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Leipzig NEW YORK 9/11–Vom Ground Zero in das Panometer

NEW YORK 9/11–VOM GROUND ZERO IN DAS PANOMETER

Das Panorama zum 11. September wird nach 20 Jahren Planung Wirklichkeit

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Mit NEW YORK 9/11 beschäftigt sich Yadegar Asisi erstmals mit einem der wahrscheinlich prägendsten Momente der neueren Zeitgeschichte. Die Angriffe auf das World Trade Center in New York und die daraus resultierenden Kriege, die ganze Erdteile in ein nicht enden wollendes Chaos stürzten und die Konfliktlinien zwischen Kulturen und Religionen verstärken, sind ein wesentlicher Teil unserer Gegenwart und zentrales Thema des Projekts.

Das Panorama bildet nicht die tragischen Ereignisse des Terroranschlags auf das World Trade Center selbst ab, sondern präsentiert die Silhouette von Manhattan mit den weltbekannten Twin Towers unmittelbar vor den Terrorangriffen. Gezeigt wird ein typischer Morgen im Großstadt-Rhythmus der multikulturellen Metropole New York: Menschen jeglicher Herkunft eilen in ihre Büros, warten vor den Takeaways und strömen in Massen aus den U-Bahn-Ausgängen. In Verbindung mit strahlendem Sonnenschein und dem klaren Himmel des beginnenden Herbsttages entsteht so eine bunte, geschäftige und dennoch unwirklich friedliche Szenerie. Im Kontrast hierzu führt der Weg in der Ausstellung vor dem Panorama durch die Folgen dieses Schicksalstages und zeigt die globalen Auswirkungen der Ereignisse und das vielfach vergrößerte menschliche Leid in den Nachwirkungen der Katastrophe.

Als Yadegar Asisi im Jahr 2002 mit einer Polizeieskorte in das große Loch am Ground Zero fuhr, war seit den Anschlägen vom 11. September noch nicht einmal ein Jahr vergangen. Die Welt stolperte in den AfghanistanKrieg, während die Amerikaner selbst noch unter Schock standen und sich fragten, wie dies alles geschehen konnte. Ja, wie die größte Supermacht aller Zeiten es zulassen konnte, dass Tausende ihrer Bürger Opfer einiger weniger Terroristen wurden. Die Stadt New York und der Südwesten Lower Manhattans befanden sich auch nach Monaten noch im Ausnahmezustand. So war die offene Wunde im Stadtbild, an der bald das neue One World Trade Center entstehen sollte, eine gut bewachte Sicherheitszone. Um das Trauma der Geschehnisse hinter sich zu lassen und die entstandene Lücke baulich zu schließen, wurde ein Architekturwettbewerb ausgelobt, in dessen Rahmen Yadegar Asisi als Teil des Teams um Daniel Libeskind die Anschlagsstätte vor Ort besichtigte. Er entwarf für Libeskinds Idee eines neuen World Trade Centers ein Panorama, welches die Grundidee des architektonischen Entwurfs vermittelte. Die Idee sah vor, die neuen Gebäude der Anlage rund um das Loch als Mahnmal zu bauen und damit den Opfern der Anschläge ein ewiges Denkmal zu setzen. Der Ansatz überzeugte die Jury. Doch trotz des Gewinns des Wettbewerbs wurde

der ursprüngliche Entwurf aus wirtschaftlichen Gründen nicht realisiert, denn der Anteil der Nutzflächen war dem Pächter des Geländes zu gering.

Auch ohne eine volle Umsetzung der Idee Libeskinds ließ das Thema 9/11 Yadegar Asisi nicht mehr los. Mit den sich stetig ausweitenden Kriegen in Nahost und den damit einhergehenden Hunderttausenden von Toten, begannen zahlreiche Fragen an ihm zu nagen. Stand die Reaktion des Westens noch in Relation zu ihrem Anlass? Sollte man Gewalt mit noch mehr Gewalt beantworten und damit eine niemals enden wollende Spirale des Leids in Gang bringen? Seine Gedanken führten ihn immer wieder zurück zum Ausgangspunkt dieses tödlichen Kreislaufs, der Stunde Null an diesem sonnigen Herbstmorgen im multikulturellen New York kurz vor den Anschlägen. Diese damals vermeintlich noch einigermaßen heile Welt sollte im Zentrum der künstlerischen Darstellung stehen. Wer sich mit Leid und Krieg beschäftigt, muss nicht immer dessen Folgen zeigen. Die Idee zu einem Panorama zum 11. September war geboren.

Als Standpunkt des Betrachters wurde ein ebenerdiger Punkt auf dem Friedhof der St. Paul’s Chapel in Manhattan gewählt, den Asisi alsbald auf einer ersten Skizze festhielt.

In den Folgejahren wurde die Grundidee des Projekts immer konkreter: Das Panorama sollte nicht nur als Monumentalbild für sich alleine stehen, sondern mit der Begleitausstellung stärker denn je verknüpft sein. Von einer Chronologie der Folgen des Schicksalstages in den vergangenen 20 Jahren geht es für den Besucher direkt zum Ausgangspunkt des Geschehens: Der heilen Welt in New York 5 Minuten vor den Anschlägen. Yadegar Asisi beschreibt diese emotionale Gesamterfahrung folgendermaßen: “Es ist eine Symbiose zwischen der Ausstellung, die vor dem Panorama ist und dem Panorama selbst. In NEW YORK 9/11 ist das Panorama noch mehr als alle anderen Panoramen ein Denk- und Emotionsraum.

In zahlreichen Recherchereisen wurde so nach und nach Material für ein authentisches Abbild Lower Manhattans aus dem Herbst 2001 gesammelt. Aus tausenden und abertausenden von Bildern und Texturen wurde ein digitales Gemälde geschaffen, was in seinem Detailgrad und Hyperrealismus dem Besucher das Gefühl gibt, direkt vor der St. Paul’s Chapel am Fuße des World Trade Centers zu stehen. Wie bei allen Panoramen scheute Yadegar Asisi auch für NEW YORK 9/11 keine Mühen, um einen bestechend hohen Detailgrad im Panorama zu verwirklichen. Neben der langjährigen Recherche von Bildmaterial zum Tag der Anschläge, mussten viele Details des Panoramas in eigenen Fotoshootings umgesetzt werden. Mit Dutzenden Komparsen wurde in den Hangar Studios in Berlin Adlershof der multikulturelle Trubel während der New Yorker Rush Hour dargestellt. Selbst Automodelle der Zeit wurden in authentischen Miniaturvarianten im Fotostudio abgelichtet und eingefügt. Und nebenbei über Jahre am Konzept der Begleitausstellung sowie an 3D-Modellen, Texturen und Lichtstimmungen getüftelt.

Jeder Mensch hat ein ganz eigenes Bild des 11. September im Kopf, weil jeder weiß, was genau er zum Zeitpunkt der Anschläge gemacht hat. Diese Geschichte der eigenen Erinnerung möchte Yadegar Asisi in der Ausstellung verknüpfen mit der Frage nach dem Warum: “Wie reagieren wir individuell auf derartige Katastrophen? Wir haben ja ein kollektives Gedächtnis für diesen Augenblick und können ihn alle beschreiben. Für einen kurzen Moment waren wir alle weltweit eins, waren in dem was wir dachten und fühlten miteinander verbunden. Und was passiert, wenn wir fünf Minuten vor diesem Augenblick im Panorama stehen? Das ist ein wahnsinnig emotionaler Moment. Was dann mit dem Einzelnen passiert, weiß ich nicht – aber wir beginnen Fragen zu stellen. Und das ist immer gut.”