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Daniel Barenboim - Beethoven-Klaviersonaten

Ein Makrokosmos der MusikLudwig van Beethovens Klaviersonaten

Michael Kube

In der Musikgeschichte der letzten 800 Jahre finden sich einzelne Kompositionen und ganze Werkgruppen, die aus dem nahezu unüberschaubaren Repertoire wie erratische Blöcke herausragen. In vielen Fällen darf man sogar davon ausgehen, dass ihre Schöpfer sich dessen an einem gewissen Punkt bereits bewusst waren – auch wenn sie sich mit der jeweiligen Partitur zunächst im Rahmen eines traditionellen Kontextes bewegten. Andererseits gibt es Extremfälle: Während etwa Franz Schuberts „Große“ C-Dur-Symphonie erst von der Nachwelt entdeckt werden musste (und sie nach ihrer Erstaufführung 1839 die jüngere Generation mitunter stark beeindruckte), war Arnold Schönberg von der Bedeutung seines neuen Weges so eingenommen, dass er ernsthaft äußerte, mit der Dodekaphonie „die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten 100 Jahre“ gesichert zu haben. Im Bereich der Klaviermusik sind es zwei Zyklen, einer aus dem 18. und einer aus dem 19. Jahrhundert, denen mit einem biblischen Vergleich größte Geltung zugesprochen wurde. So bezeichnete der Dirigent und Pianist Hans von Bülow das erst 1801 erstmals im Druck erschienene Wohltemperierte Klavier (Teil 1) von Johann Sebastian Bach als das „Alte Testament“, Beethovens 32 Klaviersonaten als „Neues Testament der Klavierspieler.“ Welch umfassende Bedeutung schon unter den Zeitgenossen gerade diesen Sonaten zugebilligt wurde, zeigt die Einschätzung von Carl Czerny, der davon überzeugt war, dass die Sonaten „allein hinreichen würden, seinen [Beethovens] Namen unsterblich zu machen.“ Und dennoch: derartige Werke fallen nicht einfach vom Himmel. Vielmehr entstanden sie unter spezifischen Voraussetzungen in einem besonderen Umfeld und Kontext – von biographischen Konstellationen über die Entwicklung einer Gattung bis hin zur Individualität und Originalität jeder einzelnen Komposition.

Von Bonn nach Wien… Zweimal brach Beethoven von seiner Geburtsstadt Bonn aus nach Wien auf. Die erste Expedition im Jahr 1787 diente vermutlich nur der Orientierung und währte nur wenige Wochen, wobei die Rückreise interessanterweise auf einem weitaus längeren Weg über München, Regensburg und Augsburg erfolgte. Entscheidender ist nach fünf Jahren weiteren Reifens die nun auf längere Sicht hin geplante Reise in die kaiserliche Hauptstadt, zu der der hellsichtige Graf von Waldstein dem jungen Musiker am 29. Oktober 1792 ins Tagebuch notierte: „Lieber Beethoven! Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozart’s Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglings. Bei dem unerschöpflichen Hayden fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens Händen.“

Die politischen und institutionellen Umwälzungen der nachfolgenden Jahre sorgten indes dafür, dass aus dem ursprünglichem Studienaufenthalt unversehens eine dauerhafte Übersiedelung wurde. Der Stadt Wien blieb Beethoven fortan treu: Nach anfänglichen Konzertreisen mit Auftritten in Prag, Berlin, Leipzig und Budapest (1796, 1798 und 1800) blieben weitergehende Pläne für Paris und London unausgeführt. Darüber hinaus hatte sich Beethoven seit März 1809 mit dem großzügig bemessenen Zuwendungsvertrag seiner adeligen Gönner einen Aufenthalt in Wien (oder einer anderen österreichischen Stadt) verbürgt sowie zugestanden, diesen lediglich nach Einverständnis und „nur auf Fristen zu verlassen, welche Geschäfte, oder der Kunst Vorschub leistende Ursachen veranlassen könnten.“ Eine besondere Einschränkung der Bewegungsfreiheit bedeutete dies freilich nicht, scheute er doch bei fortschreitendem Gehörverlust zusehends den Kontakt zur Außenwelt. Diese Vereinbarung war die konsequente Folge von Beethovens – bewusst oder unbewusst – geschicktem Auftreten in den großen aristokratischen Salons der Stadt, in die er schon 1787 auf Empfehlung des Bonner Kurfürsten Einlass gefunden hatte. Dem Wunsch der Adligen nach Exklusivität kam er mit seinem Auftreten, seinem Spiel und seinen Werken späterhin konsequent nach, zudem boten sie ihm aber auch gesellschaftlichen Raum wie aufführungspraktische Möglichkeiten, um zu experimentieren und originell zu werden (vergleichbar seinem Lehrer Joseph Haydn auf Schloss Eszterháza). Beethoven standen – im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten seiner Zeit – damit auch bedeutende musikalische Ressourcen zur Verfügung: vom Schuppanzigh -Quartett bis hin zu ausreichend besetzten Orchestern für Probeaufführungen seiner Symphonien.

