2015 12 hb all

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Mittwoch, 23. Dezember 2015

Deutsche Ausgabe

Die monatlichen Beilagen erscheinen in verschiedenen Sprachen in führenden internationalen Tageszeitungen: The Daily Telegraph, Le Figaro, The New York Times.

Diese bezahlte Sonderveröffentlichung wird dem HANDELSBLATT beigelegt. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines (Russland) verantwortlich. Die Handelsblatt-Redaktion ist bei der Erstellung der bezahlten Sonderveröffentlichung nicht beteiligt.

Russlands neue Normalität © ALEKSEJ MALGAWKO / RIA NOVOSTI

Vom alten Freund zum neuen Feind?

Russland und die Türkei haben über Jahre eine enge Partnerschaft aufgebaut, die nun über Nacht in Scherben liegt. Die Kosten sind für beide Seiten hoch. Dennoch besteht Hoffnung auf einen Neuanfang, wenn die Emotionen erst einmal abgekühlt sind. SEITEN 3 und 8

Russlands letzte Boombranche Deutsche Pharmariesen wie Merck oder Bayer reihen sich ein in die Liste internationaler Arzneihersteller, die ihre Produktion in Russland lokalisieren wollen. Der Staat will diesen Prozess befördern und schreckt auch vor Protektionismus nicht zurück. SEITEN 6 und 7

© RAMIL SITDIKOV / RIA NOVOSTI

Krise unterm Tannenbaum

NATALIA MIKHAYLENKO

Russland richtet sich ein in den neuen Umständen, in die das Land aufgrund fallender Ölpreise, außenpolitischer Spannungen und versäumter Strukturreformen hineingeraten ist. RBTH präsentiert in einem Rückblick das Wichtigste aus einem

schwierigen Jahr, in dem das Land nur wenige alte Herausforderungen hinter sich lassen konnte, etwa die Sanktionen des Westens. Gleichzeitig sind neue hinzugekommen, darunter Russlands Beteiligung am Konflikt in Syrien, das Zerwürf-

nis mit dem Nachbarn Türkei und neue Tiefstände beim Ölpreis, dem wichtigsten Exportgut des Landes. Das Leben in der Krise ist Russlands neue Normalität.

Beim Neujahrsfest lassen es die Russen krisenbedingt etwas ruhiger angehen und reduzieren ihre Ausgaben für das wichtigste Fest des Jahres. Manch Ausgabenpunkt bleibt jedoch unangetastet. Auch für neue Trends, wie den Einzug der Weihnachtsmärkte, bleibt noch Geld im Portemonnaie.

SEITEN 4 und 5

SEITEN 10 und 11

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Ökonomie

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

INTERVIEW SERGEJ ALEKSASCHENKO

„Hohe Ölpreise bringen nichts“ DIE MARKTWIRTSCHAFT HAT DEN KOLLAPS RUSSLANDS VERHINDERT. NUN MÜSSEN REFORMEN HER, SAGT DER STAR-ÖKONOM IM GESPRÄCH MIT RBTH. sie eine Marktwirtschaft ist. Natürlich gibt es Korruption, aber es gibt auch freie Preise und einen freien Wechselkurs. Die Kräfte des Marktes stellen über eine Anpassung der Kurse und Preise immer wieder die Balance her. Natürlich auf Kosten des Konsums und der Gesamtbevölkerung, die offenbar stoisch bereit ist, die Last zu tragen. Dass es über die vergangenen 15 Jahre keine Versuche gegeben hat, die Preise im großen Stil zu regulieren, zeigt, dass auch Präsident Putin diesen Vorteil kennt.

Vor einigen Wochen sprachen manche Wirtschaftsexperten von einem Tauwetter zwischen Russland und dem Westen. Kommt nun ein Wendepunkt in der Krise? Also ich persönlich sehe hier keine besondere Annäherung. Ja, es gibt einen Dialog in Sachen Syrien, aber das Problem liegt tiefer, und solange Russland das Minsker Abkommen in der Ukraine nicht erfüllt, werden die Sanktionen bleiben. Mal angenommen, die Sanktionen würden aufgehoben. Welche Bedeutung hätte das für die russische Wirtschaft? Meiner Meinung nach liegen die Probleme der russischen Wirtschaft nicht primär in den westlichen Sanktionen und auch nicht in den gesunkenen Ölpreisen. Bereits 2013, als der Ölpreis noch hoch war und es keine Sanktionen gab, verzeichneten wir ein Wachstum von 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Man sollte nicht alles auf die äußeren Faktoren schieben. Was die Sanktionen im Energiesektor angeht, so blieben sie praktisch ohne Wirkung, weil sie auf die Offshore-Förderung abzielen, die bei dem derzeitigen Ölpreis nicht rentabel wäre. Sollten die Finanzsanktionen fallen, könnte das die Lage kurzfristig bessern. Aber ohne mehr Investitionen wird es kein nachhaltiges Wachstum geben. PHOTOXPRESS

Noch vor einem Jahr, als der Rubel rapide an Wert verlor, warnten viele vor einem Zusammenbruch Russlands. Warum ist der Crash ausgeblieben? Die Situation vor einem Jahr glich einem perfekten Sturm, bei dem viele Faktoren wie Ölpreis, Sanktionen und eine Spitze bei der Tilgung von Auslandsschulden zusammenfielen. Das führte zu einem Absturz der Währung. Aber insgesamt sollte man die Rolle der Finanzmärkte nicht überbewerten. Es war klar, dass eine richtige Politik der Zentralbank die Situation beruhigen kann. Die apokalyptischen Prognosen kamen meist von denen, die nicht verstehen, wie das Finanzsystem funktioniert.

Geht es allen Branchen gerade gleich schlecht in Russland? Nein, es gibt eklatante Unterschiede. Für die Rüstungsbranche könnte es dank zahlreicher Staatsaufträge nicht besser laufen. Auch der Landwirtschaft geht es traditionell gut. Anfang der 2000erJahre wurde ein halbwegs funktionierendes System der Landwirtschaftssubventionen geschaffen, wodurch die Branche eigentlich jedes Jahr um zwei bis drei Prozent zulegt. Natürlich helfen hier auch die Einfuhrverbote. Die Rohstoffförderer und die Transportunternehmen konnten ebenfalls in etwa das Niveau halten, weil die physische Nachfrage nach Rohstoffen aus Russland kaum gesunken ist. Am schlechtesten geht es dagegen den konsumorientierten Branchen wie dem Handel, dem Automobil- oder auch dem Wohnungsbau.

BIOGRAFIE ALTER: 56

Natürlich hat auch geholfen, dass die Ölpreise zum Jahresanfang sich wieder ein wenig erholten. Zumal auch die Zentralbank weniger Fehler machte als 2014.

BERUF: ÖKONOM

Sergej Aleksaschenko ist für den USThinktank Brookings Institution tätig. Davor arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Moskauer Higher School of Economics. Von 1995 bis 1998 war Aleksaschenko Vize-Vorsitzender der Zentralbank in Russland.

CO N V E R T I N G M O N O LO G U E S I N TO D I A LO G U E

AN ANALYTICAL PUBLICATION THAT FOCUSES EXCLUSIVELY ON THE COMPLEX CHALLENGES AND OPPORTUNITIES SHAPING THE U.S.-RUSSIA RELATIONSHIP

Wie hat sich die russische Wirtschaft in dem gesamten Jahr Ihrer Meinung nach geschlagen? Man kann nicht sagen, dass die Lage katastrophal ist. Verglichen mit der Krise im Jahr 2009 stehen wir viel besser da. Das Jahr hat zudem gezeigt, dass die russische Wirtschaft relativ stabil ist, weil

Sie hatten bereits das Thema Investitionen angesprochen. In diesem Jahr landete Russland im Doing-Business-Rating auf Platz 51, während es vor fünf Jahren noch Platz 120 einnahm. Waren die Reformen so erfolgreich? Natürlich gab es Reformen und Fortschritte etwa bei der elektronischen Steuererklärung oder der Beschleunigung bürokratischer Prozeduren. Aber solche Ratings messen meist nur die technischen Parameter, wie schnell und für wie viel Geld ich eine bürokratische Dienstleistung bekomme. Dabei wird die Qualität der Institutionen außer Acht gelassen. Nur weil ein russisches Gericht schneller

funktioniert als in den USA, heißt das nicht, dass die Durchsetzung von Verträgen hier besser läuft. In der einen Waagschale liegen technische Parameter und in der anderen das Risiko, als Unternehmer sein Eigentum nicht schützen zu können. Für Investoren zählt das zweite mehr. Was halten Sie von dem aktuellen Krisenmanagement der russischen Regierung? Das Problem ist, dass man vor der Behandlung eine richtige Diagnose stellen muss. Und hier hapert es bereits. Die wesentlichen Probleme in Russland sind das mangelnde Investitionsklima und die unzureichende Rechtssicherheit. In der Regierung konzentriert man sich vielmehr auf äußere Faktoren, man sieht das Problem in den Sanktionen und versucht, autonom zu werden. Dabei hat kein Land es je geschafft, durch Importsubstitution zu wachsen. Auch früher war das Investitionsklima in Russland nicht unbedingt besser, es gab aber trotzdem Wachstum. In den vergangenen zehn Jahren hat es, angefangen mit dem Yukos-Verfahren, eine qualitative Verschlechterung gegeben. Eine Ökonomie ist sehr träge und hängt meistens nicht von der Entscheidung einzelner Investoren, sondern vieler Tausend Unternehmer ab. Deswegen wirken sich solche Entwicklungen nur allmählich auf die Wirtschaft aus. Könnte denn ein steigender Ölpreis Abhilfe schaffen? Die Abhängigkeit vom Öl ist natürlich groß, sollte aber auch nicht überschätzt werden. Wenn der Preis auf 100 US-Dollar steigt, wird es ohne Frage wieder besser laufen, vielleicht für ein bis zwei Jahre. Aber grundsätzlich würde das nichts ändern. Es kann nicht die Strategie der Regierung sein, grob gesagt, auf besseres Wetter zu warten. Stattdessen braucht es bessere Rahmenbedingungen und mehr Vertragssicherheit. Diese wiederum wird durch eine unabhängige Justiz sichergestellt, wozu wiederum politische Konkurrenz und eine freie Presse notwendig sind. Ohne diese Faktoren wird es schwer, sich aus dem Sumpf zu ziehen. Das Gespräch führte Michail Bolotin.

Latest report “Global Warming: Russia Comes in from the Cold” This report examines the changes happening in Russia ever since the issue of global warming was introduced on the global agenda. For Russia, which is preoccupied with its foreign policy and economic problems, climate

change issues are coming to the forefront, as warming in the country occurs at a considerably higher rate than globally on average.

RUSSIA-DIRECT.ORG/SUBSCRIBE


International

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

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Die Eiszeit zwischen Russland und der Türkei gefährdet Geschäfte in Milliardenhöhe

Verboten, verschärft, vertagt: Ein Zerwürfnis mit Folgen Der Bruch zwischen Russland und der Türkei zieht horrende wirtschaftliche Kosten nach sich. Experten schätzen den gemeinsamen Schaden auf etwa 18 Milliarden Euro.

Türkische Unternehmen Auch die Aktivitäten türkischer Firmen in Russland werden mit Sanktionen belegt, vorrangig im Bausektor. Türkische Firmen erwirtschaften in Russland einen Umsatz von rund 4,5 Milliarden Euro – überwiegend mit dem Bau von Gewerbeimmobilien. Die marktgrößten sind Enka – zugleich ein bedeutender Immobilienentwickler in Moskau –, Renaissance Construction und Ant Yapi mit einigen Towern der Moscow City im Portfolio. In türkischer Hand sind zudem Bekleidungsketten, Baustoff- und Verpackungsfabriken. Anadolu Efes, der größte Bierbrauer der Türkei, betreibt in Russland sechs Fabriken und nimmt 13 Prozent des Marktes ein. Die russischen Tochterfirmen dieser Unternehmen werden ihre Tätigkeit in Russland zwar fortsetzen, müssen aber mit Restriktionen rechnen: Baufirmen werden neue Projekte abstimmen müssen, die Quoten ihrer türkischen Mitarbeiter werden reduziert. 56 000 erhielten eine Arbeitsgenehmigung im vergangenen Jahr.

