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Berufsporträt

«Silicon ist eine Diva»

In dieser Werkstatt in den Arova-Hallen trifft Handwerk auf die Poesie der Täuschung: Tina Ehrat verwischt mit ihren Arbeiten die Grenze zwischen Realität und Abbild. Menschen, Tiere und Objekte wirken so echt, dass sie bei vielen Betrachtern Reaktionen wie Staunen, Neugierde oder gar Erschrecken auslösen.

TEXT UND BILDER JEANNETTE VOGEL

Die ehemaligen Büroräume der «Bindi» in Flurlingen wirken eher wie eine Wunderkammer, denn eine Werkstatt: Falke, Krähe und Papagei sitzen traulich zusammen, der Oberkörper einer Königin und ein ausgewachsener Biber geben sich ein Stelldichein, eine haarige Hand hingegen hat einen Soloauftritt und erinnert an das «eiskalte Händchen», das die Fans der «Addams Family» so lieben. Seit nunmehr 18 Jahren beschäftigt Tina Ehrat sich mit Täuschungen, mit Museums- und anderen Anschauungsobjekten. Sie bezeichnet sich selbst als «Objektgestalterin oder so», eine Berufsbezeichnung für ihre Tätigkeit gibt es nicht. Auch «Margrith» befindet sich nun wieder in den Werkstatträumen von Marcel Nyffenegger und Tina Ehrat auf dem früheren Industrieareal. Während der Ausstellung «Hühner – Unterschätztes Federvieh» im Museum zu Allerheiligen umkreisten viele das etwas gebrechlich scheinende Grosi, bevor sie sicher waren, dass sie nicht aus Fleisch und Blut sei. So sicher man sich eben sein kann, bei einer täuschend echt wirkenden Figur, von den Kleidern über die Körperhaltung, die Frisur bis zu den Altersflecken auf dem Handrücken: alles wirkt stimmig. Ein eingerissenes Nagelhäutchen vervollkommnet das Gesamtbild. «Es fällt auf, wenn etwas fehlt, und wenn es bloss ein winziges Detail ist.» Kein Zweifel, da spricht eine Perfektionistin.

Dabei hat Tina Ehrat einst ganz woanders angefangen, wurde bei der IWC zur Uhrmacherin ausgebildet, wechselte dann zu einer auf Film spezialisierten Schule und wurde Maskenbildnerin. Kurz nach der Jahrtausendwende, während eines Praktikums im Atelier von Marcel Nyffenegger, lernte sie einiges über Schädelaufbau und Gesichtsrekonstruktionen – und blieb. Der Präparator befasst sich mit künstlichen Nachbildungen aller Art. «Er ist gelernter Zimmermann und eher der Mann fürs Grobe, ich bin die Frau fürs Feine.» Die beiden teilen sich nicht nur Räume, sondern teilen auch die Faszination für hyperreale Abbilder. Sie haben einen grossen Bedarf an Haaren und arbeiten mit Werkstoffen wie Polyesterharz und Silicon, wobei: «Silicon ist eine Diva», sagt Tina Ehrat. «Auf Silicon kann nur Silicon aufgetragen werden.» Ein einzelnes weisses Kunsthaar hat sich zwischen

Täuschend echt: Die ausgebildete Maskenbildnerin Tina Ehrat erschafft die Illusion der Realität.

ihren beiden Brillen verfangen, die sie lässig übereinander trägt. Sie blickt prüfend auf den Kopf vor sich und führt das Instrument mit chirurgischer Präzision zu seinem linken Auge: Der Bärtige zuckt mit keiner seiner überlangen Wimpern. Die Nachbildung, an der sie gerade arbeitet, ist für ein auswärtiges Museum bestimmt. Hauptauftraggeber des Duos sind denn auch Museen im In- und Ausland.

150 000 EINZELNE HAARE

Es braucht viel Vorstellungskraft, allein um sich ein Bild von einer menschlichen Hand mit ihren 27 Knochen, 33 Muskeln und drei Nerven zu machen, geschweige denn eine ganze Figur zu erschaffen. Ihre Arbeit prägt ihre Sicht auf die Dinge: «Als ich eine Nase modellieren musste, habe ich jedem, den ich angetroffen habe, bloss auf die Nase gestarrt und mir Details gemerkt.» Trotzdem – Schwierigkeiten gebe es immer, sagt Tina Ehrat: «Viel Ausschuss produzieren wir auch.» Vier bis fünf Personen braucht es, bis eine menschliche Figur entsteht. Freie Mitarbeitende sind beispielsweise eine Schneiderin und ein Holzbildhauer, aber vor allem werden Kopfhaarstecker benötigt: «Sie fädeln bis zu 150 000 einzelne Haare ein.» Augenbrauen, Wimpern, Arm- und Handhaare sind hingegen Tina Ehrats Spezialität, sie rückt ihnen nach dem Einfädeln mit Kamm, Schere und Onduliereisen zu Leibe. Das Team arbeitet so lange, bis es zum Aha-Erlebnis kommt, bis die Figur – wenn auch bloss für Sekunden – das eigene Auge täuscht, wenn es die Grenze zwischen Realität und Illusion nicht mehr zu unterscheiden vermag. Tina Ehrats Konklusion: «Die Körpersprache macht einen Menschen, aber auch ein Tier aus.»

