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Freitag, 4. September 2015

Ausgabe für Luxemburg Diese Beilage erscheint exklusiv im Die monatlichen Beilagen erscheinen in verschiedenen Sprachen in führenden internationalen Tageszeitungen: The Daily Telegraph, Le Figaro, The New York Times, La Repubblica and El Pais.

F Ü R D E N I N H A LT I S T AU S S C H L I E S S L I C H D I E R E DA K T I O N VO N R U S S I A B E YO N D T H E H E A D L I N E S ( R U S S L A N D) V E R A N T WO R T L I C H .

DER LETZTE MACHT DAS LICHT AUS Seit 2012 passiert das massenhaft: Wohlhabende Russen und politisch aktive packen die Koffer und verlassen ihre Heimat – wenn nicht für immer, dann vielleicht bis zu besseren Zeiten. Was treibt sie dazu? Soziologen haben nachgefragt. SEITE 2

Sanktionen und Embargo: Ein Jahr im Streit

RUSSLAND UND LUXEMBURG: EIN JAHR SANKTIONEN Oleg Prozorow ist Chef des Moskauer Büros der belgisch-luxemburgischen Handelskammer in Russland. Mit RBTH sprach er über die Auswirkungen der Sanktionen auf die Beziehungen zwischen Russland und dem Großherzogtum. Und über die Schwierigkeiten für Unternehmen auf beiden Seiten. SEITE 7

HUNDERT JAHRE SCHWARZ GEMALT

KOMMERSANT

WIKTOR WELIKDJANIN / TASS

Faszinierend einfach: „Das schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch ist längst zu einer Ikone der Avantgarde geworden. Und hat Einzug in Mode und Design gehalten. SEITE 8

Aufkleber gegen Importkäse: Bei einer Aktion in einem Moskauer Supermarkt stempeln Mitglieder der Organisation „Iss Russisches“ mutmaßlich illegale Lebensmittel mit einem Aufkleber ab. An der Staatsgrenze werden sie von Zollbeamten unterstützt, die seit Anfang August unerlaubt eingeführte Waren aus der EU vernichten. Bulldozer rollen über Gänseköpfe und Käselaibe hinweg, während die

IHRE VERLÄSSLICHE QUELLE FÜR DIE BERICHTERSTATTUNG ÜBER RUSSLAND, WELTWEIT IN 16 SPRACHEN!* 83 % der Leser vertrauen RBTH als Quelle für Expertenmeinungen. 81 % sagen, dass RBTH Informationen und Analysen über die gewöhnliche Russland-Berichterstattung hinaus bietet. 77 % erachten die Online-Ausgaben von RBTH als relevant für jeden – nicht nur für Russlandinteressierte.

*laut einer Leserumfrage für alle RBTH-Produkte vom März 2015

Menschen eine Petition dagegen unterzeichnen und sie direkt an den Kreml richten. Beamte erklären in Interviews, warum die Entscheidung Putins richtig ist, auf diese martialische Art illegale Lebensmittelimporte aus den vom Embargo betroffenen Ländern zu stoppen. Lesen Sie im Thema des Monats, wie Sanktionen und Import-Embargo die Gemüter in SEITEN 4 UND 5 Russland erhitzen.

Machen Sie sich mit der deutschen Version des Projekts unter de.rbth.com vertraut!


Freitag, 4. September 2015

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

POLITIK UND GESELLSCHAFT

EMIGRATION Vor allem die jüngsten und aktivsten der russischen Bevölkerung verlassen das Land

Immer mehr Russen gehen ins Ausland

36 % Bessere Lebensbedingungen im Ausland

21 % Willkür

30 %

der Beamten

Instabile Wirtschaftslage in Russland

26 % Wunsch nach einer besseren Zukunft für die Kinder

Die Gründe wegzugehen

GETTY IMAGES

JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA RBTH

Anfang Juni verließ Dmitrij Simin, der größte Mäzen auf dem Gebiet von Forschung und Bildung und Ehrenpräsident und Gründer des Unternehmens Wympelkom, das Land. Die Ausreise wird öffentlich mit den Ereignissen rund um die populärwissenschaftliche Stiftung Dinastija in Verbindung gebracht. Sie wurde am 25. Mai zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Laut russischen Medien sei dies geschehen, um Simin einzuschüchtern – der Multimillionär soll oppositionelle Politiker und Medien finanziert haben. Schon im April war die Umweltaktivistin und Oppositionelle Jewgenija Tschirikowa nach Estland ausgewandert. „In Russland gibt es Repressionen gegenüber politischen Aktivisten“, erklärte sie und fügte hinzu, dass Umweltschutz „der Hauptfeind der Rohstoffoligarchen“ sei. Geschichten wie diese entfachen regelmäßig Diskussionen über eine neue Auswanderungswelle und mögliche Gründe dafür. Soziologen stellen fest, dass die Motivation auszureisen in Putins dritter Amtszeit immer häufiger einen politischen Kontext hat. „In der Gesellschaft herrscht das Gefühl zunehmender Auswanderung“, sagt Pawel Tschikow, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisationen Agora. Über viele Jahre hinweg half Agora potenziellen Emigranten, Asylanträge zu stellen. Tatsächlich verließen die wenigsten aufgrund politischer Verfolgung das Land, bemerkt der Jurist – den meisten werde es in Russland aber zu „ungemütlich“.

Unangenehme Atmosphäre „In Wirklichkeit erleben wir weniger eine Auswanderung aus politischen Motiven als vielmehr wegen der politischen Situation als solcher“, nimmt Julij Nisnjewitsch von der Fakultät für Sozialwissenschaften der Moskauer Higher School of Economics an. Unterm Strich emigrierten auch diejenigen, die sich überhaupt nicht für Politik interessierten. Das Gesetzespaket zur Regulierung des Internets, die Beschränkung des Anteils ausländischen Kapitals an Unternehmen, die Eigner russischer Medien sind, das Gesetz über ausländische Agenten – all dies schaffe eine unangenehme Atmosphäre, glaubt Nisnjewitsch. Pawel Tschikow pflichtet ihm bei: Entscheidender Gradmesser seien nicht die einzelnen Fälle politischer Verfolgung, sondern die allgemeine Abwan-

In Wirklichkeit erlebt man weniger eine Auswanderung aus politischen Motiven als vielmehr wegen der politischen Situation als solcher.

derung der Menschen. Laut Angaben der russischen Statistikbehörde Rosstat ging Emigration seit 1999 Jahr für Jahr zurück. 2012 kehrte sich dieser Trend um: 122 751 Personen verließen das Land – in den ersten acht Monaten des Jahres 2014 waren es 203 000. Jenny Kurpen, Koordinatorin der Organisation Human Corpus für Flüchtlingshilfe mit Sitz in Finnland, glaubt nicht, dass sich sicher sagen ließe, wie viele der Emigranten Russland aus politischen Gründen den Rücken zukehrten. Sie selbst entschied sich 2012, das Land zusammen mit anderen Mitbegründern der Organisation zu verlassen. Sie fürchteten eine strafrechtliche Verfolgung in Folge der Bolotnaja-Proteste. Nach Unruhen am 6. Mai 2012 auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz wurden 34 Demonstranten angeklagt und zwölf davon zu längeren Haftstrafen verurteilt. „Ein wesentlicher Teil der politischen Emigranten spricht öffentlich nicht darüber. Viele reisen illegal aus, manche stellen nicht einmal einen Asylantrag und tauchen deswegen gar nicht erst in der Flüchtlingsstatistik des Gastlandes auf“, erklärt Kurpen. Human Corpus existiert offiziell seit Oktober 2014. Seitdem wandten sich 200 Personen an die Organisation. Eine repräsentative Aussage könne man mit diesen Zahlen jedoch nicht treffen, glaubt man bei Human Corpus. „Es ist realistischer zu sagen, nicht die Zahl der Politemigranten habe zugenommen, sondern dass die Auswanderung aus Russland eine Massendynamik annimmt“, sagt Kurpen. Dies sei auch darin begründet, dass „erstmals während der Präsidentschaft Putins nicht nur Aktivisten Zielscheibe gewesen sind, sondern normale Menschen, von denen viele zum ersten Mal an einer Protestaktion teilgenommen haben“.

Viele Hoffnungsträger verlassen das Land Eine offizielle Statistik für 2015 liegt noch nicht vor, auch der Föderale Migrationsdienst konnte gegenüber RBTH keine aktuellen Zahlen vorlegen. Soziologen des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum gehen nach Umfrageergebnissen vom März von zwölf Prozent Ausreisewilligen aus. 83 Prozent wollten das Land nicht verlassen. Auswanderungspläne würden durch die Krise gebremst, erklärt Stepan Gontscharow vom Lewada-Zentrum. Die Menschen warteten ab, es herrsche ein allgemeines Gefühl von Unsicherheit und Angst vor einem Krieg. Deshalb seien gegenwärtig in erster Linie wohlhabende Russen dazu bereit, das Land zu verlassen, sagt Gontscharow. Es seien jene, „die es sich leisten können, zu jedem beliebigen Zeitpunkt auszuwandern“.

