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Obdachlosigkeit während Corona
TEXT + FOTOS DIRK TECKENBURG
In unserer ArrivalNews vom November 2018 haben wir bereits über das Thema Obdachlosigkeit in Deutschland geschrieben. In dieser Ausgabe möchten wir das Thema noch einmal aufgreifen. Im Winter ist es immer besonders hart, auf der Straße zu leben. Aber in diesem Jahr ist der Winter durch die Coronakrise für die Obdachlosen noch härter als sonst. Wir haben das Jesus Center e.V. im Hamburger Schanzenviertel auf Sankt Pauli besucht. Vor Ort haben wir über die besonderen Herausforderungen für Obdachlose in diesem Corona-Winter gesprochen.
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Es gibt keine genauen Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland obdachlos sind. Man schätzt aber, dass in den großen Städten, wie z. B. Hamburg oder Berlin mindestens je 2.000 Menschen auf der Straße leben. Sie besitzen keinen festen Wohnsitz und haben keine Unterkunft. Sie leben z. B. in Parks oder Bahnstationen und schlafen dort auch.
Der Grund, warum Menschen obdachlos werden, sind oft schwere Ereignisse im Leben. Zum Beispiel Tod des Partners oder eine schwerere Krankheit. Manche haben auch ihre Arbeit verloren oder leiden an einer Sucht. Dazu kommt die Wohnungsnot in vielen großen Städten. Manche Menschen können ihre Rechnungen und die Miete nicht mehr bezahlen und gehen dann einfach auf die Straße. Wenn der Mensch keine Wohnung mehr hat, hat er auch keine Anschrift mehr. In Deutschland braucht ein Mensch aber eine feste Anschrift, um soziale Unterstützung zu bekommen. Auch bei der Suche nach Arbeit fragt der Arbeitgeber nach der Anschrift. Kann man dann keine Anschrift nennen, bekommt man die Arbeit Teufelskreis. Ohne Anschrift gibt es keine Arbeit. Ohne eine Arbeit gibt es kein Geld, um eine Wohnung zu mieten.
Das Leben auf der Straße
Die obdachlosen Menschen nennen ihren Schlafplatz auf der Straße Platte. Obdachlose sprechen auch von Platte machen, wenn sie auf der Straße leben. Das Leben auf der Straße ist ein Überlebenskampf. Sehr viele Obdachlose erleben Gewalt oder werden von anderen Menschen abfällig behandelt. Obdachlose Menschen sind auch öfter von Krankheiten betroffen. Sie sterben im Durchschnitt ca. 10-20 Jahre früher als Menschen, die nicht obdachlos sind.
Besonders schwer ist es im Winter, auf der Straße zu leben. Es ist kalt und es gibt wenig Möglichkeiten für die Menschen, sich aufzuwärmen. Im obdachlose Menschen erfroren. Durch die Coronakrise ist die Lage in diesem Jahr noch schwieriger. Auf Grund der Einschränkungen durch den Lockdown sind viele öffentliche Toiletten und sanitäre Anlagen geschlossen. Auch Einrichtungen wie Büchereien oder große Warenhäuser wie z. B. Ikea, wo man sich manchmal kurz aufwärmen konnte, sind geschlossen. Sogar Anlaufstellen wie die Bahnhofsmission, die sonst Obdachlosen Schutz, einen Platz zum Aufwärmen und Essen anbieten, sind teilweise geschlossen.
Es gibt zwar ein staatliches Notprogramm, das die Obdachlosen vor dem Erfrieren schützen soll. Allerdings wird es manchmal nicht gerne angenommen. Es gibt nämlich dort keine Einzelunterkünfte. Man schläft im Mehrbettzimmer mit Menschen zusammen, die man nicht kennt. Es kommt hin und wieder zu Diebstählen. Viele Obdachlose sagen, ihnen wird so die letzte Würde genommen. Und die eigene Entscheidung, mit wem man zusammen die Nacht verbringt. Zudem können in den Mehrbettzimmern die erforderlichen Corona Abstände nicht sichergestellt werden, weil es oft eng ist. Viele Obdachlose gehören zur Corona Risikogruppe und sind deshalb besonders gefährdet, sich anzustecken.
