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Heroes!?

In der Geschichte und in der Kunst gibt es sie immer wieder: Männer und Frauen, die mit außerordentlichen Kräften und Fähigkeiten ausgestattet sind. Diese Helden und Heldinnen stehen in der Saison 2023/24 im Fokus der Konzerte der Berliner Philharmoniker. Doch ist es nicht manchmal erst das Scheitern, das einen Menschen zum »Hero« macht? Eine Spurensuche durch die Jahrhunderte.

Wer hat nun recht? Der junge und idealistische Student Andrea Sarti oder der alte, desillusionierte Forscher und Gelehrte Galileo Galilei?

Bertolt Brecht lässt sie in seinem bekannten Theaterstück Leben des Galilei folgenden Dialog führen. Sarti sagt zum Meister: »Unglücklich das Land, das keine Helden hat.« Der Meister antwortet: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« Natürlich hatte Brecht, der nach zehn Jahren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft sein 1943 in Zürich uraufgeführtes Drama auf die zitierten Zeilen zulaufen lässt, Deutschland im Blick. Brauchte es nicht spätestens 1943 dringend einen Helden, möglichst sogar mehrere, viele, um sich endlich von Adolf Hitler und seinen Helfershelfern zu befreien? Andererseits: Wurde dieser Kolossalverbrecher, der immerhin 1933 legal an die Macht gelangt war, nicht von seinen Anhängern als Held verehrt, verklärt?

Der Führerkult, den es ja in allen totalitären Regimen gibt, ist wohl die schlimmste Form der Heldenverehrung – zumindest in den Augen von Demokraten. Ein mentales Muster wie die Heldenverehrung, die ein so inhumanes anderes Muster wie den Führerkult hervortreiben kann, muss uns als verhängnisvoll gelten. Insofern halten wir es wohl inzwischen alle mit Galilei: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« Und Deutschland, das zwar einen Georg Elser, eine »Rote Kapelle«, eine »Weiße Rose«, einen Claus Schenk Graf von Stauffenberg und manche andere hatte, die ihren heldenhaften Kampf gegen das NS-Regime mit dem Tod bezahlten, hat diese tapferen Männer und Frauen dringend gebraucht, auch wenn sie am Ende nicht erfolgreich waren. Damit entsprechen sie zwar nicht dem Bild vom klassischen Helden, den man sich gern als Sieger vorstellt. Aber sie lenken den Blick darauf, wie vielfältig, wie ambivalent der Begriff des Helden ist, wenn auch Scheiternde als Helden gefeiert werden können, müssen.

Lauter Helden

Denn es gibt ja nicht nur den Helden, wie er im Buche steht: tatkräftig, durchsetzungsstark, erfolgreich. Es gibt auch den moralischen Helden, als den wir die Widerstandskämpfer im Dritten Reich und auch in anderen Unrechtsregimen betrachten, auch wenn sie ihre Ziele nicht erreichten. Die große Umwälzung, die wir um 1990 erlebt haben, brachte wiederum den »Helden des Übergangs« hervor, als dessen wirkungsvollste Verkörperung der britische Historiker Timothy Garton Ash seinerzeit den damaligen sowjetischen Staatschef Gorbatschow bezeichnete. Der kürzlich verstorbene Soziologe Wolfgang Schivelbusch andererseits hat in seinem Buch Die Kultur der Niederlage im Hinblick auf die von deutscher Seite verlorenen Kriege auch von den »Helden des Rückzugs« gesprochen.

Wir kennen aber, nicht zuletzt dank der vielen musikalischen Ausformungen von Heldentum, auch die introvertierten, tatenarmen Helden. Denken wir nur an Tannhäuser, in dem sich der junge Richard Wagner spiegelte, der die Musiksprache seiner Zeit »überwinden« wollte und mit Tannhäuser einen unverstandenen Außenseiter schuf, der eben dies in seiner Zeit, dem Mittelalter, versuchte. Dafür steht der »Sängerkrieg auf der Wartburg«, den Tannhäuser allerdings haushoch verliert.

