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Was will man mehr

Die Lust am Genuss ist unerschöpflich, dabei gehört sie zu den größten Risiken der Gegenwart – auch für die Kunst. Katja Schneider, Professorin für Tanztheorie, findet: Es geht hier nicht nur um Nebensächlichkeiten, es geht ums Ganze. Ein Rundgang durch Theorie und Praxis.

TEXT: KATJA SCHNEIDER

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Ein Mann stellt ein Bügelbrett auf und beginnt, ein überlanges Hemd zu glätten, das er aus einem Haufen abgelegter Kleidung zieht. Später wird er rohe Eier an Klebeband anbringen, um schließlich in einer vom Bühnenhimmel heruntergelassenen Holzbox, wie man sie zum Transport von Kunstwerken benutzt, beinahe zu verschwinden. Nur seine Füße sind noch zu sehen. Währenddessen kreuzen Tänzerinnen und Tänzer die Bühne, greifen in den Raum aus, hüpfeln, drehen. Das Bein kickt, der Oberkörper knickt zur Seite. Mal zu zweit, mal alleine, mal alle sechs zusammen. Zwei Uhren messen die Zeit. Nach knapp 35 Minuten senkt sich über der Szene der Vorhang.

„Sie wusste zu wenig, um es genießen zu können“, sagte danach eine Besucherin über ihre Begleitung, die dieser Vorstellung von „Berlin Story“ beim diesjährigen Festival Tanz in der Volksbühne Berlin nicht allzu viel abgewinnen konnte. Das DANCE ON ENSEMBLE hatte für den Merce Cunningham gewidmeten Abend eine Neuschöpfung seiner 1963 uraufgeführten „Story“ beigesteuert, für die der dem Zufall und der Autonomie der einzelnen Künste vertrauende Choreograph so viel Kontrolle abgab über das, was auf der Bühne passierte, wie sonst nie. Seine Position als Autor dieser „Story“ teilte er mit dem Künstler Robert Rauschenberg, der das Bühnenbild aus Materialien aufbaute, die er am Tag der Premiere im und um das Theater vorgefunden hatte, und selbst mit verschiedenen Aktionen als Live-Dekor präsent war. Cunningham teilte auf diese Weise seine Kontrolle mit allen, die auf der Bühne waren und improvisatorisch auf fixierte Sequenzen, auftretende Hindernisse und ihren eigenen Genuss am Gestalten reagierten. Die Lust am spontanen Einfall, an der Sinnfälligkeit inkommensurabler Begegnungen, an der Poesie des Instabilen und der Kraft des Zufalls mit allen Herausforderungen und Beschwernissen, die dieser mit sich bringt, macht „Story“ aus.

Wenn die erwähnte Begleitperson das gewusst hätte, hätte sie das Stück genießen können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber die Chance für ein genussvolles Erleben wäre größer gewesen, denn Genuss braucht Kognition. (Cunningham freilich konnte, je mehr er über „Story“ reflektierte, desto weniger den Verzicht auf seinen Kontrollverlust genießen, heißt es, und das Stück verschwand sehr schnell aus dem Repertoire; außerdem hatte Rauschenberg die Kompanie verlassen und die Tänzer sollen es eigentlich auch nicht recht gemocht haben.)

Diesseits der Sucht

Genuss ist nicht mit Lust gleichzusetzen. Dass Genuss mit Reflexion gekoppelt ist, darauf vertraute schon der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt, der 1855 seinen Kulturreiseführer „Der Cicerone“ mit dem Untertitel „Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“ versah. Genuss, so lässt sich festhalten, ist Lust plus Bewusstheit und Aufmerksamkeit. Genuss erscheint demnach wenig triebgesteuert und liegt diesseits der Sucht. „Damit setzt Genuss die Fähigkeit voraus, Gefühle, Sinneseindrücke, Empfindungen bewusst wahrzunehmen und zu erleben“, schreiben Reinhold Bergler und Tanja Hoff vom Psychologischen Institut der Universität Bonn und vom Institut für Genussforschung Nürnberg in ihrer 2002 erschienenen Publikation „Genuss und Gesundheit“. Genuss habe emotionale, sinnliche und erlebnisorientierte Anteile, diene dem Wohlbefinden und rufe Freude sowie Kreativität hervor.