Umfrage: Möchten Sie für immer auswandern? (in Prozent)

ALYONA REPKINA. QUELLE: LEWADA-ZENTRUM

Seit 2012 nimmt die Zahl der Auswanderer zu. Politische Verfolgung, gefühlt oder faktisch, wird als einer der Gründe genannt. Soziologen haben nachgefragt, was Russen noch dazu bewegt, ihre Heimat zu verlassen.

„Was sind Ihre Beweggründe auszuwandern?“, heißt es in einer Umfrage vom Lewada-Zentrum (März 2015). Die meisten wollten einfach ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Genannt wurden aber auch Kriminalität, das schlechte Business-Klima und die politische Lage.

Politische Motive stellten dabei mitnichten die häufigste Auswanderungsursache dar. Immer noch emigrierten Menschen vor allem auf der Suche nach einem besseren Leben. „Es besteht der Wunsch, seinen Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Das ist ein materieller Faktor“, sagt der Soziologe. Die Politik sei in erster Linie für eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe, die Intelligenzija, das Motiv. „Und die Jüngsten und Aktivsten von ihnen haben nach unseren Angaben bereits in den Jahren 2012 und 2013 das Land verlassen“, fügt er hinzu. Damals habe es noch keine Krise gegeben, dafür aber die dritte Amtszeit Wladimir Putins begonnen, begleitet von Massenprotesten und einem verstärkten „Anziehen der Daumenschrauben“. Das Problem sei nicht die reine Zahl der Auswanderer, bemerkt Nisnjewitsch, sondern die Auswanderung jener Menschen, auf deren Schultern die erfolgreiche Entwicklung Russlands laste.

Ausreisebeschränkungen könnten die Auswanderung stoppen Aber lange nicht jeder, der theoretisch zur Emigration bereit sei, gehe diesen Schritt auch tatsächlich. „Diskutiert wird das Thema von vielen. Es ist eine Art Nationalsport der russischen Mittelschicht, über die Auswanderung zu sprechen“, glaubt der unabhängige Abgeordnete der Staatsduma und Oppositionelle Dmitrij Gudkow. Er selbst will vorerst nicht emigrieren und sagt, dass er sich in einem fremden Land „unbehaglich“ fühle, mutmaßt aber: „Es könnte eine Situation entstehen, in der ein Verbleib in Russland eine Gefängnisstrafe zur Folge hätte. Dieses Risiko besteht. Ich hoffe, dass es so weit nicht kommen wird.“ Seiner Meinung nach wolle niemand auswandern, denn Emigranten verloren normalerweise ihre

Qualifikationen und hätten mit Einbußen der Lebensqualität zu rechnen. Nach langen Diskussionen „sehen die Menschen ein, dass das Leben im Ausland teurer ist, das man Arbeit finden und ein Visum beantragen muss – es gibt so viele Unwägbarkeiten, dass die meisten den Plan wieder verwerfen“. Im Bildungsbürgertum und unter Wissenschaftlern halte man sich die Option einer Auswanderung offen, sagt Nisnjewitsch. „Diese Menschen wollen nicht weg, aber sie haben einen Pass mit einer anderen Staatsbürgerschaft in der Tasche, falls sich die Lage verschärfen sollte“, meint er. Soziologen glauben, dass die politische Situation sich nicht verschärfen müsse, um eine neue Auswanderungswelle zu hervorzurufen. Es reiche aus, dass die Krise ihr Ende findet. Die Zahl der Ausreisewilligen sei zwar geringer als in den vergangenen drei Jahren, bei den Menschen nehme der Glaube an die eigenen Kräfte aber wieder zu: So stieg laut einer Meinungsumfrage der Anteil der Ausreisewilligen von März bis Mai 2015 von zwölf auf 16 Prozent an. „Momentan bewegt sich das noch im Rahmen der statistischen Unsicherheit und ist nicht symptomatisch, aber die wirtschaftliche Situation stabilisiert sich allmählich. Der wachsende Wohlstand wird die Auswanderung wieder anheizen, solange es keine Ausreisebeschränkungen gibt“, nimmt Gontscharow an. Der Kommunist und erste stellvertretende Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Nationalitätenfragen Valerij Raschkin glaubt: „Das Problem der Auswanderung ist für das Land gegenwärtig nicht von Bedeutung. Laut Statistik und Anträgen an die Migrationsbehörde existiert ein solches Problem einfach nicht. Die Auswanderung hat nicht zugenommen und hat ein nur verschwindend geringes Ausmaß.“

SONDERBEILAGEN UND SONDERRUBRIKEN ÜBER RUSSLAND WERDEN VON RBTH, EINEM UNTERNEHMEN DER ROSSIJSKAJA GASETA (RUSSLAND), PRODUZIERT UND IN DEN FOLGENDEN ZEITUNGEN VERÖFFENTLICHT: TAGEBLATT, LE JEUDI, LUXEMBURG • HANDELSBLATT, DEUTSCHLAND • THE DAILY TELEGRAPH, GROSSBRITANNIEN • THE NEW YORK TIMES, THE WALL STREET JOURNAL, THE INTERNATIONAL NEW YORK TIMES, THE WASHINGTON POST, USA • LE FIGARO, FRANKREICH • EL PAÍS, SPAINIEN • EL PAÍS, PERU • EL PAÍS, CHILE • EL PAÍS, MEXIKO • LA REPUBBLICA, ITALIEN • LE SOIR, BELGIEN • NEDELJNIK, GEOPOLITICA, SERBIEN • NOVA MAKEDONIJA, MAZEDONIEN• THE ECONOMIC TIMES, INDIEN • MAINICHI SHIMBUN, JAPAN • HUANQIU SHIBAO, CHINA • THE NATION, PHUKET GAZETT, THAILAND • LA NACION, ARGENTINIEN • FOLHA DE SÃO PAULO, BRAZILIEN • EL OBSERVADOR, URUGUAY • JOONGANG ILBO, SÜDKOREA • THE AGE, THE SYDNEY MORNING HERALD, AUSTRALIEN • GULF NEWS, AL KHALEEJ, VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE.


Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Freitag, 4. September 2015

TERRORISMUS

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PRÄVENTION kann gegen den Terror helfen, doch sie steckt noch in den Kinderschuhen

IS rekrutiert russische Muslime Der IS ist in Russland eine reale Bedrohung. Vor allem Muslime aus dem Nordkaukasus werden von Terroristen angeworben und reisen nach Syrien. Was kann die Politik dagegen tun? JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA

Brennpunkt Kaukasus Die Bedrohung durch den IS stand in den vergangenen Monaten verstärkt im Fokus der russischen Medien. Neben Meldungen, der IS sei bereits an Russlands Grenzen angekommen, gab es auch Berichte über konkrete Rekrutierungsversuche junger Muslime und Russen mit Migrationshintergrund in den Regionen. Angeblich wird ihnen für den Einsatz im IS eine monatliche Bezahlung von 50 000 Rubel (etwa 680 Euro) angeboten. Große Besorgnis löste auch ein Video aus, das Ende Juni im Netz auftauchte. Darin heißt es, die nordkaukasischen Untergrundkämpfer hätten dem IS Treue geschworen. „Für Panik ist es aber noch zu früh“, beschwichtigt Witalij Naumkin, Direktor des Ostkundeinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften. Er sagt, ein „Treueschwur“ im Internet bedeute noch nicht, dass „alle Gruppierungen des Nordkaukasus nun von einer Zentrale aus gesteuert würden“.

Kampf ist Aufklärung Bislang waren für die Bekämpfung des Extremismus im Land die Sondereinheiten des Innenministeriums verantwortlich. Doch nur die harte Linie zu fahren, sei wenig effektiv, meint Sergej Markedonow, Dozent an der Fakultät für Ausländische Regionenkunde und Außenpolitik der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU) sowie Trans- und Nordkaukasusexperte. „Es muss mehr Prävention geben“, fordert der Experte. Er findet eine Auseinandersetzung der jungen Menschen mit dem Islam wichtig. Projekte sollten initiiert werden, die eine attraktive Alternative für die Menschen, für ihre Karriere und ihre Zukunft darstellen.

In den muslimischen Gemeinden findet Präventionsarbeit bereits statt. „Wir suchen nicht gezielt nach Anwerbern, unser Kampf ist die Aufklärung“, sagt Ruschan Abbjasow, erster Vizevorsitzender des Muftirats in Russland. Auf Anwerber träfen sie meist nicht, weil diese wüssten, dass ihre Ansichten hier nicht erwünscht seien, erklärt er. Aufklärenden Religionsunterricht, wie Sergej Markedonow ihn im Sinn hat, gebe es noch nicht. Die Gemeinden seien auf das Lesen von Gebetstexten fokussiert, berichtet Abbjasow, fügt aber hinzu: „Die Menschen lassen allmählich ihr Schwarz-Weiß-Denken hinter sich.“

Russland ist als multikulturelles und multikonfessionelles Land für die Anwerber des Islamischen Staats sehr attraktiv.