Beethoven am Klavier

Wie wohl kein anderes Instrument übte das Klavier maßgeblichen Einfluss auf die Musikgeschichte der letzten 300 Jahre aus. Dies liegt nicht allein an seiner Verbreitung im Salon und seiner Position im gesellschaftlichen Leben des 19. Jahrhunderts, sondern mehr noch an den durch eine vollkommen neuartige Technik eröffneten musikalischen und interpretatorischen Möglichkeiten. Denn im Gegensatz zum Cembalo, bei dem die einzelnen Saiten direkt von der Taste aus gezupft werden, besitzt das Klavier einen indirekten Weg über Hebel und Hämmerchen, mit denen die Saiten in Schwingungen versetzt werden und diese auch halten können. Dieser paradigmatische Wechsel vom Kielflügel zum Hammerklavier, der sich aus heutiger Perspektive als geradezu revolutionär erweist, war freilich erst weit nach der Wende zum 19. Jahrhundert abgeschlossen. Sowohl als Pianist wie auch als Komponist war Beethoven an dieser Entwicklung zwar nicht direkt, aber maßgeblich beteiligt – forderte er doch mit seinen Sonaten den Instrumentenbau sowohl hinsichtlich der schrittweisen Erweiterung des Ambitus wie auch in der Steigerung der Dynamik heraus. Bereits 1796 machte Beethoven in einem Brief an den Klavierbauer Andreas Streicher deutlich, dass ihm das Instrument klanglich vielfach noch zu harfenähnlich sei, Streicher aber mit seiner Bauweise einer von wenigen sei, die „einsehen und fühlen, dass man auf dem Klavier auch singen könne, sobald man nur fühlen kann.“

Um die Jahrhundertwende spielte Beethoven nachweislich auf Instrumenten von Anton Walter und Streicher; mit einem bei der Pariser Firma Érard bestellten Flügel war er weniger zufrieden. Offenbar fungierten Pianisten und Komponisten wie er schon damals als moderne „Markenbotschafter“: 1818 folgte ein Instrument der Londoner Firma Broadwood, 1826 stellt ihm Conrad Graf ein Fortepiano aus seiner Werkstatt zur Verfügung. Doch nicht allein die bautechnische Entwicklung sorgte für eine Veränderung des Klanges, sondern auch die sich von Generation zu Generation wandelnde Spieltechnik. So notierte Carl Czerny in seiner 1839 erschienenen Theoretisch-praktischen Piano-Forte Schule die Unterschiede: „Mozarts Schule: Ein klares, schon bedeutend brillantes Spiel, mehr auf das Stakkato, als auf das Legato berechnet; geistreicher und lebhafter Vortrag. Das Pedal selten benutzt und niemals notwendig. Beethovens Manier: Charakteristische und leidenschaftliche Kraft, abwechselnd mit allen Reizen des gebundenen Kantabile ist hier vorherrschend.“ Noch genauer wird Czerny, schon als Knabe von Beethoven im Klavierspiel wie in der Komposition unterwiesen, wenn er dessen Spiel und Schaffen im Kontext der Jahrhundertwende beschreibt: „Beethoven, der um 1790 erschien, entlockte dem Fortepiano ganz neue kühne Passagen durch den Gebrauch des Pedals, durch ein außerordentliches charakteristisches Spiel, welches sich besonders im strengen Legato der Akkorde auszeichnete und daher eine neue Art von Gesang bildete – viele bis dahin nicht geahnte Effekte. Sein Spiel besaß nicht jene reine und brillante Eleganz mancher andrer Klavieristen, war aber dagegen geistreich, großartig und besonders im Adagio höchst gefühlvoll und romantisch.“

Beethoven und die Gattungen

Wie sehr sich Beethoven selbst als Komponist vom Klavier her dachte, zeigen in eindrucksvoller Weise all jene Werke, die ab Sommer 1795 in Wien erschienen. Im Gegensatz etwa zu den drei frühen „Kurfürsten-Sonaten“ (WoO 47), die schon 1783 bei Boßler in Speyer erschienen waren, oder all den Variationswerken aus Bonner und Wiener Zeit, die als schnell vom Markt aufgesogene Gebrauchsmusik ebenfalls ohne durchgehende Zählung gedruckt worden waren, setzte Beethoven mit seinem Opus 1, einer Sammlung von drei Klaviertrios höchsten Anspruchs, einen unübersehbaren Markstein, dessen neuartige Ausdruckstiefe und symphonische Dimension selbst Joseph Haydn beeindruckte. Zugleich stellte sich Beethoven damit auch gegen eine ungeschriebene Tradition, die gültige eigene Werkzählung mit einer Kollektion von sechs Streichquartetten als Ausweis kompositorischen wie handwerklichen Vermögens zu eröffnen.