Der russisch-türkische Handel in Zahlen

KSENIA ILJINSKAJA FÜR RBTH

Tourismus

Türkische Importe Ebenso gehörten Importverbote für Lebensmittel zu den ersten Reaktionen Russlands. Betroffen sind überwiegend Zitrusfrüchte und Tomaten. Bislang war die Türkei bei diesen Waren Russlands wichtigster Lieferant. Am gesamten russischen Lebensmittelimport hatte das Land einen Anteil von vier Prozent, rund 910 Millionen Euro. Zwei Drittel davon stellten mit rund 320 Millionen Euro die Tomaten, also 43

Gemeinsames Investment

GAIA RUSSO

Gleich nach dem Abschuss des Kampfjets sprach das russische Außenministerium eine Reisewarnung für die Türkei aus, wenig später verhängte das russische Kabinett ein Verbot auf Charterflüge und auf den Verkauf von Urlaubsreisen in das Land. Zudem setzte Russland das Visafreiheitsabkommen aus. Linienflüge werden zwar nicht gestoppt, hinsichtlich der Sicherheit aber verstärkt überwacht. Bleiben die Sanktionen zudem in der Hauptsaison 2016 in Kraft, werden die Einschnitte wie für die türkische Riviera, so auch für die russischen Reiseveranstalter schmerzhaft sein. Neben Ägypten ist die Türkei das wichtigste Ziel russischer Auslandsurlauber: 3,3 Millionen Russen erholten sich dort 2014, um ein Viertel weniger waren es in diesem Jahr. Das entspricht rund einem Viertel des gesamten Absatzes russischer Reiseveranstalter. Zudem sind türkische Unternehmensgruppen direkt an großen russischen Reiseanbietern beteiligt – die OTI Holding etwa an Coral Travel, die AnexGruppe an der Moskauer Anex Tour. Auf rund 5,5 Milliarden Euro werden die Verluste auf türkischer Seite veranschlagt – in ihrer Anzahl wurden russische Urlauber nur von Deutschen übertroffen.

ZITIERT:

Maja Lomidse

Sergei Gipsch

GESCHÄFTSFÜHRENDE DIREKTORIN DES VERBANDS

SENIOR-PARTNER BEI DER IMMOBILIENGESELL-

RUSSISCHER REISEVERANSTALTER

SCHAFT KNIGHT FRANK

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Für russische Bauherren waren türkische Firmen wegen ihres Preisleistungsverhältnisses attraktiv. Das sind große Unternehmen, mit Beteiligungen an Riesenprojekten. Ihr Bauvolumen erreicht eine Million Quadratmeter, es geht um viele Einkaufs- und Geschäftszentren, Tausende von Menschen. Wenn diese Firmen plötzlich verschwinden, werden Fristen nicht eingehalten, was sich auf die Immobilienpreise auswirken wird.

Sollte das Verbot auf Charterflüge in die Türkei auch nach März 2016 fortbestehen, könnten die Verluste der Reiseveranstalter über 273 Millionen Euro betragen. Die meisten haben ihr Programm um Inlandsziele erweitert. Doch nur 15 bis 20 Prozent der Urlauber werden sich auf Russland umorientieren — zu wenig, um die Ausfälle Ägyptens und der Türkei mit 30 bis 40 Prozent der Kunden auszugleichen.

"

Prozent aller russischen Tomatenimporte. Im Wert von 358 Millionen Euro wurden Nüsse und Früchte eingeführt. Das russische Landwirtschaftsministerium plant die Ausfälle durch Importe aus Nordafrika und dem Nahen Osten zu ersetzen. Bei Bedarf – so heißt es von der Regierung – könne die Sanktionsliste ausgeweitet werden, entsprechende Einschränkungen auf türkische Lieferungen seien in Vorbereitung. Insgesamt beträgt der Handel über 5,45 Milliarden Euro. Fahrzeuge, Ausrüstung, Baustoffe, Textilien – für die Türkei ist Russland der sechstgrößte Exportmarkt. 2014 importierte das Land türkische Waren im Wert von rund 5,8 Milliarden Euro.

Auf Eis liegen vorerst große gemeinsame Investitionsprojekte: Russland setzte das Investitionsschutzabkommen aus, Verhandlungen über Handelserleichterungen sind abgebrochen. Nach Angaben der russischen Zentralbank betrugen russische Direktinvestitionen in die Türkei 2014 rund 4,8 Milliarden Euro. Die Türkei investierte in Russland 690 Millionen Euro. Die größten Projekte mit russischer Beteiligung: der Bau des AKW Akkuyu mit 20 Milliarden Euro, dessen Schicksal unklar bleibt, und die bereits gestoppte Turkish-Stream-Pipeline durch Gazprom mit zehn Milliarden Euro, die Übernahme der Denizbank durch die Sberbank für rund 3,2 Milliarden, die Übernahme des Mobilfunknetzbetreibers Turkcell durch die Alpha Group und die Çukurova Holding für 3,2 Milliarden Euro. Für Russland ist die Türkei mit 27,4 Kubikmetern Gas im Jahr 2014 der zweitgrößte Absatzmarkt nach Deutschland.

Die Türkei als beliebtestes Reiseziel fällt dieses Jahr wegen politischer Spannungen aus

Russlands Tourismusbranche im Dauertief Die Krise traf die Reiseveranstalter des Landes ohnehin schon hart. Nun müssen russische Touristen auch noch auf ihre TopStrandziele verzichten. ANNA KUTSCHMA RBTH

Es waren schwierige Wochen für die Tourismusbranche. Die schlechten Nachrichten folgten Schlag auf Schlag. Am 6. November verhängte der Kreml ein Flugverbot nach Ägypten. Am 13. November erschütterte Paris eine Anschlagsserie. Am 24. November wurde es russischen Reiseveranstaltern untersagt,

Urlaubsreisen in die Türkei zu verkaufen – aus Sicherheitsgründen. Lange Zeit standen Ägypten und die Türkei auf der Beliebtheitsskala ganz oben. Ein Drittel aller russischen Auslandstouristen – 17,6 Millionen – erholten sich in der Herbst-Winter-Saison in diesen Ländern. Im vergangenen Jahr kamen 3,3 Millionen Russen in die Türkei, 1,3 Millionen Menschen waren es in der ersten Hälfte dieses Jahres. Eine ähnliche Größenordnung wiesen die Reiseströme nach Ägypten auf: 2,5 Millionen Touristen 2014, eine Million im ersten Halbjahr 2015.

Die Gesamtverluste infolge des Flugverbots nach Ägypten könnten sich auf über 320 Millionen Euro belaufen, schätzt die Branche. Und jetzt das Reiseverbot in die Türkei. Der Verband russischer Reiseveranstalter (Ator) schließt weitere Millionenverluste und eine neue Pleitewelle nicht aus: Jede dritte Firma von insgesamt 1 380 könnte noch in diesem Jahr vom Markt verschwinden.

Dann ist da noch die Krise Durch die aktuelle Wirtschaftskrise war die russische Reisebranche ohnehin bereits stark gebeutelt.

Wegen der Rubelabwertung ging der Reiseverkehr seit Jahresbeginn um 40 Prozent zurück. Im ersten Halbjahr 2015 verlor Spanien 43 Prozent an russischen Touristen, Italien 34, Frankreich 30 und Israel 29 Prozent. „Silvester und Weihnachten werden die meisten Russen wohl zu Hause verbringen. Oder sie verreisen innerhalb Russlands“, meint Pawel Salas, Hauptgeschäftsführer der Tradingplattform Etoro. Der Rückgang beim Auslandstourismus sei durch kräftige Zuwächse bei Inlandsreisen größtenteils kompensiert worden. Um 30 Prozent habe die Anzahl an

Binnenurlaubern zugenommen. Doch die Sperrung der Türkei und Ägyptens wird die Branche nicht wegstecken können. „Um zehn bis 15 Prozent könnten die Preise aufgrund gestiegener Nachfrage nach inländischen Reisezielen anziehen“, schätzt Salas. In dieser Situation profitieren die Länder Südostasiens am meisten. „Die Zahl verkaufter Tickets nach Thailand, Sri Lanka, Indien und Vietnam nimmt zu“, heißt es beim Anbieter Andgo.travel. Im Kampf um den russischen Touristen mischt auch Israel kräftig mit: Das Ministerium für Fremdenverkehr des Landes will Charterflüge aus Russland mit bis zu 45 Euro pro Passagier subventionieren – ganze 21 Prozent des Flugpreises.


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Thema des Monats

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JAHRESRÜCKBLICK EIN SCHWIERIGES JAHR GEHT FÜR RUSSLAND UND SEINE KRISELNDE WIRTSCHAFT ZU ENDE. RBTH PRÄSENTIERT EINE AUSWAHL DER WICHTIGSTEN UND INTERESSANTESTEN EREIGNISSE DER VERGANGENEN ZWÖLF MONATE IN EINEM ÜBERBLICK.

GAS, PLEITEN UND EIN DEAL VERNICHTETE LEBENSMITTEL Im August dieses Jahres ordnete Präsident Putin die Vernichtung von in Russland sanktionierten Lebensmitteln an. Waren, die trotz des russischen Embargos ins Land gelangten, wurden daraufhin auf Deponien vergraben oder verbrannt. Begründet wurde dies unter anderem mit der Sorge um die Gesundheit der Verbraucher, weil die Güter keine notwendigen Zertifikate hätten. Das Vorgehen der Behörden rief Proteste in der Bevölkerung hervor: 250 000 Menschen forderten in einer Petition den Stopp der Entsorgung. Doch die Verordnung ist weiterhin in Kraft. Bis Ende November wurden insgesamt 787,4 Tonnen Lebensmittel vernichtet. Die verantwortliche Landwirtschaftsaufsichtsbehörde hält das Vorgehen für die effektivste Methode im Kampf gegen den Schmuggel. In einigen Regionen gingen die Einfuhrversuche illegaler Ware um bis zu 80 Prozent zurück. KOMMERSANT

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AIRLINES KÜRZEN FLUGVERBINDUNGEN

© IGOR ZAREMBO / RIA NOVOSTI

Einst waren die Billigflüge zwischen deutschen und russischen Großstädten ein Zeichen des zusammenrückenden Europas. Die Nachfrage war riesig. Doch nun macht die Wirtschaftskrise in Russland den Airlines zu schaffen. Mitte Oktober hat Air Berlin beschlossen, Russland ganz den Rücken zu kehren und die verbliebenen Flüge nach Moskau, Sankt Petersburg und Kaliningrad einzustellen. Der letzte Air-BerlinFlug startet planmäßig am 18. Januar 2016 nach Moskau. Danach soll vorerst Schluss sein. Als Grund gab die Gesellschaft die

stark gesunkene Ticketnachfrage an. Allein in der ersten Jahreshälfte 2015 ist die Anzahl der Auslandsreisen von Russen um etwa ein Viertel zurückgegangen. Deutschland gehörte neben Urlaubsländern wie die Türkei und Ägypten zu den beliebtesten Zielen. Auch die Billigtochter der Lufthansa, Germanwings, hat ihre Verbindungen zwischen Düsseldorf und Sankt Petersburg sowie zwischen Köln und Moskau gestrichen.

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GAZPROM, BASF UND DER MEGADEAL

stellen und etwa 200 der 1 300 Mitarbeiter in Russland zu entlassen. Von der Kündigungswelle waren fast alle Analysten der Bank in Russland betroffen. Im Oktober wurde zudem bekannt, dass USBehörden auch wegen des Verdachts auf Geschäfte mit Kunden ermitteln, die im Zuge der KrimKrise mit Sanktionen belegt worden sind. Der Bank droht nun eine Strafe in Milliardenhöhe.

