Homosexualität und Religion

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HOMO SEXUALITÄT UND RELIGION J u d e n tu m Christentum Islam


2 Foto: Chris Lambertsen


All you need is love

The Beatles 1967

Diese BroschĂźre ist all denen gewidmet, die Opfer von religiĂśsem, sozialem oder politischem Fundamentalismus wurden und werden.

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Inhalt

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52 60

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Vorwort Stefan Mielchen, Jens Ehebrecht-Zumsande, Chris Lambertsen

Theologische

Perspektiven

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Christentum evangelisch PD Dr. Wolfgang Schürger Zwischen Homophobie und Homophilie – Die evangelischen Kirchen in Deutschland

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Christentum römisch-katholisch Dr. Wunibald Müller Den Menschen sehen

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Islam Ulrika Kilian Islam und Homosexualität

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Judentum Prof. Dr. Walter Homolka Homosexualität im Judentum

Interviews

und

Portraits

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Dr. Ingeborg Löwisch Nils Christiansen Ganz einfach: Ständig die Klappe aufmachen! Christentum evangelisch

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Manuela Sabozin Die haben mich einfach nicht verdient Christentum römisch-katholisch

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Mark Terence Jones Für mich ist klar: Ich bleibe in der Kirche, denn ... Christentum römisch-katholisch

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Jalda Rebling Bashert – match made in heaven Judentum

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Kai Eckstein Tikkun Olam – Verbesserung der Welt Judentum

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Lisa Osman Wenn Liebe eine Sünde ist, was auf der Welt soll dann keine Sünde sein? Islam

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Andeas Ismail Mohr Es geht nicht darum, das Gesetz oder den Buchstaben zu erfüllen, sondern ... Islam

Außenansichten 64

Corinna Gekeler Dass ihre Kirche sie diskriminiert, ist für viele Gläubige nicht aussprechbar

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Prof. Dr. Udo Rauchfleisch Zwischen Zugehörigkeit und Distanzierung

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Dankeschön – Impressum

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Informationen – Beratung

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Vorwort

Parallel zur Fertigstellung dieser Broschüre überrascht eine Meldung aus Irland ganz Europa: Bei einer Volksabstimmung stimmten 62,1 Prozent der Iren für eine Verfassungsänderung, die zukünftig auch die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare möglich macht. Zu Recht wird dieses Ergebnis als historisch bezeichnet. Kein Medienbericht und kein Kommentar, der nicht darauf verweist, wie erstaunlich dieses Ergebnis in einem so stark katholisch geprägten Land wie Irland sei. Bis 1993 stand Homosexualität in Irland noch unter Strafe. Das Abstimmungsergebnis darf auch als Zeichen für einen Autoritätsverlust der katholischen Kirche gedeutet werden. Zugleich ist es auch ein Beleg dafür, dass die Mehrheit der katholischen Iren offensichtlich keinen Widerspruch mehr zwischen der Anerkennung von Homosexualität und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und dem Glauben erkennen mag. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie eng oft die gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung von LGBTIMenschen mit Religion(en) verknüpft sind. Lesben und Schwule haben in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren einen großen gesellschaftlichen Wandel erlebt und erkämpft. Homosexualität wird nicht mehr tabuisiert, die gesetzliche Gleichstellung ist weit fortgeschritten. Doch die christlichen Kirchen und andere Religionsgemeinschaften hinken diesem Fortschritt deutlich hinterher: Homosexualität gilt oft noch als nicht gleichwertig bis hin zur Sünde, Beschäftigte kirchlicher Arbeitgeber müssen teilweise mit Repressalien rechnen, Gläubige werden ausgegrenzt oder gemobbt.

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Mit dieser Broschüre greifen wir dieses Thema mit Blick auf die drei großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam auf. Eine sicherlich ebenso lohnenswerte Sicht auf weitere Religionsgemeinschaften und Konfessionen würde den Rahmen dieser Broschüre deutlich sprengen. Die von uns gewählte Konzentration soll daher eine Übersichtlichkeit gewährleisten. Neben theologischen Perspektiven stellen wir in Portraits und Interviews vor allem verschiedene Menschen und ihre Geschichten und Standpunkte in den Mittelpunkt. Wir gehen dabei verschiedenen Fragen nach: Wo stehen die Religionsgemeinschaften zwischen traditioneller Lehre und gesellschaftlichen Ansprüchen? Wie gehen gläubige homosexuelle Frauen und Männer mit der Widersprüchlichkeit um, und welche Antworten können sie von ihrer Kirche oder Glaubensgemeinschaft erwarten? Lehrmeinungen von Religionen scheinen oft festgefügt. Doch sie sind zuerst und vor allem Meinungen, Haltungen und Standpunkte von Personen. Diese aber können sich entwickeln und verändern. Hierzu sind neben Sachkenntnis vor allem auch der Dialog und die Begegnung bedeutsam. Mit dem Erscheinen dieser Broschüre verbinden wir deshalb in Hamburg auch eine Podiumsdiskussion zum Thema, bei der Vertreter*innen der Religionsgemeinschaften mit Menschen aus der LGBTI-Community ins Gespräch kommen. Wir wünschen uns, dass diese Broschüre ihren Teil zu einem weiterführenden Dialog beiträgt und danken allen Autor*innen und Gesprächspartner*innen, die auf ihre Weise zum Erscheinen beigetragen haben.

Stefan Mielchen Jens Ehebrecht-Zumsande Chris Lambertsen

Hamburg, im Juni 2015

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Christentum evangelisch

Der Schauspieler Thomas Karallus in seiner Rolle als Pastor Klaus Tuchel – der 1958 mit einem Strichjungen erwischt wurde. Er schied daraufhin aus der Kirche aus. Eine Szene während des szenischen historischen Rundgangs VERBOTENE WEGE DER LIEBE durch Hamburgs Innenstadt. Veranstaltet von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg 2014

Foto: Chris Lambertsen

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Zwischen Homophobie und Homophilie – die Evangelischen Kirchen in Deutschland von PD Dr. Wolfgang Schürger

„Im Umgang mit homophilen Menschen in unserer Kirche ist die Einsicht gewachsen, dass mit der Ausgrenzung, Diskriminierung und Kriminalisierung homophiler Menschen ein Irrweg beschritten worden ist, der dem Evangelium widerspricht. Die strafrechtliche Sanktionierung ging von Annahmen aus, die sich nicht als tragfähig erwiesen. Die Verfolgung von Homosexuellen in den Konzentrationslagern der Nazizeit ist ein Teil des dunkelsten Kapitels unserer hier schuldbeladenen Geschichte. Die Erinnerung daran nimmt uns als Kirche in die Pflicht und stellt allen Christen die Aufgabe, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung das Wort zu erheben.” (Fürther Erklärung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, 1993) Protestantische Kirchen – und damit protestantische Männer und Frauen – waren lange beteiligt an der Unterdrückung von gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Menschen. In den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts kommt es in vielen Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu der Einsicht, die in der eben zitierten „Fürther Erklärung” zum Ausdruck kommt: Mit dieser Ausgrenzung und Diskriminierung haben die Kirchen Schuld auf sich geladen. In den letzten 20 Jahren ist es daher in den meisten Landeskirchen zu einem tiefgreifenden Diskussionsprozess über die zutreffende ethische Bewertung von Homosexualität und um die Stellung von gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Menschen in den Kirchen gekommen. In den meisten der 20 Gliedkirchen der EKD ist heute eine Mitarbeit als offen lesbische Pfarrerin oder offen schwuler Pfarrer grundsätzlich möglich, auch das Zusammenleben mit Partnerin oder Partner im Pfarrhaus ist in vielen Kirchen akzeptiert. Es gehört jedoch zum Kennzeichen des Protestantismus, der sich ja durch seine Pluralität und Streitkultur auszeichnet, dass innerhalb der jeweiligen Landeskirchen in den einzelnen Gemeinden große Unterschiede zu finden sind. Pietistisch oder evangelikal geprägte Kirchengemeinden zeigen nach wie vor geringe oder gar keine Akzeptanz für gleichgeschlechtlich l(i)ebende Menschen. In diesem Beitrag werde ich aufzeigen, wie sich die homo– phoben Haltungen im Protestantismus begründen, wie es gelungen ist, diese Haltungen zu überwinden und welche positiven Impulse schließlich aus der protestantischen Tradition für das Zusammenleben unterschiedlicher Lebensformen kommen können.

Sodom und Gomorra – biblische Texte als Begründung für Homophobie Die biblischen Städte Sodom und Gomorra sind in der Umgangssprache zum Inbegriff eines zügellosen (sexuellen) Lebens geworden. „Sodomiter” war im Mittelalter die gebräuchliche Bezeichnung für Männer, die Geschlechtsverkehr mit Männern hatten. Die biblische Geschichte erzählt (1. Mose/Gen 19), wie Lot, ein Verwandter Abrahams, der in der Stadt Sodom lebt, Besuch von zwei Männern erhält. Engel in Menschengestalt, die von Lot als Gäste in sein Haus aufgenommen werden. Am Abend kommen „die Männer der Stadt” und fordern Lot auf, die Männer aus dem Haus zu schicken – ganz offensichtlich, damit sie diese vergewaltigen können. Lot bietet in seiner Verzweiflung seine jungfräuliche Tochter als Alternative an, doch bevor die Situation weiter eskaliert, offenbaren die Gäste ihre überirdischen Kräfte und schlagen die Männer vor der Tür mit Blindheit. Diese Verletzung des Gastrechtes - denn darum geht es eigentlich – wird zum letzten und unmittelbaren Anlass, dass Gott Sodom mit Feuer vernichtet. Im Kern der Erzählung geht es nicht um Homosexualität, sondern um die Verletzung des Gastrechtes, dem in der Tradition des Alten Testaments ein hoher Stellenwert zukommt. Diese Verletzung geschieht auch nicht durch homosexuelles Verhalten, sondern durch den Versuch der Vergewaltigung – wie unbedeutend dabei die sexuelle Orientierung ist, zeigt eine Parallelerzählung aus dem Richterbuch (Ri 19): Einem Priester ist seine Nebenfrau davon gelaufen. Er reist ihr hinterher bis zu seinem Schwiegervater und irgendwie werden sie sich einig, dass die Frau wieder mit dem Priester zurück kehrt. Auf der Reise müssen sie in einer fremden Stadt übernachten. Ein alter Mann nimmt sie in sein Haus auf. Die Männer der Stadt kommen in der Nacht und drängen darauf, den Priester zu vergewaltigen. Auch dieses Mal weiß der Gastgeber um die Bedeutung des Gastrechts – und bietet seine wiederum jungfräuliche Tochter als Alternative an. Es gibt keine Engel, die diesem Missbrauch zuvor kommen können, die Tochter bleibt bewahrt, weil der Priester an ihrer Stelle seine Nebenfrau vor die Tür schickt. Diese wird von den Männern die ganze Nacht vergewaltigt und stirbt am Morgen vor der Türe. Die Stämme Israels nehmen daraufhin vernichtende Rache an dem Ort.

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Christentum evangelisch

Die Wissenschaftliche Neubewertung von Homosexualität und das Umdenken der Kirchen

Im Neuen Testament waren und sind es vor allem die sogenannten „Lasterkataloge” in den Briefen des Apostels Paulus, die als Begründung für die Homophobie des Protestantismus dienten. „Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes ererben”, schreibt der Apostel an die Gemeinde in Korinth (1 Kor 6, 9f) und ähnlich an den jungen Bischof Timotheus (1 Tim 1, 10). Auch hier ist eigentlich unschwer zu erkennen, dass Paulus über Formen von sexueller Abhängigkeit spricht, wie er sie in seinem Umfeld sicherlich häufig beobachten konnte – aber nicht von partnerschaftlich gelebter Sexualität oder gar einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Allerdings: Ob es diese unter homosexuellen Männern gibt, das war im ausgehenden 19. und über viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auch wissenschaftlich umstritten. Die wissenschaftliche Neubewertung von Homosexualität und das Umdenken der Kirchen Seit Richard von Krafft-Ebings Standardwerk „Psychopathia Sexualis” von 1886 wurde Homosexualiät gemeinhin als Störung der sexuellen Entwicklung verstanden - so auch bei Sigmund Freud. Im Jahr 1973 streicht die American Psychiatric Association (APA) Homosexualität aus der Liste der psychischen Krankheiten, die Weltgesundheitsorganisation WHO geht dieses Schritt erst im Jahr 1992. Protestantische Homophobie konnte also bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder betonen, dass Homosexualität nichts sei, das zu akzeptieren, sondern vielmehr zu therapieren sei – und Seelsorger und christliche Therapeuten boten dabei ihre Hilfe an.

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Auch wenn viele kirchliche Dokumente der neunziger Jahre betonen, dass ethische Urteile von humanwissenschaftlichen Einsichten unabhängig getroffen werden könnten, so stellte die humanwissenschaftliche Neubewertung der Homosexualität doch eine wichtige Unterstützung des kirchlichen Umdenkens dar: Der Reformator Martin Luther betont die Würde der weltlichen „Stände” Beruf und Familie und grenzt sich – nicht zuletzt auch durch seine eigene Eheschließung – von der Bevorzugung der religiösen Stände des zölibatären Lebens ab. Die biblische Aussage „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei” (1 Mose/Gen 2, 18) wird zum Leitwort protestantischer Sexual- und Familienethik. Solange Homosexualität als abnormes, zu therapierendes und therapierbares Verhalten galt, sahen protestantische Seelsorge und Therapie ihre Aufgabe bestenfalls darin, die „Not” homosexueller Menschen dahingehenden zu bearbeiten, dass sie fähig würden, das andere Geschlecht zu lieben. In dem Moment aber, in dem sich in den Humanwissenschaften die Erkenntnis durchsetzt, dass Homosexualität „Prägung” oder Persönlichkeitsmerkmal ist, ändert sich auch die seelsorgerliche Ausrichtung: „An dieser Stelle müssen die in Schrift und Bekenntnis aufgezeigten Linien nicht korrigiert, wohl aber ausgezogen werden, so daß sie auch für eindeutig und unveränderbar homosexuell geprägte Menschen gelten. Das heißt aber: Denjenigen, denen das Charisma sexueller Enthaltsamkeit nicht gegeben ist, ist zu einer vom Liebesgebot her gestalteten und damit ethisch verantworteten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft zu raten. Die Kriterien, die für sie gelten, sind – mit einer wesentlichen Ausnahme - dieselben, die für die Ehe und Familie gelten: Freiwilligkeit, Ganzheit-


Gottesdienst zum Tag der verfolgten Homosexuellen 2006 in der Hamburger Dreieinigkeitskirche. Auf dem quer durch den Kirchenraum laufenden Band stehen die Namen von Hamburger Homosexuellen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Foto: Chris Lambertsen

