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Das Unvorhersehbare

Berliner

Von Susanne Stähr

Alexandre Kantorow, im Magazin Fanfare wurden Sie als »Liszt reincarnated« gefeiert. Wie gefällt Ihnen das? Ist das eine Ehre oder eine Bürde?

Das ist schon unglaublich, aber man muss vorsichtig sein mit Kritiken, gerade mit den extrem guten oder den besonders schlechten. Besser ist es, man behält eine gesunde Distanz, sonst geht es mit den Gefühlen auf und ab wie in einem Fahrstuhl.

Lesen Sie die Kritiken denn überhaupt?

Zumindest meine Eltern lesen sie ... Dieser Begriff »Liszt reincarnated« hat mit meiner Einspielung der beiden Liszt-Klavierkonzerte zu tun, aber ich möchte es lieber ausblenden und mich auf das konzentrieren, woran ich gerade arbeite. Wenn das Ergebnis dann gefällt, ist es umso besser.

Was bedeutet Ihnen die Musik von Franz Liszt?

Liszt ist eine der zentralen Figuren seiner Epoche und einer der komplettesten Musiker aller Zeiten. Er hat so viele neue Ideen hervorgebracht und damit die Entwicklung der Musik vorangetrieben. Vor allem war er ungeheuer erfindungsreich, wenn es darum ging, seine Vorstellungen auf die Tasten zu übertragen – damit hat er zugleich die technischen Möglichkeiten des Klavierspiels erweitert und neue Spielarten hervorgebracht. Bei seinem Zweiten Klavierkonzert arbeitet Liszt viel mit Leitmotiven à la Richard Wagner: Da ist es hilfreich für das Verständnis, wenn man sich auch mit seinen Tondichtungen und seinen theoretischen Schriften beschäftigt.

Mit diesem Zweiten Klavierkonzert debütieren Sie am 28. September bei den Berliner Philharmonikern. Haben Sie das Werk vorgeschlagen?

Ich habe einige Konzerte ins Gespräch gebracht, und die Philharmoniker haben sich dann für Liszt entschieden. Über diese Wahl bin ich sehr glücklich, denn in Liszts A-Dur-Konzert verschmelzen Klavier- und Orches- terpart oft untrennbar miteinander. Auch sonst ist alles vorhanden: solistische und symphonische Passagen, kammermusikalische Episoden, Fanfaren von fast schon militärischem Charakter. Es wechselt ständig hin und her und erfordert einen engen Dialog zwischen mir und den Orchestermitgliedern. Das schafft Verbundenheit. Natürlich braucht man dafür Kraft und Virtuosität, aber es gibt auch zarte, lyrische Momente wie gleich den traumverlorenen Anfang oder die duettierenden Abschnitte mit Oboe und Violoncelli. Die größte Herausforderung ist vielleicht nicht einmal die technische Seite, sondern eher die Charakterisierungskunst – man muss fein nachzeichnen, was Liszt im Sinn hatte.

Eine Herausforderung ist es aber auch, bei einem der weltbesten Orchester zu debütieren. Wie fühlen Sie sich vor Ihrem Einstand bei den »Berlinern«? Das ist eine aufregende Geschichte, ein Meilenstein in der Karriere, und ich denke, so geht es jedem, der erstmals mit den Berliner Philharmonikern auftritt. Ich habe sie in so vielen Aufnahmen gehört, natürlich auch live, und immer hatte ich das Gefühl, dass sie ein Orchester der unbegrenzten Möglichkeiten sind. Jetzt selbst mit ihnen auf der Bühne zu sein und erleben zu können, wie dieses Wunder entsteht, ist fantastisch. Ich bin wahnsinnig neugierig.

Sie werden in dieser Saison auch noch ein Recital in der philharmonischen Klavierreihe geben. Wissen Sie, wie Sie zu dieser doppelten Ehre gekommen sind, die doch ungewöhnlich ist für einen Newcomer? Nicht wirklich. Ich blicke auch nicht immer durch, was hinter den Kulissen geschieht. Ein Auftritt war wohl seit etwa zwei Jahren im Gespräch, und dass jetzt gleich beides klappt, das Debüt mit dem Orchester und ein Soloabend, das ist schon großartig. Für mich ist diese Präsenz in Berlin sehr wichtig. Das ist eine so bedeutende Musikstadt, du triffst hier jeden aus der Branche, und ich bin glücklich, dass ich dazugehören darf.

