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„Verweile im melodischen Flug“

Ein Geburtstagskonzert für Jörg Widmann

Kerstin Schüssler-Bach

Der 50. Geburtstag ist oft eine Zäsur, die innehalten oder zurückblicken lässt, zu der man gar eine erste Bilanz zieht. Doch davon möchte Jörg Widmann, der am 19. Juni 1973 in München zur Welt kam, nichts wissen. Er blickt nach vorn, sein Lebenselixier ist das neue Stück. Mit einem etwas aus der Mode gekommenen Wort könnte man den Komponisten, Klarinettisten, Dirigenten und Professor als „Tausendsassa“ bezeichnen: ein Charismatiker, dem alles zuzufallen scheint, der seine Mitmenschen begeistert und entzündet, der aber auch (trotz seines dichten Terminkalenders) jede Aufgabe sehr ernst, verantwortungsvoll und zugewandt wahrnimmt. Eine „warmherzige intellektuelle Aura“ attestierte ihm treffend der Musikjournalist Hans-Klaus Jungheinrich. Herz und Verstand, sagt Widmann, seien in seinem dialektischen Ideal nicht voneinander zu trennen.

Ein Glücksfall, der ihn selbst bereichere, sei die Arbeit mit Studierenden, erklärt Jörg Widmann, der seit 2017 die Edward W. Said-Professur für Komposition an der Barenboim-Said Akademie innehat, aber bereits seit seinem 28. Lebensjahr als Professor unterrichtet. „Ich habe durch die Lehre selbst viel gelernt“, bekennt er.

„Hier in der Akademie bin ich besonders glücklich, denn oft kommen Gäste in meinen Unterricht: nicht nur Komponist:innen, sondern auch Instrumentalist:innen. Das hat natürlich etwas mit dem besonderen Geist zu tun, der hier herrscht, mit dieser Offenheit und intellektuellen Neugier.“

Mit dem Boulez Ensemble, in dem traditionell auch Studierende und Absolvent:innen der Akademie spielen, gestaltet Widmann heute Abend ein Geburtstagskonzert – nicht nur am Dirigentenpult, sondern auch als Solist: „Es war mir wichtig, in diesem Programm verschiedene Besetzungen vorzustellen, vom Solostück bis zum großen Ensemblewerk.“

Den Auftakt bildet Liebeslied für acht Instrumente. Listig führt der Titel etwas in die Irre: „Eigentlich müsste es ‚Liebesleid‘ heißen, denn in diesem Stück gibt es sehr wenig Raum für das, was gemeinhin mit ‚Liebe‘ konnotiert ist“, erklärt Widmann. Das Ensemblewerk entstand 2010 als Pendant zum zeitgleich konzipierten Orchesterstück Teufel Amor, dessen Titel auf ein kurzes Gedichtfragment von Schiller zurückgeht. Dort heißt es: „Süßer Amor, verweile / Im melodischen Flug.“ Das musikalische Zeilenpaar inspirierte Widmann: „Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit: im Flug verweilen!“ Dieser Gedanke liegt – ohne dass Liebeslied eine konkrete verbale Bezugnahme aufweist – noch den letzten Takten zugrunde: Denn mit dem schwebenden Schluss, der sich „wie ein Vogel in die Lüfte erhebt“, bleibt das Ende offen. „Es besteht zumindest die Möglichkeit der Vereinigung“, sagt der Komponist, bezeichnet aber Liebeslied doch als „brutales Stück“. Mit Teufel Amor teilt es sich das Tonmaterial, doch wo dort eine Linie gesungen wird, wird sie im Schwesterwerk zerschlagen.

Das Zerbrochene, Schmerzliche erscheint in dieser Musik schonungslos ausgestellt, etwa in schrillen Schreien im höchsten Register, hart angerissenen Tönen, Knacklauten oder „fiesen Kratzgeräuschen“. Doch auch kleine Paradiese behaupten ihren Raum: lyrische Inseln der Bläser, gegen die sich huschende Tremoli der Streicher stellen, träumerisch nachlauschende Melodiesegmente oder sich aufschwingende Arpeggien. Gegensätzliche Vortragsanweisungen wie „schreiender, hässlicher Multiphonic“ (geblasener Mehrfachklang) und „gepresster, konstanter, aber ruhiger und ‚schöner‘ Klang“ loten die polaren Extreme aus. Das zögerliche Aufblühen des Schönen aber bleibt unterdrückt – etwa durch Eisendämpfer der Streicher –, ja es fordert geradezu eine heftige Gegenreaktion heraus. Das letzte lyrische Aufbegehren mündet wiederum in einen kurzen Schrei.

