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Virtuosität und Theologie
Zur Musik von Heinrich Ignaz Franz Biber und Mark Andre
Martin Wilkening
Resonanzen eines Instruments
Gut 100 Jahre bevor Mozart mit dem berühmten Fußtritt aus Salzburg verabschiedet wurde, fand Heinrich Ignaz Franz Biber am Hof des regierenden Fürsterzbischofs Max Gandolph von Kuenburg einen Ort, an dem er seine Kunst über Jahrzehnte hinweg entfalten konnte. Geboren 1644 im böhmischen Wartenberg, nutze er nach einigen Jahren im Dienst des Fürstbischofs in Olmütz eine Reise zum berühmten Geigenbauer Jakob Stainer, um sich nach Salzburg abzusetzen, von wo aus man den jungen Violinvirtuosen schon länger umworben hatte. Zwischen 1671 und 1684 stieg er dort vom einfachen Musiker zum Hofkapellmeister auf, als der er bis zu seinem Tod 1704 wirkte.
Sein musikalischer Nachlass zeigt sehr Gegensätzliches: einerseits bedeutende geistliche Kompositionen wie Messen, andererseits Instrumentalwerke, deren effektvolle Virtuosität nicht selten auch lautmalerisch ausgereizt wird. Am verblüffendsten geschieht dies in seiner Battalia (ital. battaglia, Schlacht), einem Orchesterstück, dessen Klänge vom Kampfeslärm bis zu den Klagen der Verwundeten ein akustisches Panorama kriegerischer Zeiten liefern: Bibers Schaffen fiel mitten in den Jahrzehnte dauernden Konflikt zwischen dem Osmanischen Reich und der Habsburger Monarchie, der 1683 bis zur Belagerung Wiens führte. Auch die Schlachtenmusik besitzt also ihren religiösen Hintergrund.
So überrascht es wenig, dass auch eine der sogenannten „Rosenkranz-Sonaten“, die mit der Kreuzigung verbundene Nr. 10, in einer Variante überliefert ist, die ein kriegerisches Programm besitzt. In dieser Handschrift trägt dasselbe Stück Satzbezeichnungen wie „Der Türken Anmarsch“ oder „Anmarsch der Christen“. Doch Biber setzt seine illustrativen Mittel nur punktuell ein, sie besitzen keine entwickelnde Funktion und werden programmatisch lesbar erst durch die Beigabe von Titeln. Während der hartnäckige, punktierte Rhythmus dieser Sonate hier als akustische Repräsentation des heranrückenden Heeres der Feinde des Kreuzes verstanden werden soll, legt der Kontext derselben Komposition im Zyklus der „Rosenkranz-Sonaten“ eine ganz andere Deutung nahe. Dort bezieht sie sich auf die Kreuzigung Christi, und die Punktierungen werden dementsprechend oft als musikalischer Ausdruck des Einschlagens der Nägel gedeutet. Das lässt sich aus dem Notenbild herauslesen, und es kann hörbar werden in der immer wieder neu ansetzenden Wucht der betonten langen Noten. Ein solches Verständnis des Klanges besitzt natürlich eine anekdotische Komponente und bleibt gebunden an einen Kontext, der von außerhalb gesetzt wird – allerdings durch den Komponisten selbst. In einer tieferen Schicht des symbolischen Sinns liegen dagegen die musikalischrhetorischen Figuren, feste überpersönliche Wendungen, die Biber ebenso verwendet, wie zum Beispiel die Figur des Kreuzes, die als Überkreuzung der melodischen Intervallschritte gleich dem ersten Takt dieser Sonate eingeschrieben ist.