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Zusammenarbeit zwischen Gazprom und BASF

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DEUTSCHE BANK STREICHT SPARTE Ein schwieriges Jahr geht auch für die Deutsche Bank in Russland zu Ende. Im Mai wurde der Verdacht auf Geldwäsche im Auftrag von Kunden der Moskauer Niederlassung öffentlich. Zunächst beurlaubte die Bank mehrere Händler, die intransparente Währungsgeschäfte abgewickelt hatten. Dabei soll es Berichten zufolge um Summen in Höhe von insgesamt sechs Milliarden US-Dollar gegangen sein. Im September gab die Bank schließlich bekannt, ihr Investmentgeschäft in Russland einzu-

25 Jahre

Dann war der Deal plötzlich doch perfekt. Vergangenen Dezember hatten der Chemiekonzern BASF und der Energieriese Gazprom einen geplanten Asset-Tausch auf Eis gelegt, der den Deutschen 25 Prozent an zwei Blöcken der Atschimow-Gasformation in Sibirien sichern sollte. Gazprom sollte dafür das bis dato gemeinsam betriebene Gashandels- und Speichergeschäft übernehmen sowie 50 Prozent der BASF-Tochter Wintershall Noordzee. Dabei soll auch die politische Situation eine Rolle

gespielt haben, teilte BASF damals mit. Anfang September gaben die Konzerne nun überraschend bekannt, dass der Mammuttausch doch vollzogen wird. Über die Tochter Wintershall ist der Konzern bereits an einem Ölfeld und zwei Gasfeldern in Russland beteiligt. In den kommenden Jahren will BASF nach eigenen Angaben rund zwei Milliarden Euro in Projekte mit Gazprom investieren. Lesen Sie mehr auf › de.rbth.com/deutschland_und_russland


Thema des Monats

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GAZPROM PLANT NEUES PROJEKT gefasst, die Türkei hingegen war nur an einem Strang für die eigene Versorgung interessiert. Deshalb trieb Russland die Suche nach weiteren Optionen voran und einigte sich mit einer Reihe von Partnern, darunter der BASFTochter Wintershall, auf den Ausbau der Ostsee-Pipeline Nord Stream. Seit dem Abschuss einer russischen Su-24 durch die türkische Luftwaffe in Syrien Ende 2015 liegt auch das „Turkish Stream“ getaufte Projekt faktisch auf Eis.

Ende 2014 kippte Russland den Bau der geplanten South-StreamPipeline. Der Plan bestand darin, eine Leitung über den Grund des Schwarzen Meeres nach Bulgarien zu führen und so russisches Gas an der Ukraine vorbei nach Europa zu leiten. Dies stieß auf Widerstand in Brüssel, sodass Bulgarien schließlich aus dem Projekt ausstieg. Als Alternative brachte Russland im Januar 2015 eine Pipeline durch die Türkei ins Gespräch. Doch schon im Frühjahr kamen die Verhandlungen ins Stocken. Mit dem neuen PipelineProjekt hatte Russland vor allem den Transit nach Europa ins Auge

Die Geschäftsbeziehungen zwischen Russland und der Ukraine gingen 2015 vollends in die Brüche: Zwischen den beiden Ländern gibt es keinen Flugverkehr mehr, Gaslieferungen sind gestoppt, beide Seiten bereiten die Einführung gegenseitiger Lebensmittelembargos vor. Dabei gingen nach Angaben des russischen Landwirtschaftsministeriums die Agrarimporte aus der Ukraine bis Oktober ohnehin um fast drei Viertel zurück – von 877 Millionen Euro auf rund 244 Millionen. Russland exportierte 20,6 Prozent weniger Agrarerzeugnisse in das benachbarte Land – diesjähriges Ausfuhrvolumen: 373,5 Millionen Euro. Die Direktflüge zwischen den Nachbarstaaten wurden auf Initiative der Ukraine eingestellt. Zunächst waren nur russische Airlines von einem Verbot betroffen, die die Krim anfliegen. Weil Russland jedoch seinerseits ukrainischen Airlines Russlandflüge untersagte, steht der Flugbetrieb zwischen den beiden Ländern seit dem 25. Oktober komplett still. Auch Gas fließt seit Ende November nicht mehr in die Ukraine. Dabei ist das Land vor allem in der Wintersaison dringend auf den Brennstoff angewiesen. Die Ukraine habe die bezahlten Gasmengen bereits abgenommen, neue Zahlungen seien jedoch

Als russische Exporteure wegen der massiven Rubelabwertung Ende 2014 ihre Währungseinnahmen zurückhielten, zu Steuerabführungen derweil verstärkt Kredite in der Landeswährung aufnahmen, reagierte die russische Zentralbank drastisch. Mit einem Leitzins von 17 Prozent bremsten die Währungshüter die Kreditvergabe in Russland und verhalfen dem Rubel zu einer Stabilisierung. Gleichzeitig verabschiedete sich die Zentralbank von Währungsinterventionen, um Spekulationen gegen den Rubel zu beenden. Die Situation besserte sich, doch durch den hohen Leitzins wurden gleichzeitig auch Kredite teurer, weshalb der Industrie Mittel für Investitionen fehlten. Über das Jahr verteilt lockerte die Zentralbank ihre Geldpolitik schrittweise wieder. Der Leitzins liegt derzeit bei elf Prozent. Lesen Sie mehr auf › de.rbth.com/tag/rubel

55 Mrd. Kubikmeter jährlich Geplante Leistung der NordStream-2-Pipeline

EPA/VOSTOCK-PHOTO

LEITZINS AUF VERLORENE HANDELSBEZIEHUNG ACHTERBAHNFAHRT

nicht eingegangen, hieß es vonseiten des russischen Konzerns Gazprom. Daraufhin kündigte der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk an, auf den Einkauf von Gas aus Russland gänzlich zu verzichten. Die Ukraine kauft zunehmend russisches Gas aus Europa zurück. Weitere Sanktionen gegen die Ukraine könnten ab 1. Januar 2016 in Kraft treten. Dann wird der wirtschaftliche Teil des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU rechtskräftig. Moskau plant ein Verbot von Lebensmitteleinfuhren nach Russland. Lesen Sie mehr auf › de.rbth.com/tag/ukraine-krise

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aufgestellt wurde – mit massiven Einschnitten und einem Defi zit von drei Prozent. Um moderate 0,8 Prozent sollen lediglich die Militärausgaben steigen. Lesen Sie mehr auf › de.rbth.com/tag/öl und gas

Trotz der Eingliederung der Krim ins russische Staatsgebiet im Frühjahr 2014 hingen ihre wichtigsten Versorgungssysteme weiterhin von der Ukraine ab. So kam es auf der Halbinsel am 20. November zum Blackout, als Unbekannte eine Hochspannungsleitung sprengten, die die Versorgung der Krim sicherstellte. Über eine Million Men-

schen hatten keinen Strom. Planungen zufolge soll die Notlage bis Ende dieses Dezembers behoben werden. Dann wird eine Strombrücke bis zur Krim fertiggestellt sein. Anfang des Monats ging der erste Strang in Betrieb. Und auch die Ukraine konnte die Versorgung zum Teil wiederaufnehmen, wodurch sich die Situation auf der Halbinsel entspannte. Lesen Sie mehr auf › de.rbth.com/krim

BRICS-ORGANISATION GESTÄRKT

15,8 Bio. US-Dollar Gesamtes BIP der BricsLänder

Im russischen Ufa fanden im Juli 2015 gleich zwei Großereignisse statt: der Gipfel der informellen Schwellenländervereinigung Brics (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und der Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Der Brics-Gipfel bedeutete ein weiterer Schritt zur Umwandlung der Vereinigung in eine vollwertige Organisation. Dafür stehen laut Experten die faktische Einführung von Finanzmechanismen wie der Brics-Entwicklungsbank und eines Pools von

Währungsreserven. Zur Freude Moskaus, denn Russland ist wegen der Sanktionen von den internationalen Kapitalmärkten ausgeschlossen. Damit treiben die Länder ihre Pläne für Alternativen zum Internationalen Währungsfonds und der Weltbank voran. Die Finanzierung erster Projekte der mit 100 Milliarden US-Dollar ausgestatteten Brics-Bank soll bereits Anfang 2016 anlaufen. Lesen Sie mehr auf › de.rbth.com/brics

© ILIA PITALEV / RIA NOVOSTI

Im Oktober meldete die Fluggesellschaft Transaero Insolvenz an. Damit ging die Geschichte der zweitgrößten russischen Airline zu Ende, deren Gründung in den Neunzigerjahren die Ära einer echten Konkurrenz in der russischen Passagierluftfahrt eingeläutet hatte. Die Ursache für den Crash war eine riskante Wachstumsstrategie, die bei reger Kreditfinanzierung und Preisdumping auf steigende Passagierzahlen setzte. Mit fallendem Passagieraufkommen in der Wirtschaftskrise wurde das Unternehmen auch für die Gläubiger zunehmend untragbar. Bei Insolvenzanmeldung betrugen Transaeros Verbindlichkeiten umgerechnet 3,7 Milliarden Euro. Dass ein derart großer Fisch vom Markt geht, wird sich zwangsläufig in höheren Ticketpreisen niederschlagen.

DIE KRIM: LICHT AM ENDE DES TUNNELS REUTERS

REUTERS

ZWEITGRÖSSTE AIRLINE BANKROTT

Aufgrund starker Ölpreis-Volatilität ist die russische Regierung vom herkömmlichen Dreijahresbudget auf die einjährige Haushaltsplanung umgestiegen. Ende August haben die Ölpreise an den Weltbörsen – daran ist die Preisentwicklung der russischen Export-Ölsorte Urals gekoppelt – ihr Sechsjahres-Minimum erneuert. Die Rohstoffsorte Brent kostete 42,51 US-Dollar je Barrel, ein Fass WTI war nur noch 37,75 Dollar wert. Anfang Dezember stürzte die Brent-Sorte sogar unter 39 Dollar. Für das russische Finanzministerium ist ein Preisverfall von zehn bis 20 Dollar entscheidend, denn der Haushalt des Landes besteht zu 50 Prozent aus den Öl- und Gaseinnahmen. Kein Wunder also, dass der Haushalt für lediglich ein Jahr im Voraus

REUTERS

HAUSHALT OHNE PERSPEKTIVE


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Branche

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

Protektionismus sorgt für steigende Investitionen internationaler Medikamentenhersteller

Pharmakonzerne schlagen Wurzeln in Russland

Branchenriesen Bayer in Russland. Eine signifikante Veränderung der Nachfrage nach Medikamenten habe es nicht gegeben. Tatsächlich scheint die Pharmabranche stabiler zu sein als der Rest der russischen Wirtschaft. So erwartet der Branchendienst DSM 2015 ein Umsatzplus bei Medikamenten von etwa zwölf Prozent, in Rubel gerechnet. Zwar ist das Plus allein der hohen Inflation geschuldet, die derzeit um die 16 Prozent schwankt. Gemessen am Einzelhandel, dessen Umsatz nominell nur um sechs Prozent zulegte, kann sich der Medikamentenverkauf aber durchaus sehen lassen.

Experten zweifeln

ZAHLEN

5,2

Millionen Packungen an Medikamenten wurden in Russland im vergangenen Jahr verkauft oder in Krankenhäusern an Patienten ausgegeben.

130

Euro jährlich gibt jeder Russe im Durchschnitt für Medikamente aus. In Deutschland sind es 450 Euro. © RAMIL SITDIKOV / RIA NOVOSTI

70%

Der Medikamente in Russland sind importiert oder auf Basis importierter Substanzen hergestellt.

Lokalisierung ist der Schlüssel für die russische Pharmabranche, denn der Staat hat ambitionierte Ziele gesetzt. Die internationalen Konzerne folgen und investieren — trotz der Krise.

