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Mittwoch, 7. Oktober 2015

Deutsche Ausgabe

Die monatlichen Beilagen erscheinen in verschiedenen Sprachen in führenden internationalen Tageszeitungen: The Daily Telegraph, Le Figaro, The New York Times.

Diese bezahlte Sonderveröffentlichung wird dem HANDELSBLATT beigelegt. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines (Russland) verantwortlich. Die Handelsblatt-Redaktion ist bei der Erstellung der bezahlten Sonderveröffentlichung nicht beteiligt.

Die große Völkerwanderung

JURI KOZYREW / NOOR

nach Russland kamen, ging es kaum besser als den Flüchtlingen heute. Fremdenfeindlichkeit und Bürokratie machten ihnen das Leben schwer. Erst allmählich lernt Russland mit der Rolle als Einwanderungsland umzugehen. Und versucht mit neuen Gesetzen, Ordnung ins Chaos zu bringen. Gleichwohl trifft die

aktuelle Flüchtlingswelle aus Syrien und anderen Ländern des Nahen Ostens Russland nur am Rande. Einige suchen dennoch Zuflucht in Russland und nutzen das Land zum Transit. SEITEN 4 UND 5

Im Gespräch: Mario Mehren

Die beste Währungshüterin der Welt?

Der Vorstandsvorsitzende der Wintershall Holding sieht Russland als Schlüsselpartner für die Versorgungssicherheit in Europa in Sachen Energie. Der Asset-Tausch zwischen

Elwira Nabiullina genießt hohes Ansehen. Kürzlich wählte sie das Magazin Euromoney zur Zentralbankchefin des Jahres. Dabei hat bei ihrem Amtsantritt keiner gewusst, wie wichtig ihr

BASF und Gazprom, so hofft er, könnte als Beispiel für die Politik dienen und beide Seiten zu einer Entspannung anspornen. Seite 2

IHRE VERLÄSSLICHE QUELLE FÜR EINE BERICHTERSTATTUNG ÜBER RUSSLAND, WELTWEIT IN 16 SPRACHEN!* 83 % der Leser vertrauen RBTH als Quelle für Meinungen von Experten. 81 % sagen, dass RBTH Informationen und Analysen über die gewöhnliche Russland-Berichterstattung hinaus bietet. 77 % erachten die Online-Ausgaben von RBTH als relevant für jeden – nicht nur für Russlandinteressierte. *Laut einer Leserumfrage für alle RBTH-Produkte aus dem März 2015.

Job sein wird. RBTH erklärt, wie Nabiullina Russlands Finanzen rettete und ob sie ihre Auszeichnung verdient hat. Seite 8

GETTY IMAGES

Russland beobachtet die Flüchtlingskrise in Europa mit Argusaugen. Auch deshalb, weil es angesichts der Probleme in Ungarn, Serbien und anderen Ländern scheinbar in einen Spiegel blickt. Schließlich hat auch Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion eine riesige Welle der Migration erlebt. Vielen, die

Machen Sie sich mit der deutschen Version des Projekts unter de.rbth.com vertraut!


Energie

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

INTERVIEW MARIO MEHREN

“Ein Zeichen der Kontinuität” DER VORSTANDSCHEF DER WINTERSHALL ÜBER GESCHÄFTE MIT GAZPROM, SANKTIONEN UND ENERGIESICHERHEIT Vor fast einem Jahr stoppte Gazprom den Bau der South-StreamPipeline. Kurz danach wurde der Tausch von Unternehmensanteilen auf Eis gelegt. Jetzt wird das Geschäft doch besiegelt - ein Zeichen der Normalisierung zwischen Russland und Deutschland? Für uns als Unternehmen waren die Beziehungen zu unseren russischen Geschä f tspa r tner n auch in den letzten Monaten normal. Wir arbeiten erfolgreich in unseren gemeinsamen Projekten und bauen mit dem jetzt vollzogenen Tauschgeschäft unsere Aktivitäten direkt an der Quelle in Russland weiter aus. Zudem beteiligen wir uns mit weiteren europäischen Unternehmen am Ausbau der Ostseepipeline Nord Stream. Dennoch: Die politische Großwetterlage hat, das lässt sich nicht leugnen, zu mehr Unsicherheit im russisch-europäischen Geschäftsumfeld geführt. Wir als Unternehmen haben immer betont, dass Sanktionen und Gegensanktionen nicht das Mittel der Wahl zur Konfliktlösung sind. Gerade in politisch schwierigen Zeiten müssen wir Brücken bauen. Wir hoffen daher, dass von unseren kürzlich getroffenen Entscheidungen ein positives Signal auch an andere Investoren ausgeht. PRESSEBILD

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Was bedeutet das Tauschgeschäft für die Versorgungssicherheit in Deutschland? Der Asset-Tausch ist ein deutliches Zeichen der Kontinuität. Klar ist: Eine sichere Energieversorgung Deutschlands und

BIOGRAFIE ALTER: 44 POSITION: VORSTANDSCHEF DER WINTERSHALL HOLDING GMBH

Nach einem Studium der BWL begann er 1998 seine Laufbahn im Rechnungswesen der BASF. 2006 wechselte Mehren zur Wintershall ins Ressort „Finance & Russia“. Seit Juni 2015 ist er Vorstandsvorsitzender und kommissarisch für die Ressorts Exploration & Produktion Russland, Nordafrika und Südamerika zuständig.

pa ist seit Jahren rückläufig, gleichzeitig aber steigt der künftige Bedarf. Schon 2030 werden der EU voraussichtlich 146 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr fehlen. Eine sichere und zuverlässige Energieversorgung kann daher nur durch zusätzliche Importe gewährleistet werden. Hier setzen wir ja gerade mit dem Nord-Stream2-Projekt an, das die Transportkapazitäten nach Europa noch einmal deutlich erhöhen wird.

Einige Beobachter sehen in dem Anteilstausch einen wachsenden Einfluss von Gazprom in Deutschland und eine steigende Abhängigkeit von russischer Energie. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf? Dieser Vorwurf ist absurd! Denn wir haben es hier ja keineswegs mit einer asymmetrischen Abhängigkeit zu tun. Russland hat Gas, das ist Fakt. Und wir brauchen Gas, das ist genauso Fakt. Russland braucht Europa als Absatzmarkt für Gas und Europa braucht einen zuverlässigen, wettbewerbsfähigen Energielieferanten.

Die im Zuge der Ukraine-Krise von der EU eingeführten Sanktionen betreffen auch die Öl- und Erdgasbranche. Sind sie als Unternehmen, beispielweise bei ihrem Projekt Achimgaz, davon betroffen? Momentan sind wir als Unternehmen nicht von den Sanktionen betroffen, all unsere Projekte in Russland laufen planmäßig und reibungslos. Dennoch tragen die Sanktionen nicht zu einem sicheren Investitionsklima bei, das dringend erforderlich ist. Einige ausländische Firmen haben sich ja bereits aus Projekten in Russland zurückgezogen. Gerade im Bereich der schwer zu erschließenden Rohstoffvorkommen ist der Einsatz modernster Technologie unverzichtbar. Hier brauchen beide Seiten stabile Rahmenbedingungen. Die europäische Politik muss aufpassen, dass sie am Ende nicht dem Standort Europa im globalen Wettbewerb schadet. Sie darf die europäische Energieversorgung nicht gefährden. Das würde nicht nur uns als Investor, sondern vor allem die e u r op ä i s c he n Ve r br auc he r treffen.

Gleichzeitig wird in der EU über eine Diversifizierung der Gasversorgung diskutiert. Kann Europa ohne russisches Gas auskommen? Meine klare Antwort: Nein. Denn die heimische Förderung in Euro-

Der gesunkene Ölpreis ist ein wichtiger Faktor der russischen Krise. Sind die goldenen Zeiten der Ölund Gasindustrie vorüber? Der Preisverfall beim Öl hat alle überrascht. Der Markt steht vor fundamentalen Veränderungen. Wir

Europas ist ohne Russland nicht vorstellbar. Russland liefert seit Jahrzehnten verlässlich Erdgas nach Europa, die Transportinfrastruktur ist sehr gut ausgebaut und das Land verfügt über die zweitgrößten nachgewiesenen Erdgasreserven weltweit – und das in Pipelinedistanz zu Europa.

sollten jedenfalls in den nächsten Jahren nicht mit Ölpreisen jenseits der 100-Dollar-Marke träumen. Wir rechnen derzeit mit einem Ölpreis, der zwischen 60 bis 70 US-Dollar pro Barrel liegt. Die massiven Preisschwankungen haben viele Marktteilnehmer verunsichert. Auch, weil sich die Analysten in der Vergangenheit mit viel zu hohen Prognosen offensichtlich geirrt haben. Unsere Branche muss sich daher an die neuen Realitäten anpassen, um auch bei niedrigen Preisen effizient und profitabel zu arbeiten. Wir sind in der guten Situation, schon in der Vergangenheit zu den kosteneffizientesten Produzenten gehört zu haben. Das hilft uns jetzt, weiterhin profitabel zu arbeiten. Wenn Sie auf die vergangenen zwei Jahrzehnte der Zusammenarbeit mit Russland zurückblicken: Welches Fazit ziehen Sie? Die vergangenen 25 Jahre der Zusammenarbeit mit unseren russischen Partnern waren äußerst erfolgreich. Wir haben mit Gazprom das Gasmonopol in Deutschland durchbrochen. Wir haben gemeinsam den größten Gasspeicher des Landes errichtet. Und wir waren Pioniere bei wichtigen Leitungsprojekten wie der Ostseepipeline Nord Stream. Deren gerade vereinbarte Erweiterung stellt einen weiteren Meilenstein unserer Kooperation dar. Wir haben aber auch gemeinsam Versorgungssicherheit an der Quelle, also mit Investitionen direkt in Russland, geschaffen. So konnten wir bei unserem Joint Venture Achimgaz in Sibirien die Erdgasproduktion in 2014 um 40 Prozent steigern. Der vereinbarte Asset-Tausch wird während der Plateauproduktion eine Förderung von weiteren acht Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich hinzufügen. In Juschno-Russkoje fördern wir seit 2009 jährlich 25 Milliarden Kubikmeter. Dementsprechend werden wir wie geplant unsere Investitionen in die beiden Projekte umsetzen. Bis 2018 sind dies mehrere hundert Millionen Euro. Das Gespräch führte Michail Bolotin.