Bibers „Rosenkranz-Sonaten“ lassen sich nicht durchgehend programmatisch verstehen, auch wenn einzelne Passagen mimetische oder figurativ-symbolische Züge tragen. Diese sind jedoch eingebettet in ganz andere Zusammenhänge rein musikalischer Art, wie sie etwa durch die auffällig zahlreichen Tanzsätze hergestellt werden. Im Grunde handelt es sich hier nicht um Sonaten – Biber selbst nennt sie auch nicht so – sondern um Partiten, Suiten oder Balletti. Der gleichwohl vorhandene geistliche Hintergrund dieser sehr weltfreudigen Musik scheint vor allem in dem ungewöhnlichen Konzeptcharakter des Zyklus als Ganzem durch. Das Konzeptuelle betrifft erstens die zyklische Anlage, zweitens die Verbindung des Notentextes mit visuellen Elementen, drittens die ungewöhnliche Beziehung zwischen Notenschrift und Erklingendem, die sich durch die extreme Verwendung der Skordatur, des Umstimmens der Violinsaiten, ergibt, und damit viertens auch die Einbeziehung des Instruments und seines Spielers in ein stark symbolisch aufgeladenes Feld. Dessen Wirkung erschließt sich dem Hörer nicht nur rational, durch kontextuelles Wissen, sondern unmittelbar, als Phänomen der Resonanz. Denn die immer wieder wechselnde Skordatur gibt jedem Stück seinen eigenen Klang, sie wirkt wie ein Filter, durch den das sinnenhafte Vergnügen der Tanzsätze hörbar gebrochen wird. Der Corpus der Violine mit Holz und Saiten selbst wird so zum Gegenstand metaphysisch-religiöser Spekulation.
Bibers vollständiger Zyklus ist in einer einzigen Quelle überliefert, einer Prachthandschrift, die der Komponist seinem Dienstherrn, dem Fürsterzbischof widmete. Sie wird in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt und wurde 1905 zum ersten Mal der Reihe Denkmäler der Tonkunst veröffentlicht. Das Titelblatt dieser Handschrift ist nicht erhalten, und so kennen wir weder eine authentische Bezeichnung für den Zyklus noch die genaue Zeit der Niederschrift (kurz vor 1680). Auf dem Widmungsblatt in lateinischer Sprache verwendet Biber (wie auch bei anderen Kompositionen) für die einzelnen Stücke den Ausdruck „harmonia“, was als Bezeichnung für „Musik“ an den antiken und mittelalterlichen Sprachgebrauch anknüpft. Der Ausdruck „Sonata“ dagegen bezeichnet in dieser Sammlung nicht ein ganzes Stück, sondern einen frei angelegten Einleitungssatz, alternativ zum „Präludium“. So kann der Komponist am Ende seiner Widmung schreiben: „Die vier Saiten meiner Lyra werdet Ihr in verschiedenen Sonaten, Präludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Airs, Ciacconen, Variationen etc. auf fünfzehn Arten umgestimmt finden. Dazu einen Basso continuo, nach meiner geringen Kunst mit Sorgfalt gearbeitet. So Ihr wünscht, den Grund zu erfahren, sage ich Euch: Ich habe all das der Ehre der XV Heiligen Mysterien geweiht, weil Ihr dieselben so glühend befördert.“
Die 15 heiligen Mysterien werden im Gebet des Rosenkranzes benannt und beim Beten in die meditative Wiederholung des Ave Maria eingefügt. Sie verbinden gedanklich 15 Stationen des Heilsweges von Christus und Maria und sind in drei Abteilungen mit je fünf Anrufungen gegliedert: Empfängnis, Geburt und Kindheit Jesu; Kreuzigung Jesu; Auferstehung Jesu und Marias. In der Handschrift Bibers ist am Kopf jeder der 15 Sonaten eine Medaillon-Grafik eingeklebt, die die betreffende Szene zeigt.
Zusätzliche Erklärungen oder Überschriften in Worten gibt es keine, sie sind bei heutigen Aufführungen stets Zusätze der Herausgeber.
Bibers Stücke laden den, der mit dem Rosenkranz und der Bibel vertraut ist, ein, über die einzelnen Glaubenssätze zu meditieren. Vom tatsächlichen Gebet des Rosenkranzes unterscheidet sie aber, dass sie jeweils eine Station des Heilsweges herausgreifen und dazu ein eigenständiges Kunstwerk entwerfen, das sich nach eigenen Gesetzen entwickelt. Die Vorstellung eines Mysteriums bleibt dabei erhalten, sie wird aber in Musik transformiert. Das geschieht ganz konkret in der Umstimmung des Instruments, die Biber für jedes Stück neu definiert. Dadurch verändert sich auch die Beziehung zwischen Notenschrift und Klang, denn die Notation erfolgt als Griffschrift, nicht als Niederschrift des Klingenden, so dass der Notentext zur Chiffre wird, in der das Klingende verborgen ist. An die Stelle der Exegese, die den Bibeltext erschließt, tritt hier die Ausführung, die den Textsinn im Klang vermittelt. Und dabei entfaltet jedes Stück durch die ihm eigene Stimmung auch seinen eigenen Resonanzraum, weil durch die mitschwingenden Saiten unterschiedliche Obertöne entstehen.