Bürger-Engagement
Zum Glück gibt es viele Menschen, die freiwillig helfen. Sozialarbeiter*innen schauen nach den Menschen an der Platte. Ärzte und Ärztinnen kümmern sich um kranke Obdachlose. Schwimmbäder oder Sportvereine öffnen ihre sanitären Anlagen, damit man dort duschen und auf die Toilette gehen kann. In vielen Städten fahren umgebaute Busse, in denen sich Obdachlose aufwärmen können. In Hamburg gibt es z. B. das Café „Augenblicke“, das Obdachlosen eine warme Mahlzeit, einen Kaffee oder auch eine Dusche anbietet. In diesem Corona Winter haben sogar einige Hotels den Obdachlosen Unterkunft gegeben. So konnten die Menschen endlich mal in Ruhe schlafen. Diese Unterstützung wird meist über Spenden oder von Vereinen bezahlt. Aber auch normale Bürger helfen oft freiwillig und ehrenamtlich.

Anke Beceral im Jesus Center e.V.
Dank dieser Unterstützung gelingt es einigen Obdachlosen manchmal, wieder einen Weg aus der
Und was kann jede*r Einzelne tun? Ganz einfach: den obdachlosen Menschen immer auf Augenhöhe begegnen.
Interview mit Anke Beceral vom Café Augenblicke im Jesus Center e.V.
Das Café Augenblicke ist seit über 30 Jahren Anlaufstelle für Wohnungslose, Drogenabhängige und Anwohner*innen aus dem Schanzenviertel in Hamburg St. Pauli. Es gehört zum Jesus Center e.V. mit mehr als 20 festen Mitarbeiter*innen und bis zu 70 Ehrenamtlichen. Das Jesus Center kümmert sich um alle Menschen, die Unterstützung brauchen.
Ich bin Anke Beceral und 37 Jahre alt. Meine Aufgabe ist die Koordination für das Café Augenblicke. Das Café gibt es genauso lange, wie ich alt bin, also 37 Jahre. Es ist ein Ort der Versorgung und Begegnung für bedürftige Menschen. Dabei ist es egal, woher die Menschen kommen oder welche Sorgen sie haben. Die meisten Mitarbeiter*innen sind Ehrenamtliche. im Café. Jetzt gibt es nur noch 12. Dennoch werden genauso viele Menschen versorgt. Das sind 50 - 70 Personen am Tag. Die Menschen werden mit Essen und Trinken oder Kleidung versorgt und es gibt Duschen. Bei Bedarf bieten wir Beratung an.
Am meisten besorgt mich die Veränderung der Gesellschaft. Vieles kann nur mit privater Unterstützung im sozialen Bereich getan werden. Die Politik zieht sich gleichzeitig weiter aus der Verantwortung.
Dass wir trotz Corona weiter geöffnet haben.
Man ist mehr auf Abstand zu den Menschen. Es ist schwerer mit den Menschen zu reden. Das kostet die Mitarbeiter*innen viel mehr Kraft.
Ich wünsche mir, dass die Corona Pandemie schnell vorbei ist. Aber auch, dass von der Wertschätzung und der Hilfe untereinander, die jetzt mehr geworden ist, etwas in Zukunft bleibt.
www.jesuscenter.de/cafe-augenblicke
www.hempels-sh.de/news/details/ hamburg-60-obdachlose-in-hotelsuntergebracht
www.igfm.de/hilfe-fuer-obdachlose
der Wohnsitz, -e der Ort, an dem man wohnt; Wohnung
die Wohnungsnot, Wohnungsnöte es gibt zu wenig Wohnungen
der Arbeitgeber, Arbeitgeber eine Person, die Menschen in ihrer die Arbeitgeberin, -nen Firma beschäftigt; Chef*in der Teufelskreis, -e eine ausweglose Situation, Ursache und Wirkung einer Sache verstärken sich gegenseitig abfällig zeigen, dass man von jemandem oder etwas eine schlechte Meinung hat; geringschätzig der Lockdown Sperrung, Schließung von Geschäften oder öffentlichem Leben die Anlaufstelle, -n ein Ort, an dem es Rat und Hilfe für bestimmte Personen gibt die Würde der innere Wert eines Menschen, das Ansehen der Sozialarbeiter, jemand, der beruflich Personen Sozialarbeiter betreut, die aufgrund ihrer sozialen die Sozialarbeiterin, -nen Verhältnisse Hilfe benötigen; Streetworker ehrenamtlich eine Aufgabe, die man ohne Bezahlung ausübt auf Augenhöhe gleichberechtigt, gleichwertig (mit jemandem) die Koordination organisieren, das Regeln von Aufgaben die Beratung, -en eine Person über etwas informieren, Unterstützung beim Lösen von Problemen anbieten nachdenklich sein nachdenken, überlegen, grübeln