17 minute read

Wo ist Platz?

Die roten Häuser des Architekten Paul Wolf an der Schulenburger Landstraße in Hannover wurden in den Jahren 1921-1923 erbaut und dienen als Obdachlosenunterkünfte. Sie sind in städtischem Besitz und stehen seit eineinhalb Jahren leer.

Foto: privat

Advertisement

Ist das der Befreiungsschlag? Nachdem Hannover im vergangenen Jahr viel Kritik für den Umgang mit Obdachlosen einstecken musste, präsentierten Stadt und Region Anfang Dezember einen »Plan B«. Wird jetzt alles besser? Eine Annäherung.

Es lief nicht gut für Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay. Erst die Niederlage in der nationalen Bewerbungsrunde zur Kulturhauptstadt Europas und dann dies: »Wir haben Platz«, sagte Onay im Hinblick auf Flüchtlinge in griechischen Lagern. Doch statt wie üblich Beifall, hagelte es öffentliche Kritik, auch von jenen, die diese Aussage prinzipiell für richtig halten. Aber nicht zu dieser Zeit, nicht unmittelbar nachdem Obdachlose in Hannover pünktlich zum Beginn der kalten Jahreszeit von der Stadt auf die Straße gesetzt worden waren. Für diese Menschen war offenbar kein Platz mehr in Hannover, zumindest keiner mit einem Dach darüber. So schien es.

Die Erkenntnis, dass da etwas nicht zusammenpasste, einte fast alle politischen Lager und bescherte Hannover eine verheerende Presse. Verständlich, dass man nun auf Schadensbegrenzung aus war, auch wenn die Stadt versichert, das Konzept langfristig vorbereitet zu haben. »Plan B – OK«, so der vollständige Name des neuen Projekts (wobei OK für Orientierungs- und Klärungsangebot für Wohnungslose steht), kommt als großer Wurf daher und soll anscheinend jeden Zweifel am guten Willen der Stadt zerstreuen.

Das neue Modellprojekt solle die Situation obdachloser Menschen in Hannover nachhaltig verbessern, sagt Hannovers Sozialdezernentin Sylvia Bruns. »Es knüpft an die Erfahrungen an, die wir in der Zeit der Unterbringung in der Jugendherberge und ab Juli im Hotel Central und im Naturfreundehaus gemacht haben. Von den etwa 100 untergebrachten obdachlosen

Menschen konnte ein maßgeblicher Teil in bessere Wohn- und Lebenssituationen vermittelt werden und sich stabilisieren. Diese positiven Erfahrungen wollen wir jetzt auf ein festes Fundament stellen.«

Kein Platz mehr?

Was war da geschehen? Hier lohnt ein kurzer Rückblick. Die außerplanmäßige Unterbringung obdachloser Menschen ab dem Frühjahr diente zunächst der Vorsorge in Pandemie-Zeiten. Um auch hier die Kontaktbeschränkungen einzuhalten, setzte man ausnahmsweise auf Einzel- statt Massenunterkünfte. Relativ geräuschlos verlief zunächst die Anmietung einiger leer stehender Hotelzimmer, die von der Region Hannover finanziert wurde. Erst mit der Bereitstellung der ebenfalls unbenutzten Jugendherberge erlangte die Unterbringung Obdachloser während der Pandemie größeres öffentliches Interesse.

In beiden Fällen wurden die obdachlosen Menschen nicht nur in Einzelzimmern untergebracht, sondern auch intensiv durch Sozialarbeitende betreut. In den Hotelzimmern durch die SeWo (Selbsthilfe für Wohnungslose), in der Jugendherberge unter der Trägerschaft von Diakonie und Caritas. Danach quartierte die Stadt die verbliebenen Personen in das Naturfreundehaus um. Jeweils für drei Monate, damit den Untergebrachten keine Ansprüche auf Dauernutzung erwuchsen. Dennoch, der Erfolg der Maßnahmen war verblüffend: von 100 betreuten Bewohnern konnten tatsächlich 83 in Wohnungen, teils in Arbeit oder wenigstens weiterführende Hilfen vermittelt werden.

