politik&kommunikation: Künstliche Intelligenz

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Besser schreiben. Bessere Bilder bauen. Besser faken?

Politikerporträts: Ein schmaler Grat Newsletter mischen die Bubble auf Quadriga Media Berlin GmbH  ISSN 1610-5060   142 www.politik-kommunikation.de
Scholz vs. Habeck: Wer kommuniziert besser?
Künstliche Intelligenz

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Weil’s um mehr als Geld geht.

MUSTERSCHÜLER

Wahrscheinlich dachten Sie beim Betrachten des Coverbildes: „Kenn’ ich nicht“. Ich aber schwöre Ihnen: Die kennen Sie doch, und zwar alle drei. Vom Titelblatt grüßen nämlich drei nicht ganz unwichtige Kabinettsmitglieder. Das wären Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD – Nase, Anzug, Ohren), Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne – Augen, Seitenscheitel, Wangen) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP – Haarfarbe, Haaransatz und Haarseiten, Dreitagebart und Lippen. Die sind nicht etwa gemeinsam gebeamt und dabei durcheinandergemischt worden. Vielmehr haben wir eine generative Bild-KI namens Midjourney mit drei Porträtfotos der drei Regierungsmitglieder versorgt und mit dem „Blend“-Befehl ineinanderblenden lassen.

Aber die KI kann längst viel mehr. Die sozialen Medien und die einschlägigen Kanäle der Diskussionsplattform Reddit quellen förmlich über vor immer neuen Durchbrüchen mithilfe schlauer Tools: In Sekundenschnelle werden Kleider umgefärbt, Spielpuppen in echt anmutende Menschen umgewandelt, Szenen aus echten Filmen in Zeichentrickfilme transformiert. All das leisten nicht große Teams von Kreativen, sondern einzelne Bastler mit KI-Tools und einer Menge Begeisterung.

Längst sprechen alle Branchen darüber, wie die KI auch ihre Bereiche umwälzen wird. Wer es nicht tut, könnte das bereuen. Wer sich für seine Arbeit nicht mit KI-Tools beschäftigt, kann sich sicher sein: Die KI-Tools beschäftigen sich sicherlich schon mit seiner Arbeit. Denn überall, wo es Abläufe gibt, können Maschinen mit Millionen Mustern trainiert werden.

In vielen Zeitungen und Zeitschriften wurde die KI bereits thematisiert – allen voran das smarte Sprachmodell ChatGPT. Wir von p&k scheinen da etwas spät dran zu sein. Tatsächlich beschäftigen wir uns schon seit November mit

dem schlauen Textbot. Bisher wurde viel über Chancen und Gefahren von ChatGPT geschrieben. Uns hat dagegen ganz konkret interessiert: Wofür ist die KI eigentlich gut? Welche Aufgaben kann sie uns erleichtern, welche sogar abnehmen (Spoiler: noch keine) – und wie genau muss man sie eigentlich dazu einbinden?

Um uns dabei nicht nur auf unsere eigenen Experimente verlassen zu müssen, haben wir bei Technik-Cracks aus den Bereichen Politik, Journalismus, Agenturen und Verbänden nachgefragt, die sich ebenfalls mit den Möglichkeiten von KI-Tools auseinandergesetzt haben. Herausgekommen sind: Tipps, wie ChatGPT Pressemitteilungen schreibt, Marktforschung betreibt, Baumdiagramme entwirft und Tabellen zeichnet. Um die Grenzen und Gefahren sind wir trotzdem nicht herumgekommen.

Der SPD-Politiker Tiemo Wölken war einer der Ersten, die in einem Parlament eine komplett von ChatGPT verfasste Rede gehalten haben. Er ist nicht unkritisch –eher alarmiert – von den rasanten Fortschritten der KI. Als EU-Abgeordneter sieht er klar, dass die smarten Modelle unser Rechtssystem auf dem falschen Fuß erwischen. „Der europäische AI Act, der KI-Hochrisikoanwendungen regulieren soll, ist noch nicht einmal beschlossen und wirkt schon veraltet, denn Regelungen zu Tools wie ChatGPT hat die Verordnung nicht vorhergesehen“, sagt Wölken zu p&k. Die ganze Geschichte lesen Sie ab S. 14.

Natürlich haben wir aber noch andere tolle Themen im Heft. Das „Spiegel“-Porträt von Peter Altmaier hat die Frage aufgeworfen, wie Journalisten bei Politikerporträts den Spagat zwischen Nähe und Distanz am besten hinbekommen. Anne Hünninghaus hat dafür ab S. 64 Kollegen befragt. Außerdem vergleicht Ex-Regierungssprecher Béla Anda die Kommunikation von Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ab S. 22.

3 I/2023
EDITORIAL
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!
Konrad Göke KONRAD GÖKE ist Chefredakteur von politik&kommunikation.