Seine Solowerke „sträuben sich dagegen, dass ein Blasinstrument nur einstimmig zu spielen hat“, sagt Jörg Widmann. Air stellt dem Solohorn daher noch ein zweites Instrument zur Seite, das allerdings nur passiv bespielt wird: Ein geöffneter Flügel, dessen Pedal mit einem Keil niedergedrückt bleibt, bildet den geheimnisvollen Resonanzraum für den Schall des Horns. Hierdurch wird die Einstimmigkeit aufgehoben: „Im Extremfall erreicht eine richtige Klangwelle den Spieler und das Publikum“, so Widmann. Mit gleichzeitig gesungenen und gespielten Tönen eröffnet sich ein weiterer Klangraum.

Auch gedanklich zielt das Stück auf Mehrstimmigkeit: Er habe sich acht oder neun Hörner und Alphorn jeweils in Naturstimmung vorgestellt, verrät der Komponist: „Und der Hornist muss sie alle spielen!“ Widmann bewundert „die Fähigkeit des Horns zum Legato“, worauf auch der Titel anspielt: Air meint sowohl „Luft“ als auch ein gesangliches, melodisches Stück. Die Komposition macht von den spieltechnischen Besonderheiten des Horns mit Naturtonreihen – die für moderne Ohren immer etwas „unsauber“ klingen – und dem Wechsel von offenem und gestopftem Spiel reichlich Gebrauch. Damit erzählt sie auch vom tradierten Charakter des Instruments: Signale und Echowirkungen evozieren die Naturnähe des Horns als einem im Freien zu spielenden Instrument. Widmann beschreibt Air als „Naturstück über Nähe und Ferne“. Fachlichen Rat zu den diffizilen Spieltechniken erhielt er seinerzeit von dem Schweizer Hornisten Bruno Schneider, dem das Stück auch gewidmet ist. Entstanden 2005 als Auftragswerk des ARDWettbewerbs, hat es sich im Repertoire für Solohorn bereits fest etabliert.

Mit seinem Quintett für Oboe, Klarinette, Horn, Fagott und Klavier knüpft Jörg Widmann in der Besetzung an Mozarts Quintett KV 452 an, das er sehr bewundert – und dass auch Mozart für „das beste was ich noch in meinem Leben geschrieben“ hielt, wie er seinem Vater gestand. Es sei „komplex und simpel zugleich“, meint Widmann und hebt dabei besonders die harmonische Kühnheit der Partitur hervor.

Formal geht Widmanns Quintett, das auch durch den ständigen Austausch mit dem Widmungsträger, dem Oboisten, Komponisten und Dirigenten Heinz Holliger, inspiriert ist, eigene Wege: 18 Miniaturen folgen aufeinander, die sich in ihren poetischstimmungsvollen und musiktheoretischen Titeln abwechseln: „Verwunschener Garten“ oder „Falsche Fährte“ legen Spuren zu einem assoziativen Gedankenfeld aus, während „Kontrapunktische Studie“ oder „Akkord-Etüde“ bewusst an den handwerklichen Anspruch appellieren und Titel wie „Choral“ oder „Verlorener Walzer“ einen bestimmten historischen Typus anrufen. Die handwerklich-technische Souveränität ist für Widmann eine unabdingbare Voraussetzung für künstlerisches Schaffen: „Man nimmt sich an die Kandare, um Tiefe zu gewinnen. Unterm Strich hat mir das größere Freiheit ermöglicht“, stellt er fest. Sein Lehrer Hans Werner Henze habe ihn immer wieder zu kontrapunktischen Studien angetrieben: „Heute verstehe ich, dass er damit mein Bewusstsein für lineare Strukturen und damit letztlich auch für die Melodie schärfen wollte.“ In der Entstehungszeit des Quintetts, das 2006 als Auftragswerk der Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker komponiert und im Rahmen der Verleihung des Claudio-Abbado-Preises uraufgeführt wurde, hat sich Widmann verstärkt mit kontrapunktischen Fragestellungen beschäftigt. Trockenes akademisches Gedrechsel sucht man in diesem Werk aber vergebens: Widmann beschreibt die Miniaturen ausdrücklich als „humoristisch und romantisch“. Der Schlusssatz „Flugtraum“ rekurriert wieder auf das Bild der melodischen Flugbahn: Die Celesta bereitet sanft den Boden für die entrückten Linien der Bläser, bevor sie allein im hohen Register entschwebt: „Das Erdenschwere verliert sich“, sagt der Komponist.

