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haben im Bundesrat auch in Sachen Tiefenlager den Weg der Wissenschaftlichkeit und der Sicherheit beschritten»

Vor etwa zwei Jahren haben Sie gesagt, dass wir noch keine Lösung für ein Tiefenlager haben. Ist Stadel diese Lösung?

Die Untersuchungen der letzten Standorte haben ergeben, dass der Opalinuston ein sicheres Gestein ist. Auch die Abklärungen zu den Oberflächenanlagen sind so weit getroffen, dass man sagen kann: Wir haben einen Standort, der gegenüber den anderen sicherer ist. Von daher denke ich, dass sich die vielen Untersuchungen gelohnt haben. Und jetzt kommt der politische Prozess.

2011 geschah das Unglück von Fukushima. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Ich hatte an diesem Abend einen Auftritt in Luzern, als der Anruf kam. Dann ging es zurück nach Bern zur Lageanalyse. Man wusste noch nicht, wie schlimm es ist. Aber vom Unglück in Tschernobyl wussten wir, dass Europa relativ schnell betroffen sein wird. Wir nahmen Kontakt mit dem ENSI auf und bestimmten das weitere Vorgehen, gerade bezüglich Kommunikation. Man vergisst immer wieder, dass wir damals drei hängige Gesuche hatten. In dieser Situation haben wir uns intensiv mit der Frage befasst, ob wir ein oder zwei neue Kernkraftwerke wollen – oder gar keines. Es heisst immer, dass wir emotional reagiert haben, dabei waren wir sehr technisch unterwegs.

Hat das Unglück den Prozess beschleunigt oder verändert?

Mein Eindruck war, dass wir ohne das Unglück ein neues Kernkraftwerk gebaut hätten. Wir wussten, dass Mühleberg bezüglich Alter und Sicherheit ein Auslaufmodell war. Wir wussten, wir benötigen mehr Strom, die Klimadiskussionen standen damals ja erst am Anfang. Wir hatten auch nicht das Bevölkerungswachstum von heute. Aber es gab andere Faktoren, etwa die Mobilität, die klar machten, dass wir mehr Strom benötigen. Darum dachten wir, dass ein Kernkraftwerk, etwa in der Grösse von Leibstadt, realistisch ist. Doch dann hat sich Vieles verändert.

War Ihnen gleich klar, dass man jetzt handeln muss?

Zuerst haben wir die Gesuche sistiert, weil wir Zeit benötigten. Als wir dann die Resultate und Berechnungen des Bundesamts für Energie und der ETH erhalten haben, sahen wir, dass es technisch machbar ist, die bestehenden Kernkraftwerke so lange wie möglich laufen zu lassen. So sichern wir unsere Grundversorgung, aber wir werden kein neues KKW bauen, das wurde mir relativ schnell klar. Dass die Klimapolitik viel wichtiger wurde, hat ebenfalls mit reingespielt.

Aktuell gibt es die Diskussion, ob neue Atomkraftwerke gesetzlich zugelassen werden sollen. Was geht Ihnen da durch den Kopf? Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass man in einer Demokratie alle Entscheide immer wieder hinterfragen darf. Die Welt verändert sich, wir haben viele Gesetze, die nach Jahren wieder angeschaut und angepasst werden. In diesem Fall fehlen mir die Fakten. Wenn man so etwas neu aufgleisen würde, interessiert mich schon, was der Preis für ein neues Kernkraftwerk ist. Zudem haben die Betreiber relativ klar gesagt, dass sie keine neuen Kernkraftwerke finanzieren, weil es nicht profitabel ist. Wenn die Wirtschaft sagt, dass es nicht profitabel ist, muss sich die Politik gut überlegen, ob sie eine Energiepolitik machen will, die staatliche Gelder benötigt. Hier sind noch viele Fragen offen. Unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit verstehe ich, dass Unternehmen und Haus- halte eine Strommangellage fürchten. Aber es gibt ja noch Speichertechnologien, die am Entstehen sind. Das kann in den nächsten paar Jahren realisiert werden – viel schneller als nur schon ein Baugesuch für ein neues Kernkraftwerk. Dann wäre das Winterproblem zu einem grossen Teil gelöst. Dazu kommt das Stromabkommen mit der EU, das sehr komplementär ist. Im Sommer nehmen sie uns Strom ab, im Winter sind sie froh, wenn sie uns beliefern können. Das ist, bei einer Markt- und Preisbetrachtung, etwas Sinnvolles.