Staatsfinanzen

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Defizit zwingt die Regierung von Dmitri Medwedew zum Umdenken

Ölreserven retten Haushalt ANTON SWESCHNIKOW FÜR RBTH

Die ruhigen Zeiten für Russlands Wirtschaft sind lange vorbei. Nun muss sich auch die Regierung anpassen. Es ist noch gar nicht lange her, da führte das Kabinett einen dreijährigen Planungshorizont für den Staatshaushalt ein. Der niedrige Ölpreis zwingt nun zu kurzfristigen Reaktionen. Ab jetzt wird der Etat nur noch für ein Jahr verabschiedet. Außerdem wird die Haushaltsregel aufgehoben, die die Bildung von Reserven erlaubte. 2016 werden alle Ausgaben quasi manuell kontrolliert. Der Beschluss, den Haushalt nur noch für ein Jahr aufzustellen und sich von der bisherigen Haushaltsordnung zu verabschieden, sei durch die unsichere Wirtschaftslage begründet, erklärte Finanzminister Anton Siluanow. Nach der seit 2013 geltenden Regel wurde der Etat bisher wie folgt aufgestellt: Die Regierung errechnete den durchschnittlichen Erdölpreis für die vergangenen drei

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Jahre. Sollte der Ölpreis künftig steigen, würden sich daraus ergebende Mehreinnahmen in einen Reservefonds wandern. Im vergangenen Jahr ging die Rechnung jedoch nicht auf: Der Erdölpreis lag mit durchschnittlich 96 US-Dollar pro Barrel deutlich unter dem von der Regierung ermittelten Basiswert. Das zweite Ziel der Haushaltsordnung bestand in einer Deckelung der Staatsausgaben. Der Höchstwert berechnete sich aus den mit dem veranschlagten Ölpreis kalkulierten Einnahmen und einem möglichen Haushaltsdefizit von maximal einem Prozent des BIP.

Steigendes Haushaltsdefizit Im nächsten Jahr wird das Haushaltsdefizit diese Grenze offensichtlich überschreiten, denn der zu Grunde gelegte Ölpreis liegt deutlich unter dem Durchschnittspreis der letzten drei Jahre. Ein Überschuss bei den Einnahmen ist nicht in Sicht. Laut Dmitrij Dolgin, leitender Analyst bei der privaten AlfaBank, bestehe die Regierungsstrategie in einer Stabilisierung des Etats. Die Aufhebung der Haushaltsordnung gestatte es dem Finanzministerium, die Staatsausgaben von Hand zu steuern. Darüber hinaus soll Geld aus dem

REUTERS

Weil der Ölpreis niedrig bleibt, will Russland seine Ölreserven anzapfen, um das Haushaltsdefizit zu decken. Dennoch wird die Regierung Einschnitte nicht vermeiden können.

Der niedrige Ölpreis lässt den Haushalt ins Minus rutschen.

Reservefonds in den Etat fließen. Diese Mittel sollen nach einem Bericht der Zeitung „Wedomosti“, die einen hochrangingen Beamten zitiert, neben der Kreditaufnahme im Inland die mangelnden Einnahmen kompensieren. Damit werden Ende 2018 im Reservefonds und dem Nationalen Wohlstandsfonds zusammen nur maximal zwei Billionen Rubel (rund 26,9

Milliarden Euro) verbleiben. Am 1. September waren es noch über neun Billionen Rubel (rund 121 Milliarden Euro).

Neue Einnahmequellen nötig „Die Haushaltsordnung ermöglichte es, den Staats-, den Reserve- und den Nationalen Wohlstandsfonds aufzufüllen. Aber bei diesem niedrigen Erdölpreis müs-

sen wir die Reserven jetzt schonen und verstärkt andere Quellen nutzen“, erklärte Ministerpräsident Dmitri Medwedjew auf einer Regierungssitzung. Erstmals stammen 55 Prozent der Haushaltseinnahmen nicht aus den Erlösen aus Rohstoffexporten, sondern aus Steuern, Zöllen und anderen Abgaben. Experten glauben aber, dass bei der anhaltenden Erdölabhängigkeit die Staatskasse nicht durch neue Einnahmequellen, sondern durch eine Ausgabenkappung ausgeglichen werde. „In dieser Situation kann der Haushalt auf zwei Wegen aufgefüllt werden – durch Kürzungen der derzeit 40 Föderalen Zielprogramme (FZP) sowie bei den Subventionen für die Staatsunternehmen“, erläutert Wladimir Tichomirow, Chefökonom bei BrokerCreditService. Für die Umsetzung der FZP steht im laufenden Jahr etwa eine Billion Rubel (rund 13,4 Milliarden Euro) zur Verfügung. Nach Angaben des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung habe über die Hälfte der Programme d ie Er wa r t u n ge n n ic ht erfüllt. „Hauptziel ist ein ausgeglichener Etat, bei gleichzeitiger Schonung der Reservefonds. Aber die Abhängigkeit des Staatshaushalts vom Erdöl bleibt recht hoch“, ist sich der Experte sicher. Seiner Meinung nach ist die Regierung bereit, die Haushaltsausgaben drastisch zu kappen, ohne jedoch die Sozialausgaben zu kürzen.


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Thema des Monats

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JURI KOZYREW / NOOR

EINWANDERUNG OHNE STRATEGIE RUSSLAND LIEGT NACH UN-ANGABEN BEI MIGRANTEN AUF PLATZ ZWEI IN DER WELT. DIE PROBLEME SIND RIESIG. DOCH DIE SUCHE NACH LÖSUNGEN STEHT ERST AM ANFANG.

ZUHAUSE IM FREMDEN LAND WLADIMIR KOZLOW FÜR RBTH

Es war eine harmlose Kontrolle der Polizei, die Raschid zum Verhägnis wurde. Ein Mal den Ausweis zeigen. Mehr nicht. Nun steht sein Name auf einer schwarzen Liste der Einreisebehörden. Der 20-Jährige war letztes Jahres aus Tadschikistan nach Moskau gekommen. Doch seine Frist von 90 Tagen – solange darf ein Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis in Russland bleiben – ist abgelaufen. Nun wird er sich nie mehr legal in Russland aufhalten können. Er hat keine Ausbildung und spricht gebrochen Russisch. Seine Bleibe ist eine Mietswohnung in einem

Plattenbau am Moskauer Stadtrand. Die zwei Zimmer teilt er sich mit der Familie seines älteren Bruder s u nd ei n igen a nderen Menschen. Dennoch fand er einen Weg in Moskau zu bleiben, wie die meisten seiner Landsleute, die nach Russland kommen. Seine Jobs sind eintönig, meist arbeitet er als Aushilfe auf dem Markt. „Ich verdiene 20 000 Rubel (rund 260 Euro) im Monat, manchmal weniger“, sagt er. Das ist ein Drittel des Moskauer Durchschnitts, aber mehr als nichts. Genau das bekäme er, wenn er zuhause bliebe. „Hier habe ich Familie. Sie werden mich schon nicht hängen lassen“, ist er sich sicher. Der junge Tadschike ist einer von Hunderttausenden Migranten, die jedes Jahr nach Russland strömen. Gebannt verfolgen die Russen die Flüchtlingskrise in Europa, weil viele glauben, Parallelen zur Situation im eigenen Land zu sehen.

Ein wunder Punkt Die meisten Migranten kommen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Russland. Von ihrem Umzug versprechen sie sich bessere Jobs und höhere Löhne als in ihrer Heimat. Was sie als Geringqualifizierte normalerweise erwartet, sind Baustellen, Stadtreinigung oder Einzelhandel. Laut Einschätzung von Nikolai Kurdjumow, dem Präsidenten des internationalen NGO-Verbands „Arbeitsmigration“, kommen 80 Prozent aller Migranten in Russland aus Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten – einem Zusammenschluss von elf Ex-Sowjetrepubliken mit Ausnahme Georgiens und der Baltischen Staaten. Für GUS-Bürger gilt keine Visumspflicht. Sie können ganz legal nach Russland einreisen und bis zu 90 Tage im Land bleiben. Viele bleiben länger und landen in der Schattenwirtschaft.

Berufe von Einwanderern in Russland (Stand 2014)

GAIA RUSSO

Die Russen beobachten die Flüchtlingskrise in Europa mit Besorgnis. Denn auch ihr Land ist das Ziel von Millionen Menschen geworden, die ein würdiges und sicheres Leben suchen.

„Dass der allergrößte Teil der Migranten in Russland keine Aufenthaltserlaubnis hat, tut am meisten weh“, sagt Muhammad Amin Madschumder, Vorsitzender des Verbands der Migranten in Russland. Von den zehn Millionen Einwanderern würden sich nur 1,5 Millionen legal im Land aufhalten. Unerhebliche Ordnungswidrigkeiten können den Weg in die Legalität versperren. Die kleinste Überschreitung der 90-Tage-Grenze reicht schon aus, um Migranten auf die schwarze Liste zu setzen. Damit rückt eine Arbeitserlaubnis für sie in unerreichbare Ferne. Über zwei Millionen Menschen stehen in Russland auf einer solchen Liste und leben gezwungenermaßen illegal.

Integrationsschwierigkeiten Dass in einer solchen Situation an erfolgreiche Integration nicht zu denken ist, wundert nicht. Viele Einwanderer leben unter erbärmlichsten Umständen im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Sie hausen in Kellern und Schuppen oder suchen sich andere verlassene Plätze. Eigeninitiative zum Russischlernen kommt da nur schwer auf. Als Russland Ende 2014 in die Rezession abrutschte und der Rubel kollabierte, häuften sich die Berichte darüber, dass Arbeitsmigranten Russland in großer Zahl verlassen. Dennoch wäre es verfrüht, über einen Massenexodus von Migranten aus Russland zu sprechen,


Thema des Monats

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Die postsowjetische Völkerwanderung

Flüchtlingskrise Behörden fürchten sich vor Extremisten

Die Ursachen für die Migration nach Russland liegen im Zerfall der Sowjetunion Ende 1991. Damals fanden sich ehemalige Sowjetbürger praktisch über Nacht im Geltungsbereich neugegründeter Nationalstaaten wieder. Russland und besonders seine größten Städte Moskau und Sankt Petersburg

blieben dabei die Zentren der postsowjetischen Welt. Später sorgte der Wirtschaftsboom für ein riesiges Lohngefälle zwischen Russland und vielen Nachbarländern, wodurch der Zustrom von Arbeitsmigranten einsetzte. Dazu kam ein immenser Arbeitskräftebedarf der russischen Wirtschaft.