Auch die folgenden Jahre (und Opera) blieben weitgehend mit dem Klavier verbunden – allein oder in kammermusikalischer Besetzung. Bis zu den ersten sechs Streichquartetten, dem Septett Es-Dur und der 1800 uraufgeführten Ersten Symphonie sind dies nicht weniger als zehn Klaviersonaten, eine Sonate für Klavier zu vier Händen, zwei Sonaten mit Violoncello, drei mit Violine und eine mit Horn. Hinzu kommen ein weiteres Klaviertrio, ein Klavierquintett und schließlich die beiden ersten Klavierkonzerte. Die Entstehung von Sonaten (und anderen Werken) verläuft während der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts noch weitgehend kontinuierlich, kommt dann aber unvermittelt zum Stehen: Beethovens anhaltendes Gehörleiden und die daraus resultierende Hinwendung zu anderen Gattungen, insbesondere dem Streichquartett, lassen sich deutlich an den Veröffentlichungen ablesen. Die letzten fünf Klaviersonaten datieren aus den Jahren zwischen 1817 und 1822, danach entstanden nur mehr zwei Sammlungen von Balladen sowie die Diabelli-Variationen. Beethovens kompositorisches Interesse verlagerte sich danach auf größere Formen, wie bei der Missa solemnis und der Neunten Symphonie, wie auch auf das Streichquartett mit einer quasi abstrakten vierstimmigen Faktur.

Zwischen Repertoire und Markt Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klaviersonate den Höhepunkt ihrer Beliebtheit schon überschritten. In „Mode“ gekommen war sie Mitte des 18. Jahrhunderts – und dies nicht nur in Wien, sondern vor allem in London und Berlin, während man unter den Theoretikern in Paris generell mit der Instrumentalmusik haderte: Ganz ohne Vokalstimmen und die durch diese vermittelten Worte erschien sie ihnen kalt und ohne Ausdruck, so dass Jean-Jacques Rousseau 1768 in seinem Dictionnaire de Musique zum Schluss des Sonaten-Artikels die Frage stellte: „Sonate, que me veux-tu?“ (Sonate, was willst du von mir?). Dieser Zwischenruf änderte freilich nichts am Geschmack des Publikums, das je nach technischer Fertigkeit kompositorisch auf unterschiedlichen Niveaus bedient wurde. Wie groß der Bedarf nach stets neuen Stücken war, zeigen aber nicht nur die Werke, die von Haydn, Mozart, Clementi und Pleyel im Druck erschienen, sondern auch die all jener Komponisten, die man heute gemeinhin kaum mehr dem Namen nach kennt. Denn eine gut gehende Klaviersonate bedeutete in der zweiten Hälfte des Jahrhundersts für einen jungen Komponisten ein Stück hochwillkommener Reputation. Auf Werke von Joseph Wölfl bezogen, der neben Daniel Steibelt und Johann Ladislaus Dussek als Pianist mit Beethoven konkurrierte, notierte etwa Friedrich Rochlitz im Jahre 1799 schon im retrospektiven Tonfall, dass „jeder Musiker, welcher in den Orden der für das Publikum arbeitenden Komponisten aufgenommen werden wollte, gewöhnlich mit Klavierkompositionen, namentlich mit Solosonaten, in die Laufbahn trat.“

Nur wenige Jahre später hatten die Vorlieben des Publikums gewechselt – eines Publikums, das adelig oder großbürgerlich im eigenen Salon musizierte oder zunehmend einfach nur in der „guten Stube“ dem Klavier Töne und Melodien entlockte. Nicht länger waren dabei groß angelegte, mehrsätzige Kompositionen gefragt, sondern kurze Klavierstücke individuellen Charakters und romantischer Prägung – vom Albumblatt und der Bagatelle über das Nocturne und das Lied ohne Worte bis hin zum Prélude oder dem selbständigen Scherzo; die Liste der Bezeichnungen wie auch der mitunter programmatisch bestimmten Titel, auch ganzer Sammlungen (wie etwa Schumanns Waldszenen), ließe sich nahezu beliebig erweitern. So berichtet Felix Mendelssohn im Sommer 1830 aus München voller Verwunderung: „Selbst die besten Clavierspieler am Ort wussten kaum, dass Mozart und Haydn auch für das Clavier geschrieben hätten; Beethoven kannten sie nur vom Hörensagen; Kalkbrenner, Field, Hummel nennen sie classische oder gelehrte Musik.“ Und noch 1839 notierte Robert Schumann mit betrübtem Blick auf die einstmals große Tradition der Sonate: „Das Publikum kauft schwer, der Verleger druckt schwer, und die Komponisten halten allerhand, vielleicht auch innere Gründe ab, dergleichen Altmodisches zu schreiben.“