Protestantische Ethik: Die Vielfalt der Lebensformen in Verantwortung gestalten

lichkeit, Verbindlichkeit, Dauer und Partnerschaftlichkeit.” (EKD, Mit Spannungen leben, 1996). Man merkt, wie die Autorinnen und Autoren der „Orientierungshilfe” noch mit alten Vorurteilen ringen, aber diese Maxime wird in den darauf folgenden Jahren alle weiteren Entscheidungen der EKD und ihrer Gliedkirchen bestimmen. Viele führende Persönlichkeiten der protestantischen Kirchen in Deutschland haben sich daher auch deutlich befürwortend in die politische Diskussion um das Lebenspartnerschaftengesetz eingebracht, wobei in den Gliedkirchen als ganzen bis heute immer noch die Diskussion darüber geführt wird, wie viel „Abstand” zu der Form der Ehe nötig ist. Umstritten ist dabei insbesondere die Frage, ob gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ein Ort sein können, an dem Kinder aufwachsen sollen - darauf bezieht sich auch der Hinweis auf die „eine wesentliche Ausnahme” in der Orientierungshilfe. Protestantische Ethik: Die Vielfalt der Lebensformen in Verantwortung gestalten Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert denkt der Protestantismus weniger in Institutionen als in Beziehungen. Schon Martin Luther hatte den Segen als ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch verstanden und sich damit gegen ein dinghaftes Segensverständnis des Katholizismus abgegrenzt. Beziehungsgeschehen, Lebenszusammenhänge unterschiedlichster Art können also ethisch verantwortlich gestaltet werden – oder auch nicht. Oberstes Kriterium, auch dies wird in der EKD-Orientierungshilfe deutlich, ist das christliche Liebesgebot. Diese „Grundnorm” muss dann freilich auf die verschiedensten Lebenszusammenhänge hin durchdekliniert werden, um zu Handlungsmaximen zu ge-

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Christentum evangelisch

2. Stonewall Demonstration 1981 in Hamburg w채hrend des 19. Deutschen Evangelischen Kirchentages

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Foto: Chris Lambertsen


Ich kann lesbische Christinnen und schwule Christen nur ermutigen, sich in ihre Kirchen und Gemeinden einzubringen

langen. Diese werden im Bereich der Wirtschaftsethik dann anders aussehen als in Fragen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens. Die „Orientierungshilfe” konkretisiert das Liebesgebot mit Blick auf die verschiedenen Formen des Zusammenlebens, indem sie als Kriterien für eine ethisch verantwortliche Gestaltung „Freiwilligkeit, Ganzheitlichkeit, Verbindlichkeit, Dauer und Partnerschaftlichkeit” nennt. Von diesen Maximen her sind alle Formen des Zusammenlebens zu beurteilen – und es liegt auf der Hand, dass auch gleichgeschlechtliche Beziehungen hier eine positive Würdigung erfahren können. Soll bei einem ethischen Urteil die Vielfalt der Beziehungsformen angemessen gewürdigt werden, so ist wichtig zu beachten, dass die genannten ethischen Maximen sich gerade dadurch als ethische Kriterien auszeichnen, dass die vorfindliche Wirklichkeit in der Regel hinter ihnen zurückbleibt. Ethischer Rigorismus aber ist den meisten Formen des Protestantismus fremd, vielmehr geht es darum, die Diskrepanz von Sein und Sollen bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren und zu gestalten. So lässt sich zum Beispiel beobachten, dass kirchliche Stellungnahmen seit dem Ende der 90er Jahre immer deutlicher wahrnehmen und ethisch positiv würdigen, dass Kinder in verschiedensten Konstellationen des Zusammenlebens einen angemessenen Schutzraum zum Aufwachsen finden können. Protestantische Kirchen können Heimat für Menschen in unterschiedlichsten Lebensformen werden, weil protestantische Ethik Leben, das vor Gott gelingt, als Leben versteht, in dem die Beziehung zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Gott verantwortlich gestaltet und gelebt wird. Ausgehend vom christlichen Liebesgebot gibt protestantische Ethik Anregungen, Zusammenleben zu gestalten und hinterfragt kritisch jede Form des gelebten Miteinanders.

aufgrund der Tatsache, dass männliche Homosexualität in der BRD bis zum Ende der 60er Jahre immer noch völlig kriminalisiert war, beherrschte das Vorurteil gleichermaßen das gesellschaftliche wie das kirchliche Urteil über gleichgeschlechtlich l(i)ebende Menschen. In der Begegnung mit konkreten Menschen wurde vielen dann bewusst, dass es sich hier ganz offensichtlich doch nicht nur um „abnorme” Personen handelte, die unfähig zu Beziehung sind. Die eingangs zitierte „Fürther Erklärung” wäre vermutlich nie mit einer so großen Mehrheit angenommen worden, wenn es nicht vor der entscheidenden Sitzungswoche der Landessynode zu einer Begegnung der damaligen Vorsitzenden der konservativen Gruppe der Synode mit einem ihrer ehemaligen Konfirmanden gekommen wäre: Ihr Lieblingskonfirmand demonstrierte vor dem Plenarsaal mit der Ökumenischen Arbeitsgruppe „Homosexuelle und Kirche” für eine Öffnung der bayerischen Landeskirche für Lesben und Schwule. „Wenn der auch dabei ist, dann kann das nicht alles Sünde sein” – so muss ihr Gedanke gewesen sein. Beide verzogen sich für ein längeres Gespräch unter vier Augen – und danach hatte sich der konservative Flügel mit einer deutlich moderateren Wortführerin auseinanderzusetzen. Ich kann lesbische Christinnen und schwule Christen daher nur ermutigen, sich in ihre Kirchen und Gemeinden einzubringen – auch wenn manchmal vielleicht noch Vorurteile auftauchen mögen.

Kirchenrat Dr. Wolfgang Schürger ist Privatdozent für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen

Lernen in Begegnung

Kirche in Bayern und Vorstandsmitglied der

Ich will am Ende nicht verhehlen: Viele Entwicklungen in den protestantischen Kirchen wären vielleicht anders verlaufen, wenn es nicht seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts engagierte Lesben und Schwule gegeben hätte, die um den Platz in ihren Kirchen gekämpft haben: Nicht zuletzt

Arbeitsgemeinschaft Schwule Theologie e.V. Kontakt: wolfgang.schuerger@elkb.de

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Christentum rรถmisch-katholisch

Katholische Provinz VII Eitempra, 43 x 61cm 2013 Motiv aus der Serie: Katholische Provinz von Ulrich Rรถlfing, Hamburg

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Den Menschen sehen von Dr. Wunibald Müller Die irrationale Angst vor homosexuellen Menschen So sehr die Kirchen, darunter auch die katholische Kirche, sich auch gegen die Diskriminierung homosexueller Menschen aussprechen und fordern, homosexuellen Menschen mit Respekt zu begegnen, sehen sie sich doch immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, Homophobie zu fördern, ja in ihren eigenen Reihen gegenüber homosexuellen Menschen nicht frei von Homophobie zu sein. Tatsächlich ist in der Kirche vielerorts eine Angst festzustellen, wenn es um Homosexualität und homosexuelle Menschen geht. Diese Angst hat homophobische Züge, insofern es sich um eine irrationale Angst vor homosexuellen Menschen handelt, die zur Ablehnung homosexueller Menschen, bei homosexuellen Menschen selbst zu Selbsthass, führen kann. Homophobie lässt sich weiterhin bei Personen nachweisen, die Angst vor ihren eigenen homosexuellen Impulsen haben; die in der Homosexualität eine Gefährdung dessen sehen, wofür sie einstehen, z.B. Heim und Familie; die homosexuellen Praktiken als abstoßend und ekelerregend einstufen; die homosexuelle Veranlagung als eine Abweichung von der Schöpfungsordnung sehen. Dazu kommt die Angst homosexueller Menschen selbst, nicht ernst genommen, in der Kirche als Mitglied zweiter Klasse betrachtet zu werden, ja mitunter gar mit Verachtung rechnen zu müssen, wenn sie sich als homosexuell outen. Das trifft vor allem auf kirchliche Mitarbeiter – darunter viele Priester – und Mitarbeiterinnen zu, schließt aber auch einfache Kirchenmitglieder mit ein. Diese Angst geht bei manchen so weit, dass sie sich vor sich selbst nicht zugestehen können, homosexuell zu sein. Sie halten damit aber eine entscheidende Wirklichkeit ihrer Person vor sich selbst verborgen und integrieren diese nicht in ihr Wirken und ihre Beziehungen. Die Angst im Zusammenhang mit Homosexualität im kirchlichen Kontext rührt weiter daher, dass das, was Wirklichkeit ist, eigentlich vom Ideal her nicht sein darf. Also versucht man, diese Wirklichkeit zu verstecken, freilich um den Preis der Angst, entdeckt, erkannt zu werden. Eine solche Angst hat aber eine vergiftende Wirkung auf das Leben der davon Betroffenen. Sie lähmt sie, lässt sie mit einer Habacht-Stellung durchs Leben gehen. Sie zehrt an ihrer Authentizität, unterhöhlt ihre Transparenz. Sie fördert Unwahrhaftigkeit und untergräbt damit einhergehend ihre Glaubwürdigkeit.

Die kirchliche Sicht der Bibel Einige Gründe, die mit erklären können, warum es diese Vorbehalte gegenüber homosexuellen Menschen bis hin zur Homophobie in der katholischen Kirche gibt, will ich aufzeigen. Das kann nur sehr verkürzt geschehen und im Wissen darum, dass hier gesellschaftlich bedingte Gründe und von der kirchlichen Lehre her zu erklärende Vorbehalte gegenüber Homosexualität und homosexuellen Menschen oft miteinander verwoben sind. Wie bei vielen anderen wichtigen und existentiellen Fragen die unser Leben berühren, zeigt sich weiter bei dem Thema Homosexualität und homosexuellem Verhalten bzw. homosexueller Liebe, dass die Versuche, Gottes Plan und Willen dazu zu erkennen, zu recht unterschiedlichen Ergebnissen führen. Im Streben danach, Gottes Plan und Willen über Homosexualität und homosexuelle Liebe zu erfahren und zu erkennen, besteht der erste Schritt in der Regel darin, zu schauen, was die Bibel dazu zu sagen hat. Was also erfahren wir in der Bibel über Homosexualität? Eine theologische Erörterung über Homosexualität gibt es in der Bibel nicht. Es fällt lediglich da und dort das Stichwort Homosexualität bzw. es gibt Hinweise, die man mit Homosexualität in Zusammenhang bringen kann. Dazu zählen im Alten Testament u. a. die Erzählung vom Untergang der Städte Sodom und Gomorra (Gen 19; Ri 19) und die Androhung der Todesstrafe für homosexuelle Handlungen im Heiligkeitsgesetz (Lev 18, 22; 20, 13). Im Neuen Testament finden wir den Hinweis auf gleichgeschlechtliche Beziehungen als Beispiel für die Disharmonie zwischen Schöpfer und Geschöpfen (Römer 1, 18–32) und einen Verweis auf Lustknaben und Knabenschänder (1 Kor 6, 9; 1 Tim 1, 10). Die genannten biblischen Stellen erwähnen und verurteilen homosexuelle Praktiken von eigentlich heterosexuellen Menschen. Nicht eine homosexuelle Verfasstheit des Menschen wird in den Blick genommen, sondern bestimmte Verhaltensweisen. Eine irrreversible homosexuelle Veranlagung oder Neigung, wie sie unserem heutigen Verständnis von Homosexualität entspricht, ist der Bibel unbekannt. Keine Aussagen findet man in der Bibel über eine ganzheitliche homosexuelle Beziehung bzw. homosexuelle Liebe. Man würde die Möglichkeiten der Bibel überfordern und auch ihrer eigentlichen Bedeutung nicht gerecht werden, wollte man aus den wenigen, zum Teil sehr vagen Aussagen der Bibel über

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Christentum römisch-katholisch

Homosexualität und homosexuelles Verhalten eine Stellungnahme zu einem so komplizierten und sehr differenziert zu behandelnden Phänomen herauslesen, wie homosexuelle Orientierung oder homosexuelle Liebe, wie sie in einer ganzheitlich gelebten homosexuellen Beziehung zum Ausdruck kommen kann. Eine weitere Möglichkeit, aus der Sicht der Bibel etwas über Homosexualität zu erfahren, besteht darin, aus Aussagen der Bibel zur Heterosexualität Rückschlüsse über Homosexualität zu ziehen. An erster Stelle stehen hier die Schöpfungsberichte in Genesis 1 und 2. Hier wie an anderen Stellen in der Bibel (z. B. Mt 19, 1–12; Eph 5, 21–33) werden nach kirchlichem Verständnis die heterosexuelle Vereinigung von Mann und Frau bestärkt, während nirgendwo in der Bibel Beziehungen zwischen Gleichgeschlechtlichen gutgeheißen würden. Die Argumentation von der Naturrechtslehre her, die in der Lehre der katholischen Kirche eine große Rolle spielt, sieht in der homosexuellen Orientierung ein sogenanntes „ontisches Manko“, da diese Neigung die Fähigkeit zur Nachkommenschaft oder zu Erfahrungen, wie sie durch die MannFrau-Beziehung gegeben sind, missen lässt. In dieser Linie wird die Ablehnung homosexuellen Verhaltens – vor allem im katholischen, zum Teil auch im protestantischen Bereich – begründet. Solange von der Heterosexualität als Norm ausgegangen wird und Sexualität vorwiegend oder ausschließlich als eine Weise gesehen wird, Kinder zu erzeugen, besteht wenig oder kein Raum für eine positive Bewertung der Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Gehe ich aber von der Ganzheit einer Person aus und würdige Werte wie sexuelle Intimität, Vergnügen, Freundschaft als wichtige Elemente menschlichen Wachsens und christlichen MenschWerdens, eröffnet sich die Möglichkeit einer Neubewertung von Homosexualität und homosexueller Menschen. Der Wirklichkeit ins Gesicht sehen Wie könnte diese Neubewertung aussehen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Beurteilung von Homosexualität und der Lebensweise homosexueller Menschen für die Kirche? Auf kirchlicher Seite gilt es alles zu vermeiden, was es homosexuellen Menschen erschwert, zu ihren homosexuellen Gefühlen zu stehen. Es verlangt auch da, wo die

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... kein Raum für eine positive Bewertung der Homosexualität ...