Russland tut sich schwer mit syrischen Flüchtlingen

sind Experten sich sicher. „Viele bleiben bis heute“, sagt Wassilij Krawzow, Vorsitzender der Wohltätigkeitsorganisation „Migration XXI. Jahrhundert“. „Dafür gibt es einen eindeutigen Beleg: die Geldmenge, die sie ihren Familien in die Heimat schicken. In Rubel gerechnet sind diese Beträge nicht kleiner geworden, sondern steigen im Gegenteil an.“ Selbst wenn einige Gastarbeiter aus Zentralasien zurück gegangen seien, sei ihre Abwanderung durch die Ankunft von mehr als zwei Millionen Flüchtlingen aus der kriegsgeplagten Ukraine mehr als wettgemacht worden, so Krawzow weiter. Die mangelnde Integration bereitet einen fruchtbaren Boden für Fremdenfeindlichkeit. Viele Einheimische haben Angst, dass Migranten ihnen die Jobs wegnehmen und für höhere Kriminalitätsraten sorgen könnten. Die Fakten sprechen klar dagegen. „Der Gedanke, Migranten würden Russen ihre Jobs wegnehmen, ist einfach falsch“, sagt Kurdjumow. „Die meisten neh men schlechtbezahle Jobs an, an denen Russen gar nicht interessiert sind.“ Auch der angebliche Anstieg der Kriminalität durch Migranten ist nur ein Gerücht. Zwischen Januar und Juli dieses Jahres wurden nach Angaben des Innenministeriums lediglich zwei Prozent aller in Russland verübten Straftaten von ausländischen Bürgern begangen.

rer übersteigt. Das bietet Raum für Fälschungen und Korruption. „Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele der für die Patente notwend igen K ra n kenversicherungspolicen und Sprachzertifi kate bei dubiosen Firmen einfach gekauft werden. Die wollen die Situation ausnutzen und sich bereichern“, sagt Krawzow. „Viele Migranten arbeiten weiterhin illegal.“ Sie schmierten einfach die örtliche Polizei. „Wenn auch nur einige Migranten durch das neue System der Schattenwirtschaft entfliehen, ist es zweifellos ein Erfolg“, betont Kurdjumow. In einer Rede im April des vergangenen Jahres sagte Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin über die ersten Ergebnisse der neuen Migrationspolitik, dass die Einnahmen aus dem Verkauf der Patente zu Jahresbeginn im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um das Vierfache gestiegen seien. Das sei ein Beleg für den angeblichen Erfolg der Reformen. Ob diese Einnahmen die Situation von Menschen verbessern, die wie Raschid aus Tadschikistan ein Schattendasein führen müssen, ließ der Bürgermeister allerdings offen.

Europa steht vor der größten Flüchtlingskrise der jüngsten Vergangenheit. Hilfsorganisationen rufen nach stärkerem Engagement Russlands bei der Lösung des Problems.

Geldüberweisungen Wie viel Geld schicken legale Arbeitsmigranten nach Hause? Die meisten von ihnen stammen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und versprechen sich höhere Löhne als in ihrer Heimat.

Das Problem illegaler Migranten bleibt weiterhin akut. Erste Maßnahmen zur Verbesserung der Situation treffen russische Behörden bereits. Eine wesentliche Veränderung gilt seit diesem Jahr. Nun ist es Migranten aus der GUS möglich, anstelle einer Arbeitserlaubnis ein „Patent“ – eine Art Green Card – zu erwerben. Anders als bei amtlichen Arbeitsgenehmigungen kann der Besitzer eines solchen Patents seinen Arbeitgeber wechseln. Außerdem wurde das Verfahren zum Erwerb eines solchen Zertifikats vereinfacht. Natürlich hat das neue System auch Nachteile. In Moskau werden für ein Patent 60 000 bis 70 000 Rubel (800 bis 935 Euro) pro Jahr fällig, was die Budgets der meisten Einwande-

GAIA RUSSO

Lösungsansätze

PAWEL KOSCHKIN

Ob im Osten oder Westen, zu Hause ist‘s am besten. Für viele syrische Flüchtlinge stimmt das schon lange nicht mehr. So auch für Achmad – 40 Jahre, kräftig gebaut, schiitischer Moslem. Vor dem Krieg lebte er mit seiner Frau und den beiden Kindern in der Stadt Al-Malihah, rund sechs Kilometer von Damaskus entfernt. Fünf Jahre lang arbeitete er als Chefkoch in einem orientalischen Restaurant in London und ging danach nach Syrien zurück. Dort investierte er das verdiente Geld in ein Bekleidungsgeschäft und in eine Hühnerfarm. Damals traf er auch seine Frau, die als Lehrerin in Damaskus arbeitete. 2011 brach eine politische Krise über sein Land herein. Als er sah, „wie Bomben über unsere Köpfe, Häuser und Schulen hinwegflogen und unschuldige Zivilisten töteten“, beschloss er zu fliehen. Mit einem Touristenvisum floh Achmad 2013 nach Russland, erhielt zeitweiliges Asyl und arbeitete in einem Moskauer Restaurant. Doch 2014 lehnten die Behörden die Verlängerung seines Aufenthalts ab und wiesen die Abschiebung seiner Familie an. Achmad zog vor Gericht und wartet nun auf das Urteil. „Die Papiere sind für mich das größte Problem“, sagt er. „Ohne sie kriege ich keinen anständigen Job und keine medizinische Versorgung, falls mir was passiert.“ Auch die Zukunft seiner Kinder bereitet ihm Kopfschmerzen. An ihr neues Leben in Russland haben sich die Kleinen erfolgreich angepasst. Sie sprechen gut Russisch und kamen kürzlich auf eine russische Schule. Das Problem für Achmad ist die Ungewissheit. Ob er für lange – wenn überhaupt – in Russland bleiben könne, wisse er einfach nicht. „Ich brauche Stabilität. Meine Kinder fangen gerade an, sich in die russische Gesellschaft zu integrieren. Wenn wir Russland in wenigen Jahren verlassen müssen, müssen sie das Ganze nochmal durchmachen, sich an das Leben in einem anderen Land anpassen“, sagt er.

LEW FEDOSEJEW / TASS

FÜR RBTH

Syrische Flüchtlinge im nordrussischen Murmansk

Enttäuschte Hoffnungen Auch der syrische Journalist und Menschenrechtler Muez Abu AlJadael ist politischer Flüchtling. Er erhielt Asyl in Schweden. Jetzt hilft er Syrern, sich an das Leben in Russland anzupassen. Er bietet seinen Landsleuten Rechtsberatung an. Seine größten Herausforderungen sind „Korruption und Bürokratie“. Zudem bestehe immer das Risiko, dass Syrer in Russland von Arbeitgebern ausgenutzt werden, selbst von eigenen Landsleuten. Deshalb würden viele Flüchtlinge Russland mit enttäuschten Hoffnungen in Richtung Europa verlassen. „Als das UN-Flüchtlingshilfswerk 2012 die Unterzeichnerstaaten der Flüchtlingskonvention aufforderte, die Abschiebung der Flüchtlinge nach Syrien auszusetzen, demonstrierten die russischen Machthaber ihre Loyalität und bereiteten ein entsprechendes Moratorium vor“, sagt Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Flüchtlingshilfsorganisation „Zivile Unterstützung“. „Als aber im letzten Jahr ukrainische Flüchtlinge nach Russland strömten, waren die Syrer schnell vergessen.“ Mit zunehmender Verschlechterung der Lage in Syrien habe Moskau einige Syrer sogar abgeschoben, behauptet sie. Doch Nikolaj Smorodin, Leiter des Föderalen Migrationsdienstes (FMS), erklärt, Russlands Position hinsichtlich syrischer Flüchtlinge habe sich nicht verändert. „Bei der Prüfung von Asylanträgen syrischer Staatsbürger durch den FMS gelten keine verschärften Regeln“, sagte er in

einer Stellungnahme. „Wir gewähren Syrern Asyl mit Blick auf die Lage in ihrem Land. Darüber informiert uns das russische Außenministerium permanent.“ Seit 2011 kamen nach Angaben des FMS 12 000 Menschen aus Syrien nach Russland. 2 000 Flüchtlinge erhielten zeitweiliges Asyl. 2 666 bekamen eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis. 2 029 dürfen sich permanent in Russland aufhalten. Bei rund 5 000 Menschen stehen die Entscheidungen über ihren Status noch aus.

Russland nur Transitland Indes erklärte Dmitrij Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten, syrische Flüchtlinge könnten russisches Territorium als Transitland nutzen. Die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen sei für Russland allerdings irrelevant, weil seiner Ansicht nach die Last der gegenwärtigen humanitären Krise von Ländern geschultert werden müsse, die den Bürgerkrieg in Syrien verursacht hätten. Ein weiteres Argument, welches er gegen die dauerhafte Aufnahme syrischer Flüchtlinge anbringt, ist das Risiko, Terroristen des Islamischen Staates (IS) könnten als Flüchtlinge getarnt nach Russland kommen. Einige russische Experten wie Alexej Grischin vom russischen Thinktank „Religion und Gesellschaft“ bestätigen diese Ansicht. „Seit einiger Zeit nutzt der IS die Migrantenströme für seine Zwecke“, sagt Grischin. Extremisten könnten in den Aufnahmeländern eine erhöhte Gefahr darstellen.

GAIA RUSSO


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Medien

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

Verlagswesen Der Einfluss russischer Investoren im Mediengeschäft wird beträchtlich steigen

Axel Springer sagt Tschüss Eine Gesetzesnovelle wirbelt den russischen Medienmarkt durcheinander. Das große Mediensterben bleibt aber vorerst aus. Ausländische Verlage suchen derweil nach einer Lösung. TATJANA FIRSOWA FÜR RTBH

ZAHLEN

62.000.000

© EKATERINA TCHESNOKOWA / RIA NOVOSTI

SERGEJ FADEITCHEW / TASS

Menschen gehören insgesamt zur Leserschaft der von den Verlagen Burda, Bauer und Axel Springer in Russland herausgegebenen Publikationen.