Erst wieder bei Johannes Brahms, der sich mit seiner Klaviersonate C-Dur op. 1 von 1853 freilich explizit auf Beethoven und dessen „Hammerklavier“-Sonate bezieht, mehr aber noch bei Franz Liszt und seiner einsätzig-zyklisch gestalteten Sonate h-moll aus demselben Jahr zeigt sich wieder der gattungsspezifische und kompositionstechnische Anspruch an die Sonate, wie er bereits 1789 von Daniel Gottlob Türk in seiner verbreiteten Klavierschule formuliert worden war: „Die Sonate verdient unter den Tonstücken, welche für das Klavier bestimmt sind, wohl mit dem mehrsten

Rechte die erste Stelle. […] Folglich setzt diese Gattung von Instrumentalstücken einen vorzüglichen Grad der Begeisterung, viel Erfindungskraft und einen hohen, fast möchte ich sagen musikalisch-poetischen, Schwung der Gedanken und des Ausdruckes voraus.“

Nachwirkungen

Abgesehen vom weiteren gattungsgeschichtlichen Kontext, der nur selten einmal einen geraden Weg ohne Seitenpfade aufzeigt, wurden im weiteren 19. Jahrhundert die zwischen 1795 und 1822 mit einer Opuszahl veröffentlichten 32 Klaviersonaten Beethovens bald als vollendete Muster ihrer Art beschworen, wenn nicht gar mythisch überhöht. Adolf Bernhard Marx etwa machte sie zur Grundlage seiner Theorie der Sonatenform – idealtypisch und damit auch historisch inkorrekt. Richard Wagner hingegen sah nicht die einzelne Form, sondern vereinnahmte den Werkbestand als Ganzes: „So stellen wir, wenn wir heute die Summe der deutschen Musik bezeichnen sollen, un mittelbar neben die Beethoven’sche Symphonie die Beethoven’sche Sonate.“ Doch weder ein fixes Formgerüst noch eine wie auch immer geartete Vorherrschaft sind letztlich die Momente, die Beethovens Sonaten musikalisch prägen. Vielmehr ist an Hans Georg Nägelis Ankündigung der von ihm herausgegebenen Sammlung mit dem Titel Répertoire des Clavecinistes zu erinnern, die explizit auf „Klaviersolos in grossem Styl, von grossem Umfang, in mannichfaltigen Abweichungen von der gewöhnlichen Sonaten-Form“ abzielen sollte. „Ausführlichkeit, Reichhaltigkeit, Vollstimmigkeit soll diese Produkte auszeichnen. Contrapunktische Sätze müssen mit künstlichen Klavierspieler-Touren verwebt seyn.“ Auch wenn von Beethoven nur die drei Klaviersonaten op. 31 bei Nägeli erschienen, so könnte diese Charakteristik doch auf nahezu alle 32 Kompositionen zutreffen – so individuell und außergewöhnlich ist jedes einzelne Werk gestaltet. Schließlich waren es seine schon um die Jahrhundertwende einsetzenden Innovationen, die von der nächsten Generation von Virtuosen und Komponisten geradezu aufgesogen wurden und die Voraussetzungen für den Übergang von der Wiener Klassik zur Romantik bildeten. Wie neu und anders die Sonaten empfunden wurden, notierte später Ignaz Moscheles in seinen Erinnerungen: „Beethovens Sonate pathéthique. […] Die Neuheit ihres Stiles war für mich so anziehend, und ich fasste eine so enthusiastische Bewunderung zu derselben, dass ich mich selbst so weit vergaß, meinen neuen Erwerb meinem Lehrer gegenüber zu erwähnen. Dieser […] warnte mich davor, excentrische Productionen zu spielen oder zu studiren, ehe ich meinen Stil auf Grund soliderer Muster ausgebildet hatte. Ohne jedoch seine Vorschrift zu berücksichtigen, legte ich Beethovens Werke der Reihe nach, wie sie erschienen, auf das Klavier und fand in denselben einen Trost und ein Vergnügen, wie es mir kein anderer Komponist gewährte.“