Foto: Anne Schönharting/OSTKREUZ

Vier große Genussfelder untersuchen die Autoren näher, wobei Musik und Künste – gleich nach dem Essen („genießen“ war ja früher auch gleichbedeutend mit „nutznießen“ und „essen“) – an zweiter Stelle stehen, gefolgt von materiellem Konsum und sozialen Kontakten. Der traditionelle Theater- oder Konzertbesuch, könnte man folgern, stellt demnach einen alle Genusserlebnisbereiche integrierenden Genuss dar: mit zugewandten Menschen ins Theater oder Konzert zu gehen, davor vielleicht ein feines Abendessen zu genießen, in der Pause einen Prosecco oder ein paar Canapés zu sich zu nehmen, alles nicht zu oft und nicht zu selten. „Wir haben ein kulinarisches Publikum“, kommentierte vor Jahren Ivan Liška seine Spielplangestaltung. Liška, bis zum Ende der Spielzeit 2015/16 Direktor des Bayerischen Staatsballetts, hat die emotionale Affizierung, sinnliche Einwirkungen und Anstiftung zur Reflexion immer fein austariert – um ein Publikum zu bedienen, das erlesene, schwelgerische Genüsse, wie das Wort „kulinarisch“ ja meint, gewohnt ist.

Adorno und die Auslöschung des Subjekts

Kunstwerke genießen zu wollen – für Theodor W. Adorno war das eine abwegige Vorstellung, und er konstatiert in seinen in den späten 1950er Jahren gehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik, „daß der Genießende – der Mensch also, der in der kulinarischen Einstellung […] – nicht nur das Ganze verfehlt, sondern eigentlich immer das Falsche am Kunstwerk überhaupt wahrnimmt, eben deswegen, weil diese Haltung des Genießens […] von vornherein von dem absieht, was in dem Kunstwerk eigentlich vorliegt“. Denn die ästhetische Erfahrung erfüllt sich, Adorno zufolge, – ganz entgegengesetzt zum Genuss-Gewinn des Konsumenten – in der Überwältigung, der Erschütterung, ja der „Auslöschung des Subjekts“, wenn es dem Kunstwerk gelingt, Hörende und Betrachtende „der entfremdeten Welt zu entfremden“.

Wenn das Wohltemperierte, Gemessene, Zurückhaltende und Kontrollierte den Genuss ebenso kennzeichnen sollen wie Freude und Wohlbefinden und der Verzicht in dieser Konzeption dem Genuss inhärent sei, dann sitzt man mit dieser Vorstellung nach Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon in der Falle. Denn, so schreiben sie 1944 in ihrer „Dialektik der Aufklärung“, Genuss sei die Rache der Natur: „In ihm entledigen die Menschen sich des Denkens, entrinnen der Zivilisation.“

Genuss entlud sich gleichsam in kollektiven Orgien, in „den ältesten Gesellschaften war solche Rückkehr als gemeinsame in den Festen vorgesehen“. Die Rationalisierung des Genusses, die im Zuge der Zivilisierung von den Herrschenden betrieben wurde, diente dann aber der manipulativen Einhegung, als „Zoll an die nicht gebändigte Natur“, Genuss werde dosiert, wo er nicht entzogen werden könne. So sei er ein „Gegenstand der Manipulation, solange bis er endlich ganz in den Veranstaltungen untergeht.“ Diese Entwicklung, so lautet das schöne Diktum von Horkheimer und Adorno, „verläuft vom primitiven Fest bis zu den Ferien.“