Das kam nicht für alle überraschend. Der Erfolg stellte sich ein, weil die Menschen erstmals seit Wochen oder Monaten zur Ruhe kamen, auch mal eine Tür hinter sich schließen konnten, nicht von der täglichen Sorge um einen Schlafplatz, um ihre Gesundheit und ihre wenige Habe getrieben wurden, nicht von einer Essenausgabe zum nächsten Tagestreff laufen mussten. Weil diese Ruhe ihnen dann erst den Raum gab, sich Gedanken zu machen, wie sie ihre Lage ändern könnten und weil ihnen in diesem Moment Sozialarbeitende mit Rat und Tat zur Seite standen.

So konnte es also gehen, wusste man jetzt. Doch anstatt auf den gemachten Erfahrungen aufzubauen, wurden die verbliebenen 17 Wohnungslosen pünktlich zum Herbstbeginn wieder auf die Straße gesetzt. Das fast zeitgleich erfolgende »wir haben Platz« von Belit Onay klang da vielen wie Hohn und sorgte in Hannovers Stadtgesellschaft für eine spürbare Erschütterung. Warum auch nahm man den Leuten das Dach überm Kopf, wenn doch Platz vorhanden war? Und nicht zuletzt hatte man ja nun gesehen, wie durchschlagend die Kombination von (Einzel-) Unterbringung und Sozialarbeit zum Erfolg führte. Wieso wurde ein erfolgreiches Projekt dann beendet?

Schwer vorstellbar, dass die Stadt nun einfach wieder in den alten Trott zurückfallen könnte. Und doch sah es einige Zeit so aus. Selbst angebotene Gelder aus der Stadtgesellschaft zur Fortsetzung der Einzelunterbringung wie von der Niedergerke-Stiftung wurden nicht angenommen. Ein Nachfolgeprojekt war nicht in Sicht, stattdessen ließ das Bauamt verlauten, die Kapazitäten für die Unterbringung von Wohnungslosen seien ausreichend. Zumindest nach den geltenden Standards, und die sehen derzeit unter anderem Mehrbettzimmer vor. Doch derartige Sammelunterkünfte, in denen Menschen mit mehrfachen Handycaps und Schwierigkeiten zusammengepfercht und von Sicherheitsdiensten überwacht werden, stellen kein Umfeld dar, in dem jemand stabilisiert werden und sich neu orientieren könnte. Tatsächlich gibt es viele obdachlose Menschen, die lieber auf der Straße übernachten, als in den Notunterkünften der Stadt Hannover. Die sind deshalb auch nur zu maximal 60 Prozent ausgelastet.

Wir schaffen Platz

So klingt das »wir haben Platz« gleich noch viel zynischer. Zumal die Menschen, die auf der Straße leben müssen, während der Pandemie nur noch eingeschränkt versorgt werden können. Die sonst rappelvollen Tagestreffs dürfen derzeit meist nur jeweils weniger als eine Handvoll Besucher und Besucherinnen einlassen, die zudem nicht lange verweilen dürfen. Damit auch die nächsten wenigstens kurz reinschauen können. Richtig warm wird so kaum jemand, der die ganze Nacht unter freiem Himmel verbracht hat. Für Beratung, ärztliche Versorgung, Hygiene und Gespräche ist kaum Platz, zumindest bleibt alles unerträglich erschwert unter Corona-Bedingungen. Wo also ist der behauptete Platz?

Nun ist die Unterbringung von Obdachlosen in Hannover nicht nur eine Platzfrage, sondern zuerst eine der Zuständigkeit. Und da steht Hannover unter den deutschen Großstädten ziemlich einzigartig da. Verantwortlich ist hier nämlich nicht der Fachbereich Soziales, was naheliegend wäre und andernorts auch so gehandhabt wird, sondern das Baudezernat. Und dem sagt man schon seit langem nach, dass es in der Bewältigung dieser Aufgabe nicht gerade die größte Leidenschaft zeigt. Verantwortlich für die sozialen Hilfen wie Unterstützung und Betreuung ist jedoch das Sozialdezernat, wenngleich nur als ausführende Behörde, da hier die übergeordnete Region als örtlicher Träger der Sozialhilfe den Hut aufhat. Das gibt es so nirgends. Natürlich nicht, es reicht ja, dass ein Dezernat andere Prioritäten setzt, als das andere und schon ist Stillstand erreicht. So wie nach dem Sommer in Hannover.