Foto: Brian Pionka The Spokesman-Review


Kirche bezogen auf Homosexualität und die gelebte Sexualität homosexueller Menschen anders denkt als viele homosexuelle Menschen, sensibel zu sein und in dem, was sie zur Homosexualität und homosexuellem Verhalten sagt, nicht den Eindruck zu erwecken, homosexuelles Empfinden und homosexuelle Gefühle seien weniger echt, weniger menschlich und weniger wertvoll als heterosexuelle. Denn erst die Annahme der sexuellen Gefühle schafft die Voraussetzungen dafür, reif und verantwortungsvoll mit der eigenen Sexualität umgehen zu können, unabhängig davon, ob sie heterosexuell oder homosexuell ausgerichtet ist. Weiter sollte die Kirche endlich den Mut haben, nicht länger nur von homosexuellen Akten und homosexuellem Verhalten, sondern von homosexueller Liebe zu sprechen. Sie sollte homosexuellen Menschen nicht länger absprechen, dass die Liebe, die sie füreinander empfinden, die Liebe, die sie miteinander teilen und leben, wirklich Liebe ist. In der Kirche sollte ein Klima herrschen, in dem es den homosexuellen Menschen möglich ist, dann, wenn es für sie wichtig ist, offen über ihre homosexuelle Orientierung und über ihr homosexuelles Empfinden zu sprechen. So, dass sie sich nicht verstecken müssen und die Kluft zwischen dem, was sie wirklich sind und empfinden und dem, was sie nach außen hin zeigen dürfen, nicht zu groß wird. Wir müssen der Wirklichkeit ins Gesicht sehen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es in der katholischen Kirche zunächst einmal prozentual gesehen mindestens so viele homosexuelle Christen und Christinnen gibt wie homosexuelle Männer und Frauen bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Unter ihnen gibt es schwule Männer und lesbische Frauen, die in festen Beziehungen, andere wieder, die in flüchtigen Beziehungen leben. Wieder andere leben nicht in einer Beziehung beziehungsweise leben ihre Sexualität in unverbindlichen Beziehungen oder auch anonymen, sexuellen Kontakten aus. Unter ihnen gibt es Personen, denen das, was die Kirche, der sie angehören, zur Homosexualität und zu homosexuellem Verhalten sagt, wichtig ist, während andere sich davon, was ihre Beurteilung von Homosexualität und ihr homosexuellem Verhalten betrifft, nicht bestimmen oder beeinflussen lassen. Wir müssen weiter der Wirklichkeit ins Gesicht sehen, dass für überdurchschnittlich viele homosexuelle Männer – und vermutlich auch für lesbische Frauen – das Ordensleben und

für überdurchschnittlich viele homosexuelle Männer der Beruf des Priesters aus ganz verschiedenen Gründen attraktiv sind. Unter ihnen befinden sich Diözesanpriester, Ordenspriester, Bischöfe. In vielen Orden – Männer- und Frauenorden – dürfte der Anteil der homosexuellen Mitglieder noch höher sein. Es gibt schließlich eine ganze Reihe von kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die homosexuell sind. Das ist eine Wirklichkeit, die man zur Kenntnis nehmen muss, die nicht totgeschwiegen und tabuisiert werden sollte. Doch was macht es so schwer, dieser Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, sich ihr zu stellen? Darum geht es aber, dieser Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen, um dann, davon bin ich überzeugt, zu entdecken, dass sich die Kirche dieser Wirklichkeit nicht schämen muss. Sie ihre homosexuellen Mitglieder, ihre homosexuellen Priester, Ordensleute und Ordensfrauen, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht verstecken muss. Sie einfach – natürlich – dazu gehören. Sie gesehen werden und das, was sie tun, gewürdigt wird. Homosexualität vom Menschen her sehen Wir müssen das Thema Homosexualität und Kirche viel mehr vom homosexuellen Menschen her sehen und angehen, dem menschlichen Dokument. Allzu lange sind wir von vorgegebenen Vorstellungen und Bildern über Homosexualität und homosexuellen Menschen ausgegangen, die unseren Blick auf die Homosexualität, vor allem aber auf die homosexuellen Menschen und ihre Wirklichkeit verdunkelt und verzerrt haben. Seien das im theologischen und kirchlichen Bereich tatsächliche oder aber auch nur angenommene Aussagen über Homosexualität und homosexuelle Menschen in der Bibel, seien es im wissenschaftlichen und da vor allem medizinischen und psychologischen Bereich Theorien über Homosexualität und homosexuelle Menschen, die von einem bestimmten Verständnis von dem, was angeblich die Norm und dann auch die Wirklichkeit ist, ausgehen. Dabei war und ist der konkrete homosexuelle Mensch scheinbar überhaupt nicht von Interesse, ja wurde und wird außen vor gelassen. Die Sozialwissenschaften, die bei ihrer Betrachtung und Einschätzung von Homosexualität und homosexuellen Menschen den homosexuellen Menschen selbst und ihrer Wirklichkeit ihr Augenmerk schenken, bringen eine Wirklichkeit

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Christentum römisch-katholisch

„Geh vor mir her und sei ganz” (Gen 17, 1)

Chris Lambertsen: CSD Hamburg 1995

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von Homosexualität und homosexuellen Menschen ans Licht, die sich zum Teil erheblich unterscheidet von der, die lange Zeit das Bild von Homosexualität und homosexuellen Menschen prägte. Dazu hat auch das Erstarken und deutlichere Auftreten homosexueller Männer und Frauen beigetragen, die sich nicht länger damit zufrieden gaben, dass andere ihre Wirklichkeit entsprechend gefärbt durch den jeweiligen wissenschaftlichen oder theologischen Hintergrund aufzeigen und deshalb zunehmend entschieden ihre Sichtweise und Erfahrungsweise ins Wort brachten. Auch dieses „neue Bild” mag seine eigene Färbung haben. Aber es ist ernst zu nehmen und angemessen zu berücksichtigen und zu würdigen, will man kompetent, verantwortungsvoll und wirklichkeitsnah über Homosexualität und homosexuelle Menschen reden. Zu dem „neuen Bild” homosexueller Menschen gehört unter anderem auch, dass sie sich keineswegs grundsätzlich seelisch schlechter fühlen als heterosexuelle Menschen, genauso glücklich sein können wie diese und ihre grundsätzliche Liebesfähigkeit sich von der heterosexueller Menschen nicht unterscheidet. Auch ihre spirituelle Kompetenz und Ausstattung – wie könnte es auch anders sein? – unterscheidet sich natürlich nicht von der heterosexueller Personen. Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, endlich nicht nur den homosexuellen Menschen zu sehen – so wichtig es auch ist, diese Seite zu sehen und zu würdigen –, sondern einfach den Menschen, also irgendwann der Tatsache, dass jemand homosexuell ist, keine so besondere Aufmerksamkeit zu schenken und damit den Menschen an sich zu sehen, der neben vielem anderen, homosexuell ist. Eine solche Sichtweise, die vor allem den Menschen im Auge hat, würde erheblich zu einer Normalisierung beitragen. Dann wäre es nicht länger etwas Besonderes, Außergewöhnliches, homosexuell zu sein, sondern etwas, dem man kein besonderes Interesse mehr schenken müsste und es in dem Sinne nichts Besonderes, sondern normal wäre. Von einer solchen Einstellung ginge etwas Befreiendes aus,


... Homosexuelle Priester und Ordensleute müssten sich nicht outen

das sich atmosphärisch positiv auf die Gesellschaft, und dann auch auf die Kirche auswirken würde. Man müsste dann Homosexualität nicht ständig zum Thema machen. Homosexuelle Menschen müssten dann auch nicht demonstrativ an Christopher Street Festivals ihre Homosexualität zum Ausdruck bringen. Schwule Priester und Ordensleute müssten sich nicht outen, könnten aber, wo es für sie stimmt, über ihre wahren homosexuellen Gefühle sprechen. So ginge etwas Heilendes von einer Einstellung aus, die Homosexualität nicht länger als etwas Besonderes, Außergewöhnliches, sondern etwas Normales betrachtet. Es ginge davon etwas Heilendes aus, das sich auch heilend auf so manche Verwundungen auswirken würde, die homosexuellen Menschen – gerade auch im kirchlichen Kontext – zugefügt wurden, weil aus ihrer Veranlagung etwas Besonderes gemacht wurde. So könnte heil werden und ganz sein dürfen, was bisher nur halb, verzerrt, entstellt sein durfte. Jetzt könnte wahr werden, wozu wir im Alten Testament im Buch Genesis aufgerufen werden: „Geh vor mir her und sei ganz”. Foto: Privat

Dr. theol. Wunibald Müller Dipl. Psych., Psychotherapeut, Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterchwarzbach, Veröffentlichungen im Bereich Spiritualität und Lebenshilfe

Literatur Godehard Brüntrup, Christian Herwartz, Hermann.Kügler (Hg.): Unheilige Macht: Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise, Frankfurt 2012 Erzbischöfliches Seelsorgeamt/Katholische Akademie (Hg.): Den Menschen sehen. Pastoral mit homosexuellen Menschen, Freiburg 2012 Wunibald Müller: Größer als alles aber ist die Liebe. Ein ganzheitlicher Blick auf Homosexualität, Ostfildern 2009

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Islam

Foto: Chris Lambertsen Motiv aus der Serie Paradiese 2005

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Islam und Homosexualität

von Ulrika Kilian

Einführung und Begriffsbestimmungen Bei einem flüchtigen Blick scheint es ganz klar, wie sich „der Islam“ zum Thema Homosexualität positioniert. Schließlich wurde Im Februar 2015 der malaysische Oppositionsführer wegen homosexueller Handlungen zu 5 Jahren Haft verurteilt (Tagesschau: 10.02.2015), während ihm in Saudi-Arabien, Jemen, Iran und dem Sudan sogar die Todesstrafe drohen würde. In vielen anderen Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung werden homosexuelle Akte unter Haftstrafe gestellt, etwa in Tunesien, Senegal und Pakistan. Trotz dieser Fakten sollte dennoch nicht vorschnell ein Urteil über „den Islam“ gefällt werden, warten doch einige Länder mit Überraschungen auf: So sind homosexuelle Handlungen z.B. in der Türkei (1852!), in Mali (1952), Jordanien (1951), Bahrain (1967) und den meisten Teilen von Indonesien (1969), dem Land mit der größten muslimischen Bevölkerung, gesetzlich legal (ILGS 20138). Die gesetzliche Anerkennung ist aber leider nicht gleichbedeutend mit einer gesellschaftlichen. Die Beispiele zeigen jedoch, dass der Umgang mit Homosexualität in den islamisch geprägten Ländern stark differiert. Wenn nun im Folgenden die Position „des Islam“ zum Thema „Homosexualität“ dargestellt wird, so kommt man nicht darum herum zu betonen, dass die Meinung „des Islam“ abhängig vom Umgang der Interpretierenden mit den Quellentexten ist. Es hat demnach nicht „der Islam“, sondern es haben Personen eine Meinung, die sich in der Folge in der islamischen Lehre niederschlägt. Da Ansichten im besten Falle aufgrund von Argumenten entstehen, können diese verschieden sein und sind wandelbar. Diese Möglichkeit des Wandels verschwimmt aber, wenn von „dem Islam“ als feststehendes Konstrukt gesprochen wird. Des Weiteren ist der Begriff „Homosexualität“ westlich geprägt. Er wurde von Karl Maria Benkert 1869 eingeführt und beschrieb ursprünglich die sexuelle Orientierung hin zum gleichen Geschlecht (Brockhaus: 2014). Heute wird darunter nicht nur die sexuelle Anziehung

verstanden, sondern vor allem auch die liebende Zuneigung zu einer Person. Dieser Hinweis ist deswegen wichtig, weil im muslimischen Diskurs lange Zeit die Liebe zum selben Geschlecht als natürlich angesehen wurde. Dies belegen u.a. zahlreiche homoerotische Liebesgedichte seit dem 9. Jahrhundert. Das Verlieben in dasselbe Geschlecht und der Ausdruck dieser Liebe in Gedichten gehörten teilweise noch bis ins 20. Jh. zur Normalität und waren nicht verboten (ElRouayheb 2005: 3, Klauda 2007: 20). Verboten war und ist hingegen liwät. Liwät wird heutzutage von ‚neu-orthodoxen‘ Gelehrten und in vielen Wörterbüchern mit ‚Homosexualität‘ übersetzt (Schmitt 2001: 51). Die richtige Übersetzung lautet jedoch Analverkehr (Mohr 2004: 14). Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied: Während in westlichen Ländern eine sexuelle Orientierung verurteilt wird und wurde, war es in der islamisch geprägten Welt bis in die Neuzeit ein bestimmter sexueller Akt. Tatsächlich ist die Ablehnung von gleichgeschlechtlicher Liebe erst durch den Kolonialismus im 19. Jh. entstanden, der eben auch die viktorianische Moral exportierte (Abdulhadi 2010: 470). Der Ölboom und die damit einhergehende Machtzunahme des wahhabitischen Saudi-Arabiens seit 1979, das dadurch seine sehr strenge Auslegung des Islam verbreiten konnte (Kugle 2010: 75), verstärkte diese Haltung, ebenso wie die antiwestliche Grundhaltung einiger Staaten. So pflegten bspw. iranische Männer noch in den 1990er Jahren religiös motiviert Ohrringe zu tragen. Als die Regierung jedoch vernahm, dass dies im Westen ein Zeichen für Homosexualität sei, wurde dieser alte Brauch umgehend verboten (Klauda 2008: 52) . Trotz der bisherigen Erläuterungen ist es nicht von der Hand zu weisen, dass einerseits viele heutige Muslime der Meinung sind, dass Homosexualität verboten sei, und dass viele klassische Gelehrte liwät als verboten ansahen. Dass das Verbot von liwät durch ungenaue Übersetzungen zum Verbot von Homosexualität wurde, wurde bereits erklärt. Was aber sagen die muslimischen Quellen an sich zum Verbot von gleichgeschlechtlichem Sex?

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Islam Plakat für die Ausstellung der kanadischen Fotografin Samra Habib über queere Moslems

rechts: Die Ausstellung 2015 im Müchener SUB Foto: Lars Fröhlich

Muslimische Quellen Der Koran Die wichtigste religiöse Schrift für Muslime ist der im 7. Jh. Muhammad offenbarte Koran. Dieser besteht aus 114 Suren, die in Versen geschrieben sind. In den längeren Suren werden zumeist mehrere Themen angesprochen. Auch wiederholen sich Erzählungen in verschiedenen Suren mit sich änderndem Fokus. Für die Debatte zum gleichgeschlechtlichen Sex sind vor allem jene Stellen wichtig, die sich um das Volk Lots drehen sowie die Verse 15-16 der 4. Sure. Während in der 4. Sure Vers 15 auf das Verbot weiblichen gleichgeschlechtlichen Verkehrs bezogen wird, wird Vers 16 als Verbot männlichen gleichgeschlechtlichen Verkehrs betrachtet. Diese Interpretation ist allerdings erst in der Neuzeit modern geworden. Zwar teilten auch einige wenige klassische Korankommentatoren ab dem 10. Jahrhundert diese Auslegung (Kugle 2010: 64), die Mehrheit bezog den Vers 16 aber stets auf heterosexuellen unehelichen Geschlechtsverkehr und Vers 15 auf unmoralisches Verhalten von Frauen im Allgemeinen (Bauer 2013: 74f). Wenn man sich demnach der klassischen islamischen Lesweise anschließt, dann bereiten diese Verse für die Thematik kein weiteres Kopfzerbrechen. Lot und sein Volk sind im Koran an 7 Stellen erwähnt (7: 80-84, 11: 77-83, 15: 58-77, 26: 160-174, 27: 54-58, 29: 28-35, 54: 33-39). Sie werden von den Rechtsgelehrten ab dem 8. Jh. als Beleg für die Ablehnung von männlichem gleichgeschlechtlichem Verkehr benannt (Mohr 2004: 24). Drei der Stellen (7:81, 27:55 und 26:165f) verweisen darauf, dass die Männer etwas unter Ausschluss ihrer (Ehe-)

