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Cersaie 2021

Norman Kietzmann

Die Expansion der Fliese

Die Region Reggio Emilia ist das Zentrum der italienischen Fliesenhersteller. Und die erfinden sich derzeit neu. Mit großformatigen Zuschnitten, reliefartigen Strukturen und spannenden Dekoren. Sie definieren nicht länger einen neutralen Hintergrund im Badezimmer, sondern entfalten ihre Wirkung in der gesamten Innenraumgestaltung.

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Zumindest in der Welt der Keramik. Während die Möbelbranche zurzeit in eher vorsichtigen Schritten voranschreitet, bewegen sich die Fliesenhersteller im Galopp. Denn ihr Geschäftsmodell hat sich verändert. Sie richten längst nicht nur Bäder und Küche ein. Die neuen Fliesen bespielen alle Oberflächen im Zuhause, ob im Wohnzimmer, Schlafzimmer, auf der Terrasse oder an der Poolkante. Kurzum: Fliesen sind ein universal einsetzbares Medium für Inneneinrichter geworden, die ihr Potenzial nun vollends entfalten. Der Grund dafür liegt in einem technologischen Sprung, der in den vergangenen Jahren immer weiter verfeinert wurde. Denn Fliesen lassen sich heute fotorealistisch bedrucken – womit die kreativen Karten völlig neu gemischt werden.

Zunächst mag die Herstellung von Fliesen recht archaisch anmuten. Wer die Fabrik des großen italienischen Fliesenherstellers Casalgrande Padana betritt, findet sich inmitten von Bergen aus Kies und Ton wieder. Bagger befördern die Erden zu großen Metallzylindern, die schleppend rotieren und mit krumpelnden Geräuschen ihren Inhalt zermahlen. Bei der Keramikproduktion werden verschiedene Tonarten mit Quarzsand, Feldspat, Schamotte, Farbstoffen und mineralischen Zusätzen in mächtigen Apparaturen miteinander vermischt. Dicke Rohre und Schläuche ragen aus den Maschinen heraus und führen weiter zu großen Tanks, wo die Erden mit Wasser vermengt und anschließend zu endlosen Strängen gepresst werden. Auf kilometerlangen Bändern wandern sie vollautomatisch von einer Verarbeitungsstufe zur nächsten. Zunächst werden die Stränge in Segmente geschnitten und in bereits erkennbare Fliesenformate gepresst. Nach dem Durchlaufen verschiedener Veredelungsstufen werden sie in Öfen bei 1.200 Grad Celsius gebrannt. Bevor die Fliesen mit selbstfahrenden Robotern zur Packstation transportiert werden, durchlaufen sie die Qualitätskontrolle. Pressen üben fast eine Tonne Druck auf jede einzelne Platte aus – genug um sie schon bei kleinsten Rissen brechen zu lassen. Laserstrahlen tasten die Oberflächen ab, damit selbst minimale Krümmungen oder Verzerrungen ausgeschlossen werden. Vier Fünftel aller Fliesenhersteller Italiens haben ihren Sitz in der 40.000-Einwohner-Stadt Sassuola, ebenso wie der Dachverband der Branche, die Confindustria Ceramica. Die Branche ist vergleichsweise gut durch die Wirren der vergangenen Monate gekommen. „In der zweiten Hälfte des letzten Jahres haben wir einen Großteil des durch die Pandemie verursachten Umsatzeinbruchs wieder aufgeholt, ein positiver Trend, der es uns ermöglicht hat, das Niveau vor der Pandemie im ersten Quartal 2021 zu übertreffen“, erklärt Giovanni Savorani, Präsident der Confindustria Ceramica. Gegenüber dem Vorkrisenjahr 2019 sind die Umsätze im ersten Quartal 2021 um sieben Prozent gestiegen. Dass die Produktion im Frühjahr 2020 über Monate stillstand, konnte durch den Verkauf von Lagerware überbrückt werden. So wurde 2020 ein Umsatz von 5,13 Milliarden Euro erzielt, was gegenüber dem Vorjahr einem moderaten Rückgang von 3,9 Prozent entspricht.