POLITISCHER AKTIVISMUS 24

14 KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Wie man aus Text- und BildBots mehr herausholt – und wohin die Reise geht aus der Redaktion

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SO SIND SIE EBEN

Scholz vs. Habeck: Welcher Kommunikationsstil ist erfolgreicher? von Béla Anda

24

DER ZWECK UND DIE MITTEL

Wie beurteilen Aktivisten der Klimabewegungen die verschiedenen Protestformen? von Kathi Preppner

30

SELTEN SO GELACHT

Karneval ist auch politisch –bis einer weint von Günter Bannas

34

AUF MEHREREN HOCHZEITEN

Warum viele Politiker sich zu allem äußern und andere bei ihrem Fachgebiet bleiben von Jennifer Garic

38 UNTERSCHÄTZTE BILDER

Die Öffentlichkeitsarbeit politischer Entscheidungsträger wirkt oft unprofessionell von Volker Thoms

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DIE TAFELRUNDEN DER MINISTER Ministerinnen arbeiten mit Vertrauten, Experten oder beiden von Tobias Schmidt

KI: TIPPS, CHANCEN, GEFAHREN 14

48 DEN KNALL NICHT GEHÖRT

Warum unsere sicherheits- und verteidigungspolitische Kommunikation ein Update braucht von Felix M. Hauffe

52

RÖTER WIRD’S NICHT

Die Linke ist in der größten Krise ihrer Geschichte von Eckhard Jesse

56

SONST STREIK’ ICH HIER Gewerkschaften haben ein Problem und mehrere Lösungen von Judit Cech

60

NEWSLETTERWALD

Newsletter mischen die Bubble auf von Marian Bracht

64

AUF SCHRITT UND TRITT Politiker-Porträts wandeln auf einem schmalen Grat von Anne Hünninghaus

70

BEHÖRDENDSCHUNGEL

Was machen die Bundesbehörden? von Marvin Neukirch

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GLOSSE

Es gibt nur Sieger

3 Editorial

5 Schnappschuss

6 Expertentipp

8 Pro & Kontra

10 Fragerunde

10 Floskelalarm

12 Reschs Rhetorik Review

74 Filme & Bücher

79 Impressum

80 Ein Tag mit ...

politik & kommunikation 4
I2023
INHALT
FÜHRUNGSKRÄFTE IN MINISTERIEN 42

GUT AUFGELEGT

Karl Lauterbach ist ein leidenschaftlicher Tischtennisspieler. Seine Mitarbeiter im Bundesgesundheitsministerium schenkten ihm deshalb zum Geburtstag eine Tischtennisplatte. Hoffnungen auf einen Rundlauf beantwortete Lauterbach auf seiner Wahl-Plattform Twitter allerdings mit einem Schmetterball: „Jetzt kann im BMG Tischtennis gespielt werden. Das Problem: niemand von uns kommt jemals dazu.“ Hoffentlich sind die Mitarbeiter darüber nicht zu niedergeschmettert.

5 I/2023
SCHNAPPSCHUSS

KI, KOALITIONSSTREIT, WAFFEN

Ist KI eine Gefahr für die Demokratie?

Schlechte Stimmung in der Koalition: Rauft sich die Ampel noch mal zusammen?

Sollte Bundesinnenministerin Faeser ihr Amt für die Spitzenkandidatur in Hessen niederlegen?

Waffenlieferungen vs. Sozialpakete: Wackelt die Unterstützung der Ukraine wegen der Schuldenbremse?

Strack-Zimmermann hat mit ihrer Büttenrede für Furore gesorgt. Gehört Karneval in die Politik?

Wagenknecht und Links-Partei: Passt das noch zusammen?

Lindners Hochzeit, Altmaiers Vorgarten und Habecks löchrige Socken: Sind Politikerporträts zu privat?

Sollten Fachpolitiker sich nur zum eigenen Fachbereich äußern?

Können Gewerkschaften ihre Verdienste in der Öffentlichkeit erfolgreich darstellen?

VÖB

Technik allein ist nie eine Gefahr, sondern deren missbräuchliche Anwendung. Hier brauchen wir schnell klare gesellschaftliche Rahmen, aber die Chancen überwiegen.

Es wäre zu hoffen, dass sich die drei Parteien ihrer Verantwortung bewusst werden.

Wahrscheinlich ist es jetzt zu spät, aber allein aus Respekt vor den hessischen Wähler:innen hätte sie sich auf den Wahlkampf fokussieren sollen.

Wir sollten alle Diskursräume auch außerhalb von Parlament & TV-Studio nutzen. Egal ob Tiktok, Karneval oder Seniorenheim.

Allerdings sollte man auch beim Karneval nicht über das Ziel hinausschießen.

Nur umgekehrt.

Nein, aber zu inszeniert.

Hängt von der Person und vom Thema ab.

politik & kommunikation 6 EXPERTENTIPP
Iris Bethge-Krauß Hauptgeschäftsführerin, Ursula Münch Direktorin, Akademie für Politische Bildung Tutzing

Die KI selbst sagt: „Vieles ist gefährlich, wenn man unklug damit umgeht.“ Stimmt.

Ihr damaliges Versprechen als Fortschrittskoalition kann die Ampel nach wie vor einen: Dafür muss sie aber auch die gemeinsamen Zukunftsprojekte angehen, die von vielen Krisen bisher überlagert werden.

Formal ja, im Kern: nein. Die inhaltlichen und kulturellen Risse zwischen Grünen und Gelben sind tiefer als der ostafrikanische Graben. Eruptionen bleiben daher auf der Tagesordnung.

Zwei von drei Deutschen sind für die Amtsniederlegung. Das Risiko trägt sie schlussendlich selbst.

Nancy Faeser kann die Wahl aus dem Amt heraus gewinnen –und damit diese unleidliche Debatte ein für alle Mal beenden.

Beides ist elementar und darf nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Unbedingt.

