Ein Engel an der leeren Wiege

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24 WEGBEGLEITUNG Die Südtiroler Frau, 1./15. 8. 2014/Nr. 15/16

W e n n d e r To d a m A n f a n g s t e h t

Ein Engel an der leeren Wiege Dies alles geschieht unabhängig vom Zeitpunkt des Verlustes, beispielsweise durch eine Fehlgeburt in der frühen Schwangerschaft, eine Totgeburt, durch Erkrankungen des Ungeborenen, das vorzeitige Ausscheiden aus dem Leben im Mutterleib, durch eine Frühgeburt, einen medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch, aber auch bei nicht medizinisch indizierten Abbrüchen können Trauer und Schuldgefühle wie eine dunkle Wolke das Leben überschatten. Krankheit oder Unfall in frühem Kindesalter können weitere Ursachen für einen schmerzvollen Verlust durch den Tod eines Kindes sein. Bei manchen afrikanischen Religionen werden Kinder, die ihre eigentliche Welt verlassen, um nur kurz ihre irdischen Eltern zu besuchen, Geisterkinder genannt. Dabei wird davon ausgegangen, dass die „Kleinen“ mit der Geisterwelt ein Abkommen trafen, so schnell wie möglich wieder in diese zurückzukehren. Die irdischen Eltern veranstalten Zeremonien, die den Bann zwischen ihrem Kind und der Geisterwelt lösen sollen, verbunden mit der Hoffnung, dass es bei der Wiedergeburt länger bleibt. Im deutschsprachigen Raum werden Kinder, die nur für kurze Zeit lebend oder tot zur Welt kommen, als Sternenkinder bezeichnet. Manche Eltern nennen ihre verstorbenen Kinder auch Schmetterlingskinder. In Südtirol beschreiben Frauen häufig, dass ihr kleiner Engel sie jetzt vom Himmel aus

begleitet. Viel zu kurz ist das Glück, die Vorfreude auf ein gemeinsames Leben, welches die hinterbliebenen Eltern empfinden. Umso schmerzvoller und anhaltender ist ihre Trauer, ihre Wut über den Verlust und damit unterschiedlich auch die Verarbeitung des schmerzlichen Verlustes. Trauern ist eine natürliche Reaktion auf Verlust- und Abschiedssituationen. Im Todesfall ist es schwer, die Situation zu fassen und zu begreifen. Der Verlust eines Kindes stellt ein einschneidendes Erlebnis für die Betroffenen dar und ist häufig das erste Erlebnis dieser Art. Der Trauerprozess wird in der Regel von Mensch zu Mensch verschieden erlebt und zeigt, je nachdem durch wie viele und welche Fakto-

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Unendlich groß ist die Trauer der Eltern beim Verlust eines Kindes. Es wird dabei ein häufig unfassbares seelisches Trauma durchlebt.

ren der Prozess beeinflusst wird, unterschiedliche individuelle Facetten. Waren Wissenschaftler früher der Meinung, dass normale Trauerprozesse nach wenigen Monaten abgeschlossen sein müssten, so zeigen aktuellere Untersuchungen, dass auch noch viele Monate oder auch Jahre später Trauersymptome auftreten können. Während der Trauerphase können die Betroffenen eine Vielzahl von abwechselnden Gefühlen erleben. Nach einem anfänglichen Gefühl des Betäubtseins und der Derealisation können trauernde Eltern eine unwirkliche Distanz zur Welt und zu sich selbst empfinden. Dabei kann es sein, dass die Betroffenen schwer ansprechbar sind. Die persönliche Welt wird als zusammengebrochen wahr-

Dr. Carmen Willeit Psychologin und Hebamme www.praxis-wegbegleitung.it

genommen, dies ist gekoppelt mit einer stark erhöhten Emotionalität. Dabei können Gefühle wie Wut, Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Zorn, Aggressivität, Depressivität, fehlender Lebenswille sowie Ruhelosigkeit verbunden mit Schlafstörungen auftreten. Häufig treten in diesem Zusammenhang auch Schuldgefühle seitens der Mutter auf, welche sich in der Phase der Trauer verantwortlich für ihren Verlust macht. Dabei kann es auch zu Wutausbrüchen kommen. Die Suche nach Verantwortlichen in der Umgebung kann eine weitere natürliche Reaktion des Trauerprozesses darstellen, bei religiösen Menschen können sich Glaubenszweifel und Hadern mit Gott breitmachen. Das bewusste Erleben, Erfahren und Zulassen aller Emotionen, die durch den Trauerfall bedingt auftreten, ermöglicht den Betroffenen eine heilende Erfahrung. Diese Erfahrung kann zu einer Stärkung und einem Wachstum der Gesamtpersönlichkeit führen. Damit wir unsere Lieben in solchen schwierigen Phasen ihres Lebens unterstützend begleiten können, kann das Wissen über den Trauerprozess an sich sehr hilfreich sein. In der nächsten Ausgabe werde ich über die verschiedenen Phasen des Trauerprozesses und die damit verbundenen Hilfsangebote für Trauernde berichten.


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