© ALEKSANDR MAKAROW / RIA NOVOSTI

Aus und Vorbei. Das, wovor sich viele ausländische Medienkonzerne in Russland gefüchtet haben, scheint langsam Realität zu werden. Axel Springer verlässt nach elf Jahren als erster deutscher Medienkonzern Russland. Alle russischen Aktiva des Unternehmens wurden an den Verleger Alexander Fedotow verkauft. Axel Springer ist nicht das einzige Unternehmen, das seine Geschäftstätigkeit in Russland einstellen oder umstrukturieren muss. Grund dafür sind die im nächsten Jahr in Kraft tretenden Ergänzungen z u m G e s e t z „Ü b e r d ie Massenmedien“. Die gesetzlichen Neuerungen schränken den Anteil des ausländischen Kapitals an den Tochterunternehmen ausländischer Verlage in Russland auf 20 Prozent ein. Nach Angaben der russischen Verbraucherschutzbehörde Roskomnadsor fallen rund 150 Fernseh- und Radiosender sowie tausende Printausgaben mit ausländischer Beteiligung unter den Artikel 19.1 in seiner neuen Fassung. Die Zusätze sehen vor, dass komplett ausländische juristische Personen oder juristische Personen mit einer mindestens 50-prozentigen Beteiligung, ein Drittstaat oder ein russischer Staatsbü r ge r m it e i ne r z we it e n Staatsbürgerschaft kein Massenmedium auf russischem Territorium gründen dürfen. Die Einschränkungen lassen ausländischen Verlagsinhabern in Russland zwei Möglichkeiten: Entweder das russische Unternehmen verkaufen, oder es unter Beteiligung anderer Investoren umstrukturieren und den eigenen Anteil auf 20 Prozent beschränken. Unter den Initiatoren der Gesetzesänderung ist auch der LDPRAbgeordnete Wadim Dengin. Seinen Angaben nach wurden die Zusätze vor dem H i nterg r u nd informationeller Konsequenzen der Ukrainekrise initiiert: Über die russische Führung fegte ein Sturm oftmals haltloser Kritik hinweg. Außerdem zeigten aus-

Einflussreiche Blätter wie das Forbes-Magazin und traditionsreiche Publikationen von Burda müssen wohl den Eigentümer wechseln. Regina von Flemming (rechts) hat den ersten Schritt bereits getan.

ländische Investoren erhöhtes Interesse an Medien verschiedener Couleur und mit unterschiedlichem Zielpublikum. „Ich und meine Koautoren erkannten darin die drohende Gefahr, dass du, wenn du über ein Massenmedium – ganz gleich ob in einem Bezirk, einem Dorf, einer Stadt, in einer Region oder russlandweit – verfügst, dann das Denken der Menschen kontrollierst.“

An Russen verkauft Im Falle von Axel Springer muss sich Dengin künftig wohl keine Sorgen machen. Die russische Forbes-Ausgabe, das Internetportal forbes.ru, das Finanzportal finanz. ru ebenso wie die Zeitschriften

FRISCHES DESIGN

OK!, GEO und Gala Biografija werden nun von einem russischen Medienunternehmer übernommen. Der Käufer ist der Eigentümer des auf ausländische Hochglanztitel spezialisierten Verlags ARTCOM Media Group (ACMG) Alexander Fedotow. Der Deal sieht vor, dass die Hauptgeschäftsführerin von Axel Springer Russia, Regina von Flemming, 20 Prozent des Verlagshauses erwirbt und am 1. Januar 2016 ihren Posten als Hauptgeschäftsführerin verlässt, um als Beraterin des neuen Hauptgeschäftsführers weiterhin im Unternehmen tätig zu sein. Aus dem russischen Markt hat sich auch der Schweizer Medienkonzern Edipresse Groupe zu-

ÜBERSICHTLICHE NAVIGATION

rückgezogen. „Wir bestätigen, dass Edipresse Groupe den russischen Markt im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz verlassen musste, welches ausländische Beteiligungen an Medienunternehmen einschränkt. Der Verkauf wurde in der ersten Jahreshälfte 2015 realisiert“, teilte ein Unternehmenssprecher gegenüber RBTH mit. Verkauft wurde das Unternehmen an seinen Hauptgeschäftsführer in Russland, Maxim Simin.

Suche nach Auswegen Hubert Burda Media ist der älteste westliche Verleger auf dem russischem Markt. Nach Angaben der TNS Gallup Group beläuft sich die Gesamtzielgruppe

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aller 80 Vertriebsmarken der Hubert Burda Media Group auf über 34 Millionen Menschen. Um 1987 die Zeitschrift „Burda-Moden“ auf den sowjetischen Markt zu bringen, gründeten das sowjetische Verlagshaus Wneschtorgisdat und die Verlegerin Aenne Burda ein gemeinsames deutschsowjetisches Unternehmen. Offensichtlich wird Hubert Burda Media in Russland darauf zurückgreifen, womit bereits in der Sowjetunion begonnen wurde – ein Joint Venture. Andere Unternehmen suchen noch nach Auswegen. Etwa die ebenfalls aus Deutschland stammende Bauer Media Group, die in Russland mehr als 70 Publikationen veröffentlicht - größtenteils bunte Blätter mit seichten Inhalten im Promi- und Ratgeberbereich. „Das neue Mediengesetz in Russland ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Für die Verlage ist es absolut notwendig, dass das geplante Gesetz verschoben wird, um Zeit zu gewinnen“, sagte die Pressesprecherin des Unternehmens Andrea Fratini. Der Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Stefan Meister (Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien am Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien) meint, dass die gesetzlichen Neuerungen die Pressefreiheit einschränken könnten. „Grundsätzlich muss es nicht unbedingt eine ausländische Beteiligung an Medien geben. Das Problem ist aber, dass immer weniger Geld vorhanden ist und auf dem russischen Medienmarkt immer weniger Investoren da sind. Es wird immer mehr auf staatliches Geld zurückgegriffen. Das bedeutet, dass der Einfluss des Staates im Mediensektor wächst“, meint Experte Meister. Wadim Dengin, Mitautor des Gesetzes, hält dagegen: „Der Staat muss in erster Linie für seine Sicherheit sorgen, dann erst fürs Geschäft. Die Unternehmen sind immer flexibel, sie passen sich an. Und glauben Sie mir, einige greifen auf bereits bewährte Methoden aus dem Bankensektor zurück, auf das Vertretungs- oder Franchiseprinzip“, pariert der Abgeordnete. Tatiana Firsowa ist Chefkorrespondentin von RIA Novosti in Berlin.

D E . R B T H . C O M / M U LT I M E D I A


Geschichte

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Verlagswesen: eine leiderprobte Branche

Mode, ein Mordfall und Kreuzworträtsel Ausländische und insbesonders deutsche Verleger spielten stets eine wichtige Rolle in der russischen Geschichte. Das neue Mediengesetz ist nicht das erste Hindernis auf ihrem Weg. THOMAS FASBENDER

FINE ART IMAGES/VOSTOCK PHOTO

Es war ein hochpolitischer Akt. Damals, als am Internationalen Frauentag 1987 die Unternehmerin Aenne Burda neben Raissa Gorbatschowa die russische Ausgabe von „Burda-Moden“ in Moskau präsentierte, konnten das viele nicht so recht glauben. Erst recht, als die Auflage wenige Monate später zwei Millionen Stück betrug. Die Perestroika steckte noch fest in den Kinderschuhen. Damals war die UdSSR drauf und dran, sich dem Westen zu öffnen. Heute scheint der Zug in eine andere Richtung zu fahren. Dass Russland in eine Phase der Abgrenzung vom Ausland eintritt, hat die Welt zur Kenntnis genommen. Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte. Verlage sind von solchen Veränderungen besonders betroffen, denn sie produzieren nicht nur materielle Werte, sondern auch Ideen, besser gesagt: Ideenträger in Form von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Und Ideen sind ein wichtiger Bestandteil von Politik. Selbst die Kreuzwort- und Modetitel der russischen Burda- und Bauer-Ableger haben teil an der Aura des geschriebenen Wortes. Noch ist offen, wie Bauer und Burda auf das neue Gesetz reagieren. Ihr Sortiment hat mit Politik nun überhaupt nichts am Hut. Anders Springer mit der russischen Forbes-Ausgabe, die jetzt den Besitzer gewechselt hat. 2006 lieferte sich die deutsche Generaldirektorin Regina v. Flemming ein heftiges Gefecht mit der damaligen Bürgermeistergattin Jelena Baturina. Der Forbes-Gründungschefredakteur Paul Klebnikow war 2004 sogar auf offener Straße ermordet worden. Deutsche Verlage sind in Russland nicht nur in der Gegenwart prominent vertreten; zur Zarenzeit waren sie die treibende Kraft hinter der

AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV

FÜR RTBH

Verleger Adolf Marx und die von ihm herausgegebene Monatszeitschrift Niva (oben)

Entstehung des Verlagswesens überhaupt. Bis zu Zar Peter I. war in Russland nur der um 1560 gegründeten Offizin des Iwan Fjodorow das Verlegen von Büchern erlaubt. Das änderte sich, als der „europäische Zar“ um 1700 begann, ausländische – vor allem holländische und deutsche – Handwerker ins Land zu holen. Mit den Handwerkern kamen Kaufleute und Unternehmer. Dass gerade die Deutschen im Druck- und Verlagswesen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 eine herausragende Stellung einnahmen, hatte auch mit der Einwanderung aus Deutschland seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu tun. 1897 gaben 1,8 Millionen Menschen im Russischen Reich Deutsch als ihre Muttersprache an. Deutsche Verleger und Drucker produzierten in beiden Sprachen und Schriften. Im 18. Jahrhundert stieg die Zahl der in Russland erschienenen Buchtitel von 147 (1724) auf 435 (1787).