Umsatz der Pharmabranche

MICHAIL BOLOTIN FÜR RBTH

Auf das Wort „Krise“ reagiert Jürgen König mit einem Lächeln. In Moskau, wo die Flaute in fast allen Chefetagen zu spüren ist, gehört der Russland-Chef des Pharmakonzerns Merck zu jenen, die unentwegt Optimismus verbreiten: „Während andere weinen, arbeiten wir.“ Tatsächlich herrscht bei Merck derzeit Aufbruchstimmung. Wöchentlich begrüßt der Niederlassungsleiter neue Mitarbeiter im schicken Bürogebäude am Moskauer Gartenring. Seit der deutschstämmige Brasilianer vor zwei Jahren die Führung in Moskau übernahm, hat sich die Mitarbeiterzahl auf etwa 250 verdoppelt und soll schon bald die Marke von 300 Mitarbeitern erreichen. „Wir haben in Russland einiges versäumt und müssen nun schneller wachsen“, erklärt König. Vor zwei Jahren habe der Konzern eine neue Russland-Strategie beschlossen, zu der nicht nur eine Reorganisation des RusslandGeschäfts gehörte, sondern auch eine stärkere Lokalisierung. „Natürlich gibt es eine Krise in Russland, aber unser Unternehmen plant langfristig“, sagt der Manager, der überzeugt ist: Realistisch betrachtet habe die GUS-Region noch immer beste Entwicklungsperspektiven. Dabei ist die Geschichte von Merck keineswegs ein Einzelfall in Russland. In den vergangenen Jahren haben fast alle namhaften internationalen Pharmakonzerne eigene Produktionskapazitäten in

ALYONA REPKINA

Russland lockt mit „Pharma 2020“ Bereits im Jahr 2009 wurde die erste Fassung des Programms „Pharma 2020“ beschlossen. Ausgangspunkt war eine beinahe allumfassende Abhängigkeit des Landes von importierten Medikamenten. Das neue Strategiepapier setzt zum Ziel, den Anteil russischer Arzneimittel auf 50 Prozent zu erhöhen, bei lebenswichtigen Präparaten auf 90 Prozent. Präferenzen einheimischer Hersteller sowie Ausschlusskriterien für importierte Arzneien bei staatlichen Ausschreibungen sollen die Lokalisierung in Russland schmackhaft machen. Nach Angaben der Regierung produzieren bereits 72 ausländische Pharmaunternehmen in Russland. In den kommenden Jahren soll zudem der Anteil lokaler Vorprodukte im Herstellungsprozess steigen.

80 Prozent der internationalen Pharmakonzerne halten trotz Krise an ihren Russlandplänen fest.

Russland aufgebaut. Vor wenigen Monaten erst hat Novartis eine eigene Fabrik in Sankt Petersburg eröffnet, in die etwa 100 Millionen Euro investiert worden sind. Auch Berlin-Chemie startete bereits 2014 eine Produktion in Kaluga. Gleich nebenan will AstraZeneca bis 2017 etwa 200 Millionen Euro investieren. Andere Konzerne wie Stada sind schon seit 2006 mit dem Werk der Tochtergesellschaft Hemofarm vertreten. Wer keine eigene Fabrik besitzt, arbeitet mit russischen Produktionspartern zusammen. Laut einer Umfrage des Beratungsunternehmens Ernst & Young wollen trotz Krise und Sanktionen 80 Prozent der Konzerne an ihren Russland-Plänen festhalten.

Forcierte Lokalisierung Das Interesse an der russischen Pharmabranche, so sagen Insider einstimmig, lässt sich einfach erklären. Schon seit 2009, lange bevor das Wort Importsubstitution zur Mode wurde, setzte die Regierung auf Lokalisierung im Medikamentenbereich. Die Ziele, formuliert im Regierungsprogramm „Pharma 2020“, sehen vor, dass der

Auch im Krisenjahr 2015 wuchs der Umsatz der Pharmabranche, in Rubel gerechnet, um zwölf Prozent. Nach Umrechnung in US-Dollar bleibt wegen der Rubelschwäche aber ein Minus von etwa 18 Prozent.

Marktanteil von in Russland hergestellten Medikamenten bis 2020 auf 50 Prozent steigen soll. Bei lebenswichtigen Präparaten gibt die Regierung sogar die Messlatte von 90 Prozent vor. Damit diese Werte kein Wunschtraum der Politik bleiben, sollen Importpräparate von staatlichen Ausschreibungen ausgeschlossen werden. Seit 2013 be-

Wer im russischen Pharmamarkt erfolgreich sein will, kommt derzeit an einer Lokalisierung nicht vorbei. kommen einheimische Präparate auch dann den Zuschlag, wenn ihr Preis bis zu 15 Prozent höher ist als der der ausländischen Konkurrenz. Doch es ist nicht nur der Protektionismus, der die internationalen Konzerne nach Russland treibt. „Verglichen mit anderen Wirtschaftsbereichen wurde die pharmazeutische Industrie nicht so stark vom negativen Wirtschaftstrend erfasst“, sagt Niels Hessmann, Niederlassungsleiter des

Dennoch, die wichtige Rolle des Staates will Bayer-Chef Hessmann nicht abstreiten. „Importsubstitution und Lokalisierung sind seit 2014 die neuen Trends in der Wirtschaft und werden für die kommenden Jahre wichtig bleiben“, erklärt der Manager. Das jüngste Expansionsprogramm von Bayer erfolgte im Einklang mit dem Pharma-2020-Programm, auch wenn es nicht der einzige Grund gewesen sei. Das Unternehmen hat bereits zwei Kooperationsvereinbarungen mit den russischen Unternehmen Polysan und Medsintez unterschrieben. Im laufenden Jahr haben Bayer und Polysan die Produktion des Antibiotikum Avelox aufgenommen. Derweil zweifeln Experten am tatsächlichen Erfolg des Regierungsprogramms. Wesentlicher Kritikpunkt ist, dass die Lokalisierung ausländischer Produkte sich hauptsächlich auf Verpackung und Qualitätskontrolle beschränkt. Zwar ist die Produktion pharmazeutischer Erzeugnisse im ersten Halbjahr 2015 um 10,7 Prozent gestiegen. „Gleichzeitig stieg aber auch zumindest mengenmäßig der Import pharmazeutischer Erzeugnisse um drei Prozent, während der Geldwert in US-Dollar um 32 Prozent unter dem Vorjahreszeitraum lag“, analysiert Elena Balaschowa, Wirtschaftswissenschaftlerin an der renommierten Moskauer Higher School of Economics. Diese Differenz weise darauf hin, dass Hersteller zunehmend Vorprodukte importierten. Merck-Chef König will keine vorschnelle Kritik an der Lokalisierungsstrategie üben. „Wir halten uns ganz klar an die Spielregeln des Marktes. Lokalisierung ist dennoch ein langsamer Prozess, der auch einen Technologietransfer erfordert“, sagt der Manager. Merck kooperiert ebenfalls mit russischen Herstellern. „Durch solche Lokalisierungsprojekte wird erst die Nachfrage nach Substanzen geschaffen, was wiederum Möglichkeiten für Investitionen bietet“, ist er überzeugt. Ohnehin sei Russland für sein Unternehmen nicht nur im Pharmabereich interessant. Erst kürzlich eröffnete der Konzern ein sogenanntes Life-Science-Labor in Russland, das Wissenschaftlern und Forschungseinrichtungen zur Verfügung steht – eine Art Beleg dafür, dass es das Unternehmen ernst meint mit seiner Russland-Strategie. Denn Pharma soll nicht der einzige Wachstumsmotor sein. Auch die russische Industrie soll neue Aufträge bringen, etwa bei der Qualitätskontrolle in der Lebensmittelbranche. „Natürlich ist die Krise jetzt da, aber sie wird auch wieder verschwinden“, sagt König.


Geschichte

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Deutsche prägten das Apothekenwesen

Aspirin für den Zaren: deutschrussische Pharmageschichte

THOMAS FASBENDER FÜR RBTH

Am Ende musste alles sehr schnell gehen. In Russland wütete gerade die Revolution des Jahres 1917, als die Familie von Wladimir Karlowitsch Ferrein, Moskaus berühmtestem Apotheker, gerade in ihrem Landhaus im Süden der Stadt bei einem Mittagessen zusammensaß. Ein Hinweis muss sie erreicht haben, denn als die Bolschewiken dort ankamen, fanden sie Reste des Essens und ungewaschenes Geschirr. Die Apothekerfamilie konnte sich glücklich schätzen, Russland noch in aller Eile verlassen zu haben. Dabei hatte die Familie fast 80 erfolgreiche Jahre hinter sich gebracht. Carl Ferrein aus Arnswalde in der Neumark war einst dem Ruf des Geldes nach Russland gefolgt. Bereits seit einem Erlass Peters des Großen am 22. Dezember 1701, der die Gründung von privaten Apotheken erlaubte, war das Apothekenwesen eng mit deutschen Einwanderern verbunden. Die erste Apotheke wurde von dem Alchimisten Johann Gottfried Gregorius eröffnet, die zweite von dem aus Polen stammenden Daniel Gurtschin. Die übrigen sechs gehörten Deutschen und Holländern. Eben die von Gurtschin gegründete Apotheke übernahm Carl Ferrein Anfang der 1830er-Jahre. Das Apothekenwesen entwickelte sich nur langsam. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in ganz Russland insgesamt nur zwölf private Apotheken. Doch immer mehr Ausländer kamen, die sich für den Beruf interessierten – vornehmlich Holländer und Deutsche, darunter ausgebildete Apotheker und Mediziner ebenso wie Schulabgänger. Ausländische Studenten konnten in Russland auf Staatskosten Apotheker werden.

Moskaus Apotheken-Boom 1828 gab es immerhin schon 423 private Apotheken, 20 Jahre später 689. Dennoch war Mitte des 19. Jahrhunderts in 170 russischen Städten immer noch keine einzige Apotheke zu fi nden. Derweil entwickelten sich in Moskau und Sankt Petersburg Dynastien deutscher Apotheker und Pharmazeuten. Ihnen gehörten die größten privaten Einrichtungen, in Moskau etwa die Apotheke Staraja Poljanskaja, die ihr Besitzer Karl Sänger seit 1839 offiziell als Moskauer Hofapotheke firmieren durfte. Den größten Erfolg hatte jedoch Carl Ferrein. Dessen Apotheke wuchs bis 1893 zur größten der Stadt heran. In jenem Jahr verlegte Ferrein junior die Betriebsräume in einen Neubau an der Nikolskaja-Straße, dessen Fassade im Stil der Neorenaissance noch heute Aufmerksamkeit weckt. Ferreins Enkel gründete 1902 die Gesellschaft V.K. Ferrein, die sich binnen weniger Jahre zu einem der größten pharmazeutischen Unternehmen nicht nur in Russland, sondern in ganz Europa entwickelte. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs beschäftigte das Unternehmen 1 600 Mitarbeiter, von denen 600 gelernte Spezialisten waren. Das Sortiment bestand aus gut 300 Produkten. Die Gesellschaft war eigentlich ein Konzern mit fünf Apotheken in Moskau, Laboratorien, einer Glasbläserwerkstatt, Kräuterplantagen bei Moskau und auf der Krim sowie einer Chemiefabrik in der Nähe von Jaroslawl. Neben pharmazeutischen Präparaten produzierte sie Seifen und Kosmetik. Berühmt waren auch

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MEILENSTEINE FÜR RUSSISCHE APOTHEKEN

SIEMENS: GLÜHBIRNEN FÜR DEN ZAREN D E . R BT H .CO M / 3 3 879

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Friedrich Bayer junior und sein Schwager Henry T. Böttinger gründeten 1898 das Moskauer Handelshaus. Wladimir Karlowitsch Ferrein (Bild unten) machte die Gesellschaft V.K. Ferrein zu einem der größten pharmazeutischen Unternehmen in Europa.

PRESSEBILD (3)

Russlands Arzneiwesen ist eng verknüpft mit deutschen Namen, die noch heute ein Begriff sind. Die Oktoberrevolution zerstörte nicht nur die Branche, sondern auch Familiengeschichten.

ihre Getränke-Mixturen wie „Coca auf Portwein“ oder „Cola in Sherry“.

Profit und Schicksal Die relativ geringe Konkurrenz auf dem russischen Markt zog weitere Investoren an, darunter Na-

1701 veranlasste Zar Peter der Große die Gründung von acht privaten Apotheken. Inspiriert hatten ihn dabei die Apotheken, die er auf seiner Europareise 1697/98 in deutschen Fürstentümern gesehen hatte.