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Frauen taten, wobei eine sexuelle Bedeutung den Versen inhärent ist. Wenn aber die Stellen der Suren 11, 15 und 54 mit berücksichtigt werden, dann wird deutlich, dass es sich auf keinen Fall um einvernehmlichen Beischlaf handeln kann, sondern um Vergewaltigung von Männern, das nicht einhalten des Gastrechtes sowie Wegelagerei und Götzendienst (Bauer 2013: 73f). Zudem muss berücksichtigt werden, dass es sich bei der Lot-Legende um eine Straferzählung handelt. Bei diesen ist umstritten, inwieweit sie überhaupt als Handlungsaufforderung genutzt werden können; es wird also diskutiert, ob von der Vernichtung des Volkes Lots, auch die Vernichtung jener folgen muss, die dasselbe tun (Bauer 2013: 73). Mit dem Koran lässt sich demnach die Ablehnung von gleichgeschlechtlicher Sexualität schlecht begründen. Die Ḥadïthe Die zweitwichtigste Quelle für Muslime sind die Hadïthe, die Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen von Muhammad und seiner Gefährten. Die Hadïthe wurden von verschiedenen Autoren gesammelt. Die größte Autorität im sunnitischen Islam genießen die Werke von Bukhärï und Muslim. Die in diesen Büchern gesammelten Hadïthe gelten als ṣahïh, als einwandfrei, im Gegensatz zu jenen Hadïthen, die eine schlechte oder nur eine einzige Überliefererkette aufweisen. In Bezug auf Bukhärï und Muslim ist zu vermerken, dass in ihren Werken kein einziger Hadïth steht, der gleichgeschlechtlichen Verkehr missbilligt (Bauer 2013: 77). Hingegen zeigt Armin Waltter in seiner umfassenden Textstudie zu Islam und Homosexualität auf, dass ab dem 9. Jh. Hadïthe kursierten, in denen Muhammad den Tod für jene forderte, die das tun, was das Volk Lot tat. Die Authentizität dieser Hadïthe ist jedoch zweifelhaft, da z.B. explizite Übernahmen aus der hebräischen Bibel deutlich sind oder Muhammad Worte benutzt haben soll, die zu seiner Lebzeit noch nicht in Gebrauch waren (Waltter 2013, 2: 17ff). Zudem werden derartige Hadïthe dadurch disqualifiziert, dass sich die Prophetengefährten nach dem Tod von Muhammad


keineswegs einig darüber waren, wie mit beim Akt ertappten gleichgeschlechtlichen Paaren zu verfahren sei. Diese Unsicherheit hätte nicht bestanden, wenn Muhammad sich wirklich derartig eindeutig über entsprechendes geäußert hätte (Mohr 2004: 28). Insgesamt liefern die Hadïthe also auch keine überzeugende Textgrundlage für die eindeutige Ablehnung gleichgeschlechtlichen Verkehrs. Das Recht Ein weiterer wichtiger Bereich im Islam ist der des Rechts. Das Recht ist ein Teilbereich der Scharia, und klärt den zwischenmenschlichen Umgang. Dabei müssen die Regelungen stets zeit- und zweckgemäß sein und sind somit wandelbar. Die Gelehrten der fünf wichtigsten Rechtsschulen lehnen die männlich-männliche Analpenetration ab. Dabei reicht die Strafe von „nach Ermessen des Richters“ bis hin zu Geldstrafen, Tadel, Verbannung, Auspeitschung, Gefängnis und Tötung (Klauda 2008: 35ff). Das in den Schulen für den Tatbestand gebräuchliche Wort, liwät, leitet sich vom koranischen Lot ab. Es wird vermutet, dass die Verbindung zwischen Lot und der Analpenetration anfänglich vor allem durch jüdische und christliche Konvertiten in die Rechtsprechung Eingang fand, die ihr moralisches und geschichtliches Verständnis natürlich nicht sofort mit der Konversion ablegten. Zudem gab es im frühen Islam eine rechtliche Strömung, die jüdische Gesetze auch im Islam verankert sehen wollte (Bauer 2013: 78, Klauda 2008: 34). Ab dem 8. Jh. wurden zusätzlich auch jene Hadïthe für die Rechtsprechung herangezogen, die keine gute Authentizität aufweisen, wobei dies geflissentlich übersehen wurde (Bauer 2013: 78). Besonders deutlich wird dies an Malik Ibn Anas, der seinen Lehrer als einer der ersten fragte, wie mit gleichgeschlechtlich verkehrenden Männern (lütis) umzugehen sei. Der Lehrer erörterte seine Meinung, ohne dabei auf Prophetenworte zu verweisen. Hingegen verwiesen nachfolgende Gelehrte auf einmal auf Hadïthe, die teilweise in Prophetenwort gekleidete Gelehrtenmeinungen waren (Waltter 2013, 2:329). Als Grund, warum die Gelehr-

ten liwät trotz der schlechten Quellenlage verboten, kann angeführt werden, dass die Penetration des erwachsenen männlichen Feindes u.a. als Racheakt benutzt wurde, um den Penetrierten zu entehren, aber ebenso um einen Feind zu unterwerfen oder Rivalen zu entmachten (El-Rouayheb 2005: 14, Zanghellini 2010: 174/285). Bauer (2013: 78) merkt zudem an, dass die Methoden zur Rechtsfindung sich erst entwickelten, als die Kernpositionen der Schulen schon feststanden. Dies verleitete wohl dazu, auch schlechte Hadïthe zu verwenden, wenn dafür die rechtliche Position bestehen bleiben konnte . Trotzdem sich lütis rechtlich schuldig machten, gab es dennoch bis ins 20. Jh. keine einzige Verurteilung von gleichgeschlechtlichem Sex (Bauer 2013: 81). Dies liegt daran, dass die Beweisführung für das Vergehen sehr schwierig zu erbringen ist. So müssen vier Zeugen den Akt in (wörtlich zu verstehen) der Ausführung sehen oder diejenigen müssen sich mehrfach selbst anklagen. Widersprechen sich vor Gericht die vier Zeugen oder lassen sich nur drei finden, dann machen sie sich der Verleumdung schuldig. Davon abgesehen waren Zeugen auch moralisch nicht zu einer Aussage verpflichtet (Klauda 2008: 40). Die muslimische Gesellschaft war eine patriarchale. Daher stand der Akt der Penetration im Mittelpunkt der Sexualität. Der Penetrierende war im Gesellschaftsbild der ‚wahre‘ Mann, Frauen und Jünglinge ohne Bartwuchs galten als legitime passive Partner. Dieses Gesellschaftsbild führte dazu, dass weiblicher gleichgeschlechtlicher Verkehr erst im 10. Jh. diskutiert wurde. Da aber keine Penetration stattfand, waren viele Juristen recht gleichgültig bezüglich des Tatbestandes (Jamar 2011: 15/68). Erst im 15. Jh. wurde weiblich-weiblicher Verkehr verboten, vielleicht weil im 9. bis 13. Jh. einige Frauen explizit nur gleichgeschlechtlichen Verkehr pflegten. Sie erteilten somit auch der patriarchalen Annahme eine Absage, dass Frauen stets der Obhut eines Mannes bedürften (Habib 2007: 57/ 82).

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Islam

Die heutige Situation Kugle (2010: 225) beschreibt, dass einige homosexuelle Muslime das vor allem im schiitischen Islam gebräuchliche Modell der Zeitehe praktizieren. Diese kann von einem Tag bis zu 99 Jahren dauern, ist ein mündlicher Vertrag, muss nicht öffentlich gemacht werden und es besteht keine Pflicht zur Vermehrung. Damit können sie sexuell aktiv sein, ohne sich der ‚Unzucht‘ schuldig zu machen. Sexualität dient laut muslimischer Lehrmeinung zwar nicht nur der Vermehrung, sondern auch der Lust, trotzdem sollte diese nur in den Grenzen der Ehe ausgelebt werden (zu früheren Zeiten galten für Männer auch Sklavinnen und Jünglinge als legitime Partner). Immer mehr Muslime machen sich zudem für die Erneuerung der muslimischen Ehe stark. Der Ehevertrag ist derzeit, im Kern betrachtet, noch ein Kaufakt des Mannes von den Sexualorganen der Frau (Haeri 1989: 36f), die dadurch finanzielle Sicherheit erwirbt, und ein Konstrukt, das Mann und Frau klare Rollen zuteilt. Ein solcher Vertrag mag für damalige Verhältnisse zeitgemäß oder gar revolutionär gewesen sein, bedarf aber inzwischen dringender Überarbeitung. Durch eine Neukonstruktion der Ehe als Partnerschaft, wie sie auch von vielen Muslimen heute gelebt wird, gewännen hetero- und homosexuelle Paare. Eine Auflösung der strikten Rollenverteilung würde u.a. den Weg für homosexuelle Ehen öffnen, die eben in einer gleichgeschlechtlichen Ehe nicht in der Form vorhanden sein kann. (Kugle 2010, 214, Kecia 2006: 95). Dass die beschriebenen Ansätze in der muslimischen Gemeinschaft langsam anwachsen, zeigen auch Projekte wie Moscheegründungen explizit für Homosexuelle, Vereine zur Vernetzung wie al Fatiha und Miles, aber auch zahlreiche Internetseiten, die allerdings stets aus westlichen Ländern betrieben werden (Habib 2007: 144).

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Foto: Jens Ehebrecht-Zumsande

Das ‚Ja‘ des Korans und der Tradition Ein starkes Argument für homosexuelle Muslime, dass Gott ihr Sein liebt, findet sich zudem einerseits im Koran, der in Sure 30, 21-22 beschreibt, dass Gott zaudj (Plural azwädj) aus ihnen selber erschaffen habe, damit sie bei einander Ruhe finden. Zaudj wird zwar häufig mit Gattin übersetzt, ist aber eigentlich in seiner Bedeutung sowohl männlich als auch weiblich, so dass der Vers offen für jegliche Form von Partnerschaft gelesen werden kann. Der folgende Vers ist zusätzlich eine Bejahung der gewollten Vielfältigkeit der Menschen. Zu dieser kann auch die sexuelle Orientierung gezählt werden (Mohr 2007). Zudem gab es in der muslimischen Geschichte auch immer Gelehrte, die gleichgeschlechtlichen Verkehr als legitim ansahen (Ibn Hazm al Andalusi, Yahya bin Aktham, Tifashi) (Habib 2007: 8) und Dichter und Kalifen, deren gleichgeschlechtliche Neigung nur schwer von der Hand zuweisen ist (Abu Nuwas, der abbasidische Kalif AlWathiq) und (As ad AbuKhalil 1993: 33). So bietet die islamische Tradition viele Anknüpfungspunkte für Homosexuelle, sich als selbstverständlichen Teil von Gottes Schöpfung zu verstehen, auch wenn diese Erkenntnis noch nicht überallhin durchgedrungen ist.


Ulrika Kilian

Quellenverzeichnis:

wurde 1986 in Görlitz geboren. In Jena studierte sie ab 2006 Germanistik,

Abdulhadi, Rabab (2010) Sexualities and the social Order in Ara band Muslim com-

Medienwissenschaft und Psychologie. Ihren Fokus legte sie dabei auf die

munities. In: Samir Habib (Hg.): Islam and Homosexuality. Volume 2. ABC Clio: Santa

Bereiche Textlinguistik, Kommunikationspsychologie und Sozialpsychologie.

Barbara. Chapter 20, S 463-488.

Nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums blieb sie zunächst in Jena

AbuKhalil, As’ad (1993): A note on the Study of Homosexuality in the Arab/Islamic

und war einerseits bei einem Verein tätig, der sich für die soziale und sprachli-

Civilization. In: The Arab Studies Journal. Vol.1. Nr. 2. S. 32-34, 48.

che Integration von Kindern mit deutscher und nicht-deutscher Muttersprache

Ali, Kecia (2006) Sexual Ethics and Islam. Feminist Reflections on Qur ’an, Hadith, and

einsetzt, und andererseits bei der Stadt Jena im Bereich Integration. In dieser

Jurisprudence. Oneworld Publications: Oxford. Chapter 5: Don’t Ask, Don’t Dell: Same-

Zeit wurde ihr besonders deutlich, dass es unbedingt des Dialoges zwischen

Sex Intimacy in Muslim Thought. S. 75-96.

den Religionsgemeinschaften untereinander, aber auch der Religionsgemein-

Bauer, Thomas (2013): Islam und „Homosexualität“. In: Thomas Bauer, Berthold

schaften mit der Öffentlichkeit bedarf. Daher begann sie im Oktober 2013

Höcker, Walter Homolka, Klaus Mertes: Religion und Homosexualität. Aktuelle Positionen.

den Masterstudiengang „Religionen, Dialog und Bildung“ an der Akademie der

Wallstein: Göttingen. S. 71-89.

Weltreligionen in Hamburg mit dem Schwerpunkt Islam zu studieren.

El-Rouayheb, Khaled (2005): Before homosexuality in the Arab-islamic world, 1500-

Ulrika Kilian ist gebürtige Katholikin. Seit ihrer Jugendzeit war sie im Bistum

1800. University of Chicago: London.

bzw. Dekanat Görlitz, aber auch in ihrer Gemeinde aktiv. Auch ihre Stud-

Der Koran (2012): Neu übertragen von Hartmut Bobzin. Becksche Reihe.

ienzeit war stark von der katholischen Studentengemeinde Jenas geprägt.

Beck Verlag: München.

Nach längerer Auseinandersetzung mit theologischen Konzepten entschied sie

Habib, Samar (2007): Female Homosexuality in the Middle East.

sich jedoch 2011 für den Islam und konvertierte Anfang 2012. Gerade wegen

Histories and Representations. Taylor & Francis Group: New York.

des Einblicks in beide Religionen tritt sie für ein bereicherndes Miteinander

Haeri, Shahla (1989): Law of Desire. Temporary marriage in Shi í Iran. Syracuse

anstelle eines Nebeneinanders von Religionen ein.