Schauen wir in die Zukunft: Was wäre für Sie eine wünschenswerte Energiepolitik?

Wenn man Klimapolitik ernst nehmen will, führt kein Weg an den erneuerbaren Energien vorbei. Die Schweiz hatte einen hervorragenden Start in dieses Zeitalter. Unsere Energie ist zwar immer noch sehr fossil, gerade in der Mobilität und der Industrie. Aber es gibt viele technologische Möglichkeiten, wir sind ein Land der Innovation. Ohne Vernetzung geht es nicht, niemand ist autark. Bei jeder Energiequelle muss man Kooperationen und Partnerschaften eingehen. Die Bevölkerung wiederum muss akzeptieren, dass man nicht den Fünfer und das Weggli haben kann. Man kann nicht KKWs, Gas und fossile Treibstoffe ablehnen, dann bleiben nicht mehr viele Quellen. Auch jene, die sich gegen jedes Windrad wehren – am Schluss geht es nicht auf. Ohne vernünftige Eingriffe in die Natur wird es nicht gehen.

Wie nehmen Sie diese Diskussion wahr? Gehört das einfach dazu? Zu einem gewissen Grad gehört das zur Politik, wird aber schon sehr schnell ideologisch. Wir waren damals stärker faktenbasiert und weniger polarisierend. Es ist aber auch komplex: Viele reden von Energie, meinen aber Strom. Gerne vergessen wird auch die grosse Rolle des Stromnetzes, zudem ist der Strompreis nicht immer ein Marktpreis. Es ist ein komplexes Thema, darum braucht es Experten, die sich einbringen. Sonst kommt es zu Bauchentscheiden, die nicht faktenbasiert sind.

Sie gelten als «Gotte der Energiewende». Sind Sie zufrieden mit deren Entwicklung oder sollte es schneller gehen?

Es dauert schon recht lange. Auch die Photovoltaik hat lange gebraucht, bis sie einen grossen Schritt machen konnte. Wir wollten damals auch nicht zu stark subventionieren. Zudem war der Strom bisher auch immer sehr günstig, sodass Haushalte keinen Sparanreiz hatten. Wir hätten damals gern das holländische Modell eingeführt, bei dem der Stromzähler rückwärtsläuft, wenn man Strom spart oder reduziert. Eine simple Massnahme, die wenig Administration benötigt und einen guten Sparanreiz liefert. Doch dazu hätten wir mit allen Energiewerken der Schweiz einig werden und in den föderalistischen Aufbau eingreifen müssen. Wir haben schnell gemerkt, dass das nicht möglich ist. Aber ich halte es heute noch für das beste Modell, weil jeder die Stromkosten durch sein eigenes Verhalten beeinflussen kann.

Der Politologe Michael Hermann sagt, Sie waren bekannt für mutige Entscheidungen. Auch bei Atomenergie und Entsorgung, die eine grosse Tragweite haben. Was hat Sie dazu gebracht, solche Entscheidungen zu fällen?

Wenn man als Regierung nur verwaltet und alles herausschiebt, macht man seinen Job nicht richtig. Dann greifen Parlament und Lobbyisten umso stärker in die Gesetzgebung ein, geben mit Vorstössen eine Richtung vor. Natürlich muss man mit dem Parlament in eine Debatte treten, aber die Orientierung muss von der Regierung kommen. Das wird auch von der Bevölkerung erwartet, ob es nun um Energie, AHV, Steuern oder das Gesundheitswesen geht.

Dass Sie Entscheidungen schnell getroffen haben, kann für die Bevölkerung auch überfordernd sein. Können Sie das verstehen? Ich habe mir immer Mühe gegeben, so zu sprechen, dass ich verstanden werde. Möglichst wenige Abkürzungen und Fremdwörter, Komplexität herunterbrechen und verständlich kommunizieren. Dazu gehört auch, dass man häufig auftritt und Fragen beantwortet. Darum ist die Phase der Vernehmlassungen und Abstimmungskämpfe so wichtig: Man muss Farbe bekennen und verständlich erklären – eine Vorlage sollte man innert dreissig Sekunden verständlich rüberbringen. Ich habe mich bemüht, aber es ist mir sicher nicht immer gelungen. Aber wenn man sich über Jahre mit einem Thema befasst, weiss man schon relativ viel, wenn es zur Abstimmung kommt.