„Zug- statt Autofahrten, keine Flugreisen mehr, leicht zu transportierende, ökologisch vertretbare Bühnenbilder (das gesparte Geld solle in neue Stellen für Künstlerinnen und Künstler investiert werden), statt des Veggie-Donnerstags in der Kantine ein Fleisch- und Fischtag in der ansonsten vegetarischen Woche. So vernünftig wie institutionskritisch“

Der Philosoph Slavoj Žižek sieht den exzessiven Genuss – durchgebrochen ins soziale Feld – als Ursache für Nationalismus. In seinem Band „Mehr-Geniessen. Lacan in der Populärkultur“ von 1992 hält er fest: „Kurz gesagt, was uns wirklich am ‚anderen‘ stört, ist die befremdliche Art, wie er sein Genießen organisiert, genaugenommen das Mehr daran, der ‚Exzeß‘, der ihm anhängt (der Geruch ihrer Speisen, ihre ‚lärmenden‘ Lieder und Tänze, ihre seltsamen Verhaltensweisen, ihre Arbeitseinstellung).“ Man neidet anderen, was diese genießen, insofern die manifestierten oder angenommenen Genüsse zurückwerfen auf den eigenen Genuss, der vielleicht doch als zu extrem oder als zu gering oder in seiner sozialen Anerkennung als zu wenig akzeptiert wirkt?

Was eine solche Abgrenzung und Konkurrenz betrifft, sollten wir nicht vergessen, dass unsere Ökonomie und unser Konsum – die Basis vieler Genüsse – im globalisierten Kapitalismus auf höchst ungerechter Verteilung beruhen und die reichen Gesellschaften Kosten, Risiken, Nachteile und Umweltschäden in den globalen Süden auslagern: „Wir leben gut, weil andere schlechter leben“, wie der Soziologe Stephan Lessenich 2016 in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ deutlich macht. Von daher gewinnt auch die Forderung nach Verzicht der Fridays for Future-Bewegung an Brisanz. Schneller und durchschlagender als gedacht, protestieren ihre Mitglieder für eine Kultur des Verzichts und formulieren Forderungen an die Politik, mit denen die Ziele des Pariser Abkommens und des 1,5°-Ziels erreicht werden sollen. Als Motto über ihren Forderungen prangt eine Sentenz von Molière: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“

Die Zitat-Anleihe aus dem Theater hätte auch gut zu einer Aktion des flämischen Performers, Regisseurs und bildenden Künstlers Benjamin Verdonck gepasst, der sich schon 2011 Gedanken darüber gemacht hat, wie Theaterbetrieb und Umweltschutz zusammenpassen könnten. Er publizierte eine „Charta für eine aktive Mitarbeit der darstellenden Künste auf dem Weg zu einer gerechten Nachhaltigkeit“, adressierte sie an die flämischen Produktionshäuser, die öffentliche Gelder beziehen, und bot ihnen an, zum Koproduzenten und Kokreateur seines neuen Werkes zu werden – wenn alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrer Unterschrift garantierten, dass sie alle Forderungen erfüllen würden, eine Spielzeit, 160 Tage lang, während der Arbeitszeit.

Die Charta hatte grundsätzliche strukturelle Änderungen im Blick (für alle Veröffentlichungen Recycling-Papier benutzen!), nahm aber vor allem den Verzicht des Einzelnen und des einzelnen Künstlers in den Fokus: Zug- statt Autofahrten, keine Flugreisen mehr, leicht zu transportierende, ökologisch vertretbare Bühnenbilder (das gesparte Geld solle in neue Stellen für Künstlerinnen und Künstler investiert werden), statt des Veggie-Donnerstags in der Kantine ein Fleisch- und Fischtag in der ansonsten vegetarischen Woche. So vernünftig wie institutionskritisch. Das Schicksal seiner Charta dokumentierte Verdonck zusammen mit dem Dramaturgen Sébastien Hendrickx in dem 2014 erschienenen Sammelband „The Ethics of Art“. Eine kleine Produktionsstätte in Antwerpen sagte zu, sich an alle Forderungen für eine Spielzeit zu halten, alle anderen sagten ab, darunter Stuk in Löwen, Victoria in Gent, das Brüsseler Stadttheater, das Toneelhuis in Antwerpen und die Needcompany.