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Natürlich ist der Karneval auch politisch.

Das müssen die unter sich ausmachen.

Menschen interessieren sich für Menschen. Aber es gibt gute und weniger gelungene Porträts.

Sie können, aber sie tun es nicht immer.

Wagenknecht und die aktuelle Linken-Führung passen nicht zusammen. Ich befürchte, dass in der Mitgliedschaft der Linken Wagenknechts Positionen mehrheitsfähig sind.

Besser als manch eine/r das wahrhaben will. Das ist ja das Schlimme.

Ja, eine schädliche Entwicklung. Mich interessiert nicht, ob Olaf Scholz Goldfische hat oder den Garten mit einem Aufsitzmäher pflegt.

Viele halten die Mitgliedschaft für sinnvoll, doch nur wenige wollen wirklich beitreten – kommunikativ geht da noch was.

7 I/2023
Michael Bröcker Chefredakteur bei ThePioneer Janina Mütze Co-Gründerin und CEO von Civey Kristin Breuer Geschäftsführerin Kommunikation, Verband Forschender Arzneimittelhersteller Serkan Agci Geschäftsführer, H/Advisors Deekeling Arndt Marco Vollmar Senior Advisor bei MSL Germany

KATRIN EHLERS ist seit Januar Mitglied der Geschäftsleitung und Prokuristin bei Orca Affairs.

Wenn Bürger sich beteiligen, ihre Meinung sagen oder in irgendeiner Weise mit einer ministeriellen oder behördlichen Aussage interagieren sollen, dann ist die Aktivierung unbedingt Teil der Kampagne. Dafür wird man sicherlich in zentraler Weise soziale Medien nutzen. Aber nach meiner Erfahrung braucht es meist einen extra Push von der Seite, also aus einem anderen, reichweitenstarken Medium heraus. Das kann so etwas sein wie Bild online, aber auch Radio eignet sich für eine schnelle Mobilisierung.

FRAGERUNDE

SUSANNE BAUMANN ist seit Januar Bundesgeschäftsführerin für Organisation beim NABU.

Wie wollen und können Sie Ihre Kenntnisse und Standpunkte zur Digital- und Bildungspolitik bei Deloitte einbringen?

Deloitte ist das führende Beratungsunternehmen für digitale Transformationsprozesse. Dabei erstreckt sich das Portfolio von der Strategieentwicklung bis zur Implementierung von Lösungen. Ob innovative KI-Lösungen, konkrete E-Government-Umsetzung oder die Schaffung von flexiblen Lern- und Lehrangeboten zur Förderung von digitalen Kompetenzen – ich kann meine Expertise und Erfahrungen mit viel Empowerment optimal einbringen. Von daher habe ich mich als (ehemaliger) Digital- und Bildungspolitiker ganz bewusst für Deloitte entschieden.

DREI JOBWECHSLER STELLEN SICH GEGENSEITIG FRAGEN

TANKRED SCHIPANSKI ist seit Dezember Director im Bereich Government & Public Service bei Deloitte Deutschland.

Die Analyse zur Dramatik der Klimakrise teilen wir. Zur Lösung konzentrieren wir uns auf unsere Stärken: Mit der Arbeit unserer Ehrenamtlichen und Gruppen vor Ort und dem Wissen unserer Experten, das durch die Arbeit von unseren Bundesfachausschüssen unterstützt wird, wirken wir auf politische Prozesse ein. Mit mehr als 900.000 Mitgliedern und Fördernden sind wir tief in der Gesellschaft verankert.

Was unternehmen Sie, dass die konstruktive Umweltarbeit des NABU vor Ort nicht durch radikale Klimaaktivisten beschädigt wird?

FLOSKELALARM

„SEHR GEEHRTER HERR KOLLEGE“

Robert Habeck und Christian Lindner duzen sich schon lange. Nicht nur aus diesem Grund ist die förmliche Begrü ßungsfloskel, die die beiden Ampelmänner wählten, um einander rund den diesjährigen Valentinstag einen Brief über Haushaltsdisziplin zu schreiben, eine bewusste Irre führung. Denn der „Sehr geehrte Herr Kollege“ war gar nicht der eigentliche Adressat des Anschreibens. Das sind wir Wähler und die eigene Basis, denen der Verfas ser unbedingt mitteilen wollte: Seht her, wenn es um den nächsten Bundeshaushalt geht, kämpfe ich wie ein Held für eure Belange.

Würde es tatsächlich um die Sache gehen, hätten Habeck und Lindner zum Telefonhörer greifen oder sich ganz einfach treffen können. Politische Lösungen erarbeitet man nun mal hinter den Kulissen – nicht über offene Briefe. Die in diesem Fall gewählte Form der Kommunikation verhärtet vielmehr Fronten und verhindert damit gesichtswahrende Lösungen. Letztere aber sollten das gemeinsame Ziel einer Regierungskoalition sein. Das sollte der Bundeskanzler den beiden „sehr geehrten Kollegen“ mal in aller Deutlichkeit verklickern.

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MATTHIAS DEISS IST STELLV. STUDIOLEITER DES ARD­HAUPSTADTSTUDIOS Frau Ehlers, mit welchem Kunstgriff haben Sie bei einem Projekt mit der öffentlichen Hand, die Öffentlichkeit am besten für ein Thema aktivieren können?

Dr. Stefan Wolf, Präsident Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie e.V.