Für sein eigenes Instrument, die Klarinette, komponierte Jörg Widmann im Alter von 19 Jahren eine Fantasie – „eines der wenigen Stücke aus jener Zeit, die ich nicht zurückgezogen habe“, bekennt er. Glücklicherweise, denn längst ist die Fantasie als moderner Klassiker in das solistische Klarinettenrepertoire eingegangen. Junge

Studierende beschäftigen sich heute ganz selbstverständlich mit diesem hochvirtuosen Werk: „Es hat mich schon gefreut, etwas für mein Instrument geschaffen zu haben, das bleibt“, meint Widmann. Er selbst hat sich die Musizierlust auch nach mehr als 30 Jahren im Musikbetrieb erhalten: „eine subversive, kindliche Freude“, wie er es selbst einschätzt. Vorbilder wie Igor Strawinsky und Carl Maria von Weber klingen in der Fantasie ebenso an wie Einsprengsel aus Jazz, Klezmer und alpenländischer Folklore. Auf engstem Raum prallen die Kontraste aufeinander. Mit gestischer Prägnanz und bildlicher Vorstellungskraft soll der Solist in die Figuren der Commedia dell’arte schlüpfen, was Vortragsanweisungen wie „grotesk, komisch“ untermalen.

Als „doppelte Provokation“ in jugendlicher Unbekümmertheit bezeichnet Widmann gleich den Beginn: ein technisch schwierig auszuführender Multiphonic, der in seiner Beschaffenheit als Vierklang, genauer gesagt als Dominantseptakkord, sogar tonale Bezüge aufweist. Am Ende schließt sich mit einem frechen Purzelbaum der Vorhang über dieser „kleinen imaginären Szene“. Wenn Studierende das Werk mit ihm erarbeiten, achtet Widmann darauf, ihnen tatsächlich „Fantasie“ abzuverlangen und größtmögliche Freiheit zuzugestehen. Heute Abend spielt er das Stück selbst. Verspürt er nach so vielen Jahren eigentlich noch Lampenfieber? „Da halte ich es mit Miles Davis: Wenn man nicht nervös ist, heißt das nur, dass man zu wenig fokussiert ist.“

Freie Stücke für Ensemble vereint neun Bläser, fünf Streicher und zwei Schlagzeugparts. Widmann schrieb sein „erstes wirkliches Ensemblestück“ 2002 und widmete es seinem Lehrer Wolfgang Rihm – damals zu dessen 50. Geburtstag. Als „Standortbestimmung“ nach dem Studium stellt es für Widmann ein zentrales Werk jener Zeit dar, die der Festigung einer eigenen Handschrift galt. Jedes der zehn Einzelstücke, die 2002 in der Kölner Philharmonie vom Ensemble Modern uraufgeführt wurden, widmet sich einer eigenen klanglichen Aufgabe: „Puls, schwankender Grund, Geräusch, Einstimmigkeit, Obertonstrukturen, etc.“, erläutert der Komponist im Vorwort. Dabei bleiben Konzentration und Reduktion oberstes Gebot. „Ich habe durchaus die Gefahr der Vereinzelung gesehen“, erinnert sich Widmann. „Daher hat sich für mich die Frage gestellt, was das Ganze zusammenhält. Der Schlusston jedes Stücks spiegelt sich im Beginn des folgenden.“ So erfährt das Publikum das klingende Kontinuum eines fast ununterbrochenen Erzählstroms.

Avancierte Spieltechniken wie sogenannte Tongue rams (abrupter Verschluss des Mundstücks durch Einsatz der Zunge), Luft- und Klappengeräusche oder Schlagen des Mundstücks mit der flachen

Hand erweitern das Spektrum einer sich immer wieder neu erfindenden Klangwelt. Im ersten Stück wird sie mit Flageolett und Whistle Tones wie aus der sphärischen Distanz besichtigt und im gemeinsamem langsamen Vorwärtstasten erobert. Äußerst ausdifferenziert werden schattenhafte Klänge durch veränderte „Luftfärbung“ der Bläser produziert, während die Streicher ihre Töne im Pizzicato und mit Springbogen gleichzeitig spielen. Oft lässt sich nicht orten, welches Instrument den wunderlichen Klang eigentlich hervorbringt. Ob kurze „Morsezeichen“, harte, perkussive Ausbrüche oder ein traumverlorenes Schweben – unerschöpflich scheint die klangmalerische, sprachhafte Fantasie Widmanns. Und wieder führen die Schlusstakte ins Offene: Der farbenreiche Nachklang der mit dem Bogen gestrichenen metallenen Crotales verliert sich im Raum. Damit habe er, erklärt Widmann, eine utopische Perspektive eröffnen wollen: Der Klang geht in etwas auf, „das wir selbst nicht wissen“.

Dr. Kerstin Schüssler-Bach arbeitete als Opern- und Konzertdramaturgin in Köln, Essen und Hamburg und hatte Lehraufträge an der Musikhochschule Hamburg und der Universität Köln inne. Beim Musikverlag Boosey & Hawkes in Berlin ist sie als Head of Composer Management tätig. Sie schreibt regelmäßig für die Berliner Philharmoniker, die Elbphilharmonie Hamburg, das Lucerne Festival und das Gewandhausorchester Leipzig. 2022 erschien ihre Monographie über die Dirigentin Simone Young.