SIEMENS: GLÜHBIRNEN FÜR DEN ZAREN D E . R BT H .CO M / 3 3 879

„Apostol“: Er Erstes gedrucktes Buch Russlands

LM ELENA PA

Das Jahr 1861 war für das russische Verlagswesen ein Meilenstein. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Abschaffung der Vorzensur unter dem Reformzaren Alexander II. explodierte förmlich die Zahl der Bücher und Periodika in beiden Sprachen, Russisch und Deutsch. Es war die Zeit, als ganz Europa einen Bildungssprung unternahm. 1861 gab es in Russland 94 Prozent Analphabeten. Rund 50 Jahre später waren es auf dem Land 75 Prozent, in den Städten 55 Prozent. Zu dieser Entwicklung trugen nicht zuletzt die Verleger bei. Adolf Marx‘ Ehrgeiz war darauf gerichtet, Werke von Literaten wie

/ TASS

Tol Lermontow, Turgenew, Tolstoi, Gogol, Dostojewski, Tschechow und anderen zum Preis von gerade einmal 40 Kopeken je Ausgabe buchstäblich unters Volk zu bringen. Einen Rückschlag für die deutschen Verleger brachte die antideutsche Kampagne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders nach Amtsantritt Alexanders III. Im nationalistischen Klima jener Tage begehrten weite Teile der russischen Öffentlichkeit dagegen auf, dass Ausländer, allen voran Deutsche und Deutschstämmige, die Mehrheit im Offizierskorps und unter den höheren Beamten stellten. Gleichzeitig begann

die revolutionäre sozialdemokratische und sozialistische Propaganda. Das Druck- und Verlagsgewerbe stand seitdem erst recht im Visier der Staatsorgane. Ein Bindeglied zwischen den Revolutionären der späteren bolschewistischen Partei und der deutschstämmigen Gemeinde war der aus Kasan – heute die Hauptstadt der Republik Tatarstan – gebürtige Veterinär Nikolai Bauman (18731905). Unmittelbar nach 1900 war Bauman verantwortlich für Druck und Verteilung der in Leipzig produzierten revolutionären Zeitschrift Iskra. 1905 war er der erste vom Z a r e n r e g i me ge t öt e t e Bolschewik. Mit Kriegsbeginn 1914 zerbrach die jahrhundertealte Kontinuität deutsch-russischer Beziehungen. Sämtliche deutschsprachigen Periodika stellten ihr Erscheinen ein; die deutschen Verleger verließen das Land. Wahrscheinlich wusste Aenne Burda damals in Moskaunicht einmal, in wessen Fußstapfen sie 1987 trat.

RUSSISCHES BANKWESEN AUS DEUTSCHER FEDER D E . R BT H .CO M / 3 3 9 8 3


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Porträt

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

Elwira Nabiullina ist die Liberale in Putins Umfeld und verantwortlich für eine Geldpolitik aus dem Ökonomie-Lehrbuch

Ausgezeichneter Sündenbock ZITATE

German Gref EHEMALIGER WIRTSCHAFTSMINISTER UND SBER© SERGEJ WELITCHKIN / RIA NOVOSTI

BANK-CHEF, RIA NOVOSTI, 12. MÄRZ 2013

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Sie ist eine der besten Ökonomen und eine höchstqualifizierte Führungskraft Russlands. Ein absolut ehrlicher, transparenter Mensch und Workaholic. Jemand, der klar und deutlich die Prinzipien moderner Marktwirtschaft versteht.

Alexej Kudrin EHEMALIGER FINANZMINISTER RUSSLANDS, FONTANKA.RU, 12. MÄRZ 2013

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EPA/VOSTOCK-PHOTO

Als Erste Stellvertretende Ministerin für Wirtschaftsentwicklung wurde Nabiullina 2002 in einer Sitzung persönlich von Präsident Putin begrüßt. (Bild oben)

GETTY IMAGES

Elwira Nabiullina gilt als eine der fähigsten Ökonomen in Putins Team. International genießt sie hohes Ansehen, doch im Inland muss sie sich mit der Rolle des Sündenbocks anfreunden. MICHAIL BOLOTIN FÜR RTBH

Es sei kein Job für Feiglinge, schrieben Journalisten, als Elwira Nabiullina vor gut zwei Jahren von Wladimir Putin zur ersten Chefin der Zentralbank des Landes gekürt wurde. Niemand konnte damals ahnen, wie sehr die Worte den Kern der Sache treffen würden. Die letzten zwölf Monate waren die wohl turbulentesten für Russlands Finanzsystem seit mindestens 15 Jahren. Doch ausgerechnet die russische Zentralbankchefin ist es, die heute Lob von internationale Experten einheimst. Vor wenigen Wochen wurde Elwira Nabiullina vom angesehenen Magazin Euromoney sogar zum „Zentralbankchef des Jahres 2015“ gekürt. Als die zurückhaltende und als introvertiert geltende Akademikerin vor zwei Jahren ihren Job antrat, zeichneten sich die Probleme des Landes gerade erst ab. Aus heutiger Sicht stellte sich die damalige Lage geradezu rosig dar.

Die Exporteinnahmen sprudelten und füllten die Währungsreserven auf, während der Euro-Kurs knapp über der Marke von 40 Rubeln vor sich hin dümpelte. Das Schlimmste, was Beobachter befürchteten, war, dass sich Nabiullina als zu abhängig vom Kreml erweist und die Wirtschaft nach Vorbild der USA und der EU mittels

Die Journalisten von Euromoney loben die russische Zentralbankchefin für ihre „lehrbuchartige Politik“. Notenpresse anzukurbeln versucht. Es kam anders. Der Doppelschlag aus Sanktionen und sinkenden Ölpreisen, den die russische Wirtschaft wegstecken musste, machte Nabiullinas Arbeitsplatz zur Intensivstation der russischen Wirtschaft. Für die Zentralbankchefin gab es reichlich Gelegenheiten, Entschlossenheit und Unabhängigkeit zu beweisen.

Die Schocktherapie Die beste war wohl der 15. Dezember 2014, als im Verlauf des Tages Russlands Währungsmärk-

Als Ministerin unterzeichnete sie Ende 2011 mit dem Generaldirektor der WTO Pascal Lamy (r.) den Beitrittsvertrag Russlands.

te ins Bodenlose stürzten. Der Rubel verlor innerhalb weniger Stunden knapp 15 Prozent an Wert gegenüber Dollar und Euro. So schlimm schnitt die Währung seit dem Staatsbankrott 1998 nicht mehr ab. Am Abend tagten die Währungshüter unter Nabiullinas Leitung bis in die Nacht hinein und tüftelten an einer Lösung. Berichten zufolge plädierten Teile des Teams dafür, Dollar aus den Reserven auf den Markt zu werfen. Doch Nabiullina setzte ihren Kurs durch. Kurz vor ein Uhr ging eine Mitteilung nach draußen, es war eine klare Ansage. Der Leitzins stieg von 11,5 auf 17 Prozent, auch die Währungsversorgung der Banken mittels sogenannter Rückkaufgeschäfte wurde auf fünf Milliarden Dollar pro Woche verzehnfacht. Später wird Nabiullina sagen, an diesem Abend sei der freie Rubelkurs geboren worden. Es war eine Schocktherapie, die ihre Wirkung gezeigt hat. Die Journalisten von Euromoney loben die russische Zentralbankchefin heute für ihre „lehrbuchartige Politik“, die eine Anpassung der Wirtschaft erlaubt und eine Bankenkrise abgewendet hat. Die Währungsreserven sind auch heute prall gefüllt, während der Leitzins seit Dezember schrittweise wieder auf

BIOGRAFIE

Elwira Nabiullina ALTER: 51 POSITION: VORSITZENDE DER RUSSISCHEN ZENTRALBANK

Nach dem Studium an der Moskauer Lomonossow-Universtität arbeitete sie bei verschiedenen Verbänden und Banken, ehe sie in die Politik wechselte. Zwischen 2007 und 2012 war sie Wirtschaftsministerin Russlands und später Beraterin des Präsidenten der Russischen Föderation. Ihr Amt bei der Zentralbank trat sie im Juni 2013 an.

elf Prozent zurückgefahren wurde. In Russland avancierte Nabiullina zum Sündenbock des konservativen Lagers. Die Konservativen hatten über Monate lautstark Kapitalkontrollen, Umtauschzwang für Exporteure und eine radikale Lockerung der Geldpolitik gefordert. Zuletzt rief sogar Russlands Wirtschaftsminister Alexej Ul-

In Russland avancierte Nabiullina zwischenzeitlich zum Sündenbock des konservativen Lagers. jukaew die Zentralbank dazu auf, den Leitzins stärker zu senken. Doch Nabiullina ließ sich nicht beirren.

Liberale Schule Tatsächlich ist Nabiullinas Festhalten an marktwirtschaftlichen Prinzipien keine Überraschung. Schließlich verkörpert sie, ähnlich wie einst Finanzminister Alexej Kudrin, den liberalen Flügel in den hohen Sphären der russischen Macht. Auch heute, ungeachtet der Kritik vermeintlicher Patrioten, macht sie keinen Hehl aus ihrem Glau-

Sie bringt die nötige Härte mit. Nabiullina ist ein prinzipienfester Mensch mit riesiger Erfahrung in der Verwaltung. Sie ist überaus professionell und hat reichlich Verständnis für die Funktionsweise einer modernen Volkswirtschaft.

ben an die Märkte. Eine Rückkehr zum Wachstum werde es ohne Strukturreformen nicht geben, sagte Nabiullina vor einigen Wochen in einem Interview mit der Wirtschaftszeitung RBC. Die Einnahmen aus Energieexporten und der steigende Konsum seien als Wachstumsmotoren erschöpft und geldpolitische Maßnahmen hätten nur eine kurzfristige Wirkung. Letztlich steht und fällt alles mit dem Investitionsklima, das weiß auch die Währungshüterin. Wie der Markt funktioniert, hat sie bereits zum Ende der Perestroika in den 1980er-Jahren begriffen. Als junge Frau aus der Region Baschkirien studierte sie Wirtschaftswissenschaften an der Moskauer Lomonossow-Universität. Später arbeitete sie als Spezialistin im damaligen Wissenschaftlich-industriellen Verband, dem Vorgänger des heute größten Unternehmerverbandes Russlands. Ihre Chefs dort waren Ewgeni Jassin, der spätere Gründer der international angesehenen Moskauer Higher School of Economics, und der kürzlich verstorbene Kacha Bandukidse, der erzliberale Pate der georgischen Wirtschaftsreformen. In einer zu Bandukidses Imperium gehörenden Bank sammelte Nabiullina später ihre ersten Erfahrungen im Finanzsektor. Doch wie ehemalige Kollegen berichten, lag der Akademikerin die ökonomische Analyse auf der Makroebene viel mehr. Nach der Krise 1998 wechselte Nabiullina in das Team von German Gref, eines weiteren mächtigen Wirtschaftsliberalen in Putins Umfeld. Dort arbeitete sie mit an dem Reformplan, der während Putins erster Amtszeit den Grundstein für Russlands Boom gelegt hat. Gerüchten zufolge war es der spätere Wirtschaftsminster des Landes Gref selbst, der Nabiullina 2007 als seine Nachfolgerin ins Spiel brachte. Als Wirtschaftsministerin hatte sie bereits während des Beinahecrashs 2008 Nerven beweisen müssen. Eine Eigenschaft, die sie jetzt wie kaum eine andere braucht.