Stefan Moschko, Vorsitzender

Verband der Metall- und Elektroindustrie Berlin und Brandenburg e.V.

Dr. Joachim Schulz, Vorsitzender

Verband der Metallund Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. (Südwestmetall)

Oswald Bubel, Präsident

Verband der Metall- und Elektroindustrie des Saarlandes e.V.

Wolfram Hatz, Präsident Verband der Bayerischen Metall- und ElektroIndustrie e.V.

Arndt Kirchhoff, Präsident Verband der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen e.V.

Folkmar Ukena, Präsident NORDMETALL Verband der Metall- und Elektroindustrie e.V.

Dr. Christian Kauth, Präsident PfalzMetall e.V.

Prof. Dr. Nils Kroemer, Präsident VSME Verband der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie e.V.

Wolf Matthias Mang, Vorsitzender

Verband der Metallund Elektro-Unternehmen Hessen e.V.

Thomas Merfeld, Vorsitzender vem.die arbeitgeber e.V.

Wolfgang Niemsch, Präsident Verband der Metallindustriellen Niedersachsens e.V.

Thomas Kaeser, Vorsitzender

Verband der Metall- und Elektro-Industrie in Thüringen e.V.

Marco Langhof, Vorsitzender

Verband der Metallund Elektroindustrie Sachsen-Anhalt e.V.

Wenn man einer generativen Bild-KI kaum Vorgaben macht, spuckt sie häufig Klischeehaftes aus. So auch Midjourney nach der Eingabe: „AI takes over the world, tech, future.“

INTELLIGENZTEST

Alle experimentieren mit KI-Modellen. Die Hoffnung: TOOLS wie ChatGPT können konkrete Arbeitsschritte erleichtern. p&k hat TechnikAffine aus Politik, Medien, Agenturen und Verbänden gefragt: Wie läuft das denn so? Und: Wo sind die Fallstricke?

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VON MARVIN NEUKIRCH, JUDIT CECH, TOBIAS SCHMIDT UND KONRAD GÖKE

Kiel im Januar. Am Rednerpult des Landtags von Schleswig-Holstein steht Jan Kürschner, der innenund rechtspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion. Er hält kurz inne, „zwecks Gewinnung der Aufmerksamkeit“, wie er etwas hölzern sagt. Auch der Text, den er vorher verlesen hat, habe „ein wenig eigentümlich“ geklungen, wie Kürschner einräumt. Der Grund: Er habe sich den Text vom KI-Modell ChatGPT aufschreiben lassen und nur an zwei Stellen geringfügig verändert. Gemerkt hatte das wohl keiner seiner Kollegen.

Um eines gleich abzuräumen: Natürlich haben auch wir versucht, ChatGPT probeweise unsere Arbeit machen zu lassen. Dass diese Zeilen dennoch von uns stammen, zeigt vor allem, dass bei den KI-Texten noch viel Luft nach oben war, was – die Spitze sei verziehen – bei journalistischen Texten vielleicht schwerer ins Gewicht fällt als bei Parlamentreden. Falls Sie unter einem Stein leben: ChatGPT ist ein Sprachmodell, das menschenähnlich antworten kann. Dazu wurde die künstliche Intelligenz mit einer gewaltigen Datenmenge in verschiedenen Sprachen trainiert.

Der Bot schreibt Erklärtexte, Gedichte, Drehbücher und Code – und damit sind die Möglichkeiten noch nicht einmal angeschnitten. Weil das Sprachmodell sich vor allem mit breit ausgetretenen Pfaden auskennt (hier schlägt das Datentraining durch), beherrscht es vor allem standardisierte Textgattungen erstaunlich gut. Allerdings kann man mit den richtigen Anfragen noch einiges aus dem Chatbot herauskitzeln. Wir haben uns dazu in der Politik, in Agenturen, bei Pressestellen und Verbänden umgehört und Tipps zusammengetragen.

Ein Textbot kann Text

Sprachmodelle, die mit Tausenden Texten trainiert wurden, können vor allem: Texte schreiben. „Mit ihnen lassen sich zum Beispiel sehr einfach Entwürfe für Agenden oder Einladungen zu Arbeitskreis-Sitzungen erstellen oder längere Texte zusammenfassen“, sagt Merle Uhl, KI-Referentin beim Digitalverband Bitkom. „Dabei können solche Tools einen ersten Aufschlag oder Inspiration liefern, auf deren Basis man dann weiterarbeiten kann.“

Gerade bei standardisierten Textformaten wie Meldungen und Anschreiben zeigt die KI ihre Muskeln. Rainer Grill hat mit dem Bot experimentiert. Der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von Ziehl-Abegg ist bekannt dafür,