Die Branche blickt nun nach vorn – was sich umso mehr auf der Keramikmesse Cersaie in Bologna gezeigt hat. Im September 2021 markierte sie einen Neuanfang nach dem Ausbruch der Pandemie. Die dort gezeigten Wand- und Bodenverkleidungen haben mit dem ernüchternden Flachzeug aus dem Baumarkt kaum etwas gemeinsam. Die neuen Fliesen probieren neue Formate aus, die Rechtecke, Hexagone oder Oktogone umfassen und so das klassische Quadrat erweitern. Auch wachsen die Fliesen in ihren Dimensionen auf stattliche Maße von bis zu 160 mal 320 Zentimetern an. Selbst Küchenarbeitsplatten und Waschtische werden verstärkt aus Keramik gefertigt – und nicht nur allein die Verkleidungen für Wand und Boden. Zudem werden die Fliesen digital bedruckt, und zwar weit hochauflösender, als es früher bei der Fototapete gelungen ist. Für die Innenraumgestaltung eröffnen sich dadurch ganz neue Möglichkeiten, die nun in voller Stärke ausgeschöpft werden. Ein zentraler Trend sind großformatige Natursteinmotive, die selbst aus nächster Nähe kaum von echtem Stein zu unterscheiden sind. Fliesen sind nicht nur deutlich günstiger, sondern auch leichter – was wiederum in einem Zugewinn an Größe mündet. Wurden mit Marmor bisher nur einzelne Bereiche hinter der Badewanne oder dem Waschbecken verkleidet, können Keramikfliesen mit Marmormotiven ganze Wände und Böden bespielen – und zwar vollflächig. Räume lassen sich somit monochrom in Naturstein tauchen, ein Effekt, der selbst in barocken Schlössern oder antiken Palästen nicht umsetzbar war. Die unregelmäßigen Marmorierungen beleben die Raumgrenzen. Sie vereinen Luxus, Extravaganz und Sinnlichkeit, vor allem wenn verschiedene Steinsorten in unterschiedlichen Farbnuancen miteinander kombiniert werden. Sie bilden eine begehbare Collage, bei der sich die einzelnen Wand- und Bodenflächen gegenseitig überlagern.

Foto] ©haitham

Die Natur geht auch auf anderer Ebene eine Liaison mit der Keramik ein: in Form von Pflanzenmotiven, die von einzelnen Palmenwedeln über exotische Dschungeldarstellungen bis hin zu überdimensional vergrößerten Blumen reichen. Auch hier wird eine räumliche Erweiterung erzielt. Indem sich eine ganze Wand in eine Landschaft verwandelt, wird die Wirkung einer Zimmerpflanze oder eines Blumenstraußes multipliziert. Echte und künstliche Natur verdichten sich zu einer atmosphärischen Melange – die mit warmen Farben und unzähligen floralen Details die Blicke auf sich zieht. Sie bilden ein Suchbild mit geradezu hypnotischer Wirkung. Was auf der diesjährigen Cersaie besonders ins Auge fiel: Einige Fliesen orientieren sich an viktorianische Stilleben sowie an den Tapetenmustern der Liberty-Ära. Bei letzteren werden Blumenmotive mit vergoldeten Flächen kombiniert, die einen edlen Schimmer ins Zuhause werfen.

Wer es weniger blumig mag, kann aus einer breiten Auswahl an geometrischen Dekoren wählen. Die Sehsucht nach Abstraktion ist kein Plädoyer für Monotonie. Ganz im Gegenteil: Die neuen Fliesen warten mit Mustern auf, die sich spielerisch aneinander- fügen lassen, um unregelmäßige, nicht repetitive Verläufe zu erzeugen. Auch hier ist das Ziel, über das Format der einzelnen Fliese hinauszugehen und ein Dekor zu erzeugen, das sich auf der gesamten Breite einer Wand oder eines Bodens entfaltet. Das Flächenprodukt Fliese entfaltet plötzlich den Eindruck von räumlicher Tiefe, der durch reliefartige Strukturen zusätzlich gesteigert wird. Keramik wird so zur „Geheimwaff e“, um Räumen die nötige Würze zu verleihen: ganz gleich ob im wandfüllenden Maßstab oder als kompakte Fläche, die an ein Bild erinnert – nur mit dem Unterschied, dass dieses nicht an der Wand hängt, sondern mit ihr verschmilzt. Die Parameter der Inneneinrichtung sind damit neu gesetzt.

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