Für viele Bürger war die Untätigkeit der Stadt unerträglich. Unter dem Label »Wir schaffen Platz« haben sich jetzt vier Trä-

ger – Diakonie, Caritas, SeWo und AWO – zusammengeschlossen und 30 Hotelzimmer angemietet, um das Erfolgskonzept aus dem Sommer fortzusetzen und die größte Not zumindest für einige zu lindern. Dort werden die Wohnungslosen wieder einzeln untergebracht und von Sozialarbeitenden betreut. Finanziert wird das Projekt durch die Niedergerke-Stiftung und die MUT-Stiftung. Die Zimmer werden zum halben Preis angemietet, was ungefähr dem Selbstkostenpreis entspricht und waren binnen kürzester Zeit belegt, wie Axel Fleischauer von der SeWo berichtet. »Der Bedarf ist riesig.«

Die Finanzierung steht für vier Monate. Fleischauer hofft, über das Sozialamt und das Jobcenter Gelder für eine Fortführung akquirieren zu können, der Erfolg ist jedoch fraglich. In der Politik scheint derzeit keine Bereitschaft zu bestehen, das Projekt zu unterstützen. Dabei ist die Stadt selbst noch längst nicht so weit, den zur Zeit rund 500 obdachlosen Menschen eine wirkliche Perspektive zu bieten. Auch nicht mit dem Plan B – OK, der jetzt präsentiert wurde.

Plan B – doch nicht ok?

Der ist nämlich nur für 70 Personen konzipiert, die bis zu drei Monate untergebracht und in dieser Zeit intensiv betreut werden sollen. Allerdings sucht die Landeshauptstadt nach eigenen Angaben derzeit noch nach einer geeigneten Unterkunft. Als Zwischenlösung stünden zunächst 21 Plätze in einem Mehrparteienhaus in Döhren zur Verfügung. Auch für Menschen mit einem ungeklärten Leistungs- oder Aufenthaltsstatus – zumeist EU-Bürger aus Osteuropa – sind Plätze vorgesehen, die aber nur 30 Tage Zeit bekommen, ihren Status zu klären.

Plan B – OK kommt als Modellprojekt daher mit einer Laufzeit von drei Jahren. Im Erfolgsfall sei die Umsetzung als Regelangebot für wohnungslose Menschen in der gesamten Region Hannover geplant. Für die Immobilien und den Betrieb plant die Stadt Hannover Kosten in Höhe von ca. 2,25 Millionen Euro für drei Jahre ein. Die Region Hannover finanziert zunächst das pädagogische Grundangebot und beteiligt sich an den Unterbringungskosten. Rund 600.000 Euro werden dafür über den Projektzeitraum veranschlagt.

Das Konzept trifft in der Wohnungslosenhilfe auf ein verhaltenes Echo. »Das geht in die richtige Richtung, ist aber noch nicht der große Wurf«, bilanziert Reinhold Fahlbusch, Vorsitzender der Ombudsstelle StiDU – Stimme der Ungehörten. Ähnlich äußert sich Axel Fleischauer, der als Sozialarbeiter bei der SeWo arbeitet: »Grundsätzlich ist die Grundintention richtig, jetzt auf Einzelunterbringung zu setzen. Auch der Betreuungsschlüssel zuzüglich Einzelfallhilfe ist gut. Ich verstehe aber nicht, warum das als Modellprojekt aufgezogen wird. Wir machen das schließlich schon lange so und das mit guten Erfahrungen.« Als »hart« empfindet Fleischauer die Frist von 30 Tagen für Osteuropäer, ihren Status zu klären und fürchtet, dass viele von ihnen wieder auf der Straße landen.

Die Stadt setzt auf den Erfolg der Maßnahme. Die Perspektiven der Menschen »werden erfahrungsgemäß sehr unterschiedlich und individuell sein. Der Bezug einer eigenen Wohnung kann, muss aber nicht, die individuelle Lösung darstellen. Weitere individuelle Alternativen könnten sein: zunächst in einer stationären Einrichtung eine weitere Stabilisierung zu erreichen, sich erforderlichen medizinischen Behandlungen zu unterziehen oder in eine dauerhafte Obdachlosenunterkunft der Stadt Hannover untergebracht zu werden, um dort weiter von den in den Unterkünften eingesetzten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern betreut zu werden«, so Stadtsprecherin Michaela Steigerwald.