technikaffin zu sein. Seine Firma baut Ventilatoren in Baden-Württemberg und ist für ihren unkonventionellen Tiktok-Auftritt bekannt. Auch Grill albert hier gerne mit. „Ich habe mir von ChatGPT eine Pressemitteilung schreiben lassen“, sagt er. Kollegen hatten eine neue App ausprobiert und Grill ihre Meinung dazu geschickt. Der forderte den Chatbot auf: „Schreibe eine Pressemitteilung über 2.800 Anschläge. Baue dabei diese Statements meiner Kollegen ein“ , und erläuterte noch Details. „Das Ergebnis konnte sich zu 90 Prozent schon sehen lassen. Ich musste nur noch den Feinschliff anbringen“, sagt Grill. Er ist jetzt auf der Warteliste für einen Bezahl-Account bei ChatGPT. Naheliegend ist es, den Bot Texte auch korrigieren zu lassen. Während übliche Schreibprogramme Fehler nur anstreichen, bessert ChatGPT die Fehler aus – inklusive möglicher Auswirkungen auf andere Satzteile. Auch die deutsche Vorzeigefirma Deepl hat ihr Modell, das bisher vor allem glänzend übersetzt, auf das Schreiben angesetzt. In „Deepl Write“ kann man deutschen oder englischen Text von einem Umfang von bis zu 2.000 Zeichen korrigieren und stilistisch aufpolieren lassen. Wer im korrigierten Text auf Wörter oder Sätze klickt, kann diese durch KI-Vorschläge ersetzen lassen. Leider ist es recht zeitaufwendig, sich einzeln durch die Sätze zu graben. Es wäre wünschenswert, wenn man den Text gezielt auf stilistische Vorlieben (Aktiv statt Passiv, kurze Sätze) abklopfen lassen könnte. Momentan sind die Schreibempfehlungen noch eine Lotterie.

Überhaupt, das Schreiben: Der Standard-Stil des Bots ist korrekt, aber unheimlich langweilig. ChatGPT schreibt wie ein in Milch eingelegtes Schulbuch aus den Siebzigern. Mit Kontext aber kann das Modell auch anders. Wenn man ChatGPT über Thema, Zielgruppe, Umfang, Format und Stil informiert, passt die KI den Text an. Auch einfache Anweisungen wie „Schreib einfach, in kurzen Sätzen und belege deine Argumente mit Beispielen“ helfen weiter. Unkomplizierter ist es, wenn man einen Lieblingsautor hat: „Schreibe einen Absatz über KI in der Politik im Schreibstil von Roger Willemsen.“

Digitale Muse

Wer ChatGPT nur für Texte einsetzt, verpasst was. Wer so viel gelesen hat wie die KI, hat auch viele Ideen. Deshalb kann sie auch bei der Suchmaschinenoptimierung unter-

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Eingabe „Joe Biden als Cowboy“ bei der Bild-KI Midjourney, Je bekannter die Person, desto mehr Bilder sind im Trainingssatz, desto besser gelingt das Abbild.
politik & kommunikation 22

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) haben einen unterschiedlichen Blick auf einige Dinge.

SO SIND SIE EBEN

Bundeskanzler Olaf Scholz und Vizekanzler Robert Habeck pflegen einen unterschiedlichen KOMMUNIKATIONSSTIL. Habecks Stil erscheint vielen zeitgemäßer. Aber ist er auch erfolgreicher?

Mehr Waffen, mehr Steuern, mehr Zoff – und weniger Zustimmung. Noch ist nicht mal Halbzeit in Berlin (Bund) und die Ampel-Regierung ist nach einem Jahr im energie- und kriegskrisenbedingten Alarm-Modus nun auch selbst in einem alarmierenden Zustand. Zustimmung bröckelt, Landtagswahlen gehen verloren, münden (bis auf Berlin) in schwarz-grünen Bündnissen. Wird Olaf Scholz der erste SPD-Bundeskanzler werden, dessen Amtszeit auf eine Legislaturperiode beschränkt bleibt? Diese Frage kann man stellen, vor allem auch, da Robert Habeck schon seit seiner Ministerzeit in Schleswig-Holstein als Anhänger einer schwarz-grünen Regierung gilt. Oder grün-schwarz? Möglich ist alles, sicher ist nichts. Und in den Urlaub fahren wir dennoch. Welcome to the New World of 2023.

Tja, Scholz. Wer ihm die Frage nach der eigenen Fortüne stellt, kann ein Lächeln erwarten – nicht selten wirkt dies überheblich und besserwisserisch. Und es stimmt ja, dass Olaf Scholz überzeugt ist, vieles sehr gut und das meiste sogar besser zu wissen. Wer ihn als Fragesteller bedrängt, dem begegnet der Kanzler kühl (lernt man bei den Stamokaps). Oder er versucht, auf kritische Fragen gar nicht einzugehen. So wie Scholz es mehrfach machte bei der ZDF-Sendung „Was nun, ...?“ mit Bettina Schausten und Anne Gellinek. Ein Polit-Trick, der sehr 90er ist. Aber das hat Scholz keiner gesagt.

„So ist er halt“, ist die Erklärung, die sein engeres Umfeld teils in glühender Euphorie, teils in resignativer Agonie vorbringt, wenn man auf kommunikative Unzulänglichkeiten „des Chefs“ oder „von Olaf“ hinweist. „So ist er halt“, entgegnete mir einer der Seinen schulterzuckend, als ich ihm am Rande der Verleihung des Marion-Dönhoff-Preises im Hamburger Schauspielhaus sagte, es wäre

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VON BÉLA ANDA

DER ZWECK UND DIE MITTEL

Seit Monaten ist die LETZTE GENERATION immer wieder in den Schlagzeilen. Häufig geht es dabei weniger um ihre Forderungen als um ihre Aktionen. Wie beurteilen Aktivisten der Klimabewegungen die verschiedenen Protestformen?