Bei Ihnen geht es seit 2019 ohnehin steil nach oben: Damals haben Sie, als erster Franzose, die Goldmedaille beim Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewonnen. War das für Sie eine Überraschung?

Ja, schon. Man weiß bei so einem Wettbewerb nie genau, was passiert. Andererseits hatte ich mich mit meinem Lehrer intensiv darauf vorbereitet. Mein Plan war, dass ich alles, was ich dafür einstudiert hatte, vortragen wollte; zunächst ging es darum, das Finale zu erreichen. Es ist ja interessant, wie so etwas abläuft: In der ersten Runde sollen möglichst viele ausscheiden – da mussten wir hauptsächlich Etüden spielen. Dann durfte man ein Recital-Programm vortragen, danach ein Klavierkonzert. Und je länger ich in diesem wunderbaren Saal mit seiner legendären Geschichte spielte, dem Großen Saal des Moskauer Konservatoriums, wo schon Rachmaninow Erfolge gefeiert hatte, desto heimischer und sicherer fühlte ich mich dort. Am Ende schwebte ich wie auf einer Wolke und war nur noch glücklich. Die große Veränderung trat allerdings erst danach ein, da spürte ich, was dieser Preis wirklich bedeutete. Plötzlich wollten alle mit mir sprechen, luden mich für Konzerte ein – man wird hochgeschossen. Ich habe dennoch versucht, nicht alles zu ändern in meinem Leben. Wichtig sind mir weiter die Menschen, mit denen ich schon vorher zusammen war: Sie sind mein Anker.

Dazu gehört auch Ihre Familie, eine Musikerfamilie: Ihre Mutter ist Geigerin, Ihr Vater ist der Dirigent Jean-Jacques Kantorow, ebenfalls ursprünglich Geiger. Welche Rolle spielten Ihre Eltern bei Ihrer Entwicklung?

Natürlich eine sehr große. Musik war bei uns zu Hause immer vorhanden, sie klang aus allen Zimmern. Ich hörte, wie meine Eltern spielten, aber sie haben nie verlangt, dass ich das selbst auch machen müsste. Den Schwerpunkt legten sie auf die Schulausbildung.

Ich habe ganz freiwillig und aus purer Lust Klavier gespielt, ohne jeden Druck; meist habe ich nur Stücke durchgespielt, vom Blatt, ohne sie genau einzustudieren. Erst als ich auf ein Musikgymnasium kam und mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten musizieren konnte, entstand in mir der Wunsch, Pianist zu werden.

Mit Ihrem Vater treten Sie heute auch gemeinsam auf, haben mit ihm die Konzerte von Liszt und Saint-Saëns eingespielt. Was haben Sie von ihm gelernt? Gibt es so etwas wie eine musikalische Kantorow-DNA?

Sicher hat er mir vieles weitervererbt. Ich bin ja mit seinem Geigenspiel aufgewachsen, mit seiner Phrasierung, seinem musikalischen Timing, seinem Vibrato, und habe dann versucht, das aufs Klavier zu übertragen – ja, sogar das Vibrato, das ist so ein Tick von mir. Wenn wir heute gemeinsam auftreten, dann verbringen wir vorher viel Zeit miteinander, hören die Musik, sprechen darüber. Aber vieles funktioniert auch ohne Worte, etwa wenn wir einfach etwas ausprobieren. Auch im Aufnahmestudio zeigt mein Vater totale Hingabe, und das ist nicht so einfach in dieser aseptischen Atmosphäre, die so ganz anders ist als bei einem Konzert mit Publikum. Er bleibt über Stunden unter Strom, pusht alle und trägt uns mit seiner Begeisterung.

Wenn Sie Kritiker wären und die Kunst eines gewissen Alexandre Kantorow beschreiben sollten: Mit welchen Schlagworten würden Sie sein Spiel charakterisieren?

Uff … Ich weiß, was ich fühle, aber ob das die Leute auch so empfinden? Ich würde sagen: Er hat einen gewissen Instinkt und Energie auf der Bühne. Sein Spiel hat etwas Unvorhersehbares und Spontanes, manchmal trägt ihn das vielleicht zu weit fort, aber die Stücke klingen bei ihm dadurch jedes Mal wieder anders.