausgesprochen virtuosem, körperlichem Zugriff. Entwickelte die historische Aufführungspraxis im Norden ihre Mittel vor allem an Johann Sebastian Bach, also an einer betont intellektuellen Musik mit zuweilen symbolisch verschlüsselter Expression, so musste für die größere Direktheit der italienischen Musik erst eine interpretatorische Sprache gefunden werden. Deswegen zeigen italienische Ensembles bei gleichem Repertoire eine große Frische und Kantigkeit. Ihnen mag dabei der Umstand helfen, dass sie als Späteinsteiger von der ursprünglichen Idee, man könne den historischen Klang wiedererwecken, nicht mehr geprägt wurden. Die Fremdheitserfahrung, die von den ersten, so experimentellen wie akademisch strengen Aufführungen mit historischen Instrumenten ausging, ist längst einer geradezu spontanen Verfügung über ein riesiges Spektrum von Ausdrucksmitteln gewichen. Die Unmittelbarkeit italienischer Musik, ihre expressive Anarchie, ihr radikaler und noch immer moderner Individualismus wird von den italienischen Aufführungspraktikern in besonderer Weise zum Sprechen gebracht.

»Man muss sich immer im Klaren darüber sein, dass wir über Moden reden, wenn wir über Stil sprechen«, sagt Riccardo Minasi und hat der Idee eines historisch authentischen Musizierens damit eine klare Absage erteilt; würde man das wirklich einmal machen, würden »die Leute sagen, die sind besoffen«. 1978 in Rom geboren, konnte Minasi bereits auf dem aufbauen, was die italienischen Pioniere etabliert hatten, ohne sich darauf auszuruhen – im Gegenteil betont er die

Wichtigkeit von Quellenstudien und weiß, dass derlei bei vielen heutigen Formationen nicht mehr für nötig gehalten wird. Als Geiger spielte er in den unterschiedlichsten Ensembles: bei der Accademia Bizantina und Il Giardino Armonico in seinem Heimatland, aber auch in spanischen Gruppen wie Le Concert des Nations von Jordi Savall oder Al Ayre Español von Eduardo López Banzo; er erkundete mit L’arpa festante ein deutsches und mit der Austrian Baroque Company ein österreichisches Ensemble von innen und spielte sogar beim Helsinki Baroque Orchestra im hohen Norden mit. Mit diesen Erfahrungen gründete Minasi 2007 ein erstes Kammerensemble, Musica Antiqua Roma, mit dem er unter anderem Händels Violinsonaten aufnahm.

Die Aufnahmekarriere von Il pomo d’oro begann allerdings mit zwei Alben von Antonio Vivaldi im Rahmen der von dem französischen Label naïve herausgegebenen Einspielung des Gesamtwerks, in denen sich Minasi sowohl als Solist – teils neben dem ebenso unkonventionellen Dmitry Sinkovsky – wie auch als Leiter präsentiert. Die Ergebnisse sind, auch zusammen mit den meist hervorragenden anderen Ensembles in den Gesamtaufnahmen, überwältigend. Der so oft als Fließbandarbeiter verdächtigte Vivaldi erweist sich in Minasis Lesart als geradezu manischer Ausdrucksmusiker. Hier wird kein Ton, keine Phrase gespielt, deren expressive Funktion nicht genau gefasst und zugespitzt wird. Aber es entsteht dadurch kein struppiges Chaos, ganz im Gegenteil wird die Form dieser Musik auf diese Weise plastisch wie nie zuvor. Zum großtaktigen Schaukeln hat der Hörer keine Gelegenheit; das dichte dramatische Geschehen macht die langsamen Sätze psychologisch notwendig: Irgendwann muss man auch mal durchatmen.

Dass in ihm ein Dirigent veranlagt war, erfuhr Minasi erst als Konzertmeister während einer Eugen OneginProduktion, als Kent Nagano ihn bat, die Proben vorzubereiten. 2012 war er dann als Konzertmeister Gründungsmitglied und bald auch Dirigent von Il pomo d’oro, einem Orchester von so mitreißender und inspirierender Energie, dass es bald zu einem der liebsten Begleitensembles für Sänger wurde, die Barock-Recitals aufnehmen: Ob Xavier Sabata, Franco Fagioli, Max Emanuel Cencic, Ann Hallenberg oder sogar Joyce DiDonato – sie alle fanden in dem wesentlich von Minasi geprägten Il pomo d’oro Unterstützung, Anregung und deutlich mehr als nur Begleitung. Der gute Kontakt zu solchen Sängerpersönlichkeiten ermöglichte dem Ensemble dann auch schnell repräsentative Opernaufnahmen vor allem von Händels Werken: Mit Tamerlano und Partenope machte sich Minasi als zupackender Operndirigent bekannt.