Und wir kennen, gleichfalls in vielen populären musikalischen Ausformungen, den »Frauenhelden« (Don Giovanni, auch Don Juan genannt). Wir kennen den »Männerhelden«, der im Kampf Mann gegen Mann besteht – dafür läuft es allerdings mit den Frauen nicht so gut: Tristan kommt über eine Nacht voller Seligkeit mit Isolde nicht hinaus; Siegmund muss Brünnhilde statt Sieglinde folgen (und zwar in den Tod); Siegfried, der immerhin einen Drachen erlegt, stellt sich ziemlich dämlich an mit dem weiblichen Geschlecht. Schließlich aber: Kennen wir nicht auch den vielleicht spannendsten aller Helden, denjenigen, der das Heldentum ad absurdum führt oder besser gesagt, der Heldentum als Produkt von Erwartungen, Wünschen, Projektionen dekonstruiert? Nennen wir ihn mit Richard Wagner, der auch hier wieder als großer Psychologe, der er war, am Anfang steht, den »traurigen Helden« oder auch »Anti-Helden«. Als dessen Inkarnation kann der Göttervater Wotan gelten.

Gesetz der Ambivalenz

Helden, Anti-Helden und ihre Ableger: Sie alle werden sich im neuen Saisonschwerpunkt der Berliner Philharmoniker präsentieren und wieder in Erinnerung bringen. Doch die Diversifizierung wird noch weitergehen: Es werden auch Heldinnen vorgeführt – und zwar im doppelten, also im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, denn das Gesetz der Ambivalenz gilt auch hier. Ist nicht das »kühne, herrliche Kind«, die von Wotan zum Abschied so bezeichnete Walküre Brünnhilde ein klassisches Beispiel dafür, wie Wagemut und Kampfeslust in Hybris umschlagen können?

Und gilt das nicht auch für die Elektra bei Richard Strauss, die große Hassende, die aber vom »Fluch der Atriden« ebenso geschlagen ist wie die anderen Mitglieder ihrer so merkwürdigen Familie, deren ermordetes Oberhaupt Agamemnon sie rächen will? Ganz zu schweigen von den Damen der Antike, die Händel in seinen Opern aufmarschieren lässt – große Verzichtende und Verzeihende stehen da neben Verderberinnen. Einzig die unter anderem durch Arthur Honegger zu musikalischen Ehren gelangte Jeanne d’Arc schafft es, Frankreich zu einen und es nach fast 100 Jahren Krieg endlich über England siegen zu lassen – allerdings muss sie dafür den Scheiterhaufen besteigen; »und nimmer kehrt sie wieder«, wie Schiller sie am Ende seiner Jungfrau von Orleans auf gut Schwäbisch sagen lässt.

»Heldenvölker«

Damit nicht genug: Gerade im 19., aber durchaus auch noch im 20. Jahrhundert hat die symphonische Musik sich eines Kollektivs angenommen, das in unseren Zusammenhang gehört und das wir gerade in letzter Zeit wieder auf dem Vormarsch erleben: das »Heldenvolk«. Die Sowjetunion beziehungsweise das heutige Russland empfinden den »großen vaterländischen Krieg« als die historische Situation schlechthin, in der sich die Heldenhaftigkeit einer ganzen Nation, einer ganzen Schar von Völkern bewähren konnte. Heute für verbrecherische Expansion missbraucht, war diese kriegerische Ermächtigung doch legitimiert durch die Verteidigungsrolle, aus der heraus sie im Zweiten Weltkrieg nach dem deutschen Überfall von 1941 erfolgte. Nicht nur mit seiner »Leningrader Symphonie« hat vor allem Dmitri Schostakowitsch für das heldenhafte Standhalten jener Stadt, die heute wieder St. Petersburg heißt, eine musikalische Sprache gefunden. In einer Gebrochenheit allerdings, die sich dann auch wieder einem pompösen Patriotismus entzieht, ihn gar konterkariert. Entsprechend prekär war auch die Situation dieses Komponisten in der Sowjetzeit.