Hannover hat Platz

Foto: privat

Auch am Geveker Kamp in Hannover gibt es einen Sanierungsstau bei städtischen Häusern, die für die Unterbringung wohnungsloser Paare und Einzelpersonen vorgesehen sind. Allerdings gilt das zunächst nur für 21 Wohnungslose. »Das ist angesichts von rund 500 obdachlosen Menschen in Hannover keine wirkliche Perspektive. Und selbst die Aufstockung auf 70 Plätze soll ja erst in zwei Jahren erfolgen«, kritisiert Fleischauer. Und Fahlbusch erklärt: »Die Stadt ist rechtlich verpflichtet, jedem ungewollt wohnungslosen Menschen ein Dach über dem Kopf anzubieten, auch tagsüber. Da sind die Kapazitäten insgesamt viel zu gering.« Dass die Stadt sich das schön rechne, indem sie die Angebote freier Träger mit einbezieht, sei unzulässig.

Foto: Jelca Kollatsch

Versorgung von Obdachlosen in Hannover durch den Kältebus der Johanniter (Archivfoto aus der Vor-Corona-Zeit).

»Es kommt nicht Aber wo könnten sie hin, die Obdachlosen? Irdarauf an, Wunder- gendwann wird ja auch die Corona-Pandemie vorwerke der Archibei sein und die Hotels wieder für den Normalbetrieb öffnen. Und dann? Wo sollte die Stadt dann tektur zu schaffen, angesichts des ohnehin schon angespannten Wohsondern angemes- nungsmarktes weitere Unterkünfte schaffen und senen Wohnraum das auch noch schnell und preiswert? Die Antwort bereitzustellen.« könnte überraschend einfach ausfallen: aus dem eigenen Bestand.Reinhold Fahlbusch, Vorsitzender der StiDU, OmAnfang Dezember erregte eine Hausbesetzung budsstelle für Wohnungslose in Hannover Aufsehen. Die Stadt stellte Strafantrag, die Häuser wurden umgehend geräumt. Das Ganze dauerte nur ein paar Stunden und kann in der Geschichte der Hausbesetzungen nur als kurze Episode gelten. Daher könnte man jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn nicht der Ort der Besetzung ein kurzes Innehalten verdient hätte. Die Besetzer hatten sich nicht einfach irgendein leer stehendes Haus ausgesucht. Besetzt wurden die roten Häuser in Hainholz an der Schulenburger Landstraße. Ein denkmalgeschütztes Ensemble des Architekten Paul Wolf in städtischem Besitz. Dabei handelte es sich keineswegs um irgendwelche Wohnhäuser, sondern um Obdachlosenunterkünfte von Beginn an, seit ihrer Fertigstellung vor fast hundert Jahren. Allerdings sind die Häuser weitgehend unbewohnt, geräumt von der Stadt zu Sanierungszwecken, heißt es dort. Doch geschehen ist bislang nichts. Darauf wollten die Besetzer aufmerksam machen. Während die Stadt angeblich noch nach passenden Immobilien sucht, stehen ausgewiesene Obdachlosenunterkünfte leer. Seit eineinhalb Jahren. Da zeigt sich die Öffentlichkeit über den Umgang mit den Obdachlosen entsetzt, schlagen die Hilfsorganisationen Alarm und fordert die Politik von der Stadtverwaltung Lösungsvorschläge gegen die Obdachlosigkeit, und die Stadt sitzt gleichzeitig auf leer stehenden Immobilien.

Die Stadt sieht hier offenbar keinen Handlungsdruck: »Die Stadt Hannover plant weiterhin die Häuser an der Schulenburger Landstraße 167-225 zur Unterbringung obdachloser Familien zu nutzen. Aufgrund der baulichen Mängel und der Schadensbilder an den Gebäuden ist eine Gesamtsanierung notwendig. Die Planung und Ausschreibung der Gesamtsanierung ist zeit-, personal- und kostenintensiv.« Eine Zwischennutzung der Gebäude vor Fertigstellung der Sanierung sei angeblich nicht möglich, da die Häuser zu einem großen Teil nicht bewohnbar seien.