University Press: New York. Jamar, Lobna (2011): Die Verurteilung des liwät aus der Sicht des šäfi ítischen Rechtsgelehrten Muhammad b. Al-Husayn al -�ğgurrïy Al-Ḥusayn al -�ğurrïy, Muḥammad (885-970). In: “Gott verfluche denjenigen, der das tut, was das Volk Lüṭs tat”. Übersetzt von Lobna Jamar. Bonner islamwissenschaftliche Hefte. Stephan Conermann (Hg.) EB-Verlag. Heft 17. 2011: Berlin. Klauda, Georg (2008): Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt. Männerschwarm Verlag: Hamburg. Kugle, Scott Siray al-Haqq (2010): Homosexuality in Islam. Critical reflection on Gay, Lesbian, and Transgender Muslims. Oneworld. Oxford. Mohr, Andreas Ismail (2004): Wie steht der Koran zur Homosexualität? In: LSVD Berlin-Brandenburg e.V. (Hg). Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam. Querverlag: Berlin. S. 9-38. Schmitt, Arno (2001) Liwat im Fiqh: männliche Homosexualität? Journal of Arbic and Islamic Studies 4. Berlin. S. 49-110. Waltter, Armin (2014): Islam und Homosexualität im Qur’ān und der Hadïṭh-Literatur. Teil 2. Hadïth-Literatur. Die Überlieferungen. Zusammenstellung von Materialien zum Thema und Anregungen für eine Neubewertung. tredition: Hamburg. Zanghellini, Aleardo (2010) Neither Homophobic nor (hetero) sexually pure: contextualizing Islam’s objections to same-sex sexuality. In: Samir Habib (Hg.): Islam and Homosexuality. Volume 1. ABC Clio: Santa Barbara Chapter 12. S. 269-295. Brockhaus, Enzyklopädie online (2014): Homosexualität. http://emedien.sub.unihamburg.de/han/brockhaus/https/sub-uni-hamburg.brockhauswissensservice.com/ brockhaus/homosexualit%C3%A4t. Stand 15.03.2015. Ilga (2013): State-Sponsored Homophobia. A world survey of laws: Criminalisation, protection and recognition of same-sex love. 8. Aufl. Hg: Lucas Paoli Itaborahy & Jingshu Zhu. Ilga: Brussels/ Mexico City. http://old.ilga.org/Statehomophobia/ILGA_State_Sponsored_Homophobia_2013.pdf. Stand: 15.03.2015 Mohr, Andreas Ismail (2007): Islam und Homosexualität. Eine differenzierte Betrachtung. Abschnitt: Liebe und Partnerschaft. http://home.arcor.de/yadgar/mohr/islam_homo. html. Stand: 15.03.2015. Tagesschau (2015): Fünf Jahre Haft wegen Homosexualität. http://www.tagesschau.de/ausland/malaysia-115.html. Stand: 15.03.2015

Ulrika Kilian

Foto: Chris Lambertsen

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Judentum

Foto: Chloe Sherman, Jew Dykes: Ali and Tai 1994

Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines Aufsatzes von Prof. Dr. Homolka. Der vollständige Beitag ist erschienen in: Thomas Bauer, Bertold Höcker, Walter Homolka, Klaus Mertes: Religion und Homosexualität. Aktuelle Positionen Eingeleitet von Jan Feddersen. Hirschfeld-Lectures (Hg.von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld), Bd.3, Göttingen: Wallstein Verlag 2013

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Homosexualität im Judentum

von Prof. Dr. Walter Homolka

Das Thema Homosexualität und gleichgeschlechtliche Partnerschaft ruft in der jüdischen Gemeinschaft heute ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Zum einen gibt es im liberalen Judentum formell keine Vorbehalte mehr – „Die Entscheidung kam nach langen Diskussionen zustande, im Geiste der Werte des Progressiven Judentums: Alle Juden aufzunehmen, unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung oder Herkunft”, hieß es etwa 2007 von Seiten der Südafrikanischen Union für Progressives Judentum zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft –, und inzwischen hat auch das konservative Rabbinerseminar in New York, das Jewish Theological Seminary, Schwule und Lesben zum Studium zugelassen. Andererseits drohen orthodoxe Juden insbesondere in Israel angesichts von Gay Pride-Paraden mit offener Gewalt, und vor einigen Jahren machten ultraorthodoxe Demonstranten die Homosexuellen sogar für den Krieg im Libanon verantwortlich. Rabbiner Mosche Sternbuch, der Kopf der ultraorthodoxen aschkenasischen eda ha’haredit in Jerusalem, sagte dazu: „Wir haben im Libanon nicht unsere Ziele erreicht, weil im Heiligen Land Unzüchtigkeit und sexuelle Freizügigkeit um sich greift”. Der frühere israelische Oberrabbiner Ovadia Josef stritt gar gegen die „unzüchtige Schmutzparade von Amalekitern, die die Heilige Stadt besudeln wollen”. Amalekiter sind ein biblischer Stamm aus dem Land Kanaan und gelten als Feinde des Volkes Israels schlechthin. Homosexualität in der Hebräischen Bibel Die Hebräische Bibel hat eine unerbittlich negative Einstellung zur Homosexualität. Interessant ist dabei, dass es in der jüdischen Tradition keinen treffenden Begriff für gleichgeschlechtliche Beziehungen gibt, sondern dass sie mit einem ganzen Satz umschrieben werden. Dabei ist in der Tora auch ausschließlich von Männern die Rede, die eine sexuelle Beziehung pflegen: „Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einem Weibe liegt. Ein Gräuel ist das”, heißt es in Lev 18, 22. Diese Verurteilung wird dann zwei Kapitel weiter, in Lev 20, 13, sogar noch schärfer formuliert. Dort wird allen, die es tun, die Todesstrafe angedroht: „Und so jemand bei einem Manne liegt, wie man bei einer Frau

liegt, einen Gräuel haben beide geübt, sie sterben des Todes, ihr Blut über sie!” Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich das Verbot gleichgeschlechtlicher Beziehungen auf ein anderes Gebot im 3. Buch Mose bezieht: „Beobachtet meine Vorschrift, nichts zu üben von Gesetzen der Gräuel, die vor euch geübt worden, dass ihr euch nicht verunreinigt durch sie. Ich bin der Ewige, euer Gott.” (Lev 18, 30). Die Tora ahndet Homosexualität also ausdrücklich mit der Todesstrafe, und dies in Zusammenhang mit dem Aufkommen der Vorstellung von der „Keduscha”, der Heiligung beziehungsweise Absonderung des Volkes Israels einerseits und der Kritik an den Verhaltensweisen der Völker, also der „Gojim”, andererseits, namentlich der Ägypter und der Kanaaniter. In der Tora gibt es neben den expliziten Verboten auch zwei Erzählungen, in denen die Ablehnung männlicher Homosexualität zum Tragen kommt. So kehren die Engel in der ersten Erzählung von Sodom und Gomorra bei Lot ein. Am Abend, „noch hatten sie sich nicht gelegt, und die Männer der Stadt, die Männer von Sedom, umringten das Haus von Jung bis Alt, das ganze Volk aus allen Enden, und riefen nach Lot, und sprachen zu ihm: Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, dass wir sie erkennen.”(Gen 19, 4-5) Die zweite Geschichte ist unter dem Namen »Die Konkubine von Gilea« bekannt (Richter 19). Darin ist ein Mann nachts samt Konkubine, Knecht und Eseln im Lande des Stammes Benjamin unterwegs und sucht nach einer Unterkunft. Ein alter Mann aus dem Stamm Ephraim bemerkt den Fremden; er ist selbst ein Zugereister und bietet ihm an, die Nacht bei ihm zu verbringen. »Sie taten ihrem Herzen gütlich, siehe, da umringten die Männer der Stadt, Männer, Söhne der Ruchlosigkeit, das Haus, sich gegen die Türe drängend, und sprachen zu dem Manne, dem Herrn des Hauses, dem Alten, also: Herausführe den Mann, der in dein Haus gekommen, dass wir ihn erkennen.« (Richter 19, 22). Die Erzählung endet mit einer Tragödie: die Konkubine wird grausam ermordet, und zwischen den Stämmen Israel und Benjamin bricht ein Bruderkrieg aus.

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Judentum

Homosexualtität im rabbinischen Judentum Als sich die Rabbinen im 5. Jahrhundert. u.Z. mit dem Thema auseinandersetzten, mussten sie eine Bezeichnung für die gleichgeschlechtliche Beziehung zwischen Männern formulieren. In der Gemara, Traktat Brachot 43b, heißt es dann: „gleichgeschlechtlicher männlicher Beischlaf”. Das Talmudtraktat Sanhedrin 54a bekräftigt die Verurteilung des Beischlafs samt Androhung der Todesstrafe. Wenn es sich um zwei erwachsene Partner handelt und sie beide einvernehmlich handeln, dann müssen beide sterben, andernfalls nur der erwachsene Partner oder der Vergewaltiger. An einer anderen Stelle allerdings erklärt der Talmud kurzerhand, dieses Problem existiere für das Judentum nicht, da es keine jüdischen Homosexuellen gebe; dies ist wieder eine Abgrenzung von den Gojim und ihren Bräuchen. In der mündlichen Überlieferung sowie in allen halachischen Rechtsentscheiden verbieten die Rabbinen die Homosexualität als Schandtat, für die als biblische Strafe die Steinigung vorgesehen ist. „Schandtat” meint eine gegen alle religiöse, moralische und gesellschaftliche Norm verstoßende Tat. Die Rabbinen erklärten den biblischen Begriff to’ewa als hebräisches Wortspiel für to’e ata bo, insofern die Buchstaben für „Schandtat” und die für „irren”, also „den falschen Weg beschreiten”, dieselben sind. Diese Lesart, „Du irrst, beschreitest den falschen Weg”. entschärft die biblische Bedeutung von Homosexualität als vorsätzliche Sünde. Im Mittelalter fasste Maimonides (1135–1204) die Haltung seiner Zeitgenossen der Sexualität gegenüber so zusammen: „Die sexuellen Vergehen, für die das Bet Din die Todesstrafe verhängt, Todesstrafe durch Steinigung, sind, wer männlichen Beischlaf begeht, wer tierischen Beischlaf begeht …. Wer allerdings eine solche Nähe scheut, dem gebührt ein Lob.” Die Weisen achteten darauf, auch nicht in die Nähe von Vieh zu gelangen, um ja keine entsprechende Verbindung einzugehen. Das Verbot gewisser sexueller Verbindungen

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geht aus der Kabbala hervor (Halacha 4, Paragraph 22), also aus der tradierten Norm. Interessant ist auch eine Bemerkung des spanischen Torakommentators Rabbi Abraham Ibn Ezra (1092–1167) zu Lev 18, 29: Er weist darauf hin, dass es für die Menschen ratsam sei, ihre sexuellen Vorlieben nicht herauszuposaunen, sondern für sich zu behalten. Hier wird also zwischen Privatheit und Öffentlichkeit unterschieden. Im Schulchan Aruch, dem halachischen Kompendium aus dem 16. Jahrhundert, steht: „Das Volk Israel wird des männlichen Beischlafs nicht verdächtigt.” Lesbische Beziehungen werden in der Hebräischen Bibel nicht erwähnt. Sie erscheinen zum ersten Mal im Talmud und im rabbinischen Kommentar aus der Mischnazeit, der das biblische Verbot in Lev 18 und 20 nun ausdrücklich auch auf lesbische Praktiken bezieht. Mangels eines biblischen Begriffes für lesbische Liebe wird dabei ersatzweise unter Bezug auf Lev 18, 3 auf die Sittenlosigkeit in Ägypten und Kanaan hingewiesen, zu der auch die sexuelle Liebe zwischen Frauen gehöre; diese dürfe Israel nicht nachahmen. Der Talmud sieht in Liebesakten zwischen Frauen zwar kein Gräuel, aber doch eine Obszönität, perisut. Obwohl nun auch diese Beziehungen verurteilt werden, fällt doch auf, dass sie nicht mit Strafen verbunden sind und die Abneigung gegen lesbische Beziehungen schwächer ist. Möglicherweise liegt dies daran, dass der körperliche Akt weniger deutlich ist und dabei kein Samen vergossen wird. Die mittelalterlichen Tossafot, Zusätze zum Talmud, fassten es so zusammen: „Auf jeden Fall handelt es sich um etwas Hässliches.” Auch Maimonides und der Schulchan Aruch betrachten lesbische Beziehungen als etwas Verbotenes. Traditionell lassen sich mehrerer Begründungen für diese Verurteilung finden. Erstens sei schon bei der Erschaffung der ersten Menschen festgelegt worden, dass der Mann „an seinem Weibe hängen” werde (Gen 2, 24), so dass eine sexuelle Vereinigung zwischen Männern dem Talmud nach als widernatürlich erscheint. Zweitens: Homosexualität sei verwerflich, weil diese Praxis die Zeugung von Kindern aus-


„Wir haben im Libanon nicht unsere Ziele erreicht, weil im Heiligen Land Unzüchtigkeit und sexuelle Freizügikeit um sich greift.” Rabbiner Mosche Sternbach

schließe und somit gegen das erste Gebot der Bibel verstoße: „Seid fruchtbar und mehret euch!” (Gen 1, 28). Darum sagt die Mischna lapidar: „Kein Mann darf sich der Erfüllung dieses Gebotes entziehen, es sei denn, er habe schon Kinder”. Der Talmud untersagt schließlich jede sexuelle Handlung, ob allein oder mit anderen ausgeübt, bei der Samen verlorengeht, der doch für die Zeugung bestimmt sei. Darüber hinaus wird Homosexualität in der jüdischen Tradition schon deswegen verworfen, weil sie die normale, intakte Familie zerstöre, denn der homosexuelle Mann verlasse Frau und Kinder, um sich mit einem Mann zu verbinden.

doxie eine Bewegung hin zur Relativierung des Übels: die Sündhaftigkeit homosexueller Praktiken dürfe nicht schärfer verurteilt werden als etwa der Bruch der Schabbatruhe, die Missachtung der Speisegesetze oder soziales Fehlverhalten.

Der heutige Umgang mit der Homosexualität

“We agree that the text of the Torah is unchangeable, but the meaning that the text holds, that is, its halakhic meaning, is explained by the rabbis… We fully understand that a change in the understanding of the Torah’s halakhic meaning is a major change in precedented rabbinic law… We believe, however, that in this case the change in historical circumstance [of homosexuality] is adequate to justify a change in the halakhah.”1

Die negative Einstellung gegenüber schwulen und lesbischen Beziehungen bildet die klassische Position des Judentums zu diesem Thema und wurde bis vor einigen Jahrzehnten nicht hinterfragt. Wenn die Orthodoxie daran festhält, dass alles, was in der Bibel steht, buchstäbliches und verbindliches Gotteswort ist, und dass auch die mündliche Lehre, also der Talmud, gottgegeben ist, dann leben homosexuelle Juden und Jüdinnen nach dieser orthodoxen Auffassung in beständiger Verfehlung. Dabei wird jedoch zwischen homosexueller Veranlagung und gelebter Homosexualität unterschieden. Schon die antiken Texte verbieten ausdrücklich nur homosexuelle Praktiken, nicht die entsprechende Anlage. Orthodoxe Zeitgenossen begreifen diese Veranlagung heute allerdings manches Mal als krankhaft und fordern eine ärztlich Behandlung beziehungsweise den Verzicht auf gelebte Sexualität. Entsprechende Beispiele kennen wir aus der Filmdokumentation Trembling Before God von Sandi Simcha Dubowski aus dem Jahr 2001. Dieser Film führte dazu, dass orthodoxe Rabbiner am Amiel-Institut in Jerusalem im Jahr 2004 erstmals über ein Thema diskutierten, das bislang tabu war: Wie sollen den Traditionen verbundene Rabbiner mit offen homosexuellen Gemeindemitgliedern umgehen, die trotz ihrer sexuellen Orientierung am Gemeindeleben teilnehmen wollen? Neben unreflektierter Homophobie gibt es in der Ortho-

In ihrem religionsgesetzlichen Gutachten zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen charakterisierten die drei konservativen Rabbiner Geller, Fine & Fine die Halacha als ein auf historischer Grundlage beruhendes religiöses Rechtssystem, das die Werte, die Ethik und die Situation des jüdischen Volkes zu jeder Zeit widerspiegele.