Noch ganz ungebrochen als heldisch feiern konnten sich die jungen Völker, die im 19. Jahrhundert auf den Plan traten. Sie griffen gern auf Ursprungsmythen oder -sagen (mitunter auch solche, die sich später als Fälschungen herausstellten) zurück, um sich als Gesellschaften mit gerechtfertigten Unabhängigkeitsansprüchen darstellen zu können. Das beste Beispiel bietet Finnland, das sich mit dem Nationalepos Kalevala einen Figurenkosmos geschaffen hatte, auf den beispielsweise Jean Sibelius immer wieder zurückgriff. In der Zeit um 1900, als sich Finnland von Russland (und Norwegen von Dänemark) lösen wollte, kam Sibelius’ symphonischen Dichtungen nach Motiven aus dem

Kalevala eine identitätsstiftende Rolle zu, die man sich durchschlagender gar nicht vorstellen kann.

Einige Jahrzehnte zuvor hat ein Kronland der Habsburger Monarchie ähnliche Bestrebungen an den Tag gelegt, die ebenfalls in die Musik eingegangen sind. Gemeint ist Böhmen, das man auch das »Konservatorium Europas« genannt hat, so fruchtbar und vielgestaltig war dort das musikalische Schaffen. Am eingängigsten hat bekanntlich Bedřich Smetana dem nationalen Behauptungswillen seines Landes gehuldigt. Sein Zyklus Mein Vaterland ist ein tongewordenes Bilderbuch von idealtypischen Stimmungen Aus Böhmens Hain und Flur, wie das vierte Stück von Mein Vaterland überschrieben ist. Das erste wiederum, Vyšehrad, erinnert nicht von ungefähr an die sagenhafte Burg, die der Ursprung der Stadt Prag gewesen sein soll. Denn hier residierte die Ursprungsheldin der tschechischen Monarchie, genannt Libussa. Von ihr war Smetana so angetan, dass er ihr auch eine Oper gewidmet hat, die wie alle seine musiktheatralischen Werke (außer Die verkaufte Braut) viel zu selten gespielte Libuše

Die verspätete Nation

Ganz anders die Situation in Deutschland, womit wir noch einmal auf die Position des Andrea Sarti aus Brechts Drama Leben des Galilei zurückkommen. Wie sagte doch der idealistische Student dort? »Unglücklich das Land, das keine Helden hat.« Millionen von Deutschen hätten das lange Zeit, ohne mit der Wimper zu zucken, unterschrieben. Es hatte ja seine Helden, aber ach, wie lange lag das zurück? Wagners Recken im Ring des Nibelungen gehen nicht umsonst auf ein mittelalterliches Versepos zurück, das um 1200 seinerseits Vorgänge aufgriff, die damals rund 700 Jahre her waren. Von den vielen Ursprungssagen der europäischen Völker ist dieses Nibelungenlied, dessen Verfasser man nicht kennt, ganz sicher eines der blutrünstigsten; heute würden wir mit der Sprache des Kinos von einem richtigen Splattermovie sprechen. Aber eben das hatte es unseren Landsleuten im 19. Jahrhundert angetan, als die »verspätete Nation«, wie man Deutschland später genannt hat, nach der Einheit lechzte und nach jemandem, der sie durchsetzen konnte. Das begann mit den sogenannten Befreiungskriegen gegen Napoleon.

In Sonderheit war es die studentische deutsche Jugend, die sich solche Männerhelden wie Dietrich von Bern, Jung Siegfried oder, um auch einmal an eine reale Person zu erinnern, Friedrich Barbarossa für ihre dürftige Gegenwart wünschten. Wie schnell würde man mit ihrer Hilfe Napoleon hinwegfegen können. Allein, es fand sich niemand, der den Job machen wollte. Erst spät übernahm der zögerliche König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., diese Aufgabe. Bezeichnenderweise war er derjenige unter den deutschen Fürsten, der am wenigsten zu verlieren hatte, denn seit der verheerenden Niederlage bei Jena und Auerstedt von 1806 war Preußen nur noch ein Schatten seiner selbst. Der österreichische Kaiser war ohnehin ausgeschaltet, und die deutschen Potentaten hatten Napoleon einfach zu viel zu verdanken – machte der französische Diktator sie doch von Herzögen zu Großherzögen, von Kurfürsten zu Königen. Allerdings nur bei entsprechendem Wohlverhalten, will sagen: dem Stellen von Truppenkontingenten. In Napoleons verhängnisvollem Russlandfeldzug von 1812 sind mehr deutsche als französische Soldaten gefallen.