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Perfekt nachgebildet und auch unter dem Hut perfekt frisiert: In der Illusionswerkstatt wird haargenau auf jedes Detail geachtet.

Die Gestalterin arbeitet mit chirurgischer Präzision an einer Figur für ein auswärtiges Museum. In der Illusionswerkstatt von Tina Ehrat geht es nicht um l’art pour l’art. Sie sieht sich als Handwerkerin, die Genauigkeit liebt und ihre Vorliebe für Denkaufgaben und Details beruflich ausleben kann. «Illusion» lautete 2004 das vorgegebene Thema ihrer Maturaarbeit. Mit ihrer Licht-Installation nahm sie sich der Frosch-Prinz-Problematik an und schuf Abhilfe: Der Schatten ihres Frosches sah aus wie ein Prinz. «Alles, was wir sehen, kann auch anders gesehen werden. Ich frage mich deshalb: Ist nicht ohnehin alles, was wir sehen, bloss eine Illusion?» – diese Gedanken des Berner Künstlers Sandro Del-Prete bilden den mentalen Ausgangspunkt für ihre Werke. «Sie sind meine innere Triebfeder», sagt Tina Ehrat.

«REALITÄT VERPFLICHTET»

«Einen Stein oder einen Apfel täuschend echt nachzumachen, finde ich faszinierend.» Erst wenn sich jemand beim Anblick ihrer Glacekugeln sorgt, dass die süsse Pracht gleich zerläuft, ist Ehrat ganz mit ihrer Arbeit zufrieden. Mit ihrer Illusionswerkstatt will sie ein Publikum ausserhalb der Museumsbranche ansprechen. «Ich würde gerne Requisiten für einen Filmdreh herstellen. Beispielsweise einen scheinbar schweren Gegenstand, den man dem «Opfer» über den Schädel ziehen kann.» Arbeiten für den Film seien nicht mit solchen fürs Theater vergleichbar, sagt Tina Ehrat: «Beim Film darf man auf nahe Distanz die Veränderung nicht erkennen, im Theater kommt es mehr auf den Effekt an.»

Ein Müsterli ihrer Arbeit liegt auch bei Tina Ehrat zu Hause in der Fruchtschale: «Viele fallen auf das falsche Mandarinli herein», freut sie sich. Ihren Freund sieht sie hingegen ab und zu doppelt: «Einmal im Original und einmal, etwas jünger, als Figur.» Immer wieder stellt sie Vogeleier und Tierkot her, wobei Letzteres das weit grössere Geschäft ist. Ohne Anfang oder Ende erscheint das Ei. Wenn im Innern aber Leben heranwächst, gibt es mehr zu zeigen als Schale, Eiweiss und Eigelb. Die Lösung für das Darstellen der zarten Blutgefässe war ein roter Nähfaden, den Tina Ehrat in Einzelfäden zerlegte: «Realität verpflichtet. Ich bin nicht auf Schönheit spezialisiert.» Frisch wirkende Häufchen von einheimischen Waldtieren werden besonders häufig bestellt, und auch naturgetreuer, effektvoll bemalter Kot von Affen, Elefanten oder Nashörnern wird von Tierkundlern oder Zoos nachgefragt. Auch hier geht es zuerst um eine genaue Recherche, häufig in Büchern, seltener über das fast allwissende Internet: «Otter haben Schuppen und Fischgräte im Kot. Der Wolf hat viele Haare drin.»

WANGENKNOCHEN À LA BÖSE FEE

Tina Ehrats Malerhose wirkt fast wie ein angezogenes Gemälde, ihrer Fantasie und Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt – Grenzen setzt aber häufig das Budget. «Wenn potenzielle Kunden hören, wie viel ihr Wunsch in etwa kosten wird, springen viele ab.» Doch auch in diesem Punkt lohnt sich kreatives Denken: «Eine Privatkundin wollte als ‹Maleficent› an eine Märchenparty gehen», erzählt Tina Ehrat. Charakteristisch für die «dunkle Fee» sind rote Lippen, bleiche Haut, dunkle Augen und vor allem spitze Wangenknochen. Deren Herstellung wäre aber zu teuer gewesen, die Objektgestalterin fand eine Lösung. Sie bestellte die Wangenknochen in England: «Dort gibt es schon entsprechende Formen.» Aufkleben und Schminken dauerte dann rund drei Stunden.

Und in der Wunderkammer auf dem Arova-Areal wird nicht bloss das Auge getäuscht. Als Tina Ehrat die Radiomusik abstellt, schallt weiterhin Gesang: «Der kommt aus der Werkstatt nebenan, die singen wirklich.» 

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