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men, die noch heute in aller Munde sind. 1893 übernahm der Deutsche Henry Theodore Böttinger, Schwiegersohn des Bayer-Gründers Friedrich Bayer, eine Fertigung von Anilin- und Alizarinfarben in Moskau. 1898 gründete er gemeinsam mit Friedrich Bayer

Die ersten acht Apotheken blieben bis zur Abschaffung ihres Monopols 1784 die einzigen privaten Arzneihändler. Im 17. Jahrhundert waren Apotheken meistens staatliche Einrichtungen und unterstanden dem Militär.

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1789 wurde in Russland die erste Apotheker-Satzung verabschiedet, die den für Russland neuen Beruf regelte. Darin wurde unter anderem eine Trennung zwischen der Arbeit eines Arztes und eines Apothekers festgehalten.

junior das Moskauer Handelshaus F. Bayer und H. Böttinger. Das Werk startete mit 160 Mitarbeitern und drei Dampfmaschinen. 14 Jahre später waren es 400 Mitarbeiter. Im Angebot waren da bereits 1 700 Farbstoffe aus lokaler oder deutscher Produktion, außerdem 750 Chemieprodukte und 20 pharmazeutische Präparate, darunter das weltbekannte Aspirin. Im Februar 1912 wurde das Unternehmen in die Aktiengesellschaft der Chemischen Fabrik Friedr. Bayer & Co, eine Tochter der 1881 in Leverkusen eingetragenen Aktiengesellschaft Farbenfabriken Friedr. Bayer & Co., umgewandelt. Zu den Moskauer Gründern gehörten Bayer junior, Böttinger und der langjährige BayerChef Carl Duisberg. Doch das Schicksalsjahr 1914 brachte die Wende für alle deutschen Unternehmer im Russischen Reich. Die nicht-russischen Gründer mussten das Unternehmen verlassen; derweil produzierten die Bayer-Fabriken in Russland Farbstoffe für Tarnuniformen und ab 1915 Sprengstoff für die Armee. Nach der Oktoberrevolution wurde das Unternehmen ein Teil des staatlichen Anilin-Trusts. Die Ferrein-Familie konnte die Kriegswirren in Russland noch überstehen und fertigte dringend benötigte Medikamente. Doch das Glück währte nicht lang. Während der antideutschen Pogrome 1915 drang ein Mob in die Apotheke ein und betrank sich mit dem Alkohol im Keller. Danach randalierte er Wohnungen und Geschäfte von Deutschen. Die Oktoberrevolution schließlich trieb die Apotheker-Dynastie aus dem Land.

RUSSISCHES BANKWESEN AUS DEUTSCHER FEDER D E . R BT H .CO M / 3 3 9 8 3


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Meinung

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HOLPRIGER START FÜR DIE EURASISCHE WIRTSCHAFTSUNION Frank Schauff EXPERTE

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DMITRIJ DIWIN

MOSKAU UND ANKARA: PARTIE UM DIE ZUKUNFT Sergej Markedonow POLITOLOGE

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er Abschuss eines russischen Kampfjets am 24. November durch die türkische Luftwaffe wird zu einer schwierigen Prüfung für die Beziehungen zwischen Moskau und Ankara. Dabei hielten Politiker und Fachleute das Verhältnis bis vor Kurzem noch für ein erfolgreiches Modell, wie aus historischen Feinden Freunde werden können. Es wäre nicht korrekt, die aktuellen Probleme als spontanes und grundloses, plötzlich aufgetretenes Ereignis zu betrachten. Bülent Araz, ein führender Türkeiexperte, charakterisierte die russischtürkischen Beziehungen einmal als Wettkampfpartnerschaft. Und tatsächlich, in vielen politischen Fragen unterscheiden sich die Meinungen von Moskau und Ankara. Ein Beispiel dafür sind die Konflikte in Bergkarabach und Georgien. Die Türkei hat sich stets zur territorialen Integrität Georgiens bekannt. Zum Statuswechsel der Krim hat sich die Türkei nicht öffentlich geäußert, doch kann durchaus von einer gewissen vorsichtigen Skepsis der Türkei in dieser Frage gesprochen werden. All die Widersprüche wurden lange Zeit aber zugunsten einer positiven und für beide Seiten fruchtbaren Entwicklung der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen ignoriert. Nun könnte man annehmen, dass der Pragmatismus auch weiterhin politische Differenzen in den Hintergrund treten lässt. Die Beziehungen Recep Tayyip Erdogans, des bedeutendsten türkischen Politikers des letzten Jahrzehnts, zu den USA und der Europäischen Union waren nie die besten. Ankara war wenig begeistert von den Verbindungen Washingtons zu kurdischen Bewegungen im Nahen Osten. Und die türkischen Bestrebungen zur EUIntegration lösten in Brüssel nicht gerade Hochgefühle aus. Eine Einigung in der Zypernfrage konnte

nicht erreicht werden. Und „die kurdische Karte“ innerhalb der Türkei provozierte Diskussionen in der EU über die Zweckmäßigkeit einer Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Die Türkei ist das einzige NatoMitglied, das zugleich den Status eines Dialogpartners der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) hat. Russland und die Türkei akzeptierten ihre vielen Unstimmigkeiten, ohne jemals die rote Linie zu überschreiten. Dass die wirtschaftlichen Kooperationen weiter ausgebaut werden sollten,

Das Verhältnis zwischen Ankara und Moskau galt als erfolgreiches Modell, wie aus Feinden Freunde wurden.

Russland und die Türkei betrachten die gegenwärtigen Entwicklungen in Syrien völlig unterschiedlich. war Konsens. Einen Beweis dafür liefert das Pipeline-Projekt „Turkish Stream“, durch das Russland seine Abhängigkeit von Europa als Hauptabnehmer verringern wollte. Doch die „Akzeptanz der Uneinigkeiten“ bröckelt nicht erst seit diesem Jahr. Den Anfang muss man in den Ereignissen 2011 suchen, als der Arabische Frühling im Nahen Osten aufkam. Während diese Bewegungen von Moskau als eine gefährliche Herausforderung wahrgenommen wurden, war es für die Türkei eine Chance, in der Region nach vielen Jahren wieder Fuß zu fassen. Vor diesem Hintergrund ist die türkische Unterstützung für den Führer der ägyptischen Muslimbrüder, Mohammed Mursi, zu

verstehen sowie die zunehmend israelkritische Haltung und die politische „Palästinophilie“ oder der Kampf gegen das Regime von Baschar al-Assad. Ankara „bewarb sich“ auf diese Weise beim Nahen Osten wie im „nahen Ausland“. Russland und die Türkei betrachten die gegenwärtigen Entwicklungen etwa in Syrien völlig unterschiedlich. Moskau sieht als größte Bedrohung für Syrien den „Islamischen Staat“ und ein drohendes Ende des Säkularstaats. Ankara befürchtet dagegen eine Stärkung von Kurden und Alawiten und die Niederlage von Gruppierungen, die an einem größeren türkischen Einfluss in der Region ein Interesse haben. So bedeutet der Abschuss des russischen Kampfjets eine Gefahr für die Beziehung der euroasiatischen Giganten. Es geht auf beiden Seiten um das Ansehen des jeweiligen Landes und um die zukünftige Verständigung. Noch sind die Emotionen groß. Das wird sich wieder ändern. Denn erstens haben sowohl Russland als auch die Türkei eine gewisse Erfahrung bei der Lösung schwerer Probleme und der Suche nach einem Weg aus scheinbar aussichtslosen Situationen. Zweitens hätte es keinen Sinn, sich gegenseitig zu schwächen. Drittens versteht die Türkei trotz ihrer Vorbehalte gegen Assad, dass eine Destabilisierung in einem Nachbarland auch auf die türkische Gesellschaft übergreifen könnte. Und auch in der Türkei gibt es radikalislamistische Strömungen, die ohnehin gegen Erdogan kämpfen würden. Sie interessiert dessen Verhältnis zu Russland nicht. Es gibt Grund für die leise Hoffnung, dass beide Seiten unter den neuen komplizierten Bedingungen einen Weg des weiteren Umgangs miteinander finden werden. Der Autor ist Dozent am Lehrstuhl für ausländische Regionalwissenschaft und Außenpolitik der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität.

ie Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) erschien uns als Vereinigung europäischer Firmen von Anfang an als vorteilhafte Idee. Die Erfahrungen der Europäischen Union zeigen, wie sinnvoll ein solcher Schritt für die Stimulierung der Wirtschaft der Länder ist. Die EAWU hilft ihren Mitgliedsländern, Zertifizierung, Zollregeln, Hygiene- und Phytosanitärnormen zu vereinheitlichen, und vereinfacht den Zugang zu den Arbeitsmärkten. Die Einführung einheitlicher Zollgesetze und technischer Regulierungsvorschriften macht die Arbeit europäischer Firmen grundsätzlich leichter. Bei der Markterschließung von Belarus oder Kasachstan wissen die Firmen, dass auch dort die für die gesamte EAWU gültige Gesetzgebung verbindlich ist. Dennoch gibt es für europäische Firmen bestimmte Risiken. Entstehen seitens der europäischen Länder aus irgendeinem Grund Handelsprobleme mit einem der EAWU-Staaten, wirken sich diese Probleme automatisch auf die anderen Unionsmitglieder aus. Seit der Unterzeichnung des Gründungsvertrags ist erst ein Jahr vergangen, sodass es verfrüht wäre, die Auswirkungen dieses wirtschaftlichen Zusammenschlusses auf die Arbeit der europäischen Firmen in Russland zu beurteilen. Die Hauptvorteile der EAWU sind die Bildung der Freihandelszone und die Schaffung einer gemeinsamen Kommunikationsplattform. Doch es hat sich klar gezeigt, dass die Erwartungen einer sehr dynamischen Entwicklung der EAWU sich nicht bewahrheitet haben. Die Union muss die Interessen verschiedener Länder und Branchen berücksichtigen, weshalb eine schnelle Einigung oft praktisch unmöglich ist. So musste wegen der unterschiedlichen Registrierungsverfahren medizinischer Produkte die Verabschiedung entsprechender technischer Regelungen bis zur Harmonisierung dieser Verfahren durch die Mitgliedsländer der Zollunion aufgeschoben werden. Und auch das einheitliche Zollgesetzbuch, das ab dem 1. Januar 2016 in K r a f t t r et e n sol lt e, w u r de verschoben. Jüngst wies selbst Wladimir Goschin, Minister für die Zollkooperation der Eurasischen Wirtschaftskommission (EAWK), darauf hin, dass die Zusammenarbeit nach Gründung der EAWU keine grundsätzlichen Veränderungen hervorgebracht habe. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Länder nicht bereit sind, alle ihre Märkte sofort zu öffnen, und die Verhandlungen über die Öffnung bestimmter Sektoren sich als sehr zähflüssig erweisen. So ist beim Lkw-Güterverkehr noch immer keine freie Warenbewegung möglich, wie Goschin bemerkte. Ein Spediteur aus Belarus oder einem anderen Unionsland braucht eine Genehmigung des russischen

Verkehrsministeriums, wenn er etwa Waren aus Deutschland in Moskau abladen will. Da die Erarbeitung und Verabschiedung der technischen Regelungen beschleunigt erfolgen, wirkt sich dies manchmal auch auf ihre Qualität aus. Experten des AEB-Zollkomitees sind als Mitglieder der Arbeitsgruppe an der Erarbeitung des EAWU-Zollgesetzbuchs beteiligt. Uns kommt es darauf an, dass die von unseren Mitgliedsfirmen gesammelten Erfahrungen in der EU berücksichtigt werden und ihre Meinung von der Eurasischen Kommission einbezogen wird.

Einem einheitlichen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok gehört die Zukunft.