Meinung

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RATIONALER LIBERALISMUS Jakow Mirkin ÖKONOM

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IORSH

as geht derzeit in Russlands Wirtschaft vor sich? Kurz und knapp: Die wichtigsten gesellschaftlichen Systeme funktionieren. Keine Spur von Hunger oder Knappheit an Lebensmitteln. Vielmehr steigt ihre Produktion sogar, bedingt durch die Sanktionen und die Rubelabwertung. Bis Anfang 2014 wurden viele Währungsreserven akkumuliert, sodass kein Staatsbankrott droht. Der Maschinenbestand ist zu m Tei l moder n isier t, das Durchschnittsalter beträgt elf Jahre. Die Rohstoffexporte legen mengenmäßig zu, während die EU wichtigster Kunde bleibt. 2014 betrug das russische BIP 12 900 Dollar pro Kopf. Für 2015 prognostiziert der IWF einen Rückgang auf 8 200 Dollar. So viel wie in China, aber höher als in Bulgarien. Spürbar, aber nicht tödlich. Selbst bei einem erneuten Einbruch im Herbst sinkt das BIP maximal um fünf bis acht Prozent, nicht um 15 oder gar 20 Prozent. Die Armee und die Sicherheitsbehörden sind gut versorgt. Die Rüstungsindustrie schwimmt im Geld. In Moskau liegt das regionale BIP pro Kopf bei über 20 000 Dollar – auf dem Level einer Industrienation. Ein Grund, warum keine Menschenmassen mit Stöcken und Steinen auf die Straßen strömen werden. Für eineinhalb bis zwei Jahre sollen die Gesundheitsreserven noch reichen. Sollte der Ölpreis auf 30 bis 35 Dollar sinken, könnte die Sta-

bilitätsperiode kürzer ausfallen. Auch die EU-Politik zur Verdrängung Russlands vom Rohstoffmarkt wird sich zunehmend auswirken. Exporte in den Westen könnten quantitativ schrumpfen. Ist Asien eine Alternative? Für die Vervollkommnung der Infrastruktur und um China mit Rohstoffen zu fluten, sind milliardenschwere Investitionen notwendig. Ein weiteres Problem ist der absehbare Technologiemangel. Die Importabhängigkeit beträgt im Maschinenbau, bei Elektronik, bei Werkzeugen und in der Metallverarbeitung 80 bis 90 Prozent. In ganz

Russland entstehen im Monat 180 bis 250 Metallschneidemaschinen – ein Zehntel dessen, was abgeschrieben wird. Die Maschinenimporte aus der EU fielen wegen der Sanktionen um fast 50 Prozent, die Einfuhren mechanischer Ausrüstungen um 43 Prozent (Juli 2015). Gleichzeitig stöhnt die Wirtschaft unter einer mit Westeuropa vergleichbaren Steuerlast, wo die Volkswirtschaften kaum wachsen. Zinsen und Inflation sind zweistellig. Kredite werden wegen der rigiden Geldpolitik der russischen Zentralbank immer knapper. Die Verwaltungskosten wachsen expo-

MIGRATIONSPOLITIK: DIE EU MUSS RUSSLAND ALS PARTNER BEGREIFEN Wladimir Sorin EXPERTE

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ür Russland ist die Frage der Migration von besonderer Brisanz. Unser Land kennt dieses Phänomen in allen seinen Aspekten: Russland ist Ziel-, Herkunftsund Transitland zugleich. Auch für Europa ist die Problematik nicht neu. Der Zustrom von Flüchtlingen stieg wegen Wirtschaftskrisen und politischen Turbulenzen an der EU-Peripherie seit einigen Jahren an. Doch zu einer

echten Krise kam es erst mit der Eskalation des Konflikts im Nahen Osten. Auf einen solchen Andrang war Europa nicht vorbereitet. Die Europäische Union hat Maßnahmen beschlossen und entsprechende Dokumente ausgearbeitet, doch kommt deren Umsetzung nur schleppend voran. Einem Teil des Establishments fehlt der nötige politische Wille. Und hinsichtlich der Zukunft Europas herrscht Uneinigkeit: unterschiedliche Ansichten, von überaus liberal bis euroskeptisch, prallen aufeinander.

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Alles in allem haben die EU-Mitglieder ihre mangelnde Bereitschaft zu Entscheidungen en bloc und zu gemeinsamer Verantwortung demonstriert. Bei der EUFührung sorgte dies für Ratlosigkeit. Jetzt ist jedes Land auf sich allein gestellt. Was Europa in der heutigen Situation braucht, ist ein ganzer Katalog interner und externer Maßnahmen, und zwar unverzüglich. Ein Lösungsansatz wäre, die Zuständigkeiten für die Prüfung von Asylanträgen aus dem Dubliner Abkommen zu überdenken. Zudem

nentiell. Die Investitionsquote liegt unter 20 Prozent (46 Prozent in China). Starke Antworten auf massive Herausforderungen? Dem Gefühl nach Fehlanzeige. Dass das Schiff mehr oder weniger stabil bleibt, erweckt den trügerischen Eindruck, es wäre alles in Ordnung und man müsste nur bei Extremschwankungen intervenieren. Für die Zukunft bleiben drei Szenarien. Das erste lautet Stagnation. Eine alternde, halbgeschlossene Wirtschaft mit großen Ambitionen und noch g rößerer Kraftkonzentration im Rüstungs-

müssten die Prüfungsverfahren sch nellstens verein heitlicht werden. Blickt man in die nähere Zukunft, kann man davon ausgehen, dass Europa die bereits angekommenen Flüchtlinge aufnehmen wird. Doch damit sind Risiken verbunden. In erster Linie ist das die Terrorgefahr. Denn unter die Flüchtlinge könnten sich Extremisten mischen. Zudem sind Flüchtlinge eine heterogene Gruppe: Sie gehören Ethnien an, die bis vor Kurzem auf verschiedenen Seiten einer Front standen. Einen Nährboden für Konflikte bieten auch fremdenfeindliche Einstellungen in Europa. Nicht auszuschließen ist ebenfalls eine Radikalisierung der Gesellschaft. Die aktuelle Situation ist eine Art Prüfung für die EU. Die Zweckmäßigkeit des Schengener Raums wird bereits in Zweifel gezogen, in Frage gestellt werden europä-

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sektor. Gefangen zwischen den Polen „gut leben“ und „alle Kräfte mobilisieren“. Ein typischer Südamerika-Fall mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 60 bis 70 Prozent. Das zweite Szenario: Rückzug. Geschlossene Wirtschaft, Mobilisierung und Elfenbeinturmmentalität. Etwa das, was Marxisten als asiatische Produktionsweise bezeichneten. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei fünf bis zehn Prozent. Das dritte Szenario: Der Versuch eines eigenen Wirtschaftswunders, Russland 3.0. Das Maximum unternehmen, um den Unternehmergeist und die Energie der Mittelklasse freizusetzen. Alles tun, damit die Lebensqualität in Russland und der von Generation zu Generation wachsende Familienbesitz zum wirtschaftspolitischen Kernpunkt werden. Eine Politik des rationalen Liberalismus mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 bis 35 Prozent. Die Einschätzung gründet sich auf Hoffnung. Nach den Szenarien eins und zwei wird die Stabilität immer brüchiger. Doch eine Krise in Russland ist ein Risiko für die ganze Welt, denn das Land ist eine Atommacht. Vor uns liegen eine Suche und die stete Notwendigkeit das fertigzustellen, was in den 1990er-Jahren begonnen wurde: Der Aufbau einer offenen, sozialen Marktwirtschaft im Kreis der Industrienationen. Jakow Mirkin leitet die Abteilung für internationale Kapitalmärkte am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften.

ische Werte. Daran, dass die EU sich bewähren wird, gibt es keinen Zweifel. Doch nach der Prüfung wird die Union eine andere sein. Bei Politikern wird Ernüchterung eintreten: Sie werden erkennen, dass es Realitäten gibt, an denen man nicht vorbeikommt. Möglicherweise wird die heutige Krise die EU-Führung zum Nachdenken darüber anregen, ob sie im Verhältnis zu Russland die richtige Haltung eingenommen hatte. Und sie wird einsehen, dass Russland in vielen Fragen kein Konkurrent, sondern ein Verbündeter ist, auch bei der Krisenregulierung in Syrien und der Ukraine. Wladimir Sorin ist Vizedirektor des Instituts für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied des russischen Präsidentenrats für interethnische Beziehungen.

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Unternehmen

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

Design Immer mehr junge Unternehmer wollen Russlands Mittelschicht als Kunden gewinnen

ILIJA NODIJA

Die Revolution aus der Werkstatt

Seit einigen Jahren wachsen in Russland Dutzende kleine Betriebe, die eigene Designs umsetzen. Die Gründer wollen nicht nur Geld verdienen, sondern auch das Land verändern. Showroom des Möbelherstellers Archpole in einer alten Lampenfabrik im Osten des Moskauer Stadtzentrums.

MICHAIL BOLOTIN

Neue Designerwelle Die beiden Möbeldesigner selbst sehen sich keinesfalls als Einzelkämpfer, sondern als Teil einer neuen Strömung, die Russland erfasst hat. „Als ich 2011 angefangen habe, gab es vielleicht ein Dutzend Namen, die man kannte”, erinnert sich Ksenia Nunis, Mitbegründerin von Depstore, einem Laden für Designergegenstände im hippen Moskauer Kaufhaus Tsvetnoy. Heute gebe es bedeutend mehr Auswahl und auch Ketten zeigten Interesse, insbesondere um Logistikkosten zu senken. „Das ist ein guter Trend, denn so bleiben nur jene am Markt, die den Druck der Einzelhändler aushalten können, große Umsätze und eine eigene Produk-

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Es begann mit einer Säge in der Küche von Konstantin Lagutin und Anna Sazhinova. Die beiden jungen Architekten hatten gerade ihr Studium hinter sich und verdienten ihr Geld mit Inneneinrichtungen. Doch schnell war klar, dass niemand ihre Ideen umsetzen konnte. Die Möbelhersteller hatten alle die gleiche Antwort: zu kompliziert, zu geringe Stückzahlen. Also setzten sie sich hin und sägten, bohrten und hämmerten sich ihre eigenen Einrichtungen zusammen. Irgendwann hatten die beiden begriffen: Einzelne Aufträge bringen sie nicht weiter, eine Serienproduktion musste her. „Russland ist ein Land voller Unvollkommenheiten“, philosophiert Lagutin. „Wenn du etwas Ordentliches machen willst, dann musst du es selber machen“. Heute arbeiten sie mit einem Team aus etwa 30 Leuten in der eigenen Möbelwerkstatt Archpole. In einer ehemaligen Lampenfabrik fertigen Arbeiter Stühle, Tische und Kommoden. Seine Kunden sieht Lagutin als Menschen aus der Mittelschicht, denen ihre Umgebung wichtig sei und von denen es immer mehr in Russland gebe. Zumal seine Produkte, verglichen mit den Preisen europäischer Designermöbel, mehr als konkurrenzfähig sind.