VON KATHI PREPPNER

politik & kommunikation 26

Aktivisten der „Letzten Generation“ kleben sich häufig auf der Straße fest, um auf die Erderhitzung aufmerksam zu machen. Ob die Blockaden dabei wirklich helfen, ist umstritten.

erboste Autofahrer, entsetzte Museumsdirektorinnen und die Bali-Reise zweier Mitglieder der Letzten Generation. Die „Bild“-Zeitung schreibt fast durchgängig von „Klima-Klebern“ und „Klima-Chaoten“. Die Bezeichnung „Klimaterroristen“ wurde zum Unwort des Jahres gekürt. Besonders stark spitzte sich die Debatte nach dem Unfalltod einer Berliner Radfahrerin zu, als kurz die Frage im Raum stand, ob sie besser hätte versorgt werden können, wenn es an diesem Tag in Berlin keine Straßenblockaden gegeben hätte. Auch Stimmen aus der Bundesregierung verschärften zuletzt ihren Ton. Kurz nach dem tödlichen Fahrradunfall warnte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt vor der „Entstehung einer Klima-RAF“. Nachdem der Flugverkehr auf dem Hauptstadtflughafen BER zeitweise lahmgelegt wurde, nannte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Aktion „nicht nur nicht verständlich, sondern auch hochgefährlich“. Und Bundesklimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) sagte im Interview mit dem „Stern“: „Am Ende braucht ein politisches Ziel in einer Demokratie eine Mehrheit. Und dabei helfen Protestformen, die verärgern, nicht wirklich.“ Bei der Letzten Generation erlebe man eine „Radikalisierung der Wenigen“.

Im historischen Vergleich sind Blockaden noch moderat

Letzte-Generation-Sprecher Karim Dillhöfer sagt, er finde es grundsätzlich auch falsch, sich auf die Straße zu setzen und den Verkehr zu unterbrechen. „Aber wir gehen nicht auf die Straße, um gegen die Autofahrenden zu protestieren, sondern weil wir wissen, dass wir ignoriert werden, wenn wir nur vorm Bundeskanzleramt sitzen.“ Dillhöfer wünscht sich, dass die Leute „diesen ersten Irritationsmoment überwinden und die Dringlichkeit der Klimakrise nachvollziehen“. In Umfragen von Anfang November, kurz nach dem Fahrradunfall, gaben jedoch rund 80 Prozent der Menschen hierzulande an, dass ihnen die Protestformen der Letzten Generation zu weit gehen. Dabei zeigte eine Forsa-Umfrage aus demselben Monat, dass der Klimawandel den Menschen hierzulande die größten Sorgen macht – mehr als Krieg und hohe Energiekosten.

Mitte Februar stand Carla Hinrichs in Berlin vor Gericht. Sie hatte in der Woche zuvor zusammen mit anderen Aktivisten morgens um 7.40 Uhr die Autobahnausfahrt am Spandauer Damm blockiert. Vor dem Amtsgericht Berlin verteidigte sie die Aktion, indem sie auf ihr Ziel verwies: Sie wolle das Leben auf der Erde schützen. Der Richter des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten hielt dagegen: „Es geht nicht um Ihr Ziel, sondern um die Art und Weise.“

Mit der Art und Weise ihrer Proteste steht die Letzte Generation seit Monaten in den Schlagzeilen. Um ihre Ziele geht es in den Beiträgen, wenn überhaupt, oft nur am Rande. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen

Dabei seien die Protestpraktiken der Letzten Generation im historischen und internationalen Vergleich relativ moderat, sagt Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie an der Freien Universität Berlin. „Sie alle schließen etwa explizit und aus Prinzip Gewalt gegen Personen aus, was sie zu Beispielen des zivilen Ungehorsams macht und klar von gewaltsamem Widerstand oder gar Terrorismus abgrenzt.“ Der Eindruck der Radikalisierung sei vor allem darauf zurückzuführen, dass die Blockaden im Straßenverkehr und die Aktionen in Kunstmuseen gezielt auf Störung und Provokation angelegt seien, um politischen Druck aufzubauen. „Sicherlich sind solche Blockaden für den Anfang ein effektives Mittel, weil mit wenigen Leu-

27 I/2023
politik & kommunikation 34

Krawall macht berühmt: Boris Palmer (Grüne), Oberbürgermeister von Tübingen, auf dem Weg zur nichtöffentlichen Anhörung zum Parteiausschlussverfahren gegen ihn in Stuttgart.

AUF MEHREREN HOCHZEITEN

Manche Politiker melden sich bei Twitter oder in Talkshows zu jedem denkbaren THEMA zu Wort. Andere beschränken sich auf ihr politisches Fachgebiet.

Zahlt es sich aus, bei seinen Leisten zu bleiben?

In Talkrunden, auf Podien und in Presseberichten treffen wir immer wieder auf dieselben Gesichter. Ein Politiker, der was zum Thema Militär und Sicherheit sagen kann? Roderich Kiesewetter (CDU). Jemand, der sich mit Digitalisierung auskennt? Anke Domscheit-Berg (Linke). Es geht um Gesundheit? Andrew Ullmann (FDP). Diese und viele weitere Politiker haben einen klaren Schwerpunkt – und der zieht sich auch in die Außenwirkung. Während sie lieber nur auf einer Hochzeit tanzen, lassen andere Politiker keine Party aus und melden sich zu allem zu Wort – man denke etwa an Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne, Mitgliedschaft ruht bis Ende 2023), der gerne auch für Kritik an der Bundespolitik zur Verfügung steht.