Für Fahlbusch (der die Besetzung allerdings für falsch hält) eine nicht nachvollziehbare Ausrede. Es komme schließlich nicht darauf an, Wunderwerke der Architektur zu schaffen, »sondern angemessenen Wohnraum bereitzustellen«. Wenn es für das Bauamt zu schwierig sei, die Sanierung zu planen, könnten sie sich ja Hilfe bei Hanova holen. Zudem seien die roten Häuser nicht die einzigen freien Liegenschaften der Stadt. Fahlbusch zählt hier die Immobilien in der Kleefelder Straße und im Geveker Kamp als mögliche Standorte für die Unterbringung von Obdachlosen auf. Die Ratsfraktionen sollten von der Verwaltung eine Liste leer stehender Immobilien in städtischem Besitz verlangen, fordert StiDU.

Platz ist also da in Hannover, jedenfalls mehr, als man denkt. Dennoch wird man auf den wirklich großen Wurf in der Landeshauptstadt wohl noch länger warten müssen. Ulrich Matthias

GRENZGÄNGER

Die meisten DDR-Fluchtversuche werden mit der Berliner Mauer verbunden. Eine Initiative an der Ostsee will das ändern und gleichzeitig für Versöhnung sorgen. Doch die Wunden sitzen tief.

Kühlungsborn. An einem kalten, nebligen Oktoberabend wollte Harry Balbach sein bisheriges Leben hinter sich lassen. Seekarte, Kompass, Papiere: Viel mehr hatte der junge Mann nicht dabei, als er am 31.10.1971 in ein wackeliges Faltboot stieg. Neben ihm Hansi, ein flüchtiger Bekannter, der ebenfalls genug hatte von der DDR. Während die Wellen gegen das Holzgestänge klatschten, peilten die Männer das Leuchtfeuer der dänischen Insel Lolland an, Marschrichtung 16 auf dem Kompass. Sie ruderten und ruderten und schauten nicht zurück, den Blick gen Westen gerichtet, in die Freiheit. Und dann kam doch alles anders. 49 Jahre später steht Balbach wieder am Strand von Kühlungsborn. Hier verwickelte er zwei Grenzsoldaten in ein Gespräch, um ihre Kontrollstrecke auszukundschaften. Hier schlich er mit Hansi über den Sand, um das Faltboot ins Wasser zu hieven. Hier begann das Abenteuer, das wenige Stunden später beinahe tödlich endete und schließlich zu einer Haftstrafe führte. Es wirkt fast surreal, wenn Balbach seine Erlebnisse schildert. Der Sonnenschein, der Salzwasserduft, die Kinder, die mit Eiskugeln über die gepflegte Strandpromenade rennen: Nur wenig erinnert an der Ostseeküste daran, welche Dramen sich hier abgespielt haben.

Doch dann kommt er in Sicht, der Wachturm. Von dort aus kontrollierten die DDR-Grenztruppen den Strand, ausgestattet mit Ferngläsern, Funkgeräten und AK-47-Schnellfeuergewehren. Der »See-Grenzbeobachtungsturm BT-11« ist eines der letzten erhaltenen Bauwerke dieser Art: 15 Meter hoch, oben verglast, zugänglich für die Öffentlichkeit. Wer etwas über die

