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La Scala Brass Quintet
Von Operndiven und ZirkusartistenMusik für Blechbläserquintett
Kerstin Schüssler-Bach
Die Banda spielt
In Franz Werfels Verdi-Roman – eine vergnügliche, wenn auch inhaltlich weitgehend fiktive Lektüre – lässt der Autor es beinahe zur Begegnung zwischen Giuseppe Verdi und Richard Wagner kommen: Am Karnevalsdienstag 1883 strömt das Volk auf der Piazza San Marco in Venedig zusammen, maskiert, ausgelassen, in Feierlaune. In der Festnacht wurde eine Bühne auf dem riesigen Platz aufgebaut. Zur Unterhaltung spielt „die Banda municipale, San Marcos großes Blasorchester“. Alle Kommunen, selbst kleinste Dörfer in Italien, unterhalten zu dieser Zeit solche Blaskapellen, die in mehr oder weniger gelungenen Auftritten berühmte Opernmelodien zum Besten geben. Werfel lässt Verdi die Zudringlichkeiten der schmetternden Messinginstrumente mit einer gewissen Gelassenheit ertragen: „Wenn er aufrichtig war, fühlte er sich durch primitive Klänge nicht verletzt.“ Da mischt sich plötzlich Richard Wagner (der sich in diesem seinem Todesjahr ja tatsächlich in Venedig aufhielt) in den Trubel der Menge. Verdi, in Werfels romanhafter Deutung mit einem gewissen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem „furchtbaren Gegner“ behaftet, will auf Wagner zugehen, endlich mit ihm sprechen. Da ausgerechnet spielt die Banda eine Aida-Fantasie. „Anfangs wollte der Maestro die Fassung verlieren, so peinlich, so schrecklich war es ihm, dass vor diesem Richter seine Musik anhub.“ Doch trotz der tönenden Verzerrung erkennt Verdi „die Herrlichkeit seiner Gesänge“, fasst Mut. Aber Wagner hört nicht zu. Er missachtet die Banda-Musik und endlich, so scheint es, macht er sogar eine abfällige Geste. Ein „graues Gefühl des Besiegtseins“ durchkriecht Verdi. Und so, in mitten der plärrenden Klänge der Banda, die doch seine Musik zu den Menschen bringt, glaubt er sich mit eigenen Waffen geschlagen.
Franz Werfel bringt in diesem farbigen und von vorne bis hinten erfundenen Szenario doch eine wichtige historische Funktion der Banda-Musiker auf den Punkt: Sie machten die großen Opernhits im Volk bekannt, spielten die Melodien von Rossini, Donizetti und Verdi auch bei Festlichkeiten der Gemeinde, mitunter sogar bei kirchlichen Prozessionen. Im Theater gehörte die Banda als Bühnenmusik zum festen Inventar des italienischen und französischen Repertoires, meist mit Laienmusikern bestückt. Davon kann natürlich heute keine Rede mehr sein – die Musiker des Blechbläserquintetts der Mailänder Scala sind hochprofessionelle Künstler, mit denen auch Verdi in Werfels Roman vor dem teutonischen Rivalen Ehre eingelegt hätte. Sie widmen sich am heutigen Abend einer breiten Repertoireauswahl von Bach bis Bernstein, erinnern aber immer auch an die Wurzeln des Ensembles in der Oper.