Die Erwartungen einer dynamischen Entwicklung der EAWU haben sich nicht bewahrheitet. Unser Verband beteiligt sich auch bei den Diskussionen über Regelungen für die Pharmaindustrie sowie zur Verbesserung der technischen Bestimmungen für Kraftfahrzeuge und Reifen. Gegenwärtig wird in der EAWU die Idee der Legalisierung von Parallelimporten geprüft, wobei die Waren einer bestimmten Firma nicht nur von den Vertragshändlern, sondern auch von beliebigen Interessenten importiert werden dürfen. Unser Verband tritt gegen eine solche Legalisierung sowohl in Russland als auch im gesamten EAWU-Gebiet ein – das Verbot der Parallelimporte hat die Ansiedlung ausländischer Firmen im Bereich der Produktion begünstigt. Die Schaffung der Freihandelszone hat selbstverständlich dazu beigetragen, die Investitionsaussichten der EAWU zu verbessern, und hat dem Geschäft europäischer Firmen zusätzliche Vorteile gebracht. Im EAWU-Vertrag sind rechtliche Garantien für Investoren anderer Staaten festgelegt. Wir hoffen, dass die Zusammenarbeit von AEB und EAWK dazu beiträgt, die von mir genannten Probleme zu lösen. Einer erfolgreichen Zusammenarbeit von EAWU und EU, einem einheitlichen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok, gehört jedenfalls die Zukunft. (Übersetzt aus dem Russischen.) Der Autor ist Generaldirektor der Association of European Businesses (AEB) in der Russischen Föderation.


Meinung

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KOMMENTARE

WIRTSCHAFT 2016: DER KOLLAPS BLEIBT AUS

„Stabiles, aber geringes Wachstum“ Dmitrij Medwedjew

Andrej Movtschan

MINISTERPRÄSIDENT DER RUSSISCHEN FÖDERATION

ÖKONOM

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ch halte es für realistisch, wenn wir 2016 von einer Halbierung der Inflation auf etwa 6,4 Prozent ausgehen. Die pessimistischsten Prognosen zum BIP sagen ein Nullwachstum voraus, die optmistischsten etwa ein Prozent. Die Bewertungen sind unterschiedlich, aber wir haben eine Basis für ein stabiles, wenn auch sehr geringes Wachstum. Alexej Uljukajew RUSSISCHER WIRTSCHAFTSMINISTER

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DMITRIJ DIWIN

us einer tiefen, zweijährigen Krise heraus blickt Russland ins Jahr 2016. 2015 erlebte seine Wirtschaft einen beispiellosen Absturz aller Indikatoren. Und zwar in einem Ausmaß, das keine Industrienation überlebt hätte: Die Nachfrage nach Investitionsgütern fiel um das Doppelte, der Import ging um 35 Prozent zurück, Auslandsinvestitionen fielen 2014 schon auf null und erholten sich nicht. Der für das gesamte Jahr 2015 erwartete reale BIP-Rückgang von fünf Prozent geht mit einer Inflation von mindestens 16 Prozent einher. Dennoch ist Russland – entgegen allen Erwartungen westlicher Ökonomen – von einem wirtschaftlichen Kollaps weit entfernt. Das Land verfügt über Reserven, die seine Stabilität selbst bei einer jahrelangen Rezession erhalten können. Um die Entwicklung für das nächste Jahr vorauszusagen, lohnt sich ein Blick zurück. Schon vor dem Jahr 2000 wies Russlands Wirtschaft Merkmale einer Rentenökonomie auf. Vor 2008 floss dabei ein recht hoher Anteil der Petrodollars in Investitionen. Dieser fiel jedoch zu Beginn 2009 abrupt. 2012 erreichte die Kapitalflucht – angesichts enttäuschter Demokratisierungshoffnungen – ein größeres Volumen als der Überschuss der Handelsbilanz. Eine zunehmende Monopolisierung der Wirtschaft verursachte eine stabil hohe Inflation. Die Regierung löste das Problem auf einfache Weise: durch Lohnsteigerungen im aufgeblähten Staatssektor (über 38 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung) und ineffektive Ausgaben. 2013 verzeichneten die Löhne bei nahezu stagnierendem BIP zweistellige Zuwächse. Dieses Ungleichgewicht führte zu verstärktem Import und zunehmendem Handelsanteil am BIP – der mit 30 Prozent fast doppelt so hoch war wie in den USA. Der Ölpreissturz 2014 war ein Schock, der mit der laufenden Stagnation zusammenfiel. Auf den Schock reagierte der aufgeblasene Konsum. Der Einbruch des BIP geht größtenteils auf die Korrektur des Imports, der Haushalts- und Unternehmensausgaben zurück. Eben dies ermöglichte Russland einen sanften Übergang zur Stagnation. Die vernünftige Zentralbankpolitik erhielt dabei die Währungsreserven des Landes, ließ eine 50-

Russland verfügt über Reserven, die dessen Stabilität selbst bei jahrelanger Rezession erhalten können. prozentige Rubel-Abwertung zu und kurierte damit in weniger als einem Jahr Russlands andauernde „holländische Krankheit“. Anfang 2016 hat das Land die Folgen des Ölschocks überwunden. Die Währungsreserven entsprechen dem Import von zwei Jahren, mit stabiler Landeswährung und langsam weichender Inflation. Doch die Auswirkungen der Wirtschaftspolitik der letzten fünf Jahre sind geblieben: Russland ist weiterhin eine Rentenökonomie, in der zwei Prozent der Erwerbstätigen 45 Prozent des BIP generieren. Russland steckte den „Öl-Schlag“ weg und setzte seinen Kurs langjähriger Stagnation fort, auf einem niedrigeren Niveau. Hinzukommt, dass Russlands Außenpolitik einen Teil der potenziellen Investoren verschreckt. In dieser Lage wählt Moskau das einfachste Programm: keine Veränderungen. Russlands Haushalt für 2016 ist bereits vielfach diskutiert worden. Als Stagnationshaushalt, als letztes Budget, bezeichnen böse Zungen die russischen Staatsfinanzen. Die Einnahmen bewegen sich auf dem Niveau von 2006/2007,

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES (RBTH) IST EIN INTERNATIONALES MEDIENPROJEKT, DAS VON DEM VERLAG ROSSIJSKAJA GASETA FINANZIELL UNTERSTÜTZT WIRD. RBTH WIRD AUS ANZEIGENGESCHÄFTEN UND SPONSORING SOWIE ZUSCHÜSSEN VON STAATLICHEN BEHÖRDEN IN RUSSLAND FINANZIERT. DIE HANDELSBLATT-REDAKTION IST AN DER ERSTELLUNG DIESER BEZAHLTEN SONDERVERÖFFENTLICHUNG NICHT BETEILIGT. DIE REDAKTION VON RBTH IST UNABHÄNGIG UND HAT ZUM ZIEL, DEN LESERN EIN MÖGLICHST BREITES SPEKTRUM AN EXPERTENMEINUNGEN ÜBER DIE ROLLE RUSSLANDS IN DER WELT UND ZU EREIGNISSEN INNERHALB RUSSLANDS ZU BIETEN. DABEI IST DIE REDAKTION BEMÜHT, HÖCHSTEN JOURNALISTISCHEN ANSPRÜCHEN ZU GENÜGEN. SO SOLL EINE WICHTIGE LÜCKE IN DER INTERNATIONALEN MEDIENBERICHTERSTATTUNG GESCHLOSSEN WERDEN. DIE PRINTBEILAGEN VON RBTH ERSCHEINEN WELTWEIT IN 36 RENOMMIERTEN ZEITUNGEN IN 29 LÄNDERN UND IN 17 SPRACHEN. AUSSERDEM GEHÖREN ZU RBTH 21 ONLINEAUSGABEN IN 17 SPRACHEN. BEI FRAGEN UND ANREGUNGEN WENDEN SIE SICH BITTE AN: REDAKTION@RBTH.COM ROSSIJSKAJA GASETA VERLAG, UL. PRAWDY 24 STR. 4, 125993 MOSKAU, RUSSISCHE FÖDERATION, TEL. +7 495 775-3114,

bei Ausgaben auf dem Niveau von 2008. Der Haushaltsentwurf lässt keine Wachstumsimpulse erkennen. Der Rebound, samt einer sprunghaften Inflation, steht Russland noch bevor – und eine Finanzkrise aufgrund zunehmender Schwäche der Schuldner. Im Bausektor erwartet das Land einen Einbruch nach Fertigstellung alter Projekte, genauso wie Pleiten in der Reisebranche, in der Logistik und im Einzelhandel. Doch lässt man das außen vor, ist denkbar, dass Russlands BIP ohne Reformen den Stagnationskurs von 2012 bis 2014 fortsetzen und um 2,5 Prozent oder mehr zurückgehen wird. Die Besteuerungsbasis der Unternehmen fällt dabei um die seit 2012 standardmäßigen zehn bis 15 Prozent. Doch dieses Szenario berücksichtigt die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft nicht und ist daher eher ein Worst Case. Ein weiterer Aspekt ist die illusorische Verringerung der Ölabhängigkeit für den Haushalt 2016. In Brent-Barrel gemessen betrugen die Staatseinnahmen 2011 4,07 Milliarden Barrel, 2014 waren es 4,05 Milliarden, für 2015 werden 4,16 Milliarden erwartet, für 2016 werden – vom aktuellen Ölpreis und Dollarkurs ausgegangen – 4,3 Milliarden Barrel veranschlagt. Selbst diese optimistischen Prognosen ergeben eine Differenz von lediglich sieben Prozent zwischen dem geplanten Haushalt und den Budgets der letzten Jahre. Die Korrelation

zwischen den föderalen Finanzen und dem Ölpreis ist leicht zu erklären: Am Öl hängen nicht nur die direkten Steuereinnahmen, sondern auch das Importvolumen, die Einkommenssteuern der Mitarbeiter und die Gewinne der Ölproduzenten. Zweifellos wird Russlands Wirtschaft 2016 weiter schrumpfen. Und zusätzlich einige unangenehme Überraschungen erleben, wie Bankenpleiten. So steht die Führung zusehends vor einem Dilemma: entweder die Steuern für die restlichen Unternehmen und Privatpersonen erhöhen oder rigoros im Sozialbereich kürzen. Letzteres kann in eine Welle von Unzufriedenheit umschlagen. Unter diesen Umständen wird es für die Regierung immer schwerer, an den eigenen Prinzipien des freien Kapitalverkehrs und Wechselkurses sowie der rigiden Geldpolitik festzuhalten. Für 2016 reichen die Reserven jedenfalls noch. Unweigerlich wird es im Dunstkreis des Kremls zu Machtkämpfen kommen. Es gibt Einflussgruppen, die an geschlossenen Märkten und unkontrollierter Liquidität verdienen können. Andere brauchen die Globalisierung und Auslandsinvestitionen. Zweifelsohne werden wir erfahren, wer siegen wird. Nur nicht im kommenden Jahr. Der Autor ist Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik am Carnegie-Center in Moskau.