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FÜR RBTH

Die Küchenutensilien von Fuga gibt es mittlerweile in Supermärkten.

tion benötigen“, erklärt Nunis. „Der Zeitpunkt, eine eigene Marke zu gründen, ist derzeit ideal“. Als sie ihren Laden zunächst als Onlineshop gründete, war eines der Ziele, russische Designer bekannter zu machen. Ein anderes, die Barriere zwischen westlichen und russischen Produkten verschwinden zu lassen. „Mir war klar, dass es Vorbehalte gegen Produkte ‚Made in Russia‘ gab, insbesondere aus Angst, geringe Qualität zu erhalten“, sagt die Ladenbesitzerin. Daher habe sie bewusst auch bekannte ausländische Marken als Konkurrenz zu den einheimischen im Angebot. Nur so werden sich einheimische Hersteller die Frage stellen, wie man am Ende gute Qualität zum vernünftigen Preis anbieten kann. Noch klagen Einzelhändler darüber, dass viele kleine Anbieter zwar gute Produkte herstellen, jedoch unprofessionell im Marketing sind und nicht einmal wissen, was Großhandelspreise sind. Dem Team von Fuga-Russia kann man diesen Vorwurf nicht machen. Mit seinen Küchenaccessoires aus Eichenholz hat es der kleine Hersteller bereits in die Regale der Supermarktkette Globus Gourmet geschafft. Eine der Gründerinnen, Jana Osmanowa, hatte früher in verschiedenen Branchen des mo-

dernen Moskaus gearbeitet, etwa im Investment- und PR-Bereich. Dann keimte der Wunsch nach mehr. „Ich bin hier geboren. Mir ist nicht gleichgültig, was in meinem Umfeld passiert“, erklärt die Unternehmerin. Eine der Ideen sei gewesen, die Tradition der Manufakturen, die seit der Sowjetzeit darniederliegt, wieder aufleben zu lassen. Gleichzeitig sollte die Idee Geld bringen. So startete sie die Fertigung von Schneidebrettern aus Eichenholz. Russland ist schließlich reich an Holz und die Anfangsinvestitionen hielten sich in Grenzen. „Wie die meisten Gründer hatten wir das Problem, dass es keine Industrie gibt, die unsere Ideen umsetzen will. Gleichzeitig wollten wir keine lieblose Massenfertigung in China“, erklärt Osmanowa. Also baute Fuga eine eigene Werkstatt auf. Heute besteht das Team aus 15 Leuten. „Es war eine bewusste Entscheidung, in Russland zu produzieren. Auch wenn es schwieriger ist“. Das Geschäft gibt Osmanowa recht. Nach einem halben Jahr schreibt das Unter neh men schwarze Zahlen.

Hobby zum Beruf Die meisten Hersteller der neuen Welle waren anfangs weit weniger

Die meisten Designprodukte werden in Handarbeit gefertigt.

professionell und gewinnorientiert. In einer ehemaligen Schuhfabrik am Rande des Stadtzentrums von Sankt Petersburg hat Wladimir Grigoriev drei wohnzimmergroße Räume gemietet und lässt dort die verloren geglaubte Produktion wieder auferstehen. Seit 2009 gibt es seine Marke Afour. Doch angefangen hatte alles mit dem Wunsch, ein paar originelle Modelle für sich anzufertigen. „Die Mutter eines Freundes arbeitete als Schuhdesignerin, sie half bei der Umsetzung“, erinnert sich Grigoriev. Daraus ergab sich die Idee, eigene Modelle anzubieten, deren Farbe sich nach den Wü n schen der Ku nden richtet. Er engagierte einen Schuhmacher, der einmal pro Woche in die Werkstatt kam und Grigorievs Entwürfe umsetzte. Nebenbei verdiente Grigoriev auch Geld als Grafikdesigner. Die ersten Kunden waren vor allem Freunde und deren Freunde. Später kamen soziale Netzwerke und ein Onlineshop dazu. Dort können Kunden auch ihre eigenen Designs zusammenstellen. Heute fertigt Afour täglich etwa 20 Paar Schuhe. Bordeauxfarbene Brogues, braune Deserts oder gelbschwarze Winterstiefel. Die meisten russischen Hersteller dagegen beschränken sich auf schwarze Ein-

heitsmodelle. „Einige unserer Käufer glauben, wir würden unsere Schuhe aus England importieren“, lacht Andrei, der bei Afour für die Bestellungen zuständig ist. Um sicherzugehen, werden einige Modelle jetzt mit einem winzigen Russlandfähnchen versehen. „Wir sind zwar stolz darauf, dass wir vor Ort produzieren, ein zusätzliches Verkaufsargument ist das noch nicht“, erklärt Andrei. Trotzdem bleibt er zuversichtlich. Jedes Jahr habe Afour seine Produtkionszahlen verdoppelt. „Irgendwann werden wir auch unsere Rohstoffe in Russland einkaufen“, hofft Andrei. Derzeit beziehe man fast alles aus Resten europäischer Hersteller. Eine Vision ist es, die auch die Gründer von Archpole in Moskau antreibt. Das Geschäftsjahr lief so gut, dass sich die Architekten einen alten Bauernhof gekauft haben. Dort soll die Produktion aus Moskau hinwandern und auch die Inspiration für neue Desings herkommen. „Wenn wir etwas bewegen wollen, brauchen wir eine große Produktion mit zehntausend Angestellten, statt ein paar Dutzend“, träumt Lagutin. Dann würden die LKW, die Güter nach Russland bringen, auch vollbeladen wieder zurückfahren, ist sich der Möbelmacher sicher. Er jedenfalls plane langfristig.


Tourismusmarkt

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Reisen Russen entdecken ihre Heimat neu

Sotschi statt Côte d‘Azur dies alles nur wenig zu nützen, Marktakteure zeigen sich pessimistisch: „Zwar halten sich die Zahlen meiner russischen Gäste stabil. Aber so wie früher ist es schon lange nicht mehr. Meine Freunde, die Restaurants und Geschäfte betreiben, sagen das auch. Nach allem, was ich von der italienischen Regierung gehört habe, sind es heute fast 80 Prozent weniger Russen als vorher“, sagt der toskanische Hotelier Byron Salvatore Madonna.

Russen machen immer häufiger Urlaub in der Heimat. Im ersten Halbjahr 2015 buchten gerade einmal 5,4 Millionen Russen einen Urlaub im Ausland. Das ist ein Rückgang um 34 Prozent. BRYAN MACDONALD FÜR RBTH

Historischer Tiefststand

SERGEJ FADEJETCHEW / TASS

Eigentlich gehörten sie schon längst zum Bild der europäischen Urlaubsregionen. Jedes Jahr kamen immer mehr russische Touristen. Während des Wirtschaftsbooms der letzten anderthalb Jahrzehnte wuchsen die Zahlen im zweistelligen Bereich. London und die Côte d´Azur etwa standen bei der russischen Elite hoch im Kurs. Die erschwinglicheren Urlaubsregionen in Spanien und der Türkei waren auf der Beliebtheitsskala der Mittelschicht ganz oben. Sogar nach der globalen Wirtschaftskrise 2009 fing die Welle reiselustiger Russen den Rückgang des Binnentourismus in Europa auf. Cannes war lange Zeit eine Spielwiese für Hollywoodstars und den Adel. In der letzten Dekade aber sorgten eher die Moskauer Neureichen für Gesprächsstoff. Im laufenden Jahr wandelte sich die Situation: Die Einheimischen erklären unisono, dass die Zahl russischer Besucher dramatisch eingebrochen ist. Natürlich sind Cayennes und Land Cruiser mit Moskauer oder Petersburger Kennzeichen im Straßenbild nach wie vor präsent. Doch es werden weniger.

Sotschi macht europäischen Urlaubsorten in der Krise zunehmend Konkurrenz.

ZAHLEN

34 Prozent weniger Urlaubsreisen ins Ausland wurden in den ersten sechs Monaten des Jahres von russischen Touristen gebucht.

Ein weiteres wichtiges Barometer in Cannes sind die russischen Geschäfte, deren Kunden fast ausschließlich die Touristen aus dem Osten sind. Der russische Laden im Californie-Viertel ist so authentisch, dass er ohne Weiteres auch ein „Magasin“ im südrussischen Krasnodar sein könnte. Marcel, der Besitzer, gibt zu: Das Geschäft ist am Boden. „Die Besucherzahlen sind in diesem Jahr enorm gefallen. Ich würde schätzen, so um 30 Prozent. Gut, dass viele Russen ständig in Cannes leben und unseren Service brauchen“, sagt er. Wo seine fehlenden Kunden hingegangen sind, ist für den Ladenbesitzer kein Geheimnis. „Sotschi. Größtenteils sind sie dort“, sagt der Geschäftsmann. „Vielleicht ziehen wir ja dorthin und machen einen französischen Laden auf“, scherzt seine Frau Tanja. Der wohlsituierte Süden Frankreichs ist nicht der alleinige Leidtragende: Reisen aus Russland in

4 Diesen Platz belegt Deutschland im Rating der beliebtesten Reiseziele russischer Touristen im ersten Halbjahr des laufenden Jahres.

337 Euro geben russische Touristen im Durchschnitt in Deutschland pro Einkauf aus. Damit befinden sie sich auf Platz zwei hinter den Chinesen.

Erschwerte Visaregeln des Schengen-Raums halten Russen zusätzlich von Reisen nach Europa ab.