So ideal Minasi seine Ideen mit Il pomo d’oro auch realisieren konnte – schon im Jahr 2014 dirigierte er erstmals das experimentierfreudige Hamburger Streichorchester Ensemble Resonanz. Es begann eine künstlerisch fruchtbare Zusammenarbeit, die in der laufenden Saison zur Ernennung zum Principal Guest Conductor führte. Minasi verließ mit den modern spielenden Hamburgern den Bereich des historischen Instrumentariums und des barocken Repertoires. Aber auch hier entstanden sofort Aufnahmen, die durch ihre technische, expressive und interpretatorische Qualität auffielen, wobei Technik, Expression und Interpretation bei Minasi ein und dasselbe zu sein scheinen. Schließlich kennt er sich als Geiger mit Spieltechnik bestens aus und gelegentlich spielt er mit der eigenen Violine am Dirigentenpult vor, was er sich vorstellt. Die Symphonien Carl Philipp Emanuel Bachs können in weniger detailversessener Aufführung schnell etwas beliebig und schwach erfunden klingen. Minasi und das Ensemble Resonanz hingegen lassen keinen Ton einfach passieren, schärfen Kontraste und zeigen, dass hier doch das meiste am genau richtigen Platz steht und genau die Gestalt hat, die der erzählerische Verlauf benötigt. Mit diesem Ensemble arbeitete Minasi sich in der Musikgeschichte vor: Nach dem berühmtesten Bach-Sohn folgte mit Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven der Schritt ins klassische Repertoire. Aber hört man die Aufnahme von Mozarts letzten Symphonien, fragt man sich doch, wie bekannt dieses Repertoire denn eigentlich ist. Zu jedem Ton fällt Minasi etwas ein, in jedem Ton liegt einerseits die körperliche Spannung eines neugierigen Spiels, andererseits die geistige Spannung der genau definierten Position im Ganzen, sowohl innerhalb der Phrase als auch innerhalb des polyfonen Gewebes und schließlich auch innerhalb eines rhetorischen Zusammenhangs. Minasi zeigt, wie eigenständig Mozarts Bläserstimmen sind, wie sie ihrer alten Wiener Bestimmung als »Harmoniemusik« entwachsen, wie vielstimmig Mozart das Orchester denkt.

Minasis Neugier dringt selbst in scheinbar abwegige Bereiche vor. Mit seinem Zürcher Orchestra La Scintilla, gebildet aus Musikerinnen und Musikern der Oper Zürich mit Interesse an historischen Instrumenten, hat er etwa die Corona-Pause genutzt, um an den Streichinstrumenten die Stege gleich auszurichten und überall die gleichen Darmsaiten aufzuziehen. Er überlegt, Verdi-Opern mit diesem Orchester auszuprobieren. Seine Einladungen ermöglichen ihm, immer weiter in der Musikgeschichte vorzudringen, zu Wagner, zu Mahler. Wie antwortete Minasi auf die Frage nach dem Spezialisten? »Ich weiß gar nicht, was das sein soll.« Nun ja, ein Spezialist für durchdachtes wie aufregendes, immer wieder Fragen provozierendes und dadurch gegenwärtiges Musizieren ist Riccardo Minasi auf jeden Fall!

Konzerthinweis

• Do 26.10.23 20 Uhr

Fr 27.10.23 20 Uhr

Sa 28.10.23 19 Uhr

Großer Saal

Berliner Philharmoniker

Riccardo Minasi Dirigent

Noah Bendix-Balgley Violine

Thomas Timm Violine

Wolfgang Amadeus Mozart

Così fan tutte KV 588: Ouvertüre

Symphonie Nr. 35 D-Dur KV 385 »Haffner«

Concertone C-Dur für zwei

Violinen und Orchester KV 190

Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550