Slawisches Ehrengeleit
Die Cortège aus Nikolai Rimski-Korsakows Mlada wird im Opern-Original ebenfalls mit einer mächtigen Blech bläser fanfare eingeleitet. In einem pompösen Bild marschieren zu den stolzen Klängen Ritter und Fürsten auf dem Marktplatz der sagenhaften Stadt Rethra auf, bejubelt vom Chor – eine der vielen Genreszenen in dieser Zauberund Ballettoper, die 1892 in St. Petersburg uraufgeführt wurde. Ihre Geschichte spielt um das Jahr 1000 und geht auf einen Mythos der Slawen zurück; Rethra, der Schauplatz der Prozession, war eine heute nicht mehr lokalisierbare slawische Tempelburg. Mlada, die Titelheldin, bleibt stumm: Sie taucht nur als Geist auf, denn ihre Freundin hat sie einst ermordet, um Mladas Geliebten, den Fürsten Jaromir, für sich zu gewinnen. Über die Intrige siegt die Liebe, Jaromirs und Mladas Seelen werden vereint. Aus der Oper destillierte Rimski-Korsakow 1903 eine Suite, deren letzten Satz die Prozession bildet. Sie hat mit ihrem festlichen Glanz auch als Musik für Werbung und Fernsehen Karriere gemacht und ist in vielen Arrangements verbreitet, vor allem für Blasorchester und -ensembles.
„Edler und schöner Gesang“
Auch in Zeiten, als die Opern des Belcanto fast vergessen waren, hielt sich Vincenzo Bellinis Norma als Ausnahmewerk im Repertoire. Selbst Wagner erteilte dieser Partitur seinen Segen und zeigte sich von dem „einfach edlen und schönen Gesang“ entzückt. Es sei „keine Sünde“, so Wagner, „wenn man vorm Schlafengehen noch ein Gebet zum Himmel schickte, dass den deutschen Komponisten auch endlich einmal solche Melodien einfallen möchten.“ Der sanfte Sizilianer Bellini hätte dies wohl unterstrichen. Sein Credo, wie er es 1834 seinem Librettisten Carlo Pepoli gegenüber äußerte, lautete: „Hämmere dir mit diamantenen Lettern in den Kopf: Im Musikdrama muss der Gesang zu Tränen, zum Schaudern, zum Sterben bringen“. Das vokale Primat wurde von vielen großen Primadonnen seit der Uraufführung von Norma 1831 an der Mailänder Scala eingelöst: Als „Callas des frühen 19. Jahrhunderts“ hat man jene Sängerin bezeichnet, die die heroischste und dramatischste aller Bellini-Partien aus der Taufe gehoben hat: Giuditta Pasta. Wie ihre späte Erbin Maria Callas zeichnete sich Pasta weniger durch pure Schönheit des stimmlichen Materials aus als durch eine lodernde Energie, ein expressives Timbre und eine umwerfende Bühnenpräsenz. Die Adalgisa der Uraufführung mutierte sehr bald selbst zu einer gefeierten Norma: Giulia Grisi trat in der Titelrolle lange Jahre in Londons Covent Garden auf. Auch Grisi – wiewohl höchst erfolgreich im Belcanto-Repertoire, so als erste Elvira in I puritani – eroberte sich dramatischere Partien von Meyerbeer oder Verdi. Die Druidenpriesterin Norma erkennt, dass der Römer Pollione, Vater ihrer beiden Söhne, ein Verhältnis mit Adalgisa hat. Norma will sich umbringen, doch Adalgisa versucht sie um ihrer Kinder willen davon abzuhalten und schwört ihrer Liebe zu Pollione ab. Den tragischen Ausgang der Oper kann auch dies aber nicht verhindern – wie die dramatisch wirkungsvolle, in bewegtem Tempo dahin eilende Ouvertüre bereits andeutet.