Das Judentum betrachtet die Tora also als göttlich inspiriert, aber nicht als unwandelbar. Damit vertritt das Judentum die Position, die Tora sei Zeuge einer prägenden Erfahrung. Die religiöse Botschaft wurde von Generation zu Generation daraus gehört und erforderte, jeweils neu ausgelegt zu werden. Ihre Heiligkeit besteht in dem, was sie bezeugt, nicht in der Art und Weise, wie sie etwas darstellt. Es obliegt jeder Generation, je neu zu Entscheidungen zu kommen und dafür die aktuellen Einsichten heranzuziehen. Die historisch-kritische Lesart der Hebräischen Bibel außerhalb der Orthodoxie erlaubt es folglich, die harschen biblischen Verbote in Frage zu stellen. So wie die Verfehlung der Sodomiter vor allem im Bruch des Gastrechtes lag, so finden sich bei dem Verweis auf die Bräuche der Ägypter und der Kanaaniter vielleicht Hinweise auf die dortige männliche 1 Homolka, Jüdisches Eherecht, S.263.

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Judentum

Im Judentum gilt tradionell dina demalkuta dina "das Gesetz des Staates sei das Gesetz"

Tempelprostitution, von der sich das Volk Israel um seiner Heiligkeit willen deutlich distanzieren sollte. Und muss man nicht jeden Menschen, auch den Homosexuellen, im Licht der übergeordneten biblischen Aussage sehen, wonach jeder Mann und jede Frau nach dem Bild und Entwurf Gottes geschaffen worden sind (Gen 1, 27) ? Schon der antike rabbinische Lehrer Ben Azzai bekräftigte, dass diese Gottesebenbildlichkeit die zentrale Aussage der Tora sei, von der her alle anderen Gebote interpretiert werden müssten. In liberalen Synagogengemeinden gibt es seit Ende der 1960er-Jahre die Bereitschaft, das Thema im Licht moderner Erkenntnisse neu zu untersuchen. Woran liegt das? Das Umfeld der Frage hat sich erheblich gewandelt. Nach gegenwärtigen medizinischen Erkenntnissen gilt Homosexualität als eine Anlage, die die betreffende Person seit ihrer Geburt hat. Man schätzt, dass etwa 5-10% der Bevölkerung homosexuell sind, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass der jüdische Anteil hier eine Ausnahme bildet. Daher wäre es falsch, diejenigen, deren Homosexualität zu ihrem natürlichen Leben gehört, als sündhaft zu betrachten. Sie sind, wie sie geboren wurden. Trotz dieser vernünftigen Erklärung tun sich viele heterosexuelle Juden und Jüdinnen äußerst schwer mit dem Thema Homosexualität. Daher ist es wichtig, die Rechtslage anzuerkennen, die individuelle Voreingenommenheiten überwindet. Im Judentum gilt traditionell dina demalkuta dina, »das Gesetz des Staates sei das Gesetz«, und so muss etwa auch der jüdische Staat die orthodoxen Eiferer in ihre Schranken weisen und seine homosexuellen Bürger und Bürgerinnen vor ihren mit dem Religionsgesetz argumentierenden Mitbürgern schützen.

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CSD Hamburg 2012

Foto: Chris Lambertsen

Zur Sexualität gibt es im Judentum wie zu fast allen Dingen keine allein selig machende Lehrmeinung. Dennoch wäre es wohl angemessen, dass aus jüdischer Sicht der Homosexualität alle sexuellen Handlungen erlaubt sein sollten, wenn sie wie gesagt zwischen erwachsenen Menschen in gegenseitigem Einvernehmen im privaten Bereich geschehen – so wie das Judentum schon immer eine Vielfalt von Handlungen zwischen heterosexuellen Ehepartnern in der Intimität ihres ehelichen Lebens erlaubt. Umgekehrt werden alle Formen der Untreue, Promiskuität oder sexuellen Ausbeutung verurteilt, unabhängig davon, ob sie von Hetero- oder Homosexuellen verübt werden. Außerdem sollte man im Sinne der jüdischen Ethik der Doppelmoral ein Ende setzen, der zufolge Menschen, die das siebte Gebot übertreten und Ehebruch begehen, unbescholten davonkommen können, während man Schwule und Lesben, die treue Beziehungen leben, ganz pauschal verurteilt.


Im Sinne der jüdischen Ethik sollte der Doppelmoral ein Ende gesetzt werden.

Ein positives Selbstverständnis jüdischer Homosexueller brachte 1989 die Anthologie Twice Blessed: On Being Lesbian or Gay and Jewish zum Ausdruck: Die Vorstellung, „zweifach gesegnet” zu sein, zeigte neue Perspektiven auf. Insbesondere in den USA und in Großbritannien haben sich inzwischen eigene Synagogengemeinden für Schwule und Lesben gegründet, die anfangs der Herausbildung einer stabilen Identität als religiöse Juden dienen sollten. Die Frage der Form religiös vollzogener Lebenspartnerschaften von jüdischen Lesben oder Schwulen wurde und wird in Europa ähnlich heiß diskutiert wie etwa in den evangelischen Kirchen. Die liberalen jüdischen Gemeinden in Großbritannien haben inzwischen eine Gottesdienstordnung für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare vorgelegt, den brith ahava oder „Covenant of Love”. Nach Einführung der gleichgeschlechtlichen Eheschließung in Großbritannien folgte auch ein jüdisches Trauformular. Eine einfache Form, eine Lebensgemeinschaft auf religiöse Weise zu bekräftigen, ist das Anbringen einer Mesusa in der gemeinsamen Wohnung. Das jüdische Glaubensbekenntnis am Pfosten der gemeinsamen Haustür symbolisiert dabei die Gründung eines jüdischen Zuhauses mit der Hoffnung, dass diejenigen, die hier wohnen, in Harmonie zusammenleben mögen.

Rabbiner Walter Homolka PhD DHL ist Professor für Religionsphilosophie der Neuzeit, Schwerpunkt Denominationen und interreligiöser Dialog, der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam und Rektor des Abraham Geiger Kollegs für die Ausbildung von Rabbinern und Kantoren. Der ehemalige niedersächsische Landesrabbiner ist Vorsitzender des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks.

Für das Thema Homosexualität habe ich versucht, die Vielgestaltigkeit der Bewertungen aufzuzeigen. Ich wollte vor allem das Ergebnis eines langen Meinungsbildungsprozesses deutlich machen: Eine Mehrzahl der jüdischen Gemeindemitglieder und eine Mehrzahl der israelischen Staatsbürger akzeptieren heute homosexuelle Handlungen und Lebenspartnerschaften. Sie haben die Ordination Homosexueller zu Rabbinerinnen und Rabbinern gutgeheißen und sie sehen keine Schwierigkeit, einem gleichgeschlechtlichen Paar den Willen zur Heiligung ihres gemeinsamen Lebens zuzugestehen. Foto: Privat

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Christentum evangelisch Dr. Ingeborg Löwisch ist Vikarin in Hamburg und eine der Sprecherinnen des Konvents schwuler und lesbischer Theologen und Theologinnen der Nordkirche (KonsulT). Sie stammt aus Baden, wo es ihr in den 1990er-Jahren nicht möglich war, als Lesbe Vikarin oder gar Pastorin zu werden. Nach einer beruflichen Neuorientierung als Multimediafachfrau und einer Promotion in den Niederlanden fand sie schließlich in der Nordkirche eine neue Heimat und bereitet sich nun mit ihrem Vikariat in der Hamburger Kirchengemeinde

Farmsen-Berne

auf

ihr künftiges Leben als Pastorin vor. Sie hat eine Frau geheiratet (Eingetragene Lebenspartnerschaft), mit der sie zwei Kinder aufzieht.

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Ganz Einfach: Ständig die Klappe aufmachen!

Stefan Mielchen interviewte Dr. Ingeborg Löwisch und Nils Christiansen vom Konvent KonsulT

Frau Dr. Löwisch, Herr Christiansen: Ist die evangelische Kirche eine homosexuellenfreundliche Umgebung?

diskutieren und Sachen ins Spiel bringen. Aber es ist auch ein Nachteil, immer mit der ganzen Person überall präsent zu sein. Dadurch wird man angreifbarer.

N.C.: Das kommt auf die Landeskirche an, es ist bis heute teilweise noch sehr unterschiedlich. Meine Antwort ist: Sie wird es. Und meine Prognose ist, dass die Evangelische Kirche in Deutschland insgesamt ein Lebensraum wird, in dem sich Homosexuelle gut werden bewegen können. Das zeigt zumindest die Entwicklung der letzten fünf bis zehn Jahre. Landeskirchen, Kirchenleitungen und Synoden fassen zunehmend Beschlüsse, die eine nahezu oder tatsächlich völlige Gleichstellung aussagen und auch in die kirchliche Gesetzgebung einbringen. Die Landeskirche von Hessen-Nassau und die Westfälische Landeskirche haben zum Beispiel in der Segnungsfrage in den letzten beiden Jahren eine nahezu völlige Gleichstellung mit der bisherigen Hetero-Trauung beschlossen. Die Nordkirche ist gerade dabei, dies in verschiedenen Schritten vorzubereiten und dann hoffentlich auch zu vollziehen. Es gibt nicht wenige Leute im kirchlichen Bereich ,die sagen: Das ist jetzt unaufhaltsam! Aber es gibt natürlich parallel Landeskirchen, auch Teile von Landeskirchen, nicht zuletzt bei uns in der Nordkirche, wo eine homofeindliche Atmosphäre und homofeindliche Aussagen herrschen.

N.C.: Es hängt auch von unseren Vorgesetzten ab. Und von unserer eigenen öffentlichen Beliebtheit und Kommunikationsfähigkeit. Das ist eine sehr fiese Dynamik, weil wir dadurch angreifbarer sind. In dem Moment, in dem jemand nicht gut aussieht, nicht toll reden kann, also nicht schnell öffentlich anerkannt und beliebt ist, kann das auch sehr schnell kippen. Die Erfahrung von etlichen Geistlichen und kirchlichen Mitarbeitenden ist: Wenn irgendein persönliches Problem auftritt und sie nicht ganz so kommunikationsfähig sind, kann sehr schnell eine Anti-Stimmung auftauchen, bei der nicht klar ist, ob nicht die uralten Anti-Homo-Vorurteile der Grundstock dieser Anti-Stimmung sind. Das kennen Frauen seit Jahrzehnten und Homosexuelle ganz genauso, die sagen: Ich muss doppelt so gut sein, damit ich anerkannt werde und einigermaßen heil durchkomme. Dieser Druck wirkt nach wie vor. Wobei ich sagen muss, dass wir zumindest im nordelbischen Teil der Nordkirche in den letzten 20 Jahren viel Glück hatten. Es gab einen Generationswechsel. Frauen wie die frühere Synodenpräses Elisabeth Lingner oder Maria Jepsen und andere sind in Leitungsämter gekommen, aber auch Hetero-Männer mit einer veränderten Denke wie beispielsweise Synodenpräses Dr. Andreas Tietze oder Landesbischof Gerhard Ulrich, auf die wir auch stolz sind. Aber es kostet nach wie vor sehr viel Kraft, gegen den Wind zu stinken und theologisch, aber auch gesetzlich und bürgerrechtlich zu fordern, was Selbstverständlichkeit ist. Denn davon hängt es auch ab: Von unserem Einsatz innerhalb der kirchlichen Welt und von dem Suchen nach Verbündeten, die mit uns streiten.

Wovon hängt das ab? I.L.: Es hängt viel von der jeweiligen Gesprächskultur ab. Ein großer Vorteil der Kirche ist, dass über alles diskutiert wird und Probleme auch in synodale Prozesse eingebunden werden. Wo das im Sinne einer offenen, einander würdigenden Diskussionskultur geschieht, herrscht ein positives Klima. In einem religiösen Umfeld, in dem es nicht darum geht, miteinander zu reden, sondern Wahrheiten zu verkünden, ist Kirche eher unerfreulich. Und es hängt natürlich von den einzelnen Menschen ab, denen man begegnet. Das Besondere am Pfarrberuf ist ja, dass man immer als Person im Blickpunkt steht. Das empfinde ich als Vorteil: Man kann

Was bedeutet das strategisch? N.C.: Da diese Abhängigkeit vom Goodwill einzelner Personen abhängt, haben wir in unserer politischen Arbeit im

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Christentum evangelisch Nils Christiansen ist Pfarrer in Hamburg und einer der Sprecher des Konvents schwuler und lesbischer Theologen und Theologinnen der Nordkirche (KonsulT). Er wuchs als Sohn eines Pfarrers in Flensburg auf, studierte u.a. Theologie in GÜttingen und Hamburg. Christiansen war an der Entwicklung der ersten jährlichen AIDS-Gottesdienste in Hamburger Hauptkirchen beteiligt und wurde 1995 neben Rainer Jarchow auf eine zweite AIDS-Seelsorge-Pfarrstelle berufen. Seit 2001 arbeitet er als Pfarrer in der Kirchengemeinde Hamburg Meiendorf-Oldenfelde. Er lebt mit seinem Mann, den er 2001 heiratete (Eingetragene Lebenspartnerschaft), im Hamburger Stadtteil St. Georg.

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Konvent KonsulT immer gesagt, dass unser Ziel eine kirchengesetzliche Sicherheit sein muss, also eine Rechtssicherheit, um aus dieser Abhängigkeit von unseren Vorgesetzten, aber auch der Abhängigkeit von unseren eigenen persönlichen Profilen herauszukommen. Es gab im Jahr 2000 die so genannte „LebensformenSynode“, in der bestimmte Grundsätze der Gleichstellung festgelegt wurden. Gibt es also mittlerweile diese Sicherheit? Können sich Mitarbeitende darauf berufen, nicht diskriminiert zu werden? N.C.: Das war ein erster Schritt, der aber keine vollständige Sicherheit geliefert hat. Für uns war es damals ein enormer Schritt, weil die Synode damals eine Schulderklärung veröffentlicht hat, was bis heute in der Kirchengeschichte eine Besonderheit gegenüber Lesben und Schwulen ist. Außerdem wurde textlich festgehalten, dass schwul oder lesbisch oder bi zu sein kein Amtshindernis und kein Ordinationshindernis für Geistliche darstellt. Und es ist einmal theologisch formuliert worden, dass die wenigen homokritischen Bibelstellen aus ihrem historischen Kontext heraus zu verstehen und nicht als bindende Wahrheit zu lesen sind. Darüber hinaus wurde beschlossen, dass unter bestimmten Bedingungen die Segnung lesbischer und schwuler Paare auch in öffentlichen Gottesdiensten möglich sein soll. Uns ist es damals aber nicht gelungen, diese Beschlüsse in Kirchengesetze zu gießen. Das steht zwar im Synodenbeschluss, aber damals war der innerkirchliche Widerstand noch zu stark. Das ist der nächste Schritt, der ansteht. Das bedeutet aber, dass in den vergangenen 15 Jahren nicht mehr viel erreicht werden konnte, oder? N.C.: Es sind zumindest wichtige Zwischenschritte erfolgt: Schwule und lesbische Geistliche in eingetragenen Lebenspartnerschaften haben 2012 im Besoldungs- und Versorgungsrecht eine völlige Rechtsgleichheit bekommen.