FAX +7 495 988-9213 HERAUSGEBER: JEWGENIJ ABOW, CHEFREDAKTEUR VON RBTH: WSEWOLOD PULYA RESSORTLEITER WIRTSCHAFT: ALEXEJ LOSSAN CHEFREDAKTEURIN DEUTSCHE AUSGABE: JEKATERINA IWANOWA REDAKTIONSASSISTENZ: DARJA LJUBINSKAJA COMMERCIAL DIRECTOR: JULIA GOLIKOVA ANZEIGEN: SALES@RBTH.RU ARTDIRECTOR: ANDREJ SCHIMARSKIY PRODUKTIONSLEITUNG: MILLA DOMOGATSKAJA, LAYOUT: MARIA OSCHEPKOWA LEITER BILDREDAKTION: ANDREJ SAJZEW VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT: JEKATERINA IWANOWA, ZU ERREICHEN ÜBER RBTH REPRÄSENTANZ DEUTSCHLAND C/O KAISERCOMMUNICATION GMBH, ZIMMERSTRASSE 79-80, 10117 BERLIN COPYRIGHT © FGUB ROSSIJSKAJA GASETA, 2015. ALLE RECHTE VORBEHALTEN AUFSICHTSRATSVORSITZENDER: ALEXANDER GORBENKO, GESCHÄFTSFÜHRER: PAWEL NEGOJZA, CHEFREDAKTEUR: WLADISLAW FRONIN ALLE IN RUSSIA BEYOND THE HEADLINES VERÖFFENTLICHTEN INHALTE SIND URHEBERRECHTLICH GESCHÜTZT. NACHDRUCK NUR MIT GENEHMIGUNG DER REDAKTION REDAKTIONSSCHLUSS DIESER AUSGABE: 16. DEZEMBER 2015

as Wachstum wird im kommenden Jahr bei einem Prozent liegen. Auf dem gleichen Niveau wird sich in etwa auch das Plus der industriellen Produktion befinden. Im laufenden Jahr wird das BIP um 3,7 Prozent schrumpfen, bei einer Inflation im Bereich von 12,5 Prozent. Darüber hinaus wird der Kapitalabfluss unter 70 Milliarden US-Dollar bleiben und damit geringer ausfallen, als wir erwartet haben. Elwira Nabiullina VORSITZENDE DER RUSSISCHEN ZENTRALBANK

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ie Wirtschaft wird es nächstes Jahr nicht ins Plus schaffen. Das Wachstumstempo wird bei minus einem Prozent bleiben. Allerdings gibt es auch positivere Szenarios. Die Prognosen könnten nach oben revidiert werden, sollte der Ölpreis wieder anziehen. Erst zum Jahresende wird es wieder Wachstum geben. Diese Berechnungen beruhen auf einem Ölpreis von 50 US-Dollar pro Barrel der Sorte Brent. German Gref VORSITZENDER DER SBERBANK

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m nächsten Jahr wird es wieder eine Rezession geben. Sollte sich im Hinblick auf Reformen nichts ändern, wird die Wirtschaft immer schwächer. Die Krise verlangt nach Veränderungen in allen Branchen. Jeder Tag, an dem nichts geschieht, verlängert die Krise. Vor allem das System der staatlichen Verwaltung muss reformiert werden.

SAGEN SIE UNS DIE MEINUNG: REDAKTION@RBTH.COM FÜR ALLE IN RUSSIA BEYOND THE HEADLINES VERÖFFENTLICHTEN KOMMENTARE, MEINUNGEN UND ZEICHNUNGEN SIND AUSSCHLIESSLICH IHRE AUTOREN VERANTWORTLICH. DIESE BEITRÄGE STELLEN NICHT DIE MEINUNG DER REDAKTION DAR.

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Lifestyle

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FERIENSAISON IN KRISENZEITEN DIE RUSSEN FEIERN UND SCHENKEN GERN ÜBERSCHWÄNGLICH. DOCH DIESES JAHR WERDEN VIELE IHRE AUSGABEN TROTZ DER FESTSTIMMUNG BESSER IM AUGE BEHALTEN MÜSSEN.

REUTERS

UND EIN SPARSAMES NEUES JAHR Das russische Neujahrsgeschäft steht dieses Jahr im Zeichen der Wirtschaftskrise. An vielen Stellen wird nun gespart. Ein Vergleich mit dem Vorjahr ist allerdings schwierig. SIMON SCHÜTT FÜR RBTH

Weihnachten ist das Fest der Strümpfe. In den USA werden sie an den Kamin gehängt und der Weihnachtsmann legt etwas hinein. In Deutschland liegen Socken ebenfalls oft unter dem Baum – wenn auch selten gewollt. In Russland wird zwar nicht Weihnachten, sondern etwas später Neujahr gefeiert, aber auch dieses Fest steht – zumindest in diesem Jahr – im Zeichen besonderer Strickwaren: der Sparstrümpfe. Die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen zwingen viele Russen zu einem Umdenken bei den diesjährigen Ausgaben. Die Reallöhne sind 2015 um rund 13 Prozent gesunken und die kriselnde Wirtschaft des Landes macht den Menschen zu schaffen. Rund zwei Drittel der russischen Bürger planen daher, dieses Jahr weniger für das Neujahrsfest auszugeben. Dieses Ergebnis förderte jedenfalls eine Studie der Marktforschungsagentur IRG zutage. Das durchschnittliche Budget einer russischen Familie für Neujahr liegt demnach bei 16 900 Rubel (rund 240 Euro).

Das Ergebnis stimmt weitgehend mit einer Studie der Unternehmensberatung Deloitte überein. Diese zeigt auf, dass die Russen durchschnittlich mit 217 Euro für die Neujahrsfeierlichkeiten planen. Das sind sieben Prozent weniger als im Vorjahr und liegt deutlich unter dem europäischen Schnitt von 513 Euro, den das Unternehmen errechnet hat. Im europäischen Vergleich wollen nur die Griechen ihre Weihnachtsausgaben noch stärker reduzieren als die Russen (um 8,6 Prozent). In Deutschland wird hingegen mit einer leichten Erhöhung um 0,9 P r oze nt au f 423 Eu r o gerechnet.

617 Euro in Dänemark

884 Euro in Großbritannien

423

217 Euro in Russland

Euro in Deutschland Aber die Russen sind auch Meister im Stopfen von Strümpfen. So gaben 20 Prozent der 1 200 Befragten gegenüber IRG an, dass sie planten, den in Russland beliebtesten Feiertag des Jahres ohne Delikatessen zu feiern. Oder dass sie beim Essen auf dem Neujahrstisch sparen wollten, oder an Geschenken. Beides plant jeweils ein Drittel der Laut einer Studie von Deloitte kürzen Studienteilnehmer. 21 Prozent die Russen ihr Budget dieses Jahr um wollen laut der Deloitte-Studie sieben Prozent. Sparsamer sind die versuchen, in günstigeren Ge- Griechen: Sie rechnen mit 8,5 Prozent schäften einzukaufen – 2014 hat- weniger Ausgaben. Die Dänen dageten das nur acht Prozent vor. Ei- gen planen fünf Prozent mehr ein. nige Russen wollen dieses Jahr

Wo gespart wird

Weihnachtsbudget: Wer plant wie viel?

sogar komplett auf Geschenke verzichten. Ihr Anteil ist im Vergleich zum Vorjahr von vier auf nun sieben Prozent gestiegen. Solche Pläne hat Sergej nicht. Der 25-jährige Lehrer aus Moskau sagt: „Ich mag es nicht, für Geschenke zu sparen. Ich schenke gerne. Mich wird auch dieses Jahr nichts von überschwänglichen Ausgaben abhalten – wie immer.“ Mit einem Lächeln wischt er die Wirtschaftskrise beiseite: „Nicht einmal die schwierige ökonomische Lage wird mich aufhalten.“ Dafür achtet er an anderen Stellen stärker aufs Geld, etwa beim Reisen. War er vor zwei Jahren über die Neujahrsfeiertage noch in Prag, verbrachte er die beliebte Urlaubszeit 2014 in Russland. Mit Freunden war er im nordrussischen Murmansk und fotografierte dort die Polarlichter. Ursprünglich wollte er nach Island, erzählt er, aber Russland sei eine gute und günstigere Alternative gewesen. Und man spreche dort Russisch, fügt er hinzu. „In diesem Jahr werde ich wohl entweder in Moskau bleiben oder – etwas weniger sparsam – nach Karelien an die finnische Grenze fahren“, sagt der Hobbyfotograf. Mit seinen Sparplänen ist Sergej nicht allein. Angaben des Reiseveranstalters Onetwotrip zufolge gingen die Buchungen für Flüge ins Ausland im Vergleich zum Vor-

jahr zwischen dem 1. und 10. Januar um rund 30 Prozent zurück. Besonders die Flüge nach Deutschland (minus 68 Prozent) und Österreich (minus 60 Prozent) seien sehr viel weniger gefragt. Dass nun mit Ägypten und der Türkei zwei weitere beliebte Destinationen wegen Sanktionen und Terrorgefahr ausfallen, mache den Urlaub in der Heimat umso populärer.

Der Vergleich zum Vorjahr hinkt Viele russische und europäische Einzelhandelsketten wollen sich nicht zum laufenden Neujahrsgeschäft äußern oder Prognosen abgeben. Ihre Umsatzzahlen werden aber wohl unter denen des Vorjahres liegen. Denn vor einem Jahr, Mitte Dezember 2014, stürzte der Rubel drastisch ab. Das führte zu vorgezogenen Käufen, weil die Kunden das Geld vor der Entwertung schützen und Preiserhöhungen zuvorkommen wollten. Der große russische Elektronikhändler M.video verzeichnete deswegen im Dezember 2014 einen Anstieg seiner Verkäufe um satte 73 (!) Prozent. Der Vergleich zum Neujahrsgeschäft im Vorjahr ist also schwierig. Ähnliches wird sich dieses Jahr wohl kaum wiederholen. Die Menschen haben sich inzwischen an die Situation und die Preise angepasst. Der Rubel hat sich auf einem hohen Niveau von derzeit


Lifestyle

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Süßes schenken, auf Bares hoffen

Weihnachtsmärkte Tradition in Europa, Trend in Russland

Italienischkurse und Charity statt Glühwein und Wurst Seit einigen Jahren erobern Weihnachtsmärkte nach europäischem Vorbild Russlands Innenstädte. Viele Märkte erinnern dabei nur entfernt an das Original. PEGGY LOHSE

ALYONA REPKINA

An Geschenken wollen die Russen auch dieses Jahr nicht sparen und planen, im Schnitt knapp über 100 Euro dafür auszugeben, also etwa genauso viel wie im vergangenen Jahr. Damit liegt Russland deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von etwa 280 Euro. Bei den begehrtesten Geschenken landet Geld nach wie vor auf dem

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FAKTEN ZUM RUSSISCHEN NEUJAHR

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ersten Platz, dicht gefolgt von Reisen und Elektronik. Doch die Wünsche sind bescheidener geworden — so sprang die Schokolade im Ranking vom 27. auf den siebten Platz. Sie führt zugleich die Liste der potenziellen Geschenke an. Im vergangenen Jahr verschenkten die Russen noch am liebsten Kosmetik und Parfüm.

Bis 1699 wurde Neujahr in Russland am 1. September gefeiert. Peter I. glich dies an Europa an, welches jedoch zum gregorianischen Kalender wechselte. Damit hinkte Russland zwei Wochen hinterher.

rund 70 Rubel je Euro eingependelt. Dafür sprechen zudem die Aussagen russischer Unternehmen zum sogenannten „Black Friday“ Ende November, an dem auch in Russland mit deutlichen Preisnachlässen geworben wurde. Der Tag war nach Angaben vieler Händler ein voller Erfolg. Allerdings sanken die durchschnittlichen Rechnungsbeträge bei vielen Anbietern. So auch beim bekannten Elektrohändler Swjasnoj. Dies sei der Tatsache geschuldet, dass die Kunden im vergangenen Jahr unter dem Einfluss der Rubel-Abwertung teure Geräte kauften, heißt es seitens des Unternehmens. Heute hingegen, da die Realeinkommen gesunken seien, kauften

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Erst 1919 wechselte Russland ebenfalls zum gregorianischen Kalender. Das führte dazu, dass es heute am Abend des 13. Januar eine abgespeckte Neujahrsfeier nach dem „alten“ Kalender gibt.

die Menschen billigere Geräte. So rechnen die Logistiker in Russland auch nicht mit veränderten Warenmengen zur Neujahrszeit. Das vierte Quartal ist die wichtigste Zeit für die Transportunternehmen. „Wir erwarten keine Differenz zum Vorjahr“, sagt beispielsweise der Russlandchef eines großen europäischen LogistikUnternehmens zum diesjährigen Neujahrsgeschäft. Und große Unterschiede wird es dieses Jahr wohl auch nicht bei dem Wesentlichen des Neujahrsfestes in Russland geben: der gemeinsamen Zeit mit Freunden und Familie. Simon Schütt ist Chefredakteur von Ostexperte.de, einem Blog für das Russlandgeschäft.

Während in Deutschland Weihnachtsmärkte längst wieder abmontiert sind, weihnachtet es in Moskau gerade erst richtig los. Das Fest wird nach christlich-orthodoxem Kirchenkalender zwar eigentlich erst eine Woche nach Neujahr gefeiert, dennoch halten europäische Traditionen in der vorweihnachtlichen Zeit zunehmend Einzug. Wer in die noch junge Moskauer Weihnachtsmarktkultur eintaucht, der kann vier Typen erleben.

Der Klassische Wer kennt dieses Bild nicht? Das GUM-Kaufhaus am Roten Platz mit Lichterketten beschmückt, innen und außen Weihnachtsbäume, Eislaufbahn und Stände mit süßen und würzigen Leckereien, heißen Getränken, kleinen Geschenken und Souvenirs. Hier werden vor allem russisch-traditionelles Handwerk, Speisen und Kulturprogramm präsentiert. Besonders für Touristen und Expats in der russischen Hauptstadt ist der im Lichtermeer bunt und liebevoll inszenierte russische Kitsch vor historisch bedeutender Kulisse ein Erlebnis. Einige Moskauer, wie Viktor Timofeev, sehen das aber eher nüchtern: „Was wir in Russland machen, ist sicher hübsch, aber nicht authentisch. Es sieht aus wie eine nicht so richtig gelungene Kopie des Westens.“ Viktor arbeitet im internationalen Jugendaustausch und würde eher den deutschen Weihnachtsmarkt empfehlen.

Der Europäische Da für die Mitarbeiter der deutschen Botschaft die Weihnachtszeit bereits Mitte Dezember beginnt, eröffnen sie mit ihrem Weihnachtsbasar traditionell die Saison. Am 21. November begrüßten Thüringer Blechbläser die zahlreichen – wohl um die 2 500 – Gäste auf dem Botschaftsgelände an der Mosfi lmowskaja uliza mit deutschen Weihnachtsliedern und typischen Basteleien und Süßigkeiten: Stollen, Adventskalen-

PAWEL SMERTIN / TASS

FÜR RBTH

Der Straßburger Markt war einer der beliebtesten der letzten Jahre.

der, Holzschnitzereien. Eine Besonderheit sind die in jedem Jahr von Mitarbeitern der Botschaft und ihren Angehörigen gebackenen Lebkuchenhäuschen. Der Verkaufserlös – wie im vergangenen Jahr rund 50 000 Euro – wird an ein Kinderheim in Smolensk gespendet. Besondere Momente bietet ferner auch ein italienischer Weihnachtsund Neujahrsmarkt im Rahmen der Italienischen Woche vom 11. bis 13. Dezember in der Moskauer Design-Fabrik Flacon. Außer kulinarischen und dekorativen Kleinigkeiten für die Feiertage stehen die „Nacht mit dem Chef“, ein großes italienisches Abendessen mit einem Star-Chefkoch, weihnachtliche Italienischkurse und eine professionelle Weinverkostung auf dem Programm.

Der Wohltätige Da Weihnachten auch in Russland ein Fest der Nächstenliebe ist, wollen einige Märkte mit ihrem Verkauf Gutes tun. Das Projekt „Seasons“ veranstaltete kürzlich im Eremitage-Garten zum siebten Mal einen Benefiz-Weihnachtsmarkt, der in diesem Jahr unter dem Motto „Russische Motive“ stand. Besucher konnten traditionelle Schaltücher, Walenki, die berühmten Filzstiefel, Leder- oder Pelzmäntel sowie Wollfäustlinge erstehen. Der Erlös aus Eintritt und Verkauf ging an den Wohltätigkeitsfond Nuschna pomosch

(„Es wird Hilfe gebraucht“), um die Publikation eines Magazins für seh- und hörbehinderte Menschen auch künftig zu ermöglichen. Neben Designer-Souvenirs im Mamin Sad wurden russische und europäische Weihnachtslieder vom Chor der Seasons-Schule vorgetragen. Und eine Theatergruppe ließ einen „Antiken Zirkus“ auf dem Marktgelände aufleben.

Der Kleinteilige Apropos antik: Bei der Suche nach Geschenken mit Geschichte ist der weihnachtliche Flohmarkt Na Tischinke auf dem Ausstellungsgelände T-Modul eine feste Adresse. Dort laden Sammler aus aller Welt zum Stöbern zwischen Schmuck, Postkarten, Fotografien, Schallplatten, Büchern, Porzellan und anderen Accessoires ein – „kurz: entzückende Einzelstücke mit eigener Historie“, erklärt Soja Glasatschowa zu ihrem Lieblingsweihnachtsmarkt. Zu Sowjetzeiten habe es wenige solcher schönen Dinge gegeben, „darum haben wir zum Beispiel nicht von deutschem Porzellan gegessen, sondern es in die Schrankwand gestellt und uns vor ihm verneigt“, sagt die Journalistin und PR-Managerin mit einem Augenzwinkern. Der Flohmarkt findet mittlerweile auch außerhalb der Weihnachtszeit statt, insgesamt viermal im Jahr, immer am selben Ort. Er hält stets neue Stücke aus allen Ecken der Welt für seine Besucher bereit.


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Geschichte

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Deutsche prägten Russlands Hauptstadt über Jahrhunderte hinweg 1

ALYONA REPKINA

Die ersten Deutschen, die im 16. und 17. Jahrhundert nach Moskau zogen, gründeten unweit des Kremls, im heutigen Bezirk Samoskworetschje, ein deutsches Viertel. 2

Auf deutschen Pfaden FÜR RBTH

Kathedrale St. Peter und Paul Sie ist die Hauptkirche der bis heute von vielen Deutschen und Russlanddeutschen besuchten EvangelischLutherischen Kirchengemeinde Russlands. Die ersten Lutheraner gab es im 17. Jahrhundert im ersten deutschen Viertel in Moskau. Seit 1626 besteht die Gemeinde St. Peter und Paul. Später finanzierte der preußische König Friedrich Wilhelm III. den Bau einer neuen Steinkirche nach Plänen des Hofarchitekten Alexander Meinhardt im Starosadskij Pereulok. Sie wurde 1819 geweiht, reichte aber keine 100 Jahre später nicht mehr für die mittlerweile 17 000 Gemeindemitglieder. Ein Neubau musste her: eine Kathedrale. Für Innenausstattung, Konstruktion und Akustik zeichnete eine Gruppe russlanddeutscher Architekten und Gemeindemitglieder verantwortlich. Die Sowjetregierung machte das Gebäude erst zum Kino „Arktika“, später zum Filmstudio „Diafilm“. 1997 erhielt die Kirche ihre religiöse Funktion zurück, die Sanierungsarbeiten wurden 2010 abgeschlossen. Neben der Gemeindearbeit dient die Kathedrale mit ihrer Sauer-Orgel aus dem Jahr 1898

Siemens Drei von vier Brüdern des Konzerngründers Werner Siemens waren im 19. Jahrhundert in Russland tätig. Firmenzentrum war Sankt Petersburg, in Moskau spielten die Tochterfirmen „Gesellschaft für elektrische Beleuchtung 1886“ und die Aktiengesellschaft „Stromübertragung“ eine große Rolle. Nachdem Siemens in den 1850er-Jahren als ersten Großauftrag die beiden Metropolen mit einer Telegrafenleitung verband, spezialisierte sich das Unternehmen zunehmend auf die Elektrifizierung von Großstädten und erste elektrische Transportmittel. Deutschland war zu dem Zeitpunkt Marktführer in der Elektrobranche. Zwölf Prozent der deutschen Elektroexporte gingen nach Russland. Siemens schloss sich in Russland mit dem Fabrikbesitzer Halske zusammen, konnte bald selbst in Russland produzieren und so eine Menge Zollkosten sparen. 1886 bis 1888 baute die Moskauer Tochterfirma von Siemens die ersten drei Kraftwerke und versorgte die Innenstadt mit Strom. Der erste Dauerkunde war die Einkaufspassage auf der Twerskaja-Straße. 1895 erhielt Siemens die Lizenz zur alleinigen Stromversorgung Moskaus. Zu Beginn der Revolution beschäftigte der Konzern in Moskau 400 Arbeiter mit einem 8,5-Stunden-

FRISCHES DESIGN

Tag nach deutschem Vorbild. Mehr als 70 000 Kunden hatte das Unternehmen hier, zwei Drittel des erzeugten Stroms flossen in die Industrie. Im Dezember 1917 jedoch wurde der gesamte Siemens-Besitz auf Erlass Lenins konfisziert und nationalisiert. Heute knüpft Siemens an die vorrevolutionäre Zeit an, indem es nicht nur mit Russland handelt, sondern auch in die Produktion investiert, etwa in das Waggonwerk im Ural für die „Lastotschka“-Züge.

Die deutschen Viertel Das erste deutsche Viertel entstand im 16. Jahrhundert im Bezirk Samoskworetschje. Für den Ausbau des Moskauer Fürstentums siedelte Zar Wassilij III. rund 1 500 ausländische, vor allem deutsche, Fachkräfte in Handwerks- und Ingenieurberufen an, die in der Stadt schnell ein bis heute populäres Vorurteil prägten: das Bier. Angeblich sei das Wort „eingießen“ hier so gebräuchlich gewesen, dass die Siedlung den Spitznamen „Nalejka“ oder „Nalivka“ bekam. Das Viertel wurde vom Krim-Khan beim Angriff auf Moskau abgebrannt. Parallel entstand ein zweites deutsches Viertel, die Bolwanowka, mit vielen Soldaten, um die zaristische Armee im Krieg gegen den KrimKhan zu unterstützen. Zar Iwan der Schreckliche gewährte ihnen zusätzliche Freiheiten für Handwerk oder Lebensmittelherstellung. Die Deutschen hatten ihr eigenes Bier, Wein, Mehl und Brot. Nicht

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PEGGY LOHSE

heute auch als Konzertsaal, zum Beispiel wird in der Vorweihnachtszeit regelmäßig Bachs Weihnachtsoratium aufgeführt.

ULLSTEIN BILD/VOSTOCK-PHOTO

In Moskau lassen sich eine Menge Spuren finden, die entweder von Deutschen gelegt worden, auf sie zurückzuführen oder bis heute mit ihrer Sprache und Kultur verbunden sind.

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1. Die Residenz Zarizyno wurde für Zarin Katharina II. erbaut. 2. Ehemalige deutsche Siedlung um die Basmannaja-Straße. 3. Produktionsort der Firma Siemens und Halske. 4. Kathedrale St. Peter und Paul

zufällig sind sich die Wörter „sloboda“ (Siedlung) und „swoboda“ (Freiheit) so ähnlich. Neidende Nachbarn beschwerten sich beim Metropoliten. Davon hörte der Zar, der wütend die Siedlung niederbrannte. Wenn heute von der deutschen Siedlung die Rede ist, dann ist zumeist die Gegend um die Basmannaja-Straße gemeint. Hier wurden Ende des 16. Jahrhunderts deutsche Kriegsgefangene, darunter viele gut ausgebildete Fachkräfte, angesiedelt. Mit der Zeit eröffneten diese eigene Geschäfte und prägten mit ihrem Handwerk das Stadtleben, zum Beispiel die Möbelwerkstätten der Meistertischler Just und Gantenberg.

Katharinas Zarizyno Die russische Zarin Katharina die Große hat nicht nur mit ihrem Manifest vom 22. Juli 1763 fast zwei Millionen Deutsche nach Russland

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gelockt. Durch ihre vielen Reisen hat die einstige Prinzessin aus Anhalt-Zerbst in ganz Zentralrussland Spuren hinterlassen. In Moskau wurde auf ihre Initiative hin aus dem Dorf mit dem vielsagenden Namen Tschornaja Grjas – „Schwarzer Schmutz“ – 1875 per Erlass die Sommerresidenz Zarizyno. Laut Legende soll eine Bäuerin ihr den örtlichen Schlamm zur Heilung von Gliederschmerzen empfohlen haben. Die Zarin war, laut einem Brief vom März 1781, so begeistert von der heilenden Wirkung, dass sie hier einen Sommergarten erbauen ließ. Kaum vollendet, ließ sie alles wieder abreißen, mit der Absicht, einen richtigen Palast zu errichten. Dessen Fertigstellung jedoch erlebte Katharina nicht mehr. Das Gelände stand 200 Jahre leer, bis 2007 an derselben Stelle das Freilichtmuseum Zarizyno eröffnet wurde.

D E . R B T H . C O M / M U LT I M E D I A

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