Außer in der eröffnenden Sonate verwendet Biber hier nirgends die übliche Quintstimmung der Violine (G–D–A–E). Die einzelnen Skordaturen entfalten ein breites harmonisches Spektrum. Es kommen konsonante Stimmungen vor wie im Extremfall der zwölften Sonate, die der Himmelfahrt Christi zugeordnet ist und für die die vier leeren Saiten einen C-Dur-Dreiklang plus Oktave bilden. In der sechsten Sonate, die sich auf Christus am Ölberg bezieht und nur einen, als „Lamento“ bezeichneten Satz enthält, verlangt Biber dagegen eine extrem dissonante Stimmung in zwei um einen Halbton verschobene Quinten: As–Es–G–D. In der elften Sonate (zur Auferstehung Christi) wird das Instrument selbst zum Sinnbild, das auch visuell auf die vorausgegangene Kreuzigung verweist. Die Saiten sind hier auf G–D–G–D gestimmt, der Spieler muss die beiden mittleren Saiten aber hinter dem Steg und in der Schnecke über Kreuz legen. So entstehen effektiv zwei OktavenPaare nebeneinander, G–G–D–D, was Biber auch zu reichlichem Oktavspiel ausnutzt. Gegriffen werden dabei aber Quinten, und als Quinten sind die Klänge auch in der Handschrift notiert. Vor dem Hintergrund theologischer Spekulation entwickelt Biber so auch eine besonders raffinierte Form geigerischer Virtuosität. Sie behauptet in seiner Musik ihr eigenes Recht, zumal sich nicht der ganze Zyklus auf jene geschlossene Weise sinnbildhaft erschließen lässt wie in den hier gezeigten Beispielen.
Resonanzen eines Raumes
Bibers „Rosenkranz-Sonaten“ und Mark Andres …selig sind… für Klarinette und Elektronik verbindet mehr, als es zunächst den Anschein hat. Offensichtlich ist der religiöse Hintergrund, die Inspiration durch formal streng geordnete Texte, die gleichzeitig ein rituelles Handeln ausdrücken: bei Biber das Gebet des Rosenkranzes, im Fall von Andre die Reihe der Seligpreisungen, mit denen Jesus im Matthäus-Evangelium die Bergpredigt eröffnet. Und ähnlich wie Biber die Anzahl seiner Sonaten aus der Zahl der im Gebet erinnerten Mysterien bestimmt (15), so lässt sich die formale Gliederung des einsätzigen, gut halbstündigen Stückes von Andre auf die Zahl der Seligpreisungen zurückführen. Andre gliedert seine Komposition in 14 Teile, die in der Partitur als „Stationen“ bezeichnet werden und durch ebenfalls nummerierte „Übergänge“ verbunden sind. Während Bibers Handschrift den einzelnen Sonaten die eingeklebten Andachtsbilder voranstellt, werden in Andres Partitur zu Beginn die Verse der Bergpredigt zitiert. Das ist deshalb interessant, weil in diesem Zitat gleichzeitig eine besondere Lesart deutlich wird. Andre geht nicht, wie heute meist üblich, von acht (oder neun) Seligpreisungen aus, sondern er zitiert nur sieben. Dieses Verständnis geht auf den Kirchenvater Augustinus zurück, dessen Auslegung den Offenbarungscharakter der Schrift auch in der unterschwelligen, aber vielfach bestimmenden Präsenz der heiligen Zahl Sieben zu erkennen suchte. Tatsächlich lassen sich die 14 unterschiedlich langen Stationen von …selig sind… auch beim Hören deutlich in zwei Teile zusammenfassen, die zweimal sieben Stationen entsprechen. Zwischen beiden Teilen gibt es eine klanglich wie auch szenisch ausgeprägte Zäsur. Zwischen der siebten und achten Station pausiert der Klarinettist für eineinhalb Minuten, und als Übergang sind nur die Klänge des elektronischen Zuspiels zu hören, die durch den Raum wandern. Der zweite Teil ist deutlich länger als der erste, die inneren Proportionen erscheinen geweitet, so dass sich 82 und 288 Takte gegenüberstehen.