Die getilgte Widmung

Welche Ironie der Geschichte nun aber, dass ausgerechnet die erste bewusst als heldisch deklarierte Komposition der deutschen Musikgeschichte, die folglich auch in der kommenden Saison bei den Berliner Philharmonikern auf dem Programm steht, Beethovens Dritte Symphonie also, die »Eroica«, der Legende nach zunächst Napoleon gewidmet sein sollte! Was war da nur in Beethoven gefahren? Nun, der geborene Bonner und Wahl-Wiener arbeitete 1802/03 an seiner wahrscheinlich bekanntesten Symphonie. Und er, der partout kein »Fürstenknecht« sein wollte und mit der Französischen Revolution sympathisierte, sah damals in Bonaparte noch den Rebellen. Als der kleine Korse sich dann 1804 zum Kaiser krönte, soll Beethoven enttäuscht die Widmung an den großen Feldherrn durchgestrichen haben. Ein Glück, kann man nur sagen, denn das hätten die Deutschen ihm nie verziehen, wenn er dem Unterjocher ihres Landes gehuldigt hätte. Sie nahmen ja auch Goethe lange übel, dass er Napoleons Einladung Folge leistete und sich 1808 zum Kaiser nach

Erfurt begab. Und dann berichtete er auch noch freundlich über die Unterredung. Warum wohl? Nun, die beiden Herren hatten sich über Goethes Werther unterhalten, das gefiel dem Verfasser natürlich!

Doch es hilft alles nichts. Mag die Widmung an Napoleon auch noch rechtzeitig von Beethoven getilgt worden sein: Dass Napoleon am Beginn von Deutschlands musikalischer Heldenverehrung steht, zeigt, dass auch hier mal wieder bei uns der Wurm drin ist. Kein Wunder also, dass das musikalische Heldengedenken knapp 100 Jahre später in der Tondichtung Ein Heldenleben von Richard Strauss endgültig zur Farce geriet. Mit jenem Helden war niemand anderes als der Komponist selbst gemeint. Woher der Höhenrausch?

Ein Heldenleben?

Böse Zungen meinen, dem damaligen Mittdreißiger sei der Erfolg zu Kopf gestiegen. Wohlmeinendere Interpreten weisen darauf hin, dass das alles selbstredend ironisch intoniert gewesen sei. Wie man es auch dreht und wendet: Leicht größenwahnsinnig kommt die Veranstaltung in jedem Fall daher: Mit seinen acht Hörnern, fünf Trompeten, mit je vierfacher Besetzung der Holzbläsergruppen und mindestens 64 Streichern wirkt Ein Heldenleben selbst für ein spätromantisches Orchesterwerk reichlich gigantomanisch.

Aber weist Richard Strauss nicht gerade mit dieser heldischen Selbstfeier in die Zukunft? Erleben wir nicht heute durch die Selbstermächtigung der Namenlosen in den sozialen Medien, dass jeder jetzt ein Held und eine Heldin sein kann? Und sei es nur für einen Tag, wie David Bowie 1977 in seinem wohl berühmtesten Song Heroes postulierte?

Zum Schluss sei an einen alten Spanier erinnert, der sich bereits in den Dreißigerjahren des 17. Jahrhunderts über den Begriff Heldentum Gedanken machte. In seiner Schrift Der Held schrieb der Jesuit und Philosoph Balthasar Gracián: »Du wirst hier weder eine politische noch eine ökonomische Räson, sondern eine Staatsräson deiner selbst finden, einen Kompass, um zur Vortrefflichkeit zu segeln, eine Kunst, dank weniger Klugheitsregeln hervorragend zu werden.« Denn nur wer sich auszeichne durch Vortrefflichkeit, so Gracián, habe das Zeug zur Heldin oder zum Helden. Ob das auch von den Social-Media-Heroes gesagt werden kann, sei einmal dahingestellt. 