Rückkehrer brauchen Vertrauen Vor einigen Jahren gab es bereits Maßnahmen, Rückkehrer aus Kampfgebieten in die Gesellschaft wiedereinzu-

gliedern, erzählt die Krisenexpertin Warwara Pachomenko. 2010 wurde dafür in Dagestan ein Ausschuss zur Rehabilitation von Aussteigern gegründet. „Viele der Kämpfer, die zurückgekehrt waren, konnten in der kurzen Zeit im Kriegsgebiet gar keine größeren Verbrechen begehen. Sie hatten einen Fehltritt gemacht und erhielten die Chance, zu einem friedlichen Leben zurückzufinden“, berichtet sie. Doch mit den Vorbereitungen zur Olympiade in Sotschi stellte der Ausschuss seine Arbeit ein. Die Rückkehr zu einem rigorosen Vorgehen gegen Extremisten verhärtete die Fronten. Das Ergebnis: Dagestan und Tschetschenien sind heute die Regionen mit der höchsten Zahl an Islamisten, die in den Dschihad nach Syrien fahren. Mittlerweile hat der Ausschuss seine Arbeit wieder aufgenommen, allerdings

ISIS-Mitglied mit einer Flagge der Terrororganisation im syrischen ArRaqqa (o.) und verletzter 14-jähriger Junge in einem Camp für kurdische Flüchtlinge in der Türkei

nur in Inguschetien. „Wir sehen, dass es Menschen in der Regierung gibt, die die Notwendigkeit solcher Maßnahmen unterstreichen“, sagt Pachomenko. Doch die Probleme sind dadurch nicht gelöst: „Die Menschen müssen überzeugt werden, dass eine Kooperation möglich ist, wenn sie vom Extremismus ablassen. Aber dazu müssen sie das Gefühl haben, nicht betrogen zu werden.“

SYRIEN soll sich auch am Kampf gegen den IS beteiligen

Moskau schlägt neue Strategie gegen IS vor Der russische Außenminister Sergej Lawrow fordert eine gemeinsame Front gegen den IS. Die bisherige Strategie der USA sei nicht aufgegangen. ALEXEJ TIMOFEJTSCHEW RBTH

Über einen neuen Plan zum Kampf gegen den IS wurde am 3. August in Doha, der Hauptstadt des Emirats Katar, gesprochen. Lawrow stellte die Initiative während eines Treffens mit dem US-amerikanischen und dem saudischen Außenminister vor. Russland will demnach das Vorgehen der syrischen, irakischen und kurdischen Streitkräfte mit den Streitkräften anderer Länder der Region koordinieren. Auch Assad-treue syrische Regierungstruppen sollen miteinbe-

Problematisch bleibt die Frage, wie es mit dem AssadRegime in Syrien weitergeht.

zogen werden. Problematisch ist in diesem Zusammenhang jedoch die Frage, wie es mit dem Assad-Regime in Syrien weitergeht. Russland unterstützt die syrische Regierung, die USA und die Golfstaaten hingegen bestehen nach wie vor auf dem Rücktritt von Präsident Baschar al-Assad. Lawrow begründete die Initiative damit, dass die Luftangriffe der von den USA angeführten Koalition auf IS-Stellungen nicht ausreichend seien. Vielmehr müsse „eine Koalition Gleichgesinnter gebildet werden“, darunter jener, die der terroristischen Bedrohung auch mit Bodeneinsätzen trotzten. „Dies schließt die syrische und die irakische Armee und die Kurden mit ein“, betonte der Minister. In einer Meldung des russischen Außenministeriums heißt es, dass die Koalition

August Monthly Report CO N V E R T I N G M O N O LO G U E S I N TO D I A LO G U E

AN ANALYTICAL PUBLICATION T H AT FOC U SE S E XC LU S I V E LY O N T H E COM P L E X C H A L L E N GE S AND OP P O RT U N I T I E S S H AP ING T H E U. S . - R U SS I A RELATIONSHIP

GETTY IMAGES

Mehr als 2000 Russen haben sich bislang der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angeschlossen, folgt man den Angaben des russischen Außenministers Sergej Lawrow. Zuletzt sorgte die 19-jährige Studentin Warwara Karaulowa aus Moskau für Schlagzeilen, die Ende Juni auf ihrem Weg in den Dschihad an der türkisch-syrischen Grenze festgenommen wurde. Nun hat die Gesellschaftskammer Russlands, ein vom Staat gegründetes Gremium von zivilgesellschaftlichen Organisationen, reagiert: Sie richtete am 1. August eine Beratungs-Hotline ein für besorgte Angehörige von Menschen, die in den gewaltbereiten Islamismus abgedriftet sind oder kurz davorstehen. Die Hotline sei „dringend notwendig“ gewesen, heißt es dazu in der Gesellschaftskammer. Jelena Sutormina, Vorsitzende des Ausschusses für die Entwicklung der gesellschaftlichen Zusammenarbeit und Unterstützung von Landsleuten im Ausland, unterstreicht, dass es deutlichen Handlungsbedarf gebe. Russland sei als multikulturelles und multikonfessionelles Land für die Anwerber des IS sehr attraktiv.

REUTERS

RBTH

FROZEN CONFLICTS IN THE POST-SOVIET SPACE The latest Russia Direct report explores the ongoing conflict in Ukraine, Russia’s tense relations with Georgia, and Russia’s ability to ensure stability on its borders. Can the Kremlin efficiently address potential security risks while avoiding the outbreak of new crises?

Zahlen

20 000 Kämpfer aus dem Ausland traten seit 2011 dem IS bei, berichtet The Daily Telegraph mit Verweis auf das analytische Zentrum The Soufan Group.

„auf einem abgestimmten rechtlichen Fundament basieren“ müsse. Konkret bedeutet das, dass ein Mandat des UNSicherheitsrats angestrebt wird. Saudi-Arabien und die USA bleiben eine Antwort auf den russischen Vorstoß schuldig. Jewgenij Satanowskij, Präsident des Ostkundeinstituts, erklärt das damit, dass unter den jetzigen Bedingungen keine konkreten Ergebnisse präsentiert werden könnten. Insbesondere der von den USA eingeschlagene Kurs gegenüber dem AssadRegime lasse keine Änderung zu, was wiederum eine Realisierung des russischen Plans ausschließe. Auch die drohende Gefahr durch den IS werde nichts an der amerikanischen Syrienpolitik ändern, glaubt der Politologe, weil der IS die US-Interessen nicht direkt berührt.

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Freitag, 4. September 2015

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

DAS THEMA

IMPORTSUBSTITUTION LAUTET RUSSLANDS NEUSTES ZAUBERWORT. ALLES SOLL MÖGLICHST VON HEIMISCHEN HERSTELLERN KOMMEN. DOCH SO EINFACH IST ES NICHT.

RUSSLAND HAT APPETIT AUF KÄSE UND KAPITAL

GAIA RUSSO

SERGEY MEDVEDEV / TASS

Verbotenes Lebensmittel: Eine Mitarbeiterin der russischen Landwirtschaftsaufsichtsbehörde entsorgt illegal importierten Käse auf einer Mülldeponie in der Oblast Orenburg.

Der dramatische Importrückgang bei Lebensmitteln und Industriewaren hat den Marktanteil russischer Unternehmen in vielen Bereichen vergrößert. Doch die Produktion sinkt. KSENIJA ILJINSKAJA FÜR RBTH

Die Einführung der Sanktionen gegen russische Konzerne und Banken einerseits und Russlands selbst auferlegtes Lebensmittelembargo andererseits haben ein neues Wort in den russischen Sprachgebrauch eingeführt: Importsubstitution. Einfach gesagt sollten von August 2014 an einheimische Produkte Importe ersetzen. Die Regierung entwarf Pläne, startete Programme, und regierungsnahe Experten entwarfen glänzende Perspektiven für Russlands Unternehmer. Doch ein Jahr später fällt die Bilanz dieser Bemühungen zwiespältig aus. Am schnellsten und spürbarsten wurde die Substitution in der Lebensmittelbranche umgesetzt – der Import von

Lebensmitteln nach Russland sank 2015 gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent, von 37 Milliarden auf 22,5 Milliarden Euro. Doch längst nicht in allen Warengruppen wurde der Importrückgang durch den Produktionsanstieg kompensiert, welcher im ersten Halbjahr 2015 bei Lebensmitteln nur 2,9 Prozent betrug. Der Import von Fleisch und Fleischerzeugnissen sank gegenüber dem ersten Quartal 2014 sogar um 54 Prozent auf 175 Millionen Euro, wobei die Binnenproduktion um etwa 13 Prozent anstieg. Insgesamt konnte der Marktbedarf durch einheimische Produkte nahezu gedeckt werden (bei Fleischwaren betrug deren Anteil 97 Prozent). Allerdings ist der Importrückgang vielmehr auf die Rubelentwertung zurückzuführen – vom Importverbot für Rindfleisch waren nur vier Prozent der Lieferungen betroffen, wie Sergej Juschin, Chef des Nationalen Fleischverbands, bestätigt.