Aber was davon ist die schlauere Kommunikationsstrategie? Oder ist es schlicht Typsache? Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje hat dazu eine klare Meinung: „Expertise kann sich sehr positiv auf die Wahrnehmbarkeit in Parteien und der Öffentlichkeit auswirken“, sagt er. Dieser Vertrauensvorschuss könne sich besonders bei jungen Politikern auszahlen und gar als Karrierekatalysator wirken. „Politische Quereinsteiger aus der Praxis werden in der breiten Öffentlichkeit besonders geschätzt“, sagt Hillje. „Ihnen wird unterstellt, dass sie ihr Fach verstehen und nicht direkt aus dem Hörsaal kommen.“ Sie gelten als Praktiker – oder zumindest profilierte Theoretiker, die sattelfest über ihr Lieblingsthema berichten und Sachlagen einschätzen können.

Erfahrung macht Experten?

Eine passende Biografie ist hilfreich – wie zum Beispiel die von Sebastian Fiedler (SPD). Der ehemalige Kri-

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VON JENNIFER GARIC

VERTRAUEN IST GUT, ERFAHRUNG IST … AUCH GUT

Mit jedem Regierungswechsel ändern MINISTERIEN die Farbe. Die neuen Ministerinnen und Minister besetzen Schlüsselpositionen in ihrem Haus neu. Regierungserfahrung, fachliche Expertise und persönliche Beziehung: Worauf vertrauen Spitzenpolitiker?

Boris Pistorius hat es geschafft: Aus dem Stand (in seinem Fall dem niedersächsischen Landesinnenministerium) hat er sich an die Spitze der Beliebtheitsskala aller deutschen Politiker gesetzt. Auch die Truppe scheint ihm zu vertrauen – doch wem vertraut Pistorius? Zunächst einmal derselben Mannschaft wie seine glücklose Vorgängerin Christine Lambrecht, unter ihnen die Lambrecht-Vertraute Margaretha Sudhof. Inmitten einer schwierigen sicherheitspolitischen Lage und ohne die üblichen 100 Tage Eingewöhnungszeit eine nachvollziehbare Entscheidung.

In Zeiten von Regierungswechseln sieht das oft anders aus. Wenn neue Ministerinnen in die Ministerien einziehen, das Ressort wechseln oder ganz aus ihren Ämtern ausscheiden, beginnt auch auf den unteren Führungsebenen oft ein munteres Stühlerücken. Wie jede Führungskraft bringt auch ein neuer Minister eigene Leute mit, dafür müssen andere weichen. Oft bleibt aber zumindest eine Partei auf der Regierungsbank sitzen.

In dieser Legislatur war das die SPD. Von den drei Sozialdemokraten, die bereits im letzten Merkel-Kabinett saßen, blieb nur Arbeits- und Sozialminister Huber-

tus Heil auf seinem Posten. Svenja Schulze zog mit ihrem Staatssekretär Jochen Flasbarth vom Umweltministerium ins Entwicklungsministerium. Christine Lambrecht nahm, wie schon erwähnt, ihre Staatssekretärin Margaretha Sudhof mit vom Justiz- ins Verteidigungsministerium, aus dem sie sich jetzt verabschiedete.

Klar ist: Minister brauchen Leute, auf die sie sich verlassen können. Kanzler Olaf Scholz (SPD) ist dafür das beste Beispiel: Seine Vertrauten begleiten ihn seit Jahren. Auch ins Kanzleramt sind Wolfgang Schmidt und Jörg Kukies ihm gefolgt. Sollten Minister also die Führungsposten ihrer Behörde einfach mit treuen Weggefährten besetzen? So einfach ist das nicht. Gerade bei komplizierten Fachbereichen kann das nach hinten losgehen – oder wenn sich die Großwetterlage gewaltig ändert.

BMWK: Das Transformationsministerium

Robert Habeck kann ein Lied davon singen. Mit dem ehemaligen Grünen-Chef und seinem neuen Haus, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (neuer-

politik & kommunikation 42
VON TOBIAS SCHMIDT

Der langjährige Staatssekretär Werner Gatzer begrüßt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bei dessen Ankunft im Bundesfinanzministerium.

43 I/2023

RÖTER WIRD’S NICHT

Die LINKE ist in der größten Krise ihrer Geschichte. Die Gründe für den Niedergang sind vielfältig. VON

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ECKHARD JESSE

Die Partei Die Linke musste bei den Wiederholungswahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 12. Februar 2023 erneut Verluste hinnehmen. Ihr Anteil sank von 14,1 auf 12,2 Prozent. Allerdings fielen die Verluste geringer aus als bei den vorangegangenen Wahlen. Die Linke versuchte daher, das Ergebnis schönzureden. Bei der letzten Landtagswahl vor der Bundestagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt stürzte sie von 16,3 auf 11,0 Prozent ab.

Bei dieser Bundestagswahl traf die Partei um die Spitzenkandidaten Dietmar Bartsch und Janine Wissler ein Schock: Sie erreichte bloß 4,9 Prozent (2017: 9,2 Prozent) und konnte nur dank des Gewinns von drei Direktmandaten wieder in den Bundestag einziehen.