Ende 2014 wurde von der Synode der Nordkirche beschlossen, dass lesbische und schwule Geistliche in eingetragenen Lebenspartnerschaften beim Leben im Pfarrhaus den Heteros vollkommen gleichgestellt sind. Da hinkt die Kirche der politischen Entwicklung ein wenig hinterher, oder nicht? N.C.: Aus meiner Sicht ist es traurig, dass ein Tendenzbetrieb mit der zentralen Botschaft der Gottesebenbildlichkeit, der Gleichheit aller Menschen, dass es also unsere Kirche nicht schafft, vor dem Staat diese vollständige Gleichheit für sich selber umzusetzen. Das finde ich sehr enttäuschend. Es fehlt auch noch die völlige Gleichstellung der Segnungen mit den Trauungen. Daran arbeiten wir mit der Kirchenverwaltung an verschiedenen Stellen, um das in den nächsten Jahren zu erreichen. Frau Dr. Löwisch, Sie kommen ursprünglich aus der Landeskirche in Baden, in der vieles schwieriger war als im Norden. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht? I.L.: Ich habe vor kurzem mit einem befreundeten Pastor in Baden gesprochen, dort ist man mittlerweile auch weiter. Er hat damals die Ausbildung mit mir zusammen gemacht und ist ins Vikariat gegangen. Gerade bewirbt er sich auf eine neue Stelle. Dabei ist es heute kein Problem mehr, dass er schwul ist. Meine Erfahrungen sind ja schon wirklich lange her, ungefähr 20 Jahre. Damals war ich in der badischen Landeskirche nicht willkommen. Ich hatte einen Ausbildungsreferenten, der sehr homophob und wenig respektvoll war. Viel hing davon ab, wie offensiv man sein wollte, und ob man bereit war zu taktieren. Eine wichtige Frage war, ob man sich vorstellen konnte, gegenüber der Gemeinde erstmal nichts zu sagen. Da war ich vielleicht nicht diplomatisch genug. Aber ich wollte nicht weniger, als mit meinen ganzen Kompetenzen und meiner ganzen Person angestellt zu werden.

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Was hieß das konkret für Sie: nicht willkommen zu sein? I.L.: Der damalige Ausbildungsreferent hat klar gesagt, dass man als offen schwul oder lesbisch lebende Kandidatin nicht zum Vikariat zugelassen wird. 1996 gab es dann die Orientierungshilfe des Rates der EKD „Mit Spannungen leben“, nach der man als schwuler Pastor oder lesbische Pastorin zugestehen sollte, dass die eigene Lebensform hinter dem Schöpfungswillen Gottes zurückbleiben würde. Das fand ich erniedrigend. Aber das Gefühl, nicht willkommen zu sein, entstand auch zwischen den Zeilen. In Gesprächen im Landeskirchenamt, aber auch im Studium, wurde immer wieder deutlich gemacht, dass die Lebensform ein Problem ist, das man besser nicht mitbringen sollte. Während der kirchlichen Ausbildung wurden bestimmte Themen auch einfach abgewimmelt. Da habe ich gespürt, dass ich nicht als komplette Persönlichkeit willkommen war, weil immer ein Teil von mir ausgelassen wurde. Was kann man gegen dieses Ausgelassen-Werden unternehmen? N.C.: Ganz einfach: Ständig die Klappe aufmachen und die Leute, die das nicht besprechen wollen, damit „penetrieren“. Man darf die Leute nicht in Ruhe lassen. Das ist auf Dauer sehr mühsam. Ich kämpfe zwar sehr gerne, aber das nervt auch und es ist anstrengend, es wird für mich persönlich nach 25 Jahren auch langweilig, ständig die eigene Sexualität zu benennen – wer macht das schon gerne? Aber man muss immer wieder die eigene Genervtheit und die eigene Scham überwinden. Wie die Drag Queens, die ihre Scham auf der Straße überwinden, damit sie nicht mehr übersehbar sind. Man muss die Menschen ständig konfrontieren und in gewisser Weise dazu zwingen, dass sie sich an uns gewöhnen: an eine gewisse Sprachform und an eine öffentliche Auseinandersetzung und Umgehensweise mit uns.

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Haben es Lesben da möglicherweise schwerer als schwule Männer, weil sie öffentlich viel weniger wahrgenommen werden? I.L.: Das ändert sich gerade durch die vielen Lesben, die Kinder bekommen. Mit Kindern ist man sofort sichtbar. Da geht es gleich um die Familie, um Partner oder Partnerin. Zum Beispiel, wenn eines meiner Kinder krank ist und sich die Frage stellt, wer von uns beiden Zuhause bleibt, meine Frau oder ich. Dann ist das Thema sofort da: beim Kinderarzt, auf der Arbeit, in der Verwaltung. Aber lassen Sie mich noch einmal auf die Eingangsfrage zurückkommen, ob die Kirche ein homofreundliches Umfeld ist. Ich war gerade während meines Vikariates an einer Schule, an der ich überhaupt nicht geoutet war, nur bei einzelnen Kolleginnen, mit denen ich einen persönlicheren Kontakt hatte. In meiner Gemeinde habe ich mich sofort geoutet und habe mich gleich mit Frau und Kindern vorgestellt. Also es scheint etwas zu geben, dass ich denke: In der Kirche muss ich vielleicht so offensiv sein – aber ich kann es auch. Wenn ich meinen Kirchenvorstand, meine Anleiterin oder meine Kolleginnen und Kollegen damit direkt konfrontiere, dann nehmen die vermutlich den Ball auf und werden sich dazu positionieren. Aber das verläuft nicht immer so reibungslos, oder? N.C.: Mir hat vor einer Weile eine ältere lesbische Kirchenmitarbeiterin gesagt, dass sie richtig glücklich und dankbar sei, eine kirchliche Mitarbeiterin gewesen zu sein, da sie die Kirche, anders als andere gesellschaftliche Bereiche, als einen Ort des Diskurses erlebt habe. Wo spürbar wurde, dass die Kirche zumindest einen Selbstanspruch hat, solche Themen, wenn sie denn auf den Tisch kommen, zu bearbeiten und sie nicht wieder wegzuwischen. Die Schwierigkeit ist, dass es die paar Hardliner innerhalb der Evangelischen Kirche gibt, die fundamentalistisch auftreten und mit denen überhaupt keine Debatte möglich ist. Ich will keine Medien-


Im Pfarrberuf steht immer die Person im Blickpunkt

schelte üben, aber gerade diese Hardliner finden in den Medien ein relativ starkes Interesse, so dass es in der medialen Wahrnehmung so wirkt, als ob diese christlichen Fundamentalisten in der Homo-Frage Oberwasser hätten. De facto ist es nicht so, es entwickelt sich positiv. Aber unsere Erfahrung ist: Dort, wo wir auf Hardliner treffen, geht es sehr schnell in die Entwertung und Entwürdigung. Das bleibt auch bei uns als sehr negative Erfahrung über Jahrzehnte haften. Und das gibt es bis heute. I.L.: Als 2013 das Familienpapier der EKD herauskam, gab es eine ganz starke Gegenbewegung. Da hatte man wirklich das Gefühl, die kirchliche Basis ist ausschließlich für die heterosexuelle Kleinfamilie – obwohl das de facto gar nicht so ist. Aber es gibt eben eine sehr laute Öffentlichkeit, die in dieser Beziehung sehr reaktionär ist. N.C.: Meine Deutung, unabhängig von innerkirchlichen Themen, ist: Die Ausdifferenzierung und die Unüberschaubarkeit des gesellschaftlichen Lebens wird zunehmend vielen Menschen so unangenehm, dass sie sich diese alten Themen herausnehmen, um auf konservative, alte Werte zu pochen. Meine Angst ist, dass dies ein gesamtgesellschaftlicher Rollback ist, in dem alte, eigentlich abgehakte kirchliche Themen benutzt werden, um sich in vermeintlicher Sicherheit zu wiegen und zu sagen: Wir brauchen die heterosexuelle Kleinfamilie! Aber gerade da müsste sich die Kirche an die Spitze der Bewegung stellen! N.C.: Genau das ist auch unsere Forderung. Auf dem Stuttgarter Kirchentag wird KonsulT eine Resolution einbringen, mit der wir alle kirchenleitenden Persönlichkeiten und Gremien auffordern, gerade vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund gegen jede Form von Homophobie öffentlich Einspruch zu erheben und dies als evangelische Kirche mit einer theologischen Begründung öffentlich zu tun.

Wie sieht diese theologische Begründung aus? N.C.: Das ist die Gottebenbildlichkeit, die der Kern der jüdischen Glaubensbotschaft ist und damit auch der Kern der christlichen Glaubensbotschaft. Wenn ich die Kernbestände dieser beiden Religionen richtig verstehe, geht es um die volle Anerkennung jeglicher Form des Menschlichen. Ich möchte hier ein Beispiel aus dem jüdischen Glauben anführen: Kain, der seinen Bruder ermordet hat, wird von Gott durch das Kainsmal am Leben erhalten. Niemand darf Blutrache an ihm ausüben, obwohl es damals Gesetz war, dass der Brudermörder auch ermordet werden muss. Und Gott sagt: Nein, ihr dürft ihn, den Brudermörder, nicht ermorden, weil auch er mein Ebenbild ist. Auch als Mörder bleibt er Mensch und damit mein Ebenbild – und das müsst ihr achten, so schwer das für die Opfer dieses Täters zu ertragen ist. Diese Gottesebenbildlichkeit aller Formen des Menschlichen ist der Kern unseres Glaubens, unseres Gottes- und Menschenbildes. I.L.: Wir haben mit der Bibel eine Tradition, die sehr unterschiedlich und oft auch widersprüchlich ist. Daraus ergibt sich nicht nur, dass alle Menschen Gottes Ebenbilder sind, sondern auch eine große Unterschiedlichkeit. Es gibt in der Bibel eben nicht nur eine Stimme, sondern ganz, ganz viele, die auch gegeneinander stehen. So sind auch wir Menschen: zwar alle gottebenbildlich, aber auch alle ganz unterschiedlich – und diese Bejahung von Unterschiedlichkeit ist ein Impuls, den unserer Schrift ganz grundsätzlich und von Anfang an setzt. Begegnet es Ihnen heute immer noch, dass auf die berühmten zwei, drei Bibelstellen Bezug genommen wird? I.L.: Ja, das geschieht immer noch. Häufig wird auch die Schöpfungsgeschichte zitiert, von wegen Mann und Frau.

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Christentum evangelisch

N.C.: Es gibt mehrere Schöpfungsberichte, da wird immer interessegeleitet argumentiert. Aber in dem immerhin ältesten heißt es, wenn man denn so argumentieren möchte: Gott erschuf den Menschen. Also den Klumpen Erde, wie es in der wörtlichen Übersetzung heißt: das Menschliche. Erst dann erfolgt die Ausdifferenzierung in das Weibliche und das Männliche. Es ist wie in allen großen Schöpfungsmythen der damaligen Zeit, dass erst einmal das Leben an sich geschaffen wird. Erst dann wird ausdifferenziert in die Geschlechter. Dass damals die Menschen noch nicht so genau benennen konnten oder wollten, dass es nicht nur zwei Geschlechter, sondern mehrere Geschlechtlichkeiten gibt, das ist noch einmal ein eigenes kulturanthropologisches Thema, dass man auch benennen muss – da ist der Schöpfungsbericht einfach falsch und reduziert, denn es gibt mehr. I.L.: Die Frage ist ja, welches Gegenüber für den Menschen geschaffen werden kann. Es sind nicht Tiere oder andere Lebenswesen, die dem Menschen ein Gegenüber sein können, sondern eben ein zweiter Mensch. Dass es damals als Mann und Frau gesehen wurde, hat etwas mit dem historischen Kontext zu tun. Es geht aber in diesem Text darum, dass Menschen in einer Beziehung einander gegenüber sind, dass man sich nicht selbst genug ist, dass das Göttliche erst im wechselseitigen Dialog entsteht. Das Dialogische ist das Thema des Schöpfungsberichtes, nicht die Frage, wer den Dialog führt. Wo begegnet Ihnen das Thema Homosexualität in ihrer alltäglichen Arbeit, in der Gemeinde, im Umgang mit Mitarbeitern oder Gläubigen? N.C.: Für mich als Gemeindepastor ist das ein ganz natürliches Thema, weil ich immer davon ausgehe, dass zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung beziehungsweise meiner Gemeindemitglieder nicht heterosexuell sind. Aber ihre Frage zielt ja in eine andere Richtung. Ich trage einen goldenen Ehering, das sieht sehr konventionell aus. Bei jedem zweiten Taufkaffee, Hochzeits- oder Leichenschmaus, bei dem ich nach dem Gottesdienst zu Gast bin, werde ich nach meiner Frau gefragt. Dann sage ich: Ich bin mit meinem Mann verheiratet. Ich mache keine Show daraus, sondern gebe eine sachliche Antwort. Die Reaktionen waren

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bislang immer positiv. In den ersten Jahren hat es mich sehr angestrengt, darauf cool und sachlich zu reagieren, ich war innerlich oft aufgeregt. Gerade wenn ich wusste, dass ich in einer sehr konservativen Familie zu Gast war. Die Aufgeregtheit ist heute meist nicht mehr da, aber natürlich merke ich, wenn die Reaktionen besonders positiv ausfallen, dass sie nicht völlig natürlich sind. Interessant und schön finde ich, dass sehr häufig Leute sagen: Schön, dass Sie damit so offen umgehen. I.L.: Hast Du das Gefühl, dass Leute in der Seelsorge anders auf Dich zugehen, weil sie wissen, dass Du ein schwuler Pastor bist? N.C.: Ich erlebe relativ oft, dass Leute, die mit dramatischen Dingen zu mir kommen, sagen: Weil Sie AIDS-Pastor waren gehe ich davon aus, dass Sie mit den härtesten Dingen umgehen können. Sehr selten sagt jemand: Ich komme mit einem bestimmten Problem zu Ihnen, weil ich weiß, dass Sie schwul sind. Welche Erfahrung machen Sie, Frau Löwisch? I.L.: Einem Phänomen begegne ich immer wieder: selbst wenn ich relativ deutlich als Lesbe spreche, ordnen Leute meine Aussage nicht so ein. Es kommt mir vor, wie wenn sie mein Lesbischsein nicht in ihrem Horizont haben wollen. Andererseits erlebe ich Menschen, die mir sagen: Toll, dass Sie so offen sind! Ich bin ja noch nicht so lange in der Gemeinde, und überall, wo ich hinkomme stellt sich die Frage, oute ich mich oder nicht? Wenn jetzt die erste Konfirmandengruppe kommt, dann weiß ich zum Beispiel noch nicht, ob ich beim Elternabend etwas sagen werde. Oder wenn ich Geburtstagsbesuche in der Gemeinde mache und über dies und das plaudere, etwa über die Kinder: Da stellt sich immer die Frage, ob ich etwas sage oder nicht – das kann ich ja nicht nach einem bestimmten Programm entscheiden, sondern nur von Fall zu Fall. Ich finde das ganz schön anstrengend, das Thema ist immer irgendwie da. Es gleich am Anfang zu klären ist auch eine Strategie, mich dem ein wenig zu entheben. Die Leute in der Kerngemeinde wissen es jetzt, da muss ich mich nicht mehr outen.


... auch er ist mein Ebenbild ...