Ohne Milch kein Käse Käse und Besonders deutlich war der Einschnitt Fleischan der Käsetheke spürbar. Zwischen delikatessen Juli 2014 und Juli 2015 ging der Import um fast 90 Prozent auf 41 000 Tonnen aus der zurück, während die einheimische ProEuropäischen duktion zur gleichen Zeit nur um 22,6 Prozent anstieg. Neben dem nötiUnion gen Know-how mangelt es russischen können Herstellern oft auch an Rohstoffen wie faktisch Milch mit hohem Fettanteil. Für die durch nichts Käseproduktion werden rund 300 000 Tonnen Milch pro Jahr benötigt, doch ersetzt der Anstieg der Milchproduktion konnte noch nicht einmal drei Prozent des werden.

Gegenseitige Sanktionen im Überblick Im Juli 2014 führte die Europäische Union erstmals Sanktionen gegen russische Firmen ein, darunter ein Lieferembargo für Waffen und Waffenimporte aus Russland sowie Dual-Use-Güter und Hightech im Bereich der Ölförderung. Im September wurde die Vergabe von Krediten mit einer Laufzeit von mehr als 30 Tagen für drei Erdölfirmen (Rosneft, Transneft, Gazprom Neft), drei der größten Rüstungsfirmen (Uralwagonsawod, Oboronprom, OAK) und diverse Banken (Sberbank, WTB, Gazprombank, WEB, Rosselchosbank) verboten. Ähnliche Limits führten auch die USA ein. Unter anderem wurde die Lieferung von Fördertechnik für das arktische Schelf untersagt. Zudem fand die Kooperation mit den Unternehmen Rostech, Roskosmos und Rosatom ein jähes Ende. Auch Kanada, die Schweiz, Japan, Australien und Neuseeland unterstützten diese Sanktionen. Russland antwortete mit Importbeschränkungen für Lebensmittel aus diesen Ländern sowie für Waren aus der EU und den USA. Das Verbot betraf Fleisch, Fleisch- und Milchprodukte, Fisch, Gemüse, Früchte und Nüsse. Im Juni 2015 wurde die Liste um Forellen-, Austern- und Miesmuschelbrut sowie Käse und Käseersatz mit mehr als 1,5 Prozent Milchfett erweitert.

75-prozentigen Importrückgangs wettmachen. Zudem stehen die russischen Erzeuger im Wettbewerb mit Weißrussland, dessen Hersteller sich beeilen, die vakante Nische europäischer Hersteller zu belegen. Der weißrussische Anteil am Import von Milchprodukten nach Russland hat sich beinahe verdoppelt (auf 86 Prozent). In den meisten Fällen hat das Embargo allerdings zu einem geringeren Wett-

bewerb auf dem Binnenmarkt geführt. Zusammen mit dem Rubelverfall sorgte das für einen drastischen Preisanstieg von mehr als 20 Prozent für die meisten Lebensmittel. Auch die Qualität leidet, wie Experten des Analysezentrums der russischen Regierung warnen. Andrej Jakowlew, Generaldirektor der Stolytschnaja torgowaja kompanija, der unter anderem die Lebensmittelkette Globus Gourmet an-

RESTAURANTS in Moskau reagieren kreativ auf Sanktionspolitik

Luxus-Kochen trotz Importverbots Wegen des Embargos müssen Restaurants in Russland Gerichte aus ihren Menüs streichen. RBTH sprach mit Chefköchen über ihre Tricks.

farmen rund um Moskau. Zu meinen Entdeckungen gehören Krabben aus Kamtschatka, Heilbutt aus Mu r mansk, Früchte und saisonales Gemüse, dazu herrliche Kräuter aus Krasnodar. Das Fundstück jedoch, das mich persönlich am meisten freut, sind die Trüffeln von der Krim, die den französischen Trüffeln in Nichts nachstehen.“

ihre Kunden nicht zu verlieren? Zeit ist es für Experimente.

Asis Saffar, CHEFKOCH IM FRANZÖSISCHEN «LE RESTAURANT»

MARINA OBRASKOWA RBTH

Das russische Importverbot für Lebensmittel aus Europa trifft die Gastronomie in Russland hart. Keinen Parmesan für ihre Pasta haben Italiener, Franzosen fehlt es an Austern und gutem Fleisch. Schon seit Anfang des Jahres haben über hundert Restaurants geschlossen und bis Herbst werden es noch ein Drittel, prognostiziert Alexander Orlow, der Restaurantketten italienischer und japanischer Küche in Moskau leitet, gegenüber der Wirtschaftszeitung RBK Daily. Was lassen sich die Chefköche der einschlägigen Restaurants einfallen, um

„Natürlich haben sich die Sanktionen auf meine Arbeit ausgewirkt – c’est la vie. Ich kann jedoch nicht behaupten, dass ich deswegen bestimmte Gerichte auf meiner Karte zur Gänze umändern oder gar streichen musste. Für alle Lebensmittel, die ich früher verwendet habe, konnte ich einen vollwertigen Ersatz finden. Ich habe mich ein wenig auf regionalen Märkten umgesehen und dabei – erstaunlicherweise – auch viele neue und interessante Lebensmittel entdeckt: Rind- und Kalbfleisch, Lammfleisch aus Brjansk und Woronesch, Gänse- und Entenfleisch, Wachteln, aber auch gewöhnliche schwarze Pfifferlinge aus Pilz-

Asis Saffar, „Le Restaurant“

Sergej Eroschenko, CHEFKOCH IM «TSCHESTNAJA KUCHNJA» (RUSSISCHE KÜCHE) UND «FJEDJA, DITSCH!» (FUSIONSKÜCHE)

„Meine Projekte beruhten von Anfang an ausschließlich auf der Verwendung von Lebensmitteln aus der Region. So nutze ich Wild und Fisch aus dem Norden Russlands, Fleisch wie Rind und Schwein sowie auch Geflügel von Bau-

Sergej Eroschenko, „Tschestnaja Kuchnja“ und „Fjedja, Ditsch!“

ern aus der Region, auch saisonale Gemüse, Beeren und andere Früchte. Natürlich ist die Nachfrage nach russischen Lebensmitteln gestiegen. Ich merke, dass sich viele Chefköche umstellen, indem sie andere Lebensmittel einkaufen und die Gerichte auf ihren Speisekarten den Umständen entsprechend anpassen. Für manche Projekte war es zweifelsohne sehr schwer, unter den Lebensmittelsanktionen weiterhin bestehen zu können: Vor allem Luxus-Restaurants mit italienischer, mediterraner oder französischer Küche müssen derzeit viel hinnehmen, da sie früher ihre hohen Preise auch mit exklusiven Lebensmitteln rechtfertigen konnten. Diese sind aufgrund der Sanktionen heute natürlich kaum noch zu bekommen.“


Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

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DAS THEMA

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EMBARGO Der Kreml lässt verbotene Lebensmittel vernichten

Ungarische Gans vs. russischen Bulldozer Die Vernichtung von Lebensmitteln durch russische Behörden hat weltweit Diskussionen hervorgerufen. Sie zeigt, dass das eigene Importembargo nur schwer umsetzbar ist. ALEXEJ LOSSAN RBTH

GAIA RUSSO

gehört, erklärt, dass Käse und Fleischdelikatessen aus der Europäischen Union sowie einige Joghurtsorten faktisch durch nichts ersetzt werden können. „Selbst unsere Mozzarella-Produzenten, von denen wir genügend haben, kommen nicht ganz an italienische Qualität heran“, muss Jakowlew zugeben.

Der Industrie fehlt es an Investitionen Nicht weniger gravierend war der Importrückgang von Industrieerzeugnissen. Kaum eine Branche konnte das alte Niveau im Außenhandel annähernd halten. So ist der Import von Investitionsgütern binnen eines Jahres um 50 Prozent zurückgegangen, bei Konsumgütern um 34 Prozent. Anders als bei Lebensmitteln war hier zur gleichen Zeit auch die Industrieproduktion rückläufig und verzeichnete ein Minus von 2,7 Prozent im ersten Halbjahr. Ein Blick auf die Branchen zeigt, dass der Import in den vergangenen zwei Jahren fast überall um drei bis sechs Prozent zurückging, in der Automo-

Im Moment profitieren Hersteller, die nicht nur Montage betreiben. Denn der Import von Teilen hat sich ebenfalls verteuert.