Klima-Charta? Abgelehnt!

Das Provokative an Verdoncks Charta liegt in dem Versuch, zum einen Verhaltensroutinen Einzelner ändern zu wollen, zum anderen in Abläufe von Organisationen massiv einzugreifen, und das als Kunst zu markieren. In den Gründen für die Ablehnung von Verdoncks Kunstaktion spiegeln sich die Argumentationsmuster, die heutige Fridays for Future-Aktivisten so wütend machen: Die grundsätzliche Wichtigkeit ihrer Ziele und ihrer Sorge wird stets betont (wir müssen das Klima retten!), die konkrete Umsetzung, die Verzichtleistungen bedeuten würde, wird abgelehnt mit dem Hinweis, das reiche doch nicht aus, bestimme zu sehr über die Privatsphäre des Einzelnen, sei zu dogmatisch et cetera pp.

Und nun? Der Mensch organisiert sich seinen Genuss selbst. Was er als genussvoll erlebt, das ist so individuell wie soziokulturell bestimmt. Was ihm Freude macht, fördert ihn, seine Gesundheit, sein Wohlbefinden. Es aushalten zu können, dass Mitmenschen auf eine andere Art genießen als man selbst, das ist ein Lernprozess. Ebenso wie man lernen muss, Genuss am Verzicht zu erleben. Worauf verzichtet wird, gerade auch in der Ausbildung zum Künstler, zur Künstlerin, wird instrumentalisiert für das genussvolle Ausleben der eigenen Betätigung. „Menschen verzichten bewusst auf eine Bedürfnisbefriedigung zugunsten einer langfristigen Vermeidung negativer Konsequenzen, zum Beispiel der Entwicklung eines Suchtgefühls oder auch der Abnahme der Attraktivität einer Genussquelle – durch Verzicht sichern sie sich damit das Erleben positiver Gefühle, die mit einem spezifischen Genuss verbunden sind. Das heißt: Mit Genuss ist eine bewusste, das eigene Verhalten reflektierende und steuernde Selbstkontrolle verbunden, um Genuss zu erhalten und Sucht zu vermeiden“, schreiben Reinhold Bergler und Tanja Hoff.

Was hier als freiwilliger Verzicht, der Genuss fördert, propagiert wird, ist an den Einzelnen, an dessen eigene positive Gefühle und den Erhalt des eigenen Wohlbefindens rückgebunden. Verzicht ist in diesem – im glücklichen Fall ausbalancierten – Modell nie unfunktional, nie Selbstzweck, sondern wird immer „gegengerechnet“ mit dem, was der Verzicht an weiterem Genuss möglich macht. So wird denn auch die unangenehme asketische Verzichts-Leistung mit dem Genussversprechen angepriesen („Abnehmen mit Genuss“). Was passiert, wenn diese sanfte, verträgliche Verzichtsethik nicht mehr greift, wenn der Verzicht nicht oder nicht nachvollziehbar für die eigenen Zwecke, den eigenen Genuss, genutzt werden kann, sondern ganz ohne Genuss-Aussicht gefordert wird – um beispielsweise unseren Planeten zu erhalten? Diese Balance von Genuss und Verzicht müssen wir gerade selbst austarieren. Vielleicht hilft es dabei, dass der Gegenbegriff zum Genuss nicht Verzicht ist, sondern Anhedonie. Die Unfähigkeit, überhaupt Freude oder Lust zu empfinden.

--> Prof. Dr. Katja Schneider ist Professorin für Tanztheorie und lehrt in den Studiengängen BAtanz, MA CoDE sowie Theater- und Orchestermanagement. Genuss bedeutete für sie früher mal: stundenlanges Schaukeln. Und heute?