 berliner-philharmoniker.de/heroes

Konzerthinweis

• Fr 22.09.23 20 Uhr

Sa 23.09.23 19 Uhr

So 24.09.23 20 Uhr

Großer Saal

Berliner Philharmoniker

Herbert Blomstedt Dirigent

Richard Strauss Metamorphosen für 23 Solostreicher

Ludwig van Beethoven Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 »Eroica«

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Tilman Krause ist leitender Feuilletonredakteur der Tageszeitung Die Welt

Von Martin Demmler

»Wenn ich an einem Stück arbeite, gibt es kaum etwas anderes. Selbst wenn ich versuche, schlafen zu gehen, ist das Einschlafenmüssen viel schwieriger und schlimmer, weil die Kontrabässe ja doch im inneren Ohr weiterrumoren. Dann mache ich meistens das Licht wieder an und schreibe weiter.« Musik ist für Jörg Widmann eine Obsession, der er sich nur schwer entziehen kann. Er lebt nicht nur mit Musik, er lebt in Musik. Als Komponist, Klarinettist und Dirigent hat er sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Konzertsäle der Welt erobert. Er gilt als eine der aufregendsten Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit. Das liegt vor allem daran, dass er mit seinen Werken keinem eingefahrenen Weg folgt, sondern mit jeder neuen Komposition sein Ausdrucksspektrum erweitert und immer wieder überraschende Ansätze ausprobiert.

Würde man heute noch von musikalischen Wunderkindern sprechen, so wäre Jörg Widmann wohl eines gewesen. Klarinettenunterricht im Alter von sieben Jahren, wenig später bereits erste Kompositionen und wichtige Konzertauftritte – das liest sich wie der Beginn einer Bilderbuchkarriere, und die sollte dann ja auch folgen. Doch trotz der innigen Liebe zur Musik bereits in frühen Jahren war es eine ganz normale Kindheit, wie Widmann versichert: »Es gibt Fotos von mir mit verdreckten Knien, einem Ball unterm Fuß und in der Hand die Klarinette. Ich würde es als eine komplett normale Jugend bezeichnen, die allerdings zum Glück sehr von der Musik geprägt war. Meine Eltern waren keine Berufsmusiker, aber sie haben Geige und Cello gespielt und sich beim Quartettspielen ineinander verliebt. Sie sind auch in die Oper gegangen und haben mir den ersten Freischütz ermöglicht. Das ist etwas, was ich nie vergessen werde.«

Mentor Henze

Schon im jugendlichen Alter tritt die phänomenale musikalische Begabung Widmanns klar zutage. Sein Entdecker und vielleicht auch wichtigster Lehrer wird Hans Werner Henze. »Henze leitete damals die Münchener Biennale «, so Widmann, »und er hat unsere

Schule, das Pestalozzi-Gymnasium, angefragt, ob wir nicht ein Musiktheater machen wollen. An der Schule war musikalisch unglaublich viel los. In der Klasse unter uns war übrigens Barbara Schöneberger, deren Vater Soloklarinettist an der Bayerischen Staatsoper war und die ich nicht nur auf dem Schulhof bewundert, sondern auch oft in der Oper gesehen habe … Und dann hieß es jedenfalls: Dieser seltsame Widmann, der komponiert, ja, der muss das machen. Damals habe ich die elfte Klasse fast geschmissen, ich hatte vier Fünfer, katastrophal, weil ich eine Anderthalb-Stunden-Oper geschrieben habe. Henze hat mir da sehr geholfen.« Wenige Jahre später nimmt Widmann auch Unterricht bei Wolfgang Rihm, aber da ist er bereits mit ersten wichtigen Kompositionen hervorgetreten, wie der Fantasie für Klarinette solo, in der der 20-Jährige seiner Lust an Virtuosität und Brillanz frönt – eine ganz persönliche Liebeserklärung an »sein« Instrument.