Kein anderer Erlass von Russlands Präsident Wladimir Putin sorgte in den vergangenen Monaten für derart viel Aufregung. Kaum war die Unterschrift unter dem Beschluss getrocknet, rollten schon die Bulldozer über importierte Gänse und Käselaibe hinweg. Während sich die Mitarbeiter von Veterinärbehörden mit Razzien auf der Suche nach sogenannten Sapreschjonka, unerlaubten Lebensmittelimporten, machten, ging ein Aufschrei durch das russische Internet, schließlich wurden da, was ihre Qualität betrifft, einwandfreie Lebensmittel entsorgt. Doch der Staat kennt kein Erbarmen. Anfang August hatte Moskau auf die Verlängerung von Sanktionen der Europäischen Union mit einer Verschärfung des eigenen Embargos reagiert. Sanktionierte, an der Landesgrenze beschlagnahmte Lebensmittel vorrangig aus der EU sollen vernichtet werden. So will man illegale Lebensmittelimporte aus den vom Embargo betroffenen Ländern bekämpfen. Zugleich wurde die Liste jener Länder um Albanien, Montenegro, Island, Liechtenstein und die Ukraine erweitert. Davon unberührt bleiben nach wie vor Lebensmittel, die von Privatpersonen für den Eigenverbrauch vorgesehen sind. Für die Vernichtung ganzer LKW-Ladungen scheint jedes Mittel recht, solange die Umweltschutzbestimmungen eingehalten werden. Gesucht werden sanktionierte Lebensmittel von russischen Behörden nicht nur an der Grenze, sondern landesweit, auch in den Lagern und Regalen der Supermärkte und kleineren Geschäfte. Nach Angaben der russischen Zollbehörde wurden im ersten Halbjahr 2015 insgesamt 552 Tonnen verbotener Lebensmittel konfisziert. Der russische Vizepremier Arkadij Dworkowitsch betonte, innerhalb der letzten Monate seien von offizieller Seite 700 bis 800 Verletzungen des Lebensmittelembargos festgestellt worden. Er gab an, allein in den Läden seien 44,8 Tonnen sanktionierter Waren beschlagnahmt worden. Mit der Vernichtung wurde unmittelbar nach Inkrafttreten des Erlasses am 6. August begonnen. Als Erstes traf es eine Warenlieferung an der russischukrainischen Grenze, die zehn Tonnen Käse unbekannter Herkunft umfasste. Wenig später wurden an der westlichen Grenze Russlands in einem Kühlfahrzeug 1,5 Tonnen illegaler Tomaten entdeckt. Wie ein Sprecher der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde erläutert, würden

bilindustrie um acht Prozent und im Eisenbahnmaschinenbau sogar um 16 Prozent. Die Abhängigkeit der Lebensmittelindustrie von Maschinenimporten stieg gleichzeitig von 81 auf 94 Prozent, in der Leichtindustrie von 85 auf 88 Prozent. Im Maschinenbau ist die Situation dagegen unausgewogen. Die Autoindustrie hatte ihre Lokalisierung bereits vor der Krise erhöht, aber infolge der nachlassenden Nachfrage – die Zulassungen gingen um 35 Prozent zurück – sank das Interesse an Investitionen in diese Branche. Hersteller von Agrartechnik profitierten vom Rubelverfall, Elektrogerätehersteller hingegen haben kaum eine Chance gegenüber den Weltmarktführern. Auch bei Werkzeugmaschinen liegt der Importanteil nach wie vor bei über 90 Prozent. „Es profitieren Hersteller, die nicht nur Montage betreiben. Denn der Import von Teilen hat sich ebenfalls verteuert“, erklärt Sergej Nedorosljew, Vorstandsmitglied des Maschinenbauerverbands Russlands. Die Ursache liegt im Anlagenbau, der in den Neunzigern infolge mangelnder Nachfrage einen Einbruch erlebte. Damals hätten Hersteller nicht investiert. „Als die Industrie vor zehn Jahren begann, sich zu modernisieren, war der Markt von Importeuren besetzt – die russischen Maschinenbauer kamen nicht zum Zug.“ Inzwischen sei der Ausbau der Industrie Chefsache, bemerkt Nedorosljew. Doch das größte Problem für russische Produzenten sind bezahlbare Kredite: Für Unternehmen mit langem Fertigungszyklus sind Darlehen mit ihren gegenwärtigen 20 Prozent kaum erschwinglich. Wegen des schrumpfenden Marktes und des Rubelverfalls lässt sich der Erfolg der Importsubstitution nicht eindeutig benennen. In vielen Branchen steige der Marktanteil russischer Produkte nur wegen des Importrückgangs, nicht aber dank des Wachstums im Inland, dank besserer Produkte oder einer größeren Lokalisierung, sagt Wladimir Salnikow, Chef der Abteilung Realwirtschaft des Zentrums für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen. „Die Importsubstitution ist eher eine Pseudo-Substitution“, meint er.

ALAMY/LEGION MEDIA

Christian Lorenzini, CHEFKOCH IM «CHRISTIAN» (KREATIVE KÜCHE) UND «BUONO» (ITALIENISCHE KÜCHE)

„Ich glaube, dass die Lage derzeit noch völlig unklar ist und man noch keine weitreichenden Rückschlüsse ziehen

kann. Als Chefkoch kann ich allerdings auch sagen, dass mir die derzeitige Situation nicht wirklich gefällt. Mir fehlen oft viele Käse- und Wurstsorten, importierte Milchprodukte, qualitativ hochwertige Sahne, Fleischsorten, einige Arten Fisch und

Zitat

«

Niemand kann garantieren, dass die illegal importierten Lebensmittel für die Gesundheit Resonanz unbedenklich Gesellschaftliche Die meisten im Land haben für die sind.» Vernichtung der Lebensmittel kein DMITRIJ PESKOW PRESSESPRECHER VON PUTIN

Zahlen

300 Tonnen sanktionierter Waren wurden am ersten Tag nach der Verabschiedung von Putins Erlass vernichtet.

389 -tausend Menschen unterzeichneten gegen die Maßnahmen eine OnlinePetition, die sich an den Kreml richtet.

Muscheln. So musste ich beispielsweise die französische Spezialität Foie gras aus der Karte streichen. Aber auch andere Lebensmittel sind einfach entweder schlicht unbezahlbar geworden oder ganz vom Markt verschwunden. Die Politik zwingt uns dazu, unsere Menüs zu überdenken und nach einem Ersatz für gewisse Lebensmittel zu suchen. Ein Ausweg aus der Lage sieht demnach wie folgt aus: Entweder suchen wir für die fehlenden Lebensmittel einen geeigneten Ersatz aus der heimischen Lebensmittelproduktion und verwenden diesen für unsere Gerichte oder wir streichen die Gerichte einfach aus den Speisekarten – wenn wir merken, dass es keine Alternativen gibt. Wichtig dabei ist nur, dass die Qualität der angebotenen Speisen auf keinen Fall leidet.“

Maksim Gorjatschew, CHEFKOCH IM FUSION-RESTAURANT «KUSOTSCHKI« (KREATIVE KÜCHE)

„Die Welle an Sanktionen hat uns sehr schnell gelehrt, anpassungsfähig zu sein. Das gilt übrigens nicht

diese Lebensmittel in der Regel verbrannt. Einige Waren landeten auch auf Deponien für feste Abfälle und werden mittels schwerer Technik zerdrückt. Das Embargo könne jedoch unmöglich vollständig umgesetzt werden, bemerkt der leitende Analyst der Investmentgesellschaft UFS, Timur Nigmatullin. „Das liegt an den Besonderheiten der supranationalen Gesetzgebung und der Zollbestimmungen im Rahmen der Eurasischen Union“, erklärt er. So verhängte Belarus keinerlei Sanktionen gegen die EU – Grenzkontrollen zwischen Weißrussland und Russland aber gibt es nicht.

Christian Lorenzini, „Christian“, „Buono“ (o.), Maksim Gorjatschew, „Kusotschki“

Verständnis. Laut Umfragen des Lewada-Zentrums sprechen sich 48 Prozent der Russen dagegen aus, nur 40 Prozent befürworten die Entscheidung. 41 Prozent schlugen vor, die Lebensmittel an Waisenhäuser, Obdachlosenunterkünfte, Krankenhäuser oder an Bedürftige – Rentner, Menschen mit Behinderungen oder kinderreiche Familien – zu verteilen. 27 Prozent der Befragten würden illegale Lebensmittel an Wohltätigkeitsorganisationen weitergeben. Weitere 24 respektive zwölf Prozent sprachen sich dafür aus, die beschlagnahmten Lebensmittel in den Donbass oder an Hungernde in Afrika zu schicken. Der Unmut der Bevölkerung war kaum zu ignorieren. 389 000 Menschen unterzeichneten eine Petition für die Aufhebung des Erlasses. In der sibirischen Hauptstadt Nowosibirsk fanden Proteste der Oppositionspartei Jabloko gegen die Maßnahmen statt. Und die gemeinnützige Gesellschaft zum Schutz der Verbraucherrechte reichte sogar Klage gegen den Regierungsbeschluss beim Obersten Gerichtshof Russlands ein. Verbotenes Essen an Bedürftige zu verteilen sei jedoch unzulässig, erwiderte der Chef der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde, Sergej Dankwert, in einem Interview mit der Online-Zeitung Gazeta.ru beharrlich, weil die Korruption bekämpft werden müsse. Dem Vorwurf der Verschwendung setzte er entgegen: „Weltweit funktioniert das System so: Handelt es sich um Lebensmittel mit gefälschten Papieren und ist ihre Herkunft unbekannt, müssen sie vernichtet werden.“ Ein wenig Menschlichkeit zeigte die russische Führung denn doch noch. So begründete Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow die Maßnahme mit der Sorge um die Gesundheit der russischen Bürger: „Hier geht es um Schmuggelware ohne Zertifikate. Niemand kann garantieren, dass diese Lebensmittel – auch wenn sie vielleicht gut aussehen – für die Gesundheit wirklich unbedenklich sind.“

nur für uns, sondern auch für die heimischen Lebensmittelproduzenten, die die Gunst der Stunde genutzt und die Qualität ihrer Erzeugnisse an die europäischer Produkte angeglichen haben. Im Gegenzug sind allerdings auch die Preise rasant gestiegen. In einigen Fällen wie beispielsweise beim Marmorrindfleisch aus Woronesch, auf das viele Köche umgestiegen sind, kann man durchaus behaupten, dass die neuen Produkte vom Geschmack her besser sind als ihre Pendants aus Europa – und das oft zu günstigeren Preisen. Als Alternative zu verschiedenen Käsesorten aus Europa kommen nun Käsespezialitäten aus dem Kaukasus auf den Tisch. Diese sind zwar ebenfalls günstiger als der Käse aus dem Ausland, haben allerdings andere Geschmacksrichtungen. Während des Sommers können wir außerdem auf heimisches Gemüse und Obst aus der Region zurückgreifen.“


Freitag, 4. September 2015

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

MEINUNG

IRANISCHE LÖSUNG – EIN VORBILD FÜR DIE KRISE IN DER UKRAINE? « Leider steht das „NormandieFormat“ in mehreren Punkten hinter dem Verhandlungsformat der Sechsergruppe zurück.»