Ostsee als Fluchtroute erfahren möchte, kann den Turm und das benachbarte Museum besuchen. Mit etwas Glück – oder einem vorherigen Termin – trifft man dort Zeitzeugen wie Harry Balbach. Nur wenige Minuten, nachdem er losgerudert war, verschlechterte sich das Wetter. »Sturm kam auf, die Wellen wurden immer höher«, sagt der heute 72-Jährige. »Der Nebel war so dicht, dass man die eigene Hand nicht mehr vor Augen sah.« Schweren Herzens kehrten die Männer um. Kaum an Land angekommen, wurden sie verhaftet. »Versuchter ungesetzlicher Grenzübertritt« lautet die Anklage, die man in Balbachs Gerichts- und Stasi-Akten nachlesen kann. Das Dokument liest sich wie ein Krimi. 19 Uhr: Abendessen in der Gaststätte »Jochen Weigert«. 21 Uhr: Boot aus der Gartenlaube geholt. 0.05 Uhr: Festnahme am Strand. »Kaum waren wir die Steilküste hoch, schauten wir in die Münder der Kalaschnikow«, erinnert sich Balbach. Die Strafe für sein Vergehen: zweieinhalb Jahre Haft. Damit solche Geschichten nicht in Vergessenheit geraten, kämpfen einige Kühlungsborner seit Jahren für den Erhalt ihres Grenzturms. 1990, kurz nach der Wende, stand das Bauwerk schon vor dem Abriss. »Wir haben dann einfach einen Bauzaun drumherum aufgestellt«, erzählt Knut Wiek, damals Bürgermeister von Kühlungsborn. Für ihn persönlich hat der Grenzturm einen hohen Symbolwert. »Ich wohne gleich nebenan. Jeden Abend leuchteten die Scheinwerfer, man hat »Kaum uns immer beobachtet«, sagt der 77-Jähwaren wir rige. Dass der Turm heute noch steht, die Steil- ist für ihn eine späte Genugtuung, eine küste hoch, Trophäe. So klettert er regelmäßig die schauten eisernen Leitern nach oben – nicht nur auf den Ausguck, sondern bis aufs Dach wir in die zum Suchscheinwerfer.

Kalaschni- Die Zukunft von »BT-11« war lange kow.« Zeit ungewiss. Erst musste der Abriss

Harry Balbach verhindert werden, später kamen die Kosten für die Sanierung dazu. Und das politische Tauziehen. »Nach der Wende wollten viele die Vergangenheit möglichst schnell vergessen«, sagt Wiek. »Deshalb sehen viele Ostseebäder heute auch alle gleich aus, wie geleckt.« Dabei sei es doch gerade das Besondere, das Touristen anziehe. 2003 gründete er mit einigen Mitstreitern den Verein Grenzturm e. V., um Sponsoren zu finden und das Gebäude langfristig zu pflegen. 2013 folgte ein kleines Museum, in dem Fotos und Anschauungs-

Harry Balbach wurde 1971 beim Fluchtversuch verhaftet. Heute schaut er vom Grenzturm aus auf die Stelle, an der er die Ostsee-Überfahrt versuchte.

Anzeige

amnesty after work

Schreiben Sie für die Menschenrechte –gegen Verfolgung, Gewalt und Folter

Gemeinsam für die Menschenrechte Sie können helfen: Wir laden Sie herzlich ein, uns montags zu besuchen. Lassen Sie Ihren Tag mit einer guten Tat bei Kaffee, Tee und Gebäck ausklingen, indem Sie sich mit Faxen, Petitionen oder Briefen gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt einsetzen.

Öffnungszeiten:

Montag 18 bis 19 Uhr after work cafe Dienstag 11 bis 12 Uhr, Donnerstag 18.30 bis 19.30 Uhr

amnesty Bezirksbüro Hannover

Fraunhoferstraße 15 · 30163 Hannover Telefon: 0511 66 72 63 · Fax: 0511 39 29 09 · www.ai-hannover.de

Spenden an:

IBAN: DE23370205000008090100 · BIC: BFSWDE33XXX Verwendungszweck: 1475

System hielt. Der wurde von den Besuchern direkt niedergemacht.« Solche Begegnungen führten dazu, dass über die Vergangenheit eher geschwiegen werde. »Wer sagt schon ehrlich, dass er überzeugt war, wenn man mit solchen Reaktionen rechnen muss?« Wiek findet das schade. »Wir wollen ja beide Perspektiven zeigen.« Einer der Männer, die in Kühlungsborn am Strand patrouillierten, heißt Peter Mohrenberg. Der 64-jährige Rentner lebt heute in Erfurt. »Ich bewundere den Mut der Republikflüchtlinge«, sagt er, »aber die Grenzer waren auch oft ganz normale Leute.« Er selbst sei von der DDR überzeugt gewesen, hätte im Ernstfall wahrscheinlich sogar geschossen. »Aber ich hab‘ keinen angeschwärzt und war auch nie in der Partei«, betont er. Einen »versuchten Grenzdurchbruch« – so nennt er es noch heute – habe er nie erlebt. »Meist waren unsere Rundgänge wie Spazierengehen am Strand, nur dass wir bewaffnet waren und zwischendurch Personen kontrolliert haben.« Auch bei Mohrenberg ist die Sache nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint. Mehrfach versuchte die Stasi ihn anzuwerKnut Wiek setzt sich seit den 1990er-Jahren für den Erhalt des ben – er habe stets abgelehnt. Als seine damalige Freundin weGrenzturms in Kühlungsborn ein. Dass er noch immer steht, ist gen »Staatsverleumdung« inhaftiert wurde, war auch seine Karfür ihn eine Genugtuung. riere bei der Volkspolizei vorbei. »Im Laufe der Zeit haben sich meine Einstellungen geändert«, sagt Mohrenberg. Man merkt, dass er noch heute hin- und hergerissen ist. »Niemand ist gerne objekte (z. B. ein konfisziertes Klappboot) gezeigt werden. »Zu eingesperrt«, sagt er zum Reiseverbot der DDR-Bürger. Andeunseren Unterstützern gehören neben Einheimischen auch rerseits: »Es war nicht alles schlecht. Welche Gesellschaftsordviele Leute aus dem Westen«, sagt Wiek. nung ist schon perfekt?«

Als Teil des Bildungsauftrags organisiert der Verein regel- Vor einigen Jahren war er noch einmal in Kühlungsborn, mäßig einen Tag der offenen Tür. »Republikflüchtlinge« wie diesmal als Tourist. Er stieg auf den Grenzturm, schaute durchs Harry Balbach kommen dann vorbei, um ihre Motivation zu Fenster und beobachtete die Ostsee. Harry Balbach, den eheschildern. Bei ihm war es gar nicht die maligen Republikflüchtling, hat er nie gegroße Politik, die ihn aus dem Land trieb: troffen. Vielleicht täte es beiden gut, sich »Meine Freunde und ich mochten vor al- »Meist waren unse- über die alten Zeiten zu unterhalten, ohne lem die westliche Musik, die Beatles, die re Rundgänge wie Vorurteile. Balbach sagt, auch er sehe heute Rolling Stones, Chuck Berry.« Nach einem Jahr in Haft wurde er von der BRD freige- Spazierengehen am vieles anders. »Inzwischen weiß ich, dass viele Spitzel und Soldaten von der Stasi kauft und lebte bis zum Mauerfall im Wes- Strand, nur dass wir gezwungen wurden. Es ist eben nicht alles ten. »Ich habe alles Mögliche gemacht«, bewaffnet waren.« Schwarz-Weiß.« Auch er kennt einen ehesagt Balbach – Elektrik, Innenarchitektur, Peter Mohrenberg maligen Grenzsoldaten, der heute noch in Vermögensberatung. Zwar konnte er seine Kühlungsborn wohnt. »Der hatte das Glück, Familie zwischendurch besuchen, die Ost- niemanden aufgreifen zu müssen. Der hat see fehlte ihm dann aber doch. »Ich würde es sofort wieder ma- einfach nur seinen Dienst gemacht.« chen«, sagt er, »aber Kühlungsborn ist nun mal meine Heimat.« 5609 Fluchtversuche über die Ostsee hatten die Behörden Nach der Wende zog er sofort zurück. seit 1961 registriert – per Schlauchboot, Luftmatratze, Taucher-

Noch heute leben in Kühlungsborn ehemalige Regimetreue anzug oder im selbst gebauten U-Boot. 913 Personen schafften als auch Dissidenten Tür an Tür. Manchmal gibt es Veranstal- es in den Westen, etwa 180 ertranken bei dem Versuch. Dass tungen, bei denen beide Seiten zusammenkommen sollen, um beide Seiten heute zumindest Verständnis füreinander äußern, ihre unterschiedlichen Sichtweisen darzulegen. »Das war kei- gibt Anlass zur Hoffnung. Projekte wie in Kühlungsborn tragen ne so gute Idee«, sagt Knut Wiek vom Grenzturm-Verein. »Wir ihren Teil dazu bei. hatten hier einen Mann, der den Sozialismus für das bessere Text und Fotos: Steve Przybilla

This article is from: