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Die Perle Diese Geschichte stammt aus der Feder John Steinbecks und spielt an der Küste Mexikos. Sie hat mich fasziniert, und ich will sie hier erzählen.

Eines Morgens, als Keno und Juana aufstanden, sahen sie mit Entsetzen, wie ihr kleiner Sohn Coyotito von einem Skorpion gestochen wurde.

Von Angst erfüllt machten sie sich auf den Weg zum Arzt, nachdem Juana schon versucht hatte, das Gift aus der Wunde des Jungen zu saugen. Der Arzt, ein reicher Mann, der sich nicht um die Belange der armen Fischer scherte, lehnte es ab, den kleinen Coyotito zu behandeln.

Am nächsten Morgen machten sich Keno und Juana auf den Weg zum Meer, wo Keno nach Perlen tauchen wollte. Sie nahmen ihren Sohn mit, dem es auch ohne die Hilfe des Arztes schon viel besser ging. Tatsächlich gelang es Keno, eine große Perle zu finden, ja, sogar die größte, die jemals von den Fischern seines Dorfes gefunden worden war.

Nachdem bekannt wurde, dass die Familie im Besitz dieser wertvollen Perle war, kam der Arzt persönlich vorbei, um Coyotito zu behandeln. Auch alle anderen Dorfbewohner zeigten plötzlich großes Interesse an der Familie – viele waren eifersüchtig.

Keno beschloss, die Perle zu verkaufen, und machte sich zusammen mit seiner Familie auf den Weg in die Stadt. Dort angelangt, wurde er sehr enttäuscht, 7

denn keiner der Händler war bereit, einen angemessenen Preis für die Perle zu bezahlen. Unverrichteter Dinge mussten sie in ihr Heimatdorf zurückkehren.

Nach mehreren Überfällen auf die Familie verlangte Juana von Keno, die Perle wieder zurück ins Meer zu werfen, da sie ihrer Meinung nach nur Unglück brachte. Doch Keno wollte davon nichts wissen. Die Perle war zu seinem Ein und Alles geworden.

Bei einem erneuten Angriff auf ihn und seine Familie wurde Keno zum Mörder, und sie mussten sich verstecken. Schließlich brachen sie zur Flucht auf, doch schon nach nur wenigen Tagen merkten sie, dass sie von drei Polizisten verfolgt wurden. Es kam zu einem Kampf und zu einer wüsten Schießerei, bei der zwei der Polizisten ums Leben kamen und einer in die Tiefe stürzte. Aber auch Keno musste bei diesem Kampf einen hohen Preis zahlen.

Durch die Schüsse war Coyotito aufgeschreckt worden und hatte einen lauten Schrei ausgestoßen. Einer der Polizisten vermutete, dass es ein Kojote war, zielte auf ihn und erschoss ihn. Den Eltern zerriss es das Herz, als sie es sahen, und sie waren so verzweifelt, dass sie schließlich auf eine Anhöhe stiegen und die Perle weit ins Meer hinauswarfen. Damit hofften sie, das Übel abgewandt zu haben.

Wunderbar hat dies John Steinbeck in Worte gefasst: „Sie flog durch die Luft und glänzte im Schein der sinkenden Sonne noch einmal auf. Keno und 8

Juana sahen, wie eine kleine Welle leicht aufspritzte, als die Perle ins Wasser fiel, und Seite an Seite starrten sie dann auf die Stelle, wo sie untergegangen war. Und die Perle sank in dem grünen Wasser bis auf den Grund des Meeres. Die schwankenden Zweige der Algen winkten ihr entgegen. Auf dem sandigen Boden zwischen farnkrautähnlichen Pflanzen blieb sie liegen. Das Wasser über ihr glänzte wie ein grüner Spiegel. Eine Krabbe kroch über den Meeresgrund und warf eine kleine Sandwolke auf. Als sich der Sand dann wieder gesetzt hatte, war die Perle verschwunden. Und die Musik der Perle wurde zu einem Flüstern und verklang.“ In dieser Geschichte hat der Fund der Perle nur Unglück gebracht und ins Verderben geführt. John Steinbeck ist ein Werk gelungen, das die Herzen der Menschen berührt. An Dramatik ist diese Geschichte nicht zu überbieten. Sie zeigt uns, was die Macht des Bösen vermag. Dass er dieses Gefälle des Bösen und das darin gefangene Menschenherz so eingehend schildern kann, zeigt seine schriftstellerische Größe.

Ihm ist es gegeben, ein Bild des Menschen in seinen Sehnsüchten, aber auch in seinen Abgründen zu entwerfen, und dies zugleich in ein großartiges sprachliches Gewand zu kleiden.

Auch in der Bibel finden wir zwei Gleichnisse von Jesus, einfach, schlicht und doch treffend erzählt.

Aber die Perle und der Schatz, von dem sie erzählen, sind von anderer Art. Sie stürzen die Menschen nicht in die Hände von Verführern und Ausbeutern, 9

sondern haben die Kraft, zur Freude des Lebens zu führen.

Hier in unserem Text aus Matthäus 13,44-46 haben wir es mit einem glücklichen Schatzsucher zu tun. In der sengenden Sonne trottet ein Knecht mit gesenktem Kopf hinter seinem Pflug her. Plötzlich bleibt seine Pflugschar an etwas Hartem hängen. Er hat große Mühe, den Pflug wieder flott zu kriegen.

Nun schaut er sich die Lage genauer an. Er schaufelt die Erde etwas zur Seite und sieht: Das ist ja kein Stein, das ist ein Stück Eisen, das mich in meiner Arbeit behindert hat. Schnell räumt er die Erde weg, und was entdeckt er da: eine Truhe. Er hebt sie aus dem Erdreich empor und wundert sich, dass sie so schwer ist. Er versucht das Schloss aufzubrechen.

Dabei sind seine Nerven bis zum Äußersten gespannt. Sein Puls rast. Er hebt den Deckel und kann das Wunder nicht fassen. Vor ihm liegt ein kostbarer Schatz. Die Truhe ist mit wertvollen Silbermünzen gefüllt. Schnell blickt sich der Tagelöhner nach allen Seiten um, ob ihn denn auch niemand bei seinem Tun beobachtet habe. Mit flinken Händen wirft er wieder die Erde darauf und vergräbt die Kiste.

Dann arbeitet er weiter, so als ob sich bei ihm nichts Besonderes ereignet hätte.

Jesus hat seine stille Freude daran, solche Geschichten von kleinen Schlitzohren zu erzählen. Zu Hause überlegt der Mann, ob er den Acker kaufen kann, damit er auf legalem Wege in den Genuss der Schatzkiste kommt. Er ist nicht reich. Alles, was er an kleinen Kostbarkeiten in seinem Hause finden kann, 10

trägt er zusammen: ein paar Notgroschen, zwei Töpfe, etwas Schmuck von seiner Frau. Er verkauft seine Habe und geht zum Gutsbesitzer, um ihn darum zu bitten, ein kleines Stückchen Land kaufen zu dürfen. Das würde ihm helfen, seine Familie besser zu ernähren. Er würde etwas Gemüse, Getreide und Obst anbauen. Der Besitzer willigt ein, da der Acker ziemlich weit weg von seinem landwirtschaftlichen Betrieb gelegen ist.

Der kleine Lohnarbeiter kommt aber auf diese Weise zu einem enormen Vermögen. Er gelangt zu großem Reichtum, ohne dass er danach gesucht hätte. Er verkaufte alles, was er an Wertvollem hatte, um Größeres zu gewinnen: den Schatz.

In der zweiten Geschichte, die Jesus uns erzählt, geht es nicht um einen armen Tagelöhner, der durch Zufall ein großes Vermögen erwirbt, sondern um einen reichen Kaufmann. Er handelt mit Perlen. Ständig ist er auf der Suche nach edlen Stücken. Eines Tages ist ihm das Glück hold. Er entdeckt eine kostbare Perle. Er verkauft alles, was er hat, nur um diesen Schatz in Händen zu halten. Was werden wohl seine Frau, seine Kinder und Freunde dazu sagen?

Einige halten ihn sicher für verrückt und zweifeln an seinem Verstand. Doch darüber verrät uns Jesus nichts. Wir wissen nur, dass dieser Kaufmann sein ganzes Vermögen veräußert, um in den Besitz dieser Perle zu kommen, und sich so seinen Lebenstraum zu erfüllen.

Diese beiden Geschichten, die uns Jesus hier er11

zählt, wollen uns aber nicht nur unterhalten. Sie wollen uns nicht nur die Weisheit zweier Menschen vermitteln, die uns zeigt, wie man in besonderen Situationen bedacht und klug handeln soll. Hier geht es um mehr.

Es geht um das Himmelreich. Das wird uns in den ersten Worten der beiden Gleichnisse gesagt.

Der Clou des ersten Gleichnisses ist das Unverhoffte. Nie in seinem Leben hat dieser Tagelöhner einen Gedanken daran verschwendet, einmal reich zu sein. Er entdeckte den Schatz ganz zufällig bei seiner alltäglichen Arbeit. Aber er hätte nie gedacht, hier in der kargen Erde Silbermünzen zu finden.

Gewiss, er wird auch Wünsche und Sehnsüchte für sich und seine Familie gehabt haben. Gesund wollte er bleiben, Kinder wollte er haben, die auch im Alter zu ihm stehen, und in innerer Zufriedenheit leben. Aber von einem Schatz hat er bestimmt nie und nimmer geträumt.

Genau das meint Jesus mit diesem Gleichnis vom Schatz im Acker. Gott lässt sich ganz unverhofft von Menschen finden, die nie nach ihm gesucht haben und die vielleicht längst die Hoffnung aufgegeben haben, in eine Beziehung zu diesem allmächtigen Gott zu treten. Das ist das Erstaunliche an Gott: Er kann Menschen begegnen, die nie mit ihm gerechnet haben. Das kann durch ein Traktat, durch ein Gespräch mit einem Christen am Arbeitsplatz, durch eine Einladung zu einem evangelistischen Vortrag, durch eine alte Bibel, die man im Nachlass eines Verwandten entdeckt hat, geschehen, ja, Gott lässt 12

sich von denen finden, die ihn nicht gesucht haben.

Ein Beispiel will ich dazu erzählen: In der australischen Steppe treibt ein Hirte seine Schafe über die unendlich großen Weiden. Plötzlich sieht er ein Stück Papier, das vom Wind hin und her geweht wird. Es ist ein altes Zeitungsblatt, halb verdreckt und an den Rändern zerfetzt. Bei seiner eintönigen Beschäftigung kommt ihm ein Zeitungsblatt gerade recht. Er ist nämlich schon wochenlang mit seinen Tieren unterwegs und hat keinen Menschen, mit dem er reden könnte. Hier in dieser Zeitung könnte er etwas von der großen, weiten Welt erfahren.

Das Zeitungsblatt enthält aber keine politischen Ereignisse oder Sportnachrichten oder Berichte aus der Welt der Reichen und Schönen, sondern eine Predigt, die Spurgeon, der Fürst unter den Predigern, wie er genannt wurde, in seinem Tabernakel in London gehalten hat. Der Hirte liest die Auslegung des teuren Gotteswortes, und plötzlich gehen ihm die Augen auf, und er erkennt, wie nötig er Jesus braucht. Er kniet auf der kargen, krustigen Erde nieder und ruft Jesus an, dass er ihn erretten und ihm die Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater schenken möge. Nach seinem Gebet wird der Hirte von einer unbändigen Freude erfüllt. Er kann ausrufen: „Ich habe meinen Frieden mit Gott gefunden. Noch nie war ich so glücklich, zutiefst glücklich.“ Oder ich denke an eine Frau aus Kasachstan. Sie ist von ihrer Freundin auf eine Wochenendfreizeit 13

mitgenommen worden. Plötzlich geht ihr auf: Die anderen Frauen auf dieser Tagung sind so froh. Sie machen einen gelösten Eindruck. Sie leben mit Gott, und ich stehe draußen. Eine große Sehnsucht packt sie, und nach dem Vortrag spricht sie mich an: „Frau Bormuth, ich nicht haben Glück in Liebe. Ich nicht haben gefunden eine Mann. Ich nicht Glück haben in Arbeit. Immer ich nur arbeiten in Fabrik, schwäre Arbeit und wenig Geld. Ich nicht haben Glück in Religion. Kann ich haben Glück wie andere Frauen hier? Können Sie sagen mir, wo ich kann finden eine Mann? Wissen Sie, wo Arbeit nicht ist so schwär?

Können Sie erzählen mir, wo ich kann finden Glück in Religion?“ Und dann erzähle ich Natascha von Jesus – dass er gekommen ist, um uns Menschen das größte Glück unseres Lebens zu bringen, die Aussöhnung mit unserem Vater im Himmel. Ich zeige ihr auf, wie wir Frieden mit unserem himmlischen Vater finden können und das ewige Leben dazu. Und dann frage ich sie: „Natascha, wollen Sie dieses Glück in Jesus annehmen?“ Für Natascha ist dies keine Frage mehr. Ja, sie will diesen Frieden unbedingt. Wir beten noch gemeinsam, und ich sage ihr Satz für Satz ein Gebet vor. So übereignet diese Russlanddeutsche ihr Leben Jesus.

Sie findet den größten Schatz. Plötzlich wird sie von der Freude an Gott überrascht und kann es kaum fassen, dass sie ein Gotteskind ist.

Aber es gibt auch die anderen, die sich wie der Kaufmann hier im Gleichnis auf die Suche nach der 14

kostbaren Perle begeben. Ich mache auch das am besten an einem Beispiel deutlich. Ich bin zu einem Frauenfrühstück in Westfalen eingeladen und halte einen Vortrag zum Thema „Weil du so wertvoll bist“.

Vor mir sitzt eine junge Frau und hört aufmerksam zu. Selten habe ich eine so interessierte Zuhörerin gesehen. Ihre Augen sind hellwach. Auf einmal läuft ihr eine Träne über die Wange und dann noch eine.

Und plötzlich fängt sie heftig an zu weinen, so dass ich meine Rede unterbrechen muss. Diese vornehm gekleidete, gut aussehende Dame ist sehr erschüttert. Später erfahre ich, warum sie innerlich so aufgewühlt war. Sie erzählte: „Ich gehe in die Kirche, jeden Sonntag und auch an Werktagen. Ich beichte, ich bringe Opfer, ich bete, faste, kämpfe gegen den Unglauben an und versuche gute Liebeswerke zu vollbringen, um Gott gnädig zu stimmen. Ich will doch auch in den Himmel kommen. Und heute habe ich gehört, dass ja Jesus schon alles zu meiner Rettung vollbracht hat. Der Weg für mich zum Vaterherz Gottes ist frei. Das hat mich gerührt, und es ist so unglaublich, dass ich es kaum begreifen kann. Alles, alles hat er schon zu meiner Versöhnung mit Gott getan, und ich darf ihn in mein Leben aufnehmen. Ich weine vor Glück.“ Diese Frau eines Fabrikanten hat jahrelang nach Gott gesucht und meinte, ihn mit frommen, guten Werken versöhnlich zu stimmen. Nun aber hat sie das Evangelium, die Frohe Botschaft gehört. Sie brauchte nur noch in die ausgestreckte Hand Jesu einzuschlagen, und das hat sie voller Freude getan.

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Nach langem Suchen hat sie die kostbare Perle gefunden, um mit unserem Gleichnis zu sprechen. Sie muss nicht ewig weitersuchen, sondern darf wissen, dass ihr das Himmelreich offensteht. Ja, auch heute lässt sich Gott in Christus finden und beschenkt uns mit Leben, ewigem Leben. Das ist sein grĂśĂ&#x;ter Schatz, die edelste Perle, die er uns zugedacht hat.

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Nach 20 Jahren

Es gibt eine wunderschöne Geschichte des amerikanischen Schriftstellers O’ Henry. Sie fasziniert mich immer wieder, sooft ich sie lese.

Ein Polizist befand sich auf seinem allabendlichen Streifengang. Gewichtig ging er auf und ab, wie es seine Gewohnheit war. Es war so gegen 22 Uhr. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen und trieb Regentropfen vor sich her. Bei dieser Kälte und dem ungemütlichen Wetter wagte sich kaum jemand hinaus ins Freie. Der Polizist drückte die Klinken an den Haustüren herunter und prüfte, ob sie auch verschlossen waren. Mit seiner wuchtigen Gestalt machte er den Eindruck eines Ordnungshüters, der seine Pflicht ernst nahm. In dieser Gegend lebten viele Menschen, die gerne die Nacht zum Tage machten und deren Fenster immer lange erleuchtet blieben. Gelegentlich kam er an einem Zigarrenladen oder einer Imbissstube vorbei, die die ganze Nacht geöffnet hatten. Doch die meisten Gebäude waren Büros oder Geschäftsräume. Sie hatten schon längst ihre Pforten geschlossen. Als der Polizist gerade an einem größeren Häuserblock vorbeikam, verlangsamte er seinen Schritt. An der Eingangstür eines Eisenwarenlagers stand ein Mann. Er hatte sich soeben eine Zigarre in den Mund gesteckt, sie aber noch nicht angezündet. Als sich der Polizist ihm 17

näherte, meinte er beschwichtigend: „Es ist schon alles in Ordnung. Ich warte hier nur auf einen Freund. Sie müssen wissen, wir haben uns vor 20 Jahren zum letzten Mal gesehen. Damals verabredeten wir, uns hier wieder zu treffen. Sicher mag das seltsam klingen, aber es stimmt. Ich will es Ihnen gerne erklären. Damals befand sich an dieser Stelle, wo jetzt ein Restaurant steht, ein Geschäft.

Es gehörte Joe Brady.“ „Ja, das stimmt, bis vor fünf Jahren“, nickte der Polizist. „Dann wurde das Haus abgerissen.“ Der Mann im Türeingang holte sich sein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete seine Zigarre an. Im Schein des aufflammenden Lichtes erkannte man sein großes Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen und einem scharfen Adlerblick. Über der rechten Braue trug er eine Narbe. Mit einer Brosche, die mit einem glitzernden Diamanten besetzt war, hatte er seinen Schal zusammengesteckt. „An diesem Abend vor 20 Jahren“, erklärte er, „habe ich in genau diesem Lokal mit Jimmy Wells zu Abend gegessen. Er war mein bester Kamerad und treuester Freund. Wir sind zusammen hier in New York aufgewachsen wie zwei Brüder. Ich war 18 und Jimmy 20. Am nächsten Morgen wollte ich in den Westen aufbrechen, um dort mein Glück zu versuchen. Jimmy war nicht von New York wegzukriegen. Für ihn gab es nur diese Stadt. An diesem Abend vereinbarten wir, uns nach genau 20 Jahren wieder hier zu treffen, ganz gleich, wie es uns in der Zwischenzeit ergangen wäre und wohin uns das 18

Schicksal verschlagen hätte. Wir gingen davon aus, dass wir beide bis zu diesem Zeitpunkt unser Lebensglück gefunden hätten, wie immer es auch aussehen würde.“ „Das klingt ja recht interessant. So lange haben Sie sich also nicht gesehen? Haben Sie in der Zwischenzeit mal etwas von Ihrem Freund gehört?“ „Nun, eine Zeit lang schrieben wir uns Briefe, aber nach ein, zwei Jahren verloren wir den Kontakt zueinander. Der Westen ist eben doch riesengroß, und ich bin dort weit herumgekommen. Aber ich bin überzeugt, dass Jimmy, wenn er noch lebt, sich heute Abend hier einfinden wird. Er war immer ein verlässlicher Kumpel. Vergessen hat er unsere Vereinbarung bestimmt nicht. Ich bin über tausend Meilen gereist, um hierherzukommen. Das ist es mir wert, wenn ich dafür meinen Freund treffen kann.“ Dabei zog er eine wunderschöne Uhr aus der Manteltasche heraus, die mit herrlichen Diamanten besetzt war. „Jetzt ist es drei Minuten vor zehn. Als wir uns damals an der Tür der Gaststätte verabschiedeten, schlug die Kirchturmuhr genau zehn Uhr.“ „Haben Sie es im Westen zu etwas gebracht?“, fragte der Polizist. „Darauf können Sie sich verlassen. Ich hoffe, Jimmy hat mindestens halb so viel Glück gehabt wie ich. Er war ein fleißiger Arbeiter und ein strebsamer Kerl. Ich musste im Westen gegen die härteste Konkurrenz antreten, um voranzukommen. In New York ist der Lebenskampf nicht so hart und das Dasein oft eintönig. Dabei kann man fast ver19

sauern. Im Westen dagegen sind die Herausforderungen enorm.“ Der Polizist wirbelte mit seinem Gummiknüppel durch die Luft und ging ein paar Schritte weiter. „Ich mache mich wieder auf den Weg. Hoffentlich kommt Ihr Freund bald. Sie nehmen es mit der Zeit ja sehr genau.“ „Ganz so dramatisch ist es nicht“, meinte der Mann aus dem Westen. „Eine halbe Stunde räume ich ihm noch ein. Wenn Jimmy noch am Leben ist, wird er bestimmt kommen. Bis bald, Herr Wachtmeister!“ Der Polizist wünschte ihm noch eine gute Nacht, marschierte weiter, prüfte die Türschlösser und verschwand um die Ecke.

Vom Himmel fiel kalter Regen, und der Wind hatte zugenommen. Die wenigen Menschen, die jetzt noch unterwegs waren, schlugen den Mantelkragen hoch und steckten die Hände tief in die Taschen. Der Mann, der tausend Meilen gereist war, wurde mit der Zeit doch ungeduldig. Er ging hin und her und stieß den Rauch seiner Zigarre nervös in die Luft. Er wartete noch etwa 20 Minuten. Plötzlich kam eine große Gestalt in einem weiten Mantel von der anderen Straßenseite auf ihn zu. „Bist du das, Bob?“, fragte er ihn. „Und du bist wahrscheinlich Jimmy Wells“, rief der Mann vor dem Geschäft. „Um Himmels willen, da bist du ja, Bob. Ich war mir sicher, du würdest kommen, wenn du noch lebst.

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Vieles hat sich verändert. Ich wollte, die Uhren wären stehen ge20