Verhängnisvolle Vaterliebe
Von der Popularität der glutvollen Werke Verdis schon zu dessen Lebzeiten macht man sich heute kaum eine Vorstellung. Die verächtliche Bezeichnung als „Leierkastenmusiker“ ist ja nur die Kehrseite eines Phänomens, das wenigstens in der Pizzawerbung bis in unsere Tage fortlebt: Melodien wie „La donne è mobile“, die Canzone des Herzogs aus Rigoletto, sind die Essenz des italienischen Melodrammas, die auch bei hartnäckigsten Opernmuffeln ins Ohr gehen. Und in Billy Wilders Some Like It Hot reden sich sogar die Gangster auf das windigste Alibi der Filmgeschichte heraus: „Wir waren doch mit dir bei Rigoletto, Boss!“Als erstes Werk der sogenannten „Trilogia popolare“ Verdis wurde Rigoletto 1851 an Venedigs Teatro La Fenice uraufgeführt; 1853 folgten Il Trovatore und La Traviata – allesamt Opern, die seitdem ohne Unterbrechung fest im Repertoire verankert sind (anders als die vor Rigoletto entstandenen Werke). Schon kurz nach der Premiere ging Rigoletto über zahlreiche italienische Bühnen; das Publikum der Mailänder Scala musste freilich noch zwei Jahre warten. Das Drama um den körperlich versehrten Hofnarren des Herzogs von Mantua, der seine Tochter Gilda vor den Avancen seines Dienstherrn schützen will und sie doch unwissentlich in den Tod treibt, ist einem Schauspiel von Victor Hugo nachgebildet und bietet eine Fülle von theatralisch wirksamen Situationen und plastischen Charakteren – allen voran den zwischen Zynismus und Einsamkeit zerrissenen Protagonisten. Verdi exponiert hier erneut jenen Grundkonflikt, den er immer wieder zeichnete: die meist verhängnisvolle Vaterliebe. Subtil verfeinert er die Konventionen der Nummeroper, schafft mit Rigolettos Fluch so etwas wie ein Leitmotiv und schreibt mit dem Quartett, in dem der herzogliche Flirt mit Maddalena von Gilda und Rigoletto beobachtet wird, ein musikalisch-dramaturgisches Meisterwerk.
Letzte Freundesgrüße
Zum 100. Geburtstag des New Yorker Tausendsassas Leonard Bernstein breitet sich die schöpferische Vielfalt des charismatischen Komponisten, Dirigenten und Pädagogen in staunenswerter Fülle aus. Was Bernsteins Kosmos auch jenseits der ubiquitären West Side Story zu bieten hat, zeigen Festivals und Konzerte rund um den Globus. Die etwa fünfminütige Dance Suite, Bernsteins letzte Komposition, versammelt Gelegenheitsstücke aus dem Jahr 1989 und wurde im Januar 1990 in der New Yorker Metropolitan Opera zum Jubiläum des American Ballet Theatre uraufgeführt (allerdings in konzertanter Form). Jede der fünf Miniaturen ist einem Weggefährten aus den Bereichen Tanz und Choreographie gewidmet. Die „Dancisca“ für den englischen Choreographen Antony Tudor klingt wie ein höfischer Renaissancetanz auf Speed. Als ironisches Kabinettstück spielt ein verjazzter Walzer der amerikanischen Tänzerin und Choreographin Agnes de Mille auf. Der melancholischelegante, bitonale „Bi-Tango“ ist der russischen Tänzer- legende Mikhail Baryshnikov zugeeignet. Hinter dem Widmungsträger „Mr. B“ des Two-Step verbirgt sich George Balanchine, der „Vater“ des amerikanischen Balletts. Der letzte Satz ist Jerome Robbins zugeeignet, dem choreographischen Partner Bernsteins bei Fancy Free, On the Town und West Side Story. Und auch wenn die coolen und fiebrigen Momente jene West Side Story-Atmosphäre zu inhalieren scheinen, verrät der Satztitel „MTV“, dass Bernstein von der Jugendkultur der 60er hier in die 80er Jahre vordrang. Denn gemeint ist der gleichnamige Musikvideosender, dessen Ästhetik das Fernsehen revolutionierte. Bernstein spielt mit dem Mittelteil „Driving“ auf die Serie Miami Vice und das lässige, aber intellektuell weitgehend unbelastete Polizistenduo Crockett & Tubbs an, das sich vorzugsweise in schnellen Autos fortbewegt. Miami Vice war zwar nicht auf MTV zu sehen, aber als „MTV Cops“ ausdrücklich für das Publikum des knalligbunten Senders konzipiert. Bis zuletzt interessierte sich Bernstein brennend, aber keinesfalls unkritisch für die Medienlandschaft seiner Zeit.