Die dreissig Sekunden erinnern mich an einen Elevator Pitch. Wie lautet Ihr Elevator Pitch für das Tiefenlager in Stadel? Nuklearer Abfall ist gefährlich. Nicht ein Jahr, sondern Hunderte von Jahren. Aus diesem Grund hat man lange geforscht, was das beste Gestein ist für den Standort. Man hat ihn gefunden in Stadel. Ein sicherer Standort für alle.

Was war die letzte mutige Entscheidung, die Sie getroffen haben? Oder die nächste mutige Entscheidung, die Sie treffen werden? Im Vergleich zu früher sind alles nur kleine Entscheidungen. Momentan überlege ich mir oft, wie ich in zehn Jahren leben werde. Mache ich nochmals eine WG und verlasse meine Komfortzone? Zurück zu einem bescheideneren und gemeinsamen Leben? Zuletzt sind Menschen und Freundschaften das Wichtigste.

Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel? Ich hoffe, das ist das erste und letzte Tiefenlager, das wir bauen mussten.

Die Juristin Doris Leuthard wurde 1999 in den Nationalrat gewählt, zwischen 2006 und 2018 war sie Mitglied des Bundesrats, der 2011 den Atomausstieg beschlossen hat. Sie übernahm dabei als Leiterin des Departements für Umwelt (UVEK), Verkehr, Energie und Kommunikation eine führende Rolle. Seit ihrem Rücktritt ist Leuthard als Stiftungs- und Verwaltungsrätin tätig.

IM GENERELLEN, OHNE BEZUG AUF EINE LÖSUNG FÜR DIE LAGERUNG VON RADIOAKTIVEN ABFÄLLEN: WIE STELLEN SIE SICH EINE LEBENSWERTE ZUKUNFT FÜR KÜNFTIGE GENERATIONEN VOR?

«Derzeit übernutzen wir unsere Erde immer rasanter und wollen uns nicht einschränken. Auch in der Schweiz wird der Boden und das Grundwasser immer noch sukzessive mit neuen Chemikalien, Nanopartikeln und sonstigen Rückständen verschmutzt und die Verbauung der Oberfläche verlangsamt sich nicht wirklich. Wenn wir uns nicht besinnen, muss man sich schon fragen, ob wir in ferner Zukunft auf einem Planeten leben werden, der, wie in manch Science-Fiction-Filmen dargestellt, einer vergifteten Wüste mit ein paar grünen Inseln gleichsieht. Noch haben wir aber Zeit und man sieht ja auch Bemühungen. Z.B. haben wir es geschafft, das Ozon-Loch mit drastischen und zügigen Massnahmen weltweit wieder einzudämmen. Es muss aber halt immer erst wirklich dringlich sein und der Schaden grösser als der Nutzen. Ich wünsche meinen Urururenkeln, dass wir rasch und zielstrebig etwas unternehmen und uns besinnen, dass wir nicht nur an uns und unseren Komfort denken, sondern auch an die zukünftigen Generationen, damit diese auch noch bedenkenlos Wasser aus einer Quelle trinken können, in heilen und vielfältigen Wäldern mit Tieren und Blumen spazieren gehen können, im Sommer in den Flüssen bedenkenlos baden und abkühlen können oder sich noch an einem Gletscher in der Schweiz erfreuen können. Für den Erhalt unserer Natur und das Wohlergehen unserer Nachkömmlinge sollten wir uns einschränken, nicht immer noch mehr wollen und noch grösser denken.» Andreas Ebert

«Eine lebenswerte Zukunft erfordert nicht nur technische Lösungen wie Tiefenlager, sondern ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf unseren Umgang mit Ressourcen und Energie. Wir müssen proaktiv alternative, nachhaltige Wege finden und die Ursachen von Umweltproblemen angehen, statt sie nur zu verwalten.» Angela Menyhart

«Eine lebenswerte Zukunft für kommende Generationen stelle ich mir als eine Welt vor, die auf Nachhaltigkeit, Gleichheit und Respekt für Mensch und Natur basiert.» Larissa Pfister

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