Schwere Entscheidungen

Von da an geht es kontinuierlich aufwärts. Bald steht der Komponist Widmann gleichberechtigt neben dem Klarinettenvirtuosen. Wichtigstes Kennzeichen seines Ansatzes ist das individuelle Wechselspiel zwischen strenger Formgebung und emotionaler »Ent-Fesselung«. So besitzt jedes seiner Werke eine ganz unverwechselbare Physiognomie. Sie ist jeweils das Resultat aus Material, kompositorischen Mitteln und formaler Gestaltung. Das zeigt sich sehr schön an seinen konzertanten Werken für Violine und Viola. Eine halbe Stunde lässt Widmann den Solisten in seinem ersten Violinkonzert nahezu ohne Pause seinen großen Gesang vortragen. Zu Beginn und zum Schluss des Werks spielt die Violine sogar vollkommen unbegleitet. Eine völlig neuartige Interpretation des konzertanten Gedankens. »Die spannendsten Momente beim Komponieren«, so Widmann, »sind für mich die, in denen das Stück in eine andere Richtung möchte, als ich es mit meiner ursprünglichen Idee wollte. Meistens hat das Stück recht, manchmal muss ich es aber auch in eine bestimmte Richtung zwingen – das ist eine ganz schwere Entscheidung.«

Ganz anders dann das 2015 entstandene Konzert für Viola und Orchester. Hier paart sich der konzertante Charakter mit theatralischen Elementen. So platziert sich der Solist an sieben verschiedenen Standpunkten innerhalb des Orchesters und tritt dabei in einen Dialog mit den ihm nahe stehenden Orchestergruppen. Jede Geste, jede mimische Aktion ist genau in der Partitur fixiert. So etwa: »Spieler schaut sich jäh erschrocken zu der fremden Schallquelle um« oder »Spielen wie in einem orientalischen Märchenland«.

»Das Violinkonzert ist eine ›heilige‹ Gattung«, so Widmann über sein Violinkonzert Nr. 2. »Auch eine Gattung, der man Persönlichstes anvertraut. Zumal dieses Violinkonzert meiner Schwester gewidmet ist.« Carolin Widmann, die berühmte Geigerin, hat das Werk 2018 in Tokio zur Uraufführung gebracht. Für Widmann ist es eine »Übung in Reduktion«, wie er erklärt, »ein permanentes spielerisches Variieren eines trotz Klang- und Farbvielfalt im Grunde streng limitierten Tonmaterials und Gestenvokabulars«. Bei dieser Breite der kompositorischen Ansätze darf man auf die für Juni 2024 in Berlin geplante Uraufführung des Hornkonzerts schon sehr gespannt sein.

Expressives Linienspiel

Einen wichtigen Platz nimmt innerhalb seines Schaffens auch das Musiktheater ein. Seine Oper Das Gesicht im Spiegel wurde von der Zeitschrift Opernwelt zur bedeutendsten Uraufführung der Spielzeit 2003/04 gewählt. Das Musiktheater Am Anfang von 2009 ist das Ergebnis einer einzigartigen Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Anselm

Kiefer. Und die Oper Babylon , deren Libretto von dem Philosophen Peter Sloterdijk stammt und in der unterschiedlichste Musiksprachen aufeinandertreffen, bietet eine neue, hochkomplexe Neuinterpretation des Mythos.

Neben der großen Form hat Widmann jedoch auch ein ausgeprägtes Faible für Kammermusik aller Epochen. Die Streichquartette von Schubert oder Mozart schätzt er ebenso wie die Klarinettenstücke Alban Bergs oder die klein besetzten Arbeiten des von ihm verehrten Robert Schumann. Auf ihn verweisen auch die Bunten Blätter, die Widmann 2022 für das Klavierduo Lucas & Arthur Jussen komponiert hat – von Schumann existiert eine Sammlung von Klavierstücken gleichen Titels. Doch bereits das 1996 im Alter von 23 Jahren geschriebene Trio für Klarinette, Violine und Klavier, Tränen der Musen , zeigt alle charakteristischen Elemente seines Komponierens: ein freies und sehr expressives Linienspiel, eine gestenreiche Motivik und originelle Anklänge an die berühmten Vorgängerwerke für diese Besetzung von Bartók und Strawinsky. Es ist reines Understatement, wenn Widmann in Zusammenhang mit diesem Stück von einem »musikalischen Versuch über drei Töne« spricht.

Dass viele seiner Kammermusikwerke der Klarinette einen zentralen Platz einräumen, ist natürlich kein Zufall. Denn es gibt wenige Komponisten, die ein so inniges Verhältnis gerade zu diesem Instrument haben wie Widmann, der die Besonderheiten seines Instruments genau zu benennen weiß: »Auf jeden Fall die Vielfalt, aber es ist natürlich auch die Magie des Klangs. Die Fähigkeit, den Klang aus dem Nichts zu entwickeln und wieder im Nichts verschwinden zu lassen. Man sieht den Klarinettisten zwar physisch stehen, aber der Klang – im Idealfall – scheint wie aus einer anderen Welt zu kommen. Ich habe viele Klänge auch selber entwickelt oder erfunden, die aus dieser Faszination heraus kommen.«

Tradition und Innovation

Seit Widmann auch als Dirigent immer häufiger in Erscheinung tritt, hat sich sein Aufgabenbereich noch einmal deutlich vergrößert. Ein Konzert, in dem er als Solist, Dirigent und Komponist auftritt, ist nicht nur rein sportlich eine besondere Herausforderung. »Ich mache das natürlich in meinem Leben immer wieder, aber es ist nicht ohne. Ich probiere meistens, das Klarinettenkonzert vor dem Dirigieren zu spielen, weil es von den Bewegungsabläufen doch etwas anderes ist.« Wenn er seine Konzertabende zusammenstellt, legt er großen Wert auf Werke unterschiedlicher Epochen: »Für mich sind die Programme am spannendsten, die die Musik der Vergangenheit mit der heutigen Musik kombinieren. Es ist manchmal zu wenig, wenn ich ausschließlich Zeitgenössisches höre. Aber ebenso, wenn es den ganzen Abend nur Barockmusik gibt. Für mich entzündet sich die Musik vor allem in einem Dialog über die Jahrhunderte hinweg.« Das Komponieren während ausgedehnter Konzerttourneen hat er allerdings mittlerweile eingestellt. »Das habe ich früher, vor vier oder fünf Jahren, noch gemacht. Aber das schafft der Körper nicht mehr, auch wenn es mir Spaß gemacht hat. Deshalb versuche ich, die Phasen jetzt zu trennen.«

Konzerthinweis

• Sa 09.09.23 19 Uhr

So 10.09.23 20 Uhr

Großer Saal

Musikfest Berlin

Berliner Philharmoniker

Jörg Widmann Dirigent und Klarinette

Carolin Widmann Violine

Jörg Widmann

Con brio, Konzertouvertüre

Violinkonzert Nr. 2

Fantasie für Klarinette solo Felix Mendelssohn Bartholdy Symphonie Nr. 5 d-Moll op. 107

»Reformationssymphonie«

Widmanns unverkrampfter Umgang mit der musikalischen Tradition ist vielleicht auch einer der Gründe, weshalb er mit seiner Musik in den Foren der Avantgarde ebenso reüssieren kann wie im traditionellen Symphoniekonzert. »Tradition und Innovation zu verbinden«, so hat er einmal sein zentrales künstlerisches Anliegen formuliert. Wie etwa in seiner Konzertouver türe Con brio. Sie bezieht sich auf die Symphonien Nr. 7 und 8 von Beethoven, die beide einen »Allegro con brio«-Satz enthalten. Widmann nimmt die Vortragsbezeichnung »con brio« – »mit Feuer« ernst. Sein Ziel war es hier, »Furor und rhythmisches Drängen« nach Art Beethovens neu zu entfachen, gleichsam weiter zu zündeln.

An Projekten oder an neuen künstlerischen Konzeptionen mangelt es Jörg Widmann nie. Er steht eher vor der Herausforderung, alles, was er noch machen möchte, unter einen Hut zu bringen: »Mein Problem, zugespitzt, war ja nie, nicht genügend Ideen zu haben und wie das Kaninchen vor der Schlange vor der leeren Seite zu sitzen, händeringend hoffend, dass eine Idee herniedersinken möge. Mein Problem war immer: zu viele Ideen. Eines meiner Lebensthemen ist, Formen für diese Fülle zu finden. Ich könnte tausend Sachen machen – das Entscheiden ist das Schwere.« 

 berliner-philharmoniker.de/composer-in-residence