Virtuose Purzelbäume
In den Komponistenolymp hat er es nie geschafft, doch aufgeführt wird er trotzdem nicht selten: Die Werke von Eugène Bozza erfreuen sich großer Beliebtheit im kammermusikalischen Genre, insbesondere für Holz- und Blechbläser. Bozza wurde als Sohn eines italienischen Geigers in Nizza geboren, und auch er studierte zunächst Violine in Rom und Paris. Erst mit 27 Jahren wandte er sich einer Kompositionsausbildung zu und gewann 1934 den begehrten Prix de Rome. Als Dirigent wirkte er bis 1948 an der Pariser Opéra Comique, war also ein Mann der Praxis. Bozza komponierte auch Opern und Orchesterwerke – doch seine wahre Berufung fand er 1952 als Direktor der Musikschule in Valenciennes, wo er 25 Jahre lang lehrte und Werk auf Werk schrieb, vor allem für Bläser. Bozzas Musik verbindet Leichtigkeit mit Anspruch, und bis heute genießt er unter Instrumentalisten einen hervorragenden Ruf als Komponist, der weiß, wie man „dankbar“ und unterhaltsam schreibt – was die Sonatine für Blechbläserquintett von 1951 beweist. Bozzas Stil blieb im Grunde der Ästhetik Jean Cocteaus und der Gruppe „Les Six“ um Poulenc und Honegger im Paris der 20er Jahre verpflichtet, ihrer tänzerischen Musik mit Harlekinsprüngen ohne Schweiß und Tränen. Scharf, kristallklar und parodistisch sollte sie sein, ohne romantische Schwüle und impressionistisches Parfum. Die vier Sätze der Sonatine huldigen diesem Ideal: brillant und niemals aufdringlich schmetternd schlagen sie virtuose Purzelbäume. Die lyrischen Seiten der Blechbläser dürfen sich im trauermarschähnlichen zweiten Satz verströmen. Eine an Schostakowitsch erinnernde Fanfare löst sich auf in den Kapriolen einer temperamentvollen Tarantella.
Zirkus, Zirkus!
Musik aus der Praxis schreibt auch Davide Sanson. Ausgebildet als Trompeter, war der Italiener in den 90er Jahren Mitglied des Magic Brass Quintet, mit dem er intensiv konzertierte, und arbeitete außerdem mit zahlreichen italienischen Ensembles zusammen. 1999 nahm er in Turin zusätzlich ein Kompositionsstudium auf. Heute ist er Solotrompeter des Orchestra Filarmonica in Turin und lehrt als Dozent am Konservatorium in Aosta. Außerdem komponiert er: Musik für Kindertheaterstücke und Stummfilme wie Buster Keatons The General, vor allem aber Kammermusik für im Italienischen „Ottoni“ genannte Blechbläser- Ensembles. Saltimbanchi („Die Seiltänzer“) entstand 2002 und vereint laut Untertitel „Straßenkünstler in kurzen Porträts“: agile Akrobaten, die schnelle Tonleitern hinaufhüpfen, Bänkelsänger, die ein altes provenzalisches Volkslied vortragen, hitzige Feuerschlucker, geheimnisvolle Zauberinnen, die ihre Gefährten tröstend in den Schlaf singen und rasend schnelle Jongleure, die sich einander imitierend die Bälle zuwerfen. Eine wirkungsvolle, illustrative Partitur, die die technischen Möglichkeiten der Instrumente auslotet und das Publikum mit einem Schuss Fellini-Atmosphäre nach Hause entlässt.
Dr. Kerstin Schüssler-Bach arbeitete als Opern- und Konzertdramaturgin in Köln, Essen und Hamburg und hatte Lehraufträge an der Musikhochschule Hamburg und der Universität Köln inne. Seit 2015 ist sie für den Musikverlag Boosey & Hawkes in Berlin tätig. Sie verfasste Beiträge für den WDR, NDR, die Berliner Philharmoniker, die Staatskapelle Dresden und die Elbphilharmonie Hamburg sowie wissenschaftliche Artikel zu Brahms, Mahler, Frank Martin und Brett Dean.