CO N V E R T I N G M O N O LO G U E S I N TO D I A LO G U E

AN ANALYTICAL PUBLICATION THAT FOCUSES EXCLUSIVELY ON THE COMPLEX CHALLENGES AND OPPORTUNITIES SHAPING THE U.S.-RUSSIA RELATIONSHIP

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Probe aufs Exempel

Die Türkei gilt Russen trotz Krise als eines der beliebtesten Reiseziele.

die Türkei gingen von zwei auf 1,4 Millionen zurück, Trips nach Deutschland ließen um 30 Prozent nach und Urlaub in Griechenland fiel ins Wasser, mit einem Schwund von 54 Prozent. Selbst das preisgünstige Bulgarien musste Besuchereinbußen hinnehmen: 36 Prozent.

Urlaubsländer auf Ideensuche Auch Spanien hatte mit jährlich sinkenden Zahlen russischer Touristen zu kämpfen. Der Rückgang: satte 41 Prozent. Das seit Jahren leidgeplagte Ägypten ließ sich etwas einfallen, um den russischen Markt zu halten. Kairo ermöglichte Reiseveranstaltern aus Russland ihre Dienstleistungen in Rubel statt in

Dollar abzurechnen. Durch diesen weitsichtigen Schritt scheint das nordafrikanische Land die Türkei als das größte Reiseland der Russen abzulösen. Von dem Problem nicht minder betroffen ist auch Bella Italia. Die Verluste von 31 Prozent steckt das Land nicht locker weg, will sich aber aufrütteln. Die italienische Botschaft in Moskau startete eine russischsprachige Website mit dem Namen „La tua Italia“ (Dein Italien). Potentielle russische Touristen sollen sich so über Reiseziele in Italien informieren können. Spezielle Aufmerksamkeit gilt natürlich der Expo in Mailand. Billigflügen kommt eine eigene Rubrik zu. Auch Rabatte werden angeboten. Doch scheint

Die Zahlen des russischen Tourismusverbands belegen es: Solch drastische Einbußen musste die russische Reisebranche noch nie einstecken. Nicht mal 1998, während der Staatspleite. Auch nicht 2009, als die Weltwirtschaft kollabierte. Damals betrugen die Rückgänge 24 und 23 Prozent. Aufgrund restriktiver Visabestimmungen in europäischen Ländern sind Reisebüros in Russland nach wie vor gefragt. Die Do-it-yourself-Ferien im Billigfliegerformat konnten sich bislang nicht durchsetzen. Also bedroht die gegenwärtige Krise Tausende von Jobs. Doch die Reiseveranstalter stehen nicht nur vor wirtschaftlichen Problemen. Seit dem 14. September müssen alle Russen Fingerabdrücke einreichen, um ein SchengenVisum zu bekommen. Den um Kunden kämpfenden Reiseländern Europas wird das nicht gerade helfen. Zudem hat der Kreml seine Sicherheitsbeamten angewiesen, Reisen ins Ausland zu vermeiden. In der Rubelkrise halbierte sich für die Russen die Kaufkraft im Ausland. Wenn die westlichen Sanktionen gegen Russland andauern werden und der globale Ölpreis weiterhin schwächelt, dürfte noch viel Zeit vergehen, bis die Zahl russischer Touristen wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Derweil verzeichnen inländische Reiseziele Besucherrekorde. Wladiwostok und Sotschi empfangen mit offenen Armen die Reiselustigen, die sich vor Kurzem noch an den Stränden in Thailand oder auf Marbella zusammendrängten. Der Goldene Ring im Moskauer Umland profitiert ebenfalls von Russen, die Strandurlaub gegen Kulturreise tauschen. „Menschen fangen an, im eigenen Land zu verreisen, und finden heraus, dass es gar nicht so gruselig ist, wie sie dachten“, betont Irina Schegolkowa von der russischen Tourismusbehörde Rosturism.

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Branche

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

Luftverkehr Russische Airlines fusionieren. Passagiere zahlen drauf.

Die Geburt eines Giganten: Droht dem Markt ein Monopol?

KIRA JEGOROWA RBTH

Eine Ära ging zu Ende. Russlands erste und größte private Fluggesellschaft Transaero schlüpfte nach Zahlungsschwierigkeiten unter den Rock der staatlichen Aeroflot. Diese Elefantenhochzeit wurde für einen symbolischen Rube l a l s Ü be r n a h mepr e i s eingefädelt. Es war eine Hochzeit, die bei den meisten Experten überwiegend Skepsis hervorrief. Das Ende der Reise von Transaero, die noch in den letzten Monaten der Sowjetunion mit einem Flug von Moskau nach Tel Aviv begonnen hatte, war gleichzeitig die Geburtsstunde eines Giganten. Das gemeinsame Passagieraufkommen beträgt etwa 50 Millionen Menschen pro Jahr. „Mit Transaero verschwindet ein Marktakteur, der die Preisbildung eigenständig beeinflussen konnte“, erklärt Andrej Kramarenko, Luftfahrtexperte von der Higher School of Economics in Moskau. Die Fusion werde dazu führen, dass Aeroflot das russische Angebot an internationalen Flügen monopolisiert. Preissteigerungen sind in erster Linie bei internationalen Verbindungen zu erwarten. „Ae-

Aeroflot ist die größte Fluggesellschaft Russlands. 2014 beförderte Aeroflot 34,7 Millionen Fluggäste. Mit Transaero flogen 13,2 Millionen Passagiere. Transaero als zweitgrößte russische Airline geriet mit 120 Milliarden Rubel (rund 1,56 Milliarden Euro) bei ihren Gläubigern und Lieferanten in Zahlungsschwierigkeiten. Das Streckennetz von Aeroflot zählt 142 Zielflughäfen in 53 Staaten. Transaero bedient 200 Destinationen.

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roflot und Transaero betrieben rund 95 Prozent der Langstreckenmaschinen in Russland“, sagt Kramarenko .

Flüge nach Europa In der ersten Jahreshälfte 2015 bot Transaero die niedrigsten Preise für europäische Flüge. Das zeigt eine Untersuchung des größten russischen Ticketanbieters Aviasales. „Die Veräußerung der Fluggesellschaft könnte zu höheren Ticketpreisen auf mehreren Routen gleichzeitig, vor allem aber bei Flügen nach Barcelona, New York und Jerewan führen. Hier waren die

Mit Transaero verschwindet ein Akteur, der die Preise eigenständig beeinflussen konnte. Preise der Transaero lange Zeit unschlagbar“, sagt Janis Dzenis, Pressesprecher von Aviasales. Von der Marktmonopolisierung werden auch ausländische Anbieter betroffen sein. „Die Big Player wie Lufthansa oder British Airways werden um die Transferflüge und Verbindungen zu beliebten europäischen Städten mit Aeroflot konkurrieren können. Die meisten kleinen Airlines aber – airBaltic, Estonian Air, Air Serbia – werden sich an der Tarifpolitik der Aeroflot orientieren müssen.

© MAKSIM BLINOW / RIA NOVOSTI

Mit der Übernahme ihres größten russischen Konkurrenten erringt Aeroflot eine Monopolstellung auf internationalen Strecken. Experten und Verbraucher fürchten Preissteigerungen.

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FAKTEN ÜBER DIE AIRLINES

3 Dort, wo nur zwei Anbieter eine Route bedienen, zeigt der Wettbewerb keine Wirkung“, erläutert Kramarenko. Die Marktteilnehmer würden sich ohnehin auf die eingebrochene Nachfrage und die geringere Kaufkraft einstellen müssen, meint der Hauptgeschäftsführer des OnlineReiseveranstalters Tripsta Philipp Brinkmann. „Preisdumping, wie Transaero es betrieben hatte, wird es nicht geben. Dennoch bleiben die Preise russischer Anbieter günstiger als bei europäischen Fluggesellschaften, deren Betriebskosten in Euro abgerechnet werden und folglich schwerer au s z u g l e ic h e n s i n d“, s a g t Brinkmann. Da internationale Fluggesellschaften den russischen Markt infolge der geringeren Nachfrage verließen, könne sich das Monopol der Aeroflot nach dem Erwerb der Transaero weiter verstärken, meinen Experten. Der russische Markt für Auslandsflüge schrumpft das zweite Jahr in Folge. Nach Angaben der Luft-

verkehrsaufsichtsbehörde Rosawiazija gingen in der ersten Hälfte 2015 die Passagierzahlen auf internationalen Routen um 14,2 Prozent zurück. Nach Daten der IATA (Internationale Luftver-

Die gesamte Branche ist in der Verlustzone. Erst wenn sich der Markt stabilisiert, sei mit Newcomern zu rechnen. kehrsvereinigung) verteuerten sich internationale Flüge innerhalb der letzten neun Monate in Rubel gerechnet um 20 Prozent.

Fusionen weltweit Für die globale Luftfahrt ist ein Zusammenschluss wie zwischen Aeroflot und Transaero nicht ungewöhnlich. So fusionierte 2008 die US-amerikanische Delta mit der Northwest Airlines. Es entstand die weltgrößte Fluggesellschaft mit einem jährlichen Aufkommen von 130 Millionen Pas-

sagieren. Auch Lufthansa, die größte Fluggesellschaft Europas, wuchs durch Akquisition: Sie übernahm Aktienpakete großer europäischer Fluglinien, darunter der Swiss Air, Austrian Airlines und Germanwings. Im vergangenen Jahr beförderte diese Unternehmensgruppe rund 60 Millionen Fluggäste. „Mergers führen unweigerlich zu geringerem Wettbewerbsdruck im Inland und im Ausland. Kommen neue Akteure auf den Markt, stellt sich das Gleichgewicht wieder ein“, erklärt Oleg Panteleew, Leiter des Branchenportals Aviaport. Doch den Wettbewerb wiederherzustellen, werde nicht leicht sein. Nach Ansicht des Experten sind neue Player auf dem russischen Markt kaum zu erwarten. Die Gründe dafür sind klar: Die gesamte Branche ist im Augenblick in der Verlustzone, viele Routen sind hart umkämpft, die Rentabilität sinkt. Der Markt muss sich stabilisieren, die Airlines müssen zurück in die Gewinnzone kommen. Erst dann könnten Newcomer auftauchen.

Diese Grafik wurde erstellt mit Unterstützung des Departments für multikulturelle Politik, interregionale Zusammenarbeit und Tourismus der Stadt Moskau.

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Der längste Fahrradweg beträgt 16 km: Die Strecke vom Skulpturenpark Muzeon bis zum Park Pobedy

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Das wichtigste Fest für alle Fahrradfans: Moskauer Radparade 2015 – mehr als 20 000 Teilnehmer

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Für romantische Radtouren: Das Gelände der Moskauer Universität und die Aussichtsplattform der Sperlingsberge.


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