Während Biber den Resonanzraum seiner Violine durch Skordaturen jeweils neu definiert, erweitert Mark Andre die Arbeit mit Resonanzphänomenen auf den gesamten Raum der Auf-
führung. Die 14 Stationen entsprechen ganz konkret auch 14 unterschiedlichen Raumpunkten, zwischen denen der Spieler sich zu bewegen hat. In der Partitur sind sie durch einen Raumplan des Ortes der Uraufführung bezeichnet, das Märkische Museum in Witten. Danach beginnt der Klarinettist in der Peripherie und endet mit den letzten vier Stationen im Zentrum des Raums. Der Raum mit seinen eigenen Resonanzen wird aber noch auf eine andere Weise zum Klingen gebracht. Für das elektronische Zuspiel verwendet Andre einerseits aufgenommene Geräusche (Wind) und Sprache (Fragmente der Bergpredigt-Verse und Namen der Sprecher), andererseits aber auch Klänge der Klarinette, die etwa durch Verhallung und Zeitversetzung bearbeitet werden. Es kommen jedoch keine Lautsprecher zum Einsatz. „Unser Lautsprecher ist das Haus“, sagt Mark Andre, und Michael Acker, der im Experimentalstudio des SWR das Zuspiel mit ausgearbeitet hat und betreut, erläutert: „Wie verwenden keine Lautsprecher, sondern die akustischen Resonatoren, die im Raum vorhanden sind. Zu sehen ist nichts. Aber das Resultat ist verblüffend.“ Um den Raum selbst zum Schwingen zu bringen, werden sogenannte Übertrager verwendet, mit denen Mark Andre schon in einigen Kompositionen der letzten Jahre experimentiert hat. Sie können an einem Instrument angebracht werden oder eben an anderen Körpern, die so auf die Impulse mit ihren eigenen Schwingungen praktisch wie ein Lautsprecher funktionieren. Auch die Zahl dieser Übertrager, die an den Wänden des Raumes befestigt werden, ist mit 14 bestimmt. Sie bilden neben den Stationen des Klarinettisten ein zweites Netz von Klangstationen, in dem sich die Vorstellung eines von Resonanzen belebten Raumes entfalten kann.
Zwischen dem Interpreten und seinem Instrument, dem realen Raum der Aufführung und dessen Transformation ins Imaginäre durch die Elektronik entfaltet diese Musik sich in Skalen feinster Übergänge. Deren Realisierung bedingt auch die spezifische Virtuosität, die dem Klarinettisten hier abverlangt und in der Partitur genau bezeichnet wird: Abstufungen zwischen Geräuschhaftem (Atem oder Klappen der Klarinette) und Ton, zwischen gehaltenem Klang und dessen Beugungen wie durch verschiedene Arten von Trillern, zwischen Einklängen und Mehrklängen, zwischen unterschiedlichen Färbungen des Klanges durch Veränderungen der Mundhöhle und die Nuancierungen des Leisen, in dem sich dieses Stück überwiegend bewegt, bis hin zum sechsfachen piano.
Diese Schreibweise entsteht in engem Kontakt mit dem Interpreten. Mark Andre erklärt: „Wenn ich mich mit einem Musiker treffe, für den ich Kammermusik komponieren will, frage ich ihn, wie er sein Instrument gerne einmal hören möchte.“ Er hat sein Stück zusammen mit Jörg Widmann erarbeitet, hat dessen Klänge aufgenommen und elektronisch analysiert, und so auch in einem gewissen Maß eine Musik geschrieben, die eine Reflektion des individuellen Spiels dieses Musikers darstellt: es ist das dritte Werk, das die beiden gemeinsam realisiert haben. „Die spannendsten Momente waren es für uns, als wir wie in Trance Dinge gehört haben, von denen wir beide uns nicht hätten vorstellen können, dass so was möglich ist“, erzählt Jörg Widmann – selbst Komponist – über die Zusammenarbeit an Andres Klarinettenkonzert über. Und auch bei …selig sind… erlebt er Ähnliches: „Ich stelle mir dabei gern den ersten Menschen auf dem Mond vor – wie in Schönbergs Opus 9. Solche Momente finde ich bei Mark Andre oft: Orte, an denen noch niemand gewesen ist.“
Martin Wilkening, geboren 1959 in Hannover, lebt seit 1977 in Berlin, unterbrochen von mehrjährigen Aufenthalten in Korea und Albanien. Er studierte Musik und Literaturwissenschaft und arbeitet seit 1981 als Autor, Musikkritiker, Dozent, Lektor und Verleger.