Können die Menschen mit solcher Offenheit gut umgehen? N.C.: Ich erlebe häufig diese ganz starke Zustimmung, die meistens ein wenig zu euphorisch ist. Da denke ich: Das ist auch ein Selbstanspruch des Gegenübers, jetzt unbedingt positiv reagieren zu müssen. I.L.: Das erlebe ich auch so. Aber es gibt bei mir auch das Gefühl: Wenn es Konflikte gibt, könnte eine unterschwellige Ablehnung wieder aus dem Hut gezaubert werden. Dann entstehen sehr unangenehme Situationen, bei denen man nicht mehr weiß, ob es bei dem Konflikt um die Sache geht, oder nicht doch um die Frage, dass ich lesbisch bin. N.C.: Mein Vater hatte auch diesen Selbstanspruch an sich, positiv auf mein Outing zu reagieren. Das hat er auch getan, aber ich habe über Jahre gespürt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Jahre nach meinem Outing habe ich ihn dann gefragt, wie es ihm wirklich mit meinem Schwulsein geht. Da hat er sehr spontan, sehr ehrlich und sehr viel differenzierter reagiert. Er sagte zu mir: Ich bin Jahrgang 1928 und im Dritten Reich erzogen worden – ihr wart für mich Verbrecher. Und seine allererste Reaktion in den 80er-Jahren, als ich mich geoutet habe, war: Jetzt ist mein Sohn ein Verbrecher. Damit möchte ich sagen: Auch wenn ich nicht immer Lust dazu habe - aber erst durch meine Rückfrage wurde es möglich, eine differenzierte Reaktion zu bekommen. Das könnte ich mir auch im dienstlichen Kontext vorstellen, einfach einmal zurückzufragen: Ist das jetzt die ganze Wahrheit, wie Sie auf mich reagieren?

N.C.: Bei meinem Mann und mir ist es genau so. Das erleichtert es uns enorm, öffentlich anerkannt zu werden, weil alles in geordneten Bahnen verläuft. Okay, wir sind zwar leider schwul, aber über unsere bürgerlichen Strukturen, in denen wir uns bewegen, beruhigen wir die Leute. Alle Homosexuellen, die nicht so leben, haben es bedeutend schwerer. Und ich behaupte: alle Heteros, die nicht so leben, auch! Wir sind als KonsulT seit drei Jahren dabei, uns mit den Heteros in unserer Landeskirche zu verbünden. Die sagen uns: Ihr werdet inzwischen so umschmeichelt, aber wir Heteros, alleinlebend, alleinerziehend im Pfarrhaus kriegen die Arschkarte gezeigt: von den Gemeinden, den Gemeinderäten, von kirchenleitenden Persönlichkeiten. Eigentlich doch eine schöne Pointe, sich mit den Heteros zu verbünden – nach 25 Jahren Kampf für die Gleichstellung! N.C.: Wir tun dies gerade, um diese Fragen gemeinsam auf den Tisch zu bringen. Alleine im Pfarrhaus zu leben, ohne jemanden an der Seite, ohne Kinder und ohne das traditionelle Pfarrerbild zu verkörpern, mit diesem wahnsinnigen Berufsalltag in dieser säkularisierten Welt, mit dem ganzen Bedeutungsverlust und Ansehensverlust unserer Kirche – das alleine zu stemmen, ist der Hammer! Hier möchte ich noch einmal die Gottebenbildlichkeit ins Spiel bringen, denn hier liegt die große, vielleicht die viel herausforderndere Forderung an unsere Kirche: Wirklich alle ernst zu nehmen, anzunehmen, zu respektieren und so zu unterstützen, dass sie voll anerkannt ihre Arbeit leisten können – und nicht abgewertet zu werden, zum Beispiel als Alleinlebende.

I.L.: Ich glaube, dass mich viele Leute akzeptieren, weil ich und meine Familie doch dem Bild einer heilen Welt recht gut entsprechen: Ich habe eine sehr herzliche, schöne Frau, die gleich alle einnimmt. Wir sind verheiratet und haben diese super-süßen Kinder, die im Gottesdienst leise sind – und das alles ist eigentlich wichtiger als die Frage, ob meine Frau eine Frau ist oder ein Mann. Sie ist die ideale Schwiegertochter und sie ist auch die ideale Pfarrfrau. Das gefällt mir nicht wirklich, auch wenn ich davon profitiere. Denn das Lesbischsein an sich ist hier eigentlich kein Thema. Alle Fotos: Chris Lambertsen

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Christentum römisch-katholisch

Eine Begegnung mit der Sozialarbeiterin und ehemaligen Seelsorgerin Manuela Sabozin.

Aufgezeichnet von Jens Ehebrecht-Zumsande

Mit flottem Schritt betritt Manuela das Café in Essen, in dem wir verabredet sind. „Bin ich zu spät? Ich komme nämlich direkt vom Treffen mit unseren Trauzeuginnen. Im Sommer heiraten wir!” Diesem frohen Ereignis geht eine lange Geschichte voraus. Mehr als 20 Jahre arbeitet Manuela als Seelsorgerin im Bistum Essen, bis der Spagat zwischen ihrer Homosexualität und dem Dienst in der katholischen Kirche so groß wird, dass sie zusammenbricht und sich eine neue berufliche Existenz aufbauen muss. Dass sie lesbisch ist, entdeckt Manuela schon früh. „Mit 12 Jahren habe ich angefangen Fußball zu spielen, also ein typisch lesbisches Klischee! Und da traf ich dann auch andere lesbische Frauen. Doch die waren so, dass ich mich mit Ihnen nicht wirklich identifizieren konnte. Ich habe aber relativ früh gemerkt, dass ich auf Mädchen stehe. Wenn andere Mädels in der Klasse von Jungs geschwärmt haben, habe ich eher an Mädchen gedacht, die ich toll fand”, erzählt sie lächelnd und fährt fort: „Als Jugendliche bin ich dann irgendwann in die Bibliothek gefahren und habe ein Aufklärungsbuch für schwule Jungs gefunden. Ich habe meinen Mut zusammen genommen, den Autor angeschrieben und ihm meine Fragen gestellt. Er hat mir auch tatsächlich zurückgeschrieben und mir erst einmal das Wort ‚lesbisch’ vermittelt. Außerdem hat er mir Adressen zu Kontaktstellen in der Nähe gegeben. Ich konnte meine ersten Erfahrungen mit anderen Frauen machen, habe mich verliebt und mich ausprobiert.” Manuela wächst in Bochum auf. Sie wird katholisch getauft, geht in den Religionsunterricht und zur Erstkommunion. „Ich bin eigentlich eher zufällig katholisch geworden. Meine Familie war nicht wirklich religiös. Das machte man halt so bei uns im Ruhrgebiet.” Später besucht sie eine Schule,

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auf der sie mit dem Abitur zugleich auch die Ausbildung zur Chemisch-Technischen Assistentin absolviert. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr im Krankenhaus plant Manuela ein Studium. „Ich bin einfach von meinen Lieblingsfächern ausgegangen. Religion habe ich immer gerne gemacht, aber nicht weil ich besonders gläubig war, sondern weil ich das Fach super fand: Die ganze Zeit über jemand zu sprechen, den man nicht sieht – das ist doch klasse!” Theologie kommt für sie wegen der Sprachen nicht in Frage. Manuela entscheidet sich für Religionspädagogik, weil sie die Mischung aus theologischen Fächern und Pädagogik, Psychologie, Kunstgeschichte begeistert. „Vom Beruf dahinter, der Gemeindereferentin, wusste ich zu Beginn des Studiums gar nichts. In meiner Bewerbung habe ich geschrieben: Ich möchte mit Menschen arbeiten auf religiöser Ebene. Da haben sie mich genommen.” Den Konflikt zwischen ihrer lesbischen Identität und der Lehre der katholischen Kirche spürt sie da noch nicht: „Ich war naiv, vielleicht auch, weil ich aus keinem religiösen Elternhaus kam. Ich war mit Gott ganz im Reinen und habe damals die Probleme mit der Kirche nicht wirklich gesehen. Ich war fromm und hatte die Idee eines zölibatären Lebens. Da war es doch egal, ob ich nun auf einen Mann oder eine Frau verzichte. Das ging aber nur eine Zeit lang gut.” Während des Studiums knüpft Manuela Kontakt zu einem Kloster, in das sie schließlich eintritt, aber bereits nach einem Jahr wieder verlässt, als sie merkt, dass die Lebensform nicht ihre ist. Sie nimmt die Arbeit als Gemeindereferentin wieder auf. „An dem Sonntag, an dem ich mich in der Gemeinde vorstellte, sah ich gegenüber der Kirche einen Fußballplatz, auf dem eine Frauenmannschaft spielte.” Wenige Tage später trainiert sie bereits mit. „Gut acht Monate später war ich


Die haben mich einfach nicht verdient

dann in einer Beziehung. Das war schön – aber da fing das Doppelleben an.” Manuela beginnt neben der Arbeit ein Studium der Sozialarbeit. „Ich habe mir überlegt, noch ein anderes Standbein aufzubauen. Wegen meiner Homosexualität, aber auch, weil mich andere Fragen beschäftigen: Was ist denn, wenn ich mal meinen Glauben verliere? Oder wenn das mit mir und der Kirche nicht gut geht?” Ihre Diplomarbeit schreibt sie zum Thema „Homosexualität und katholische Kirche”. Doch die Belastung durch Beruf und Studium, vor allem aber Schwierigkeiten im privaten Umfeld, kosten Kraft: „Ich hatte gut 20 Kilo abgenommen. Da hat mich meine Vorgesetzte mehr oder weniger zu einem Gespräch genötigt.” Manuela erzählt ihr, dass sie in einer Beziehung mit einer Frau lebt. Die Vorgesetze reagiert überraschend und sagt, dies sei Privatsache. Wenn sie niemandem etwas darüber erzähle, bleibe es auch privat. „Als ich fünf Jahre später meine Personalakte gelesen habe, sah ich darin eine Notiz über dieses Gespräch. Darin war vermerkt, dass meine Vorgesetzte den Personalchef und andere über unser ‚privates’ Gespräch informiert hatte. Da ist für mich das ganze Vertrauen in die Frau und in die Institution zerbrochen.”

Nach zwölf Berufsjahren in verschiedenen Gemeinden wechselt Manuela 2004 als Seelsorgerin in ein Krankenhaus. „Das war eine tolle Kombination aus Seelsorge und Naturwissenschaft. Im Krankenhaus war ich wirklich für die Menschen da. Ob jemand katholisch, evangelisch, muslimisch oder gar nichts war, spielte keine zentrale Rolle. Das war mein Traumberuf!” Die Klinik wird zu einer Nische: „Ich fühlte ich mich dort viel freier und konnte zum Beispiel erzählen, dass ich mit meiner Freundin in den Urlaub fahre”. Manuela lernt weitere Kolleg*innen kennen, die schwul oder lesbisch sind und ebenfalls den Weg in diesen besonderen Bereich der Seelsorge gewählt haben. Ende der Neunziger Jahre wird sie in die Mitarbeitervertretung der Gemeinde- und Pastoralreferent*innen des Bistums gewählt. Dort macht sie sich nicht nur mit dem Arbeitsrecht vertraut, sondern lernt auch das Innenleben der Kirche weiter kennen. Sie wird mit Themen wie Missbrauch oder anderen Konfliktfeldern konfrontiert. Ihre Haltung zur Kirche verändert sich immer mehr. Der Spagat ihres Doppellebens belastet auch ihre Beziehung. „Ich habe immer stärker darunter gelitten. Bei manchen in der Gemeinde und später im Krankenhaus war ich geoutet. Dabei habe ich eigentlich

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Christentum römisch-katholisch

immer gute Erfahrungen gemacht. Viele haben hinterher gesagt, dass sie sich das ohnehin schon gedacht hätten. Ich habe dann gefragt, warum sie mich nie darauf angesprochen haben. Aber das ist das katholische Prinzip – einfach nicht darüber reden.” Ein Zusammenbruch wird für Manuela zum Einschnitt und macht ihr klar, dass es um mehr als einen Burnout geht. „2011 war das große Krisenjahr. Da ging es mir und auch meiner Partnerin wirklich ganz schlecht. Ich dachte zwischendrin: nun verliere ich alles, sogar den Glauben. Ich musste ohnehin in eine Reha, weil ich seit vielen Jahren Asthma habe. Eine Lungenfachärztin erkannte dort sehr schnell, dass der Zusammenbruch mit meiner gesamten Lebenssituation zu tun hat. Ich habe eine Therapie begonnen und nach anderthalb Jahren gewusst, dass mein Traumberuf ein Ende hat!” Beim Katholikentag 2012 in Mannheim nimmt Manuela an einer Podiumsdiskussion teil. Der Veranstaltungstitel liest sich wie eine direkte Anfrage von Manuela: „Out in der Kirche – welche Vielfalt verträgt die katholische Kirche?” Sie sagt zu und willigt ein, dass ihr Name im Programm erscheint. „Anschließend habe ich dem Bistum geschrieben, dass ich gerne einen Auflösungsvertrag hätte.” Nach 20 Jahren im Dienst ist Manuela klar, dass sie nie wieder für die katholische Kirche arbeiten, nie wieder so ein Doppelleben führen will. Sie handelt eine Abfindung aus. Eine Verabschiedung in dem Krankenhaus, in dem sie zuletzt gearbeitet hat, gibt es nicht.

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„Da war ich erst einmal frei, aber auch arbeitslos!” Das dauert aber nicht lange, denn sie bekommt das Angebot, in einer Frauenberatungsstelle zu arbeiten. Mit diesem Neustart verbindet sie den Austritt aus der katholischen Kirche. „Ich wollte diese Institution nicht länger unterstützen und habe gedacht: Die haben mich einfach nicht verdient!” Manuela wird evangelisch. Im folgenden Jahr wird sie eingeladen, auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg ihre Geschichte während eines Gottesdienstes zu erzählen. „Je näher das kam habe ich gemerkt, was das bedeutet. Als wenn ich auf diese Weise das Doppelleben aufdecke und daran gesunde: Seht mich – jetzt stehe ich hier, so wie ich bin. Und so wie ich bin, bin ich von Gott geliebt; ich bin von einigen Menschen geliebt. Und das ist gut!” Neun Jahre zuvor, beim Abschiedsgottesdienst ihrer Gemeinde, saß ihre Freundin in der Kirche noch drei Reihen hinter ihr. „Dabei hätte sie doch an meine Seite gehört. Damals habe ich gar nicht wirklich gemerkt, dass auch sie darunter gelitten hat. Das hat sie mir bestimmt auch damals schon gesagt. Aber richtig verstehen kann ich das erst jetzt.” Nach diesem langen Weg, der auch für die ihr verbundenen Menschen nicht einfach war, gilt für Manuela heute ein Satz, den sie bereits nach ihrer Reha formuliert hatte: „Ich gehe mit einem Ja zum Leben, mit einem Ja zu meiner Freundin und mit einem Nein zur römisch-katholischen Kirche!”


„Ich gehe mit einem Ja zum Leben, mit einem Ja zu meiner Freundin und mit einem Nein zur römisch-katholischen Kirche!”

Manuela Sabozin rechts - mit ihrer Freundin

Fotos: Privat

Jahrgang 1969 M. A. Soziale Arbeit, Religionspädagogin 20 Jahre Tätigkeit als Gemeindereferentin im Bistum Essen, zuletzt Krankenhausseelsorgerin, heute