IGOR IWANOW POLITIKER Der Autor ist Präsident des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten und war von 1998 bis 2004 Außenminister Russlands.

TATIANA PERELYGINA

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ie Übereinkommen, die zwischen der Sechsergruppe der internationalenVermittler und Teheran zum iranischen Atomprogramm getroffen wurden, sind eines der positivsten Ereignisse der Weltpolitik der jüngsten Geschichte. Das System der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen wird dadurch gestärkt und es gibt nunmehr zusätzliche Möglichkeiten, um die Anstrengungen der Weltmächte im Nahen Osten und in anderen Krisenregionen zu bündeln. Die Lösung des iranischen Problems ist nun endlich gefunden und sie verdient eine eingehende Analyse, um dieses Know-how auch bei anderen internationalen Problemen zu nutzen. Vor allem sollte herausgestellt werden, dass die Vereinbarung vor dem Hintergrund der äußerst ungünstigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zustande gekommen ist. Den Unterhändlern ist es gelungen, dieses

Verhältnis bei dem Verhandlungsprozess außen vor zu lassen und ein Auseinanderbrechen der Sechsergruppe nicht zuzulassen, indem die gemeinsame Verhandlungsposition bis zum erfolgreichen Abschluss beibehalten wurde. Aber auch deshalb, weil das gestellte Ziel klar und konkret formuliert war. Dies ließ keinerlei Raum für eigenmächtige Interpretationen und einseitige Auslegungen. Der Sechsergruppe und dem Iran ist es zudem im Großen und Ganzen gelungen, den Verhandlungsprozess von den Intentionen der iranischen Innenpolitik abzukoppeln. Während der vielen Jahre, die die Verhandlungen andauerten, kamen und gingen in den beteiligten Staaten meist nicht nur einmal die Präsidenten und Premierminister und änderte sich mehrfach die Zusammensetzung des UnterhändlerTeams. Letzten Endes siegten jedoch auf beiden Seiten der politische Wille

und die Orientierung hin zu einer Lösung des Problems. Die Verhandlungen wurden zwar mit aller Härte geführt, aber dabei wurde der gegenseitige Respekt bewahrt und es war Verständnis für die Position des jeweiligen Verhandlungspartners zu spüren. In diesem Zusammenhang beeindruckt, dass die Beteiligten ohne jedwede feindselige Rhetorik und Propagandaschlachten ausgekommen sind. Die Übereinkunft zum iranischen Atomprogramm demonstriert ein weiteres Mal die Bedeutung des russischamerikanischen Dialogs in der gegenwärtigen historischen Epoche. Es war vor allem das gemeinsame Vorgehen Russlands und der USA, das im Wesentlichen zu dieser Übereinkunft geführt hat. Die iranische Lösung hat – wie auch das jüngste Beispiel der Vernichtung chemischer Waffen in Syrien – gezeigt, dass Russland und die USA immer noch die Garanten für

den Ausbau des Systems der Nichtweiterverbreitung von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen darstellen. Es versteht sich von selbst, dass es noch zu früh ist, von einer endgültigen Lösung des iranischen Atomproblems zu sprechen. Aber die Hauptschlussfolgerung liegt auf der Hand: Der politische Wille, die ausgeprägte Professionalität der Beteiligten, ihr Streben nach einem Kompromiss sowie die Konsequenz und Kontinuität bei der Abarbeitung der Etappen des Verhandlungsprozesses – all diese Faktoren haben den Erfolg ungeachtet der angespannten internationalen Situation ermöglicht. Die iranische Lösung verdient besondere Aufmerksamkeit auch in Bezug auf die andauernde Krise in der Ukraine und im Zusammenhang mit dieser. Leider muss konstatiert werden, dass das sich herausgebildete „Normandie-Format“ zur Lösung der Ukrainekrise in mehreren Punkten hinter dem Verhandlungsformat der Sechsergruppe und des Irans zurücksteht. Nicht alle Beteiligten des Minsker Abkommens beweisen ihren politischen Willen, den es zum Erreichen einer Übereinkunft bedarf. Nicht immer werden die Verhandlungsziele klar genug formuliert, außer vielleicht bei den kurzfristigen taktischen Zielen. Ebenso sind die Bereitschaft der Beteiligten zum Erreichen eines Kompromisses und die Berücksichtigung der jeweiligen Interessen nicht immer zu spüren. Der einzige Ausweg aus der ukrainischen Sackgasse wäre die deutliche Verbesserung der Zusammenarbeit aller wesentlichen internationalen Player, die an einer schnellstmöglichen Überwindung der Krise interessiert sind. Das betrifft die Intensivierung des Verhandlungsprozesses als solchen ebenso wie die Auswahl der zu erörternden Probleme und die Beteiligten des Minsker Abkommens. Und das betrifft das Erreichen eines breit angelegten internationalen Konsenses bezüglich der Zukunft der Ukraine im Rahmen eines neuen Systems der europäischen Sicherheit. Zudem mangelt es den Verhandlungspartnern an „Zuckerbrot und Peitsche“, sprich: an einer Auswahl positiver wie auch negativer Anreize, über die die internationale Gemeinschaft in ihrem Einwirken auf sämtliche Beteiligte des Konfl iktes in der Ukraine verfügen müsste. Dieser Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung Rossijskaja Gaseta.

REVISION DER GESCHICHTSSCHREIBUNG

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FJODOR LUKJANOW POLITOLOGE Präsidiumsvorsitzender des Russischen Rats für Außen- und Verteidigungspolitik und Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs

ie Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der 70. Jahrestag der Kapitulation Japans werden überschattet: Die Regierung Shinzo Abes will eine Grundfeste der Japanischen Verfassung revidieren und sorgt damit für heftige Kontroversen. Es geht um das in der japanischen Verfassung verankerte Verbot einer eigenen Armee, welches später aufgeweicht wurde. Japan bekam das Recht, bei Verzicht auf Einsätze außerhalb nationaler Grenzen Selbstverteidigungsstreitkräfte zu unterhalten. Diese Einschränkung will Shinzo Abe abschaffen. Schließlich habe sich – so seine Position – die regionale und globale Situation grundlegend gewandelt. Vorgesehen sind einige wenige Korrekturen, doch sind sie nicht ihrem Inhalt nach entscheidend. Einen Präzedenzfall schaffen auch kleinste Abweichungen vom Grundsatz. Die internen Auseinandersetzungen Japans sind eingebettet in die Prozesse um das Schicksal der Nachkriegsweltordnung, die mit der Gründung der UNO vor 70 Jahren erschaffen wurde. Sie basierte auf einer bestimmten ethisch-politischen Auslegung der Kriegsergebnisse. In Zweifel gezogen wurde diese

Interpretation in Europa in den Neunzigerjahren. Das osteuropäische Konzept der „zwei Besatzungen“ gewann zunehmend an Bedeutung und stellte den Kommunismus dem Faschismus im Grunde gleich. Und dieser Prozess wird intensiviert, was für die Weltordnung nicht ohne Folgen bleiben kann. Diese zu stören, werfen sich Russland und seine Opponenten seit letztem Jahr mit neuer Intensität gegenseitig vor. Der Westen habe das Gleichgewicht und die gegenseitige Achtung von Einflusssphären vernachlässigt, so Moskau. Dem System von Jalta und Potsdam sei dadurch die Grundlage entzogen. Indes ist der „Frieden von Jalta“ in Europa und in den USA nahezu ein Schimpfwort. Unablässig heißt es, Russland habe den seit 1945 ersten Präzedenzfall eines gewaltsamen Gebietsanschlusses geschaffen. Nicht weniger spannend ist die Lage in Asien. Dort gab es ein Tribunal ähnlich den Nürnberger Prozessen, eine ethisch-politische Eindeutigkeit wie in Europa wurde aber nie erreicht. Japanische Premiers – auch Shinzo Abe – besuchen den Yasukuni-Schrein. Die volle Verantwortung für das Ostasien der Vierzigerjahre übernimmt Japan

nicht und erregt damit den resoluten Unmut seiner Nachbarn. Im vergangenen Jahrhundert wurden unterschiedliche Lesarten in Asien dadurch gedämpft, dass sich die ideologische Konfrontation auf einen anderen Weltteil konzentrierte. Heute aber kommen sie zum Vorschein. China wurde zur treibenden Kraft der „Geschichtspolitik“ (ein Terminus aus dem Kontext der Geschichtsverwendung zugunsten politischer Konjunktur). Gegenüber dem Zweiten Weltkrieg war das Land früher recht gleichgültig, schließlich kapitulierte Japan vor der Kuomintang Tschiang Kai-scheks und nicht vor der Kommunistischen Partei. Seit letztem Jahr ehrt der Staat den 3. September (Ende des Zweiten Weltkriegs) als einen nationalen Feiertag, an dem das chinesische Volk im Krieg gegen Japan siegte. Peking beabsichtige – so der russische Sinologe Ewgenij Rumjanzew – das Bild der Rolle Chinas im Zweiten Weltkrieg seiner heutigen Bedeutung in der globalen Wirtschaft und Politik anzupassen. In der entstehenden Narrative kommt China – nicht den USA, nicht der UdSSR – der entscheidende Verdienst bei der Zerschlagung Japans zu.

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Die Nachkriegsweltordnung, die mit der Gründung der UNO erschaffen wurde, basierte auf einer bestimmten ethischpolitischen Auslegung der Kriegsergebnisse.»

Diese Sicht des Krieges in Asien bietet Peking im Kontext der erstarkenden Kooperation Moskau an. Eine andere Sicht, als Russland sie gewohnt ist. Im Gegenzug verspricht das Reich der Mitte Solidarität in den Auseinandersetzungen um eine „Geschichtsrevision“ in Europa. Ein unkonventioneller Vorschlag. An den westlichen Schauplätzen militärhistorischer Auseinandersetzungen gewinnt Russland durch die Unterstützung Chinas nicht viel: Europa sind chinesische Positionen in dieser Frage egal. An der asiatischen Front hingegen droht das Hineinziehen Russlands in geschichtsverwurzelte Konflikte in greifbare Spannungen umzuschlagen. Schließlich will Russland sich in dieser Region stärker engagieren und ausbalancierte Beziehungen mit den beteiligten Akteuren aufbauen. Mögen sich die Entwicklungen in Europa und Asien auch unterscheiden, die Tendenz ist dieselbe. Die ehemals Besiegten – Deutschland und Japan – halten (jeder auf seine Weise) das Kapitel über die Katastrophen des letzten Jahrhunderts für beendet. Die ehemaligen Sieger interpretieren die Weltordnung zusehends eigensinnig, je nach der eigenen Erfahrung im Kalten Krieg.

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Freitag, 4. September 2015

WIRTSCHAFT

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INTERVIEW OLEG PROZOROW

«Bei Direktinvestitionen in Russland ist Luxemburg unter den ersten drei» DER CHEF DES MOSKAUER BÜROS DER BELGISCH-LUXEMBURGISCHEN HANDELSKAMMER IN RUSSLAND ÜBER DIE AUSWIRKUNGEN DER VOR EINEM JAHR EINGEFÜHRTEN SANKTIONEN AUF DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN RUSSLAND UND DEM GROSSHERZOGTUM

Bringt die luxemburgische Wirtschaft unter den heutigen Umständen das Interesse auf, sich in Russland weiterhin zu engagieren? Die Ergebnisse der letzten drei Jahre zeigen: Bei Direktinvestitionen in Russland ist Luxemburg stabil unter den ersten drei. Im vergangenen Jahr beliefen sich die Investitionen auf rund 45 Milliarden Euro. Und trotz Krise stellen wir ein erhöhtes Interesse kleiner und mittelständischer Unternehmen aus Luxemburg an Russland fest. Das Cluster für Internethandel zum Beispiel entwickelt sich prächtig.

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Biografie

Trotz der Krise stellen wir erhöhtes Interesse kleiner und mittelständischer Unternehmen aus Luxemburg an Russland fest.»

Oleg Prozorow leitet das Moskauer Büro der belgischluxemburgischen Handelskammer in Russland seit 2013. Er wurde 1968 in Moskau geboren und studierte an der PlechanowWirtschaftsuniversität. In den 1990er-Jahren beriet er luxemburgische, Schweizer und belgische Firmen in Fragen des Arbeitsrechts auf dem russischen und europäischen Finanzmarkt. Von 2010 bis 2013 war er leitender Partner des ConsultingUnternehmens Europe Conseils Réalisations S.A. und vertrat in Luxemburg die Interessen der Handelskammer Belgiens und Luxemburgs für Russland und Weißrussland.

PRESSEBILD

Vor mehr als einem Jahr führten die EU und einige Staaten, die sich ihr angeschlossen hatten, Sanktionen gegen die Russische Föderation ein. Im Gegenzug verhängte Russland damals ein Lebensmittelembargo. Inwiefern tangieren diese Maßnahmen die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Luxemburg? In der Tat ist seit der Einführung der Sanktionen mehr als ein Jahr vergangen und wir haben es die ganze Zeit hindurch mit einer Flut an Informationen zu diesem Thema zu tun. Über die Folgen der Sanktionen und die Verluste wird viel gesprochen. Der praktische Aspekt dieser Frage bleibt größtenteils außen vor. Schauen wir uns das genauer an. Eingeführte Sanktionen umfassen ein klar definiertes Spektrum an Finanzinstituten, Produktionsstandorten, konkreten Industriebranchen und Produktkategorien, privaten und juristischen Personen. Entscheidend dabei: Die Tatsache, dass ein Importprodukt auf der Sanktionsliste steht, zieht noch lange kein Verbot nach sich, dieses Produkt nach Russland einzuführen oder es dort anzuwenden. Vielfach kann eine Genehmigung eingeholt werden, das Produkt nach Russland zu liefern, wenn vorgeschriebene Verfahren eingehalten und Informationen über die Endbestimmung des Produkts eingereicht werden. In den von Sanktionen betroffenen Wirtschaftssektoren nach gewohntem Muster zu kooperieren, ist jetzt natürlich deutlich schwieriger. Angesichts dessen empfiehlt die Handelskammer russischen und luxemburgischen Wirtschaftsvertretern, ihre Interessen nach den Branchen auszurichten, die eine Zusammenarbeit nicht nur erlauben, sondern auch große Perspektiven bieten. Der Agrarsektor ist dafür ein Beispiel.

Sind neue Formen der Zusammenarbeit zwischen russischen und luxemburgischen Unternehmen entstanden, etwa eine Unternehmenslokalisierung in Russland? Die Lokalisierung in Russland ist an sich nichts Neues. Wir können auf die luxemburgischen Mitglieder unserer Kammer verweisen, die vor einigen Jahren Fabriken in Russland gebaut hatten – in der Region Jaroslawl, in der Oblast Moskau oder in Samara, um nur einige zu nennen. Auch heute werden Fabriken gebaut und neue Projekte erfolgreich umgesetzt. Die Wirtschaft steht nicht still. Sie passt sich

neuen Voraussetzungen an und bringt die für sie günstigen und profitablen Kooperationsformen voran. Inwiefern kann die Handelskammer im Verbund mit öffentlichen Organisationen zur Wirtschaftsförderung und mit staatlichen Behörden die Probleme der luxemburgischen Wirtschaft in Russland lösen? Gibt es dafür konkrete Beispiele? Wir haben eine Reihe von Memoranden und Agreements unterzeichnet, mit regionalen und auch föderalen Partnern. Das Ziel dieser Vereinbarungen besteht darin, eine effektive Infrastruktur für

die Handelskammermitglieder in Russland zu schaffen. Dabei kann ich auf Erfolge bei der Migrationsgesetzgebung und Visafragen, bei Besonderheiten des russischen Steuerrechts und der Erfüllung von Zollformalitäten verweisen. Zudem haben wir unter den heutigen Umständen unsere Zusammenarbeit mit der Handelskammer des Großherzogtums und anderen Wirtschaftsförderern in der EU noch einmal deutlich ausgeweitet. Wie ist die Stimmungslage hinsichtlich eingeführter Sanktionen und Gegensanktionen in den Wirtschaftskreisen Luxemburgs? Hat sich hier die Stimmung seit letztem Jahr gewandelt? Auf die Einschränkungen ihrer Tätigkeit können Unternehmen nicht positiv reagieren. Die abwartende Haltung vom letzten Jahr ist der Einsicht gewichen, dass die Entwicklung unter den heutigen schwierigen Bedingungen weitergehen muss. Ganz besonders will ich hervorheben, dass Russland sich weiterhin zur Marktwirtschaft bekennt. Es ist ein Staat mit uneingeschränkten Ressourcen und enormem Humanpotenzial. Wie nehmen russische Unternehmen ihre Situation in Luxemburg heute wahr? Russische Privatunternehmen setzen ihre Tätigkeit in Luxemburg fort. Leider stoßen auch sie hin und wieder auf Hindernisse. Schwierigkeiten entstehen, weil oftmals die Kenntnis und das Verständnis für den Gegenstand der Sanktionen fehlen. Das führt zu Fehlern und Verzögerungen bei Bankgeschäften. Doch ich möchte betonen, dass Luxemburg sehr loyale Positionen vertritt. Das Land trennt Wirtschaft und Politik, so gut es geht. Was macht Luxemburg für russische Unternehmen als ein Finanzzentrum attraktiv? Wie häufig entscheiden sie sich für Luxemburg als einen Finanzplatz, um ausländisches Kapital heranzuziehen? Luxemburg liegt im Herzen Europas und ist ein allgemein anerkanntes Weltfinanzzentrum mit einem traditionell hohen Maß an Kompetenz und wirtschaftlicher Sicherheit. Die Regierung Luxemburgs optimiert stetig die Gesetzgebung und verfügt mit Russland über ein Abkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung. Die Handelskammer empfiehlt Luxemburg immer als einen Vorreiter in puncto Professionalität und Stabilität und stellt ein erhöhtes Interesse des Großherzogtums an den Projekten in der Russischen Föderation fest. Das Gespräch führten JEKATERINA IWANOWA UND JEKATERINA TSCHIPURENKO.


Freitag, 4. September 2015

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

KULTUR

KUNST „Das Schwarze Quadrat“ feiert seinen 100. Geburtstag

Am Nullpunkt der Form Kasimir Malewitschs Bild „Das schwarze Quadrat“ ist ebenso vordergründig schlicht wie legendär. Es ist eine Ikone der Avantgarde und hat Künstler in aller Welt inspiriert. DMITRI SMOLJEW FÜR RBTH

Postume Berühmtheit

LEBEN NACH KASIMIR MALEWITSCH

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2015 schuf Natalia Brjanzewa, Schmuckdesignerin aus Jekaterinburg, die minimalistische Kollektion Malevich. „Die Phalange- und Ohrringe aus Silber und Emaille fallen im Einzelnen nicht auf, zusammen bilden sie aber eine suprematische Komposition“, schrieb die russische Vogue.

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2008 kreierten Designer aus Barcelona den Taschenbaukasten Be a Malevich Architectons. Inspiration fanden sie bei Architekturprojekten des Künstlers, nach denen alles aus einfachen geometrischen Formen, die miteinander winkelrecht ankoppeln, gebaut sein könnte.

te, blieben die Exponate in der Obhut des Architekten Hugo Hering. Der Maler konnte nie zurückkehren, um sie zu holen. Es gelang, die Bilder vor der Zerstörung durch die Nazis zu bewahren, sie überstanden den Krieg und gelangten auf Umwegen in die Niederlande. Die großangelegte Ausstellung der Werke im Museum Stedelijk und ihre Publikation in Bildbänden hatten einen unvorstellbaren Effekt. Und das, obwohl der Löwenanteil von Malewitschs Erbe bis in die späten 1980er-Jahre für das westliche Publikum unzugänglich blieb. Irina Karasik, Sankt Petersburger Kunstexpertin mit Schwerpunkt russische Avantgarde, nimmt an: „In der Weltgeschichte der Kunst gibt es vermutlich kein Gemälde mit größerer Berühmtheit als ‚Das Schwarze Qua-

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PRESSEBILD (2)

Zu Beginn war der Kult um das später in „Das Schwarze Quadrat“ umbenannte Bild und den Suprematismus nur innerhalb eines engen Kreises von Anhängern und Schülern Malewitschs verbreitet. In Europa gab es einige wenige Bewunderer. Das Interesse an gegenstandsloser Kunst entwickelte sich zwar in Russland, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland fast gleichzeitig, doch ebenso rasch versiegte es wieder. Dies ist wohl auch der Grund, warum Kasimir Malewitsch lange Zeit nur eine Randfigur der internationalen Künstlergemeinde blieb. Auch der Umstand, dass seine Werke, die in sowjetischen Museen aufbewahrt wurden, ab dem Beginn der 1930erJahre nicht mehr öffentlich gezeigt werden durften, stand ihrer weltweiten Rezeption im Wege. Später breitete sich die Erinnerung an die Blütezeit der Avantgarde langsam im Inland aus und man hütete sich vor dem Export in Länder auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Weltweite Berühmtheit erlangte Malewitsch erst postum. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfuhr die abstrakte Malerei in Europa und in den USA einen neuen Boom. Einige suprematistische Arbeiten Malewitschs wurden bereits vor dem Zweiten Weltkrieg im New Yorker Museum of Modern Art aufbewahrt, einige befanden sich in Privatbesitz in Europa. Großes Interesse am Erbe des Künstlers entstand, nachdem 1957 das Amsterdamer Museum Stedelijk endlich eine Sammlung Malewitschs erwerben konnte, die sich zuvor in Deutschland befunden hatte und weitgehend unbekannt war. Diese Kollektion war 1927 von Malewitsch zu einer privaten Ausstellung nach Berlin gebracht worden. Als er aus unbekannten Gründen früher als geplant nach Russland abreisen muss-

PETR KOVALEV / TASS

Im Dezember 1915 wurde in Sankt Petersburg, das damals Petrograd hieß, „Die letzte futuristische Ausstellung 0,10“ eröffnet. Erstmals konnten die Besucher eine ganze Serie von Arbeiten Kasimir Malewitschs bestaunen, die im Stile des Suprematismus gemalt worden waren. Malewitsch selbst hatte die Stilrichtung einst begründet. Die größte Begeisterung bei seinen Anhängern und zugleich die größte Ablehnung in der breiten Öffentlichkeit rief das Bild „Das Schwarze Viereck“ hervor, das bewusst provokant in der sogenannten roten, östlichen Ecke des Ausstellungssaales aufgehängt worden war. Nach orthodoxer Tradition ist diese Ecke in jedem Haus den Ikonen vorbehalten. In diesem Jahr wird das Bild nun hundert Jahre alt. Der Ehrentag fällt jedoch nicht auf den Dezember, sondern wurde schon im Sommer gefeiert. Der russische Kunsthistoriker und Malewitsch-Experte Alexander Schatski nimmt an, dass „Das Schwarze Viereck“ bereits am 21. Juni 1915 fertiggestellt wurde.

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Das belgische Modehaus Maison Margiela entwickelt seit Jahren Kollektionen, die häufig von Models mit Masken auf dem Catwalk präsentiert werden. Ohne Augen, Nase und Lippen ähneln sie den Figuren des Künstlers, deren Gesichter aus bunten Ovalen bestehen.

drat‘ von Malewitsch. Kein anderes Werk hat so viele Künstler inspiriert.“ Sein Einfluss sei von Land zu Land sehr unterschiedlich. Und so paradox es auch klingen mag: In Russland sei dieser Einfluss deutlich weniger spürbar als im Westen.

Ikone der Avantgarde „Das Schwarze Quadrat“, das vom Künstler als ein „lebendiges Zarenbaby“ charakterisiert wurde, musste Einfluss haben, und zwar weniger wegen seines Stils als vielmehr wegen eines tieferen Sinns. Einer der wichtigsten Grundgedanken Malewitschs war: „Ich bin zum Nullpunkt der Form gelangt und hinter diesen Nullpunkt getreten, um zu gestalten.“ Anders ausgedrückt: „Das Schwarze Quadrat“ ist ein magisches Mittel, um dem zu ent-

D E . R B T H . C O M / M U LT I M E D I A SCANNEN SIE DAS BILD VON DER BALLONLANDUNG, UM DAS EINFÜHRUNGSVIDEO ZU STARTEN. DER QR-CODE FÜHRT SIE DIREKT IN DIE MULTIMEDIA-RUBRIK.

kommen, woran die alte Kunst „krankte“. Und genau so wurde das Werk von vielen Künstlern aufgenommen, auch von denen, die der Ästhetik Malewitschs nicht direkt folgen wollten. Während man von amerikanischen Minimalisten der 1950er- und 1960erJahre wie Carl Andre und Donald Judd noch sagen kann, dass sie viel vom Stil des Suprematismus übernommen haben, so kann man in den Arbeiten des Franzosen Yves Klein oder des Amerikaners Mark Rotko fast nichts entdecken, was an die kompakte Geometrie Malewitschs erinnert. Dennoch sprechen beide Richtungen von Malewitsch als wichtiger Inspiration. Der revolutionäre deutsche Künstler Josef Beuys ließ in einem seiner Manifeste verlauten: „Alles ist Kunst.“ Und sprach damit zweifelsohne Malewitsch aus dem Herzen. Den bewussten Verzicht der Suprematisten auf „künstlerische Ausschweifung“ kann man als Vorzeichen für die Entstehung des Konzeptualismus betrachten. Trotz zeitlicher Distanz sind „Das Schwarze Quadrat“ und die Werke der amerikanischen Künstlerbewegung NeoGeo am Ende des 20. Jahrhunderts deutlich miteinander verwandt. Auch in den Bereichen Design und Architektur ist der Einfluss der „Avantgarde-Ikone“ nicht zu übersehen. Er hat sich hier nahezu in seiner reinen Form durchgesetzt, etwa bei der irakisch-britischen Architektin Zaha Hadid, die sich wiederholt auf Malewitsch berufen hat. Nicht ohne Grund ist in ihrer Retrospektive, die bis Ende Dezember in der Eremitage in Sankt Petersburg gezeigt wird, eine Version des „Schwarzen Quadrats“ als Epigraph zu sehen.


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