Die Wahlen am gleichen Tag in Berlin (von 15,6 auf 14,1 Prozent) und vor allem in Mecklenburg-Vorpommern (von 13,2 auf 9,9 Prozent) bestätigten diesen negativen Trend. Und alle vier Landtagswahlen in den vier westdeutschen Flächenstaaten führten 2022 zu einem Desaster für die Partei. Zunächst fiel sie im Saarland von 12,9 auf 2,6 Prozent, dann kam sie in Schleswig-Holstein lediglich auf 1,7 Prozent (2017: 3,8 Prozent), in Nordrhein-Westfalen auf 2,1 Prozent (2017: 4,9 Prozent) und in Niedersachsen auf 2,7 Prozent (2017: 4,6 Prozent).

Aufstieg der Partei

Die Geschichte der Partei Die Linke ist eine Integrationsgeschichte. Was 1990 als nahezu ausgeschlossen galt, ist eingetreten: die Etablierung der Partei und ihre breite Akzeptanz in Politik, Publizistik und Wissenschaft. Einerseits löste sich die politische Kraft von marxistisch-leninistischen Dogmen, andererseits kam ihr die politische Konkurrenz entgegen. Sie ist längst kein „Schmuddelkind“ mehr. Offenbar wird sie in Ostdeutschland vielfach als normale Partei wahrgenommen. Im Westen ist das ähnlich, jedenfalls gilt die Partei nicht mehr als akute Bedrohung der Demokratie, sondern eher als Kraft der sozialen Gerechtigkeit.

Die aus der SED hervorgegangene Partei heißt seit 2007, nach der Fusion mit der westdeutschen Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG), Die Linke. Sie hat sich mehrfach umbenannt – von 1990 bis 2005 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), von 2005 bis 2007 die Linkspartei – und auch inhaltlich verändert. Die PDS war in den ersten 15 Jahren mehr oder weniger eine reine Ostpartei, die den Ost-West-Gegensatz pflegte. Im Westen hatte sie vor allem bei systemfeindlich eingestellten Jugendlichen Unterstützung gefunden, weil dort das Erscheinungsbild einer zum Teil militant antikapitalistisch auftretenden Partei weitgehend ein anderes, radikaleres war als im Osten.

Mitte:

Unten:

Die Partei profitiert weder von der großen Politik ( Corona-Politik, Migrationspolitik, Ukraine-Politik) noch von den Problemen der Bürger, etwa in der Sicherheits- oder Wohnungspolitik. Ihre Kompetenzwerte in den verschiedenen Politikfeldern sind niedrig. Der Rückgang ist also offensichtlich nicht auf spezifische politische Ereignisse oder personelle Faktoren in einzelnen Ländern zurückzuführen. Er kommt ebenso überraschend wie der Aufstieg.

Die notwendig gewordenen Sozialreformen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder („Hartz IV“), die zahlreiche Proteste im linken Milieu auslösten, veränderten die Lage gravierend zugunsten der Partei. Im Westen des Landes entstand 2005 mit der WASG eine Kraft, die gegen die als unsozial empfundene Politik Schröders aufbegehrte. Der Schulterschluss mit ihr federte die kulturelle Fremdheit der Post-

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Oben: Linke-Urgestein Gregor Gysi. Sahra Wagenknecht wird nachgesagt, mit der Gründung einer eigenen Partei zu liebäugeln. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow ist der einzige Regierungschef, den die Linke stellt.

SONST STREIK’ ICH HIER

GEWERKSCHAFTEN haben ein Problem: Mit den sinkenden Mitgliederzahlen schwindet auch ihre Macht. Wie stemmen sie sich dagegen?

VON JUDIT CECH

politik & kommunikation 56

Links: Der DBB-Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach (m.) bei einer Demonstration während einer Tarifrunde.

Unten: IG-Metall -Mitglieder demonstrieren vor der „Schaeffler“-Zentrale gegen Personalabbau.

Gewerkschaften sind in Deutschland seit jeher wichtige Interessenvertretungen für Arbeitnehmer. Sie kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und soziale Gerechtigkeit. Doch in den letzten Jahrzehnten haben die Gewerkschaften mit einer sinkenden Mitgliederzahl zu kämpfen und sind alarmiert. Ihre Macht hängt maßgeblich von der Zahl ihrer Mitglieder ab.

Im Jahr 2021 waren 13 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland Mitglied in Gewerkschaften, die in Dachverbänden organisiert sind wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), dem Deutschen Beamtenbund und Tarifunion (DBB) oder dem Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB). Allein der DGB hatte im Jahr 2021 rund 5,7 Millionen Mitglieder. In den Blütezeiten des Dachverbandes war das noch anders. Im Jahr 1991 waren – auch aufgrund einer Eintrittswelle nach der Wiedervereinigung – rund 11,8 Millionen oder rund 30 Prozent aller Arbeitnehmer Mitglied im DGB. Jetzt stagnieren die Zahlen seit Jahren, auch die zweit- und drittgrößten Gewerkschaftsbünde DBB und CGB sind betroffen.

Zum Vergleich: In den skandinavischen Ländern Island, Dänemark und Schweden waren 2019 laut OECD 91, 67 und 65 Prozent der Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft. Machen die deutschen Gewerkschaften etwas falsch?

Gewerkschaften sehen alt aus

Nein, sagt Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Der Mitgliederzuwachs nach der Wende sei einfach schnell verpufft. „Infolge der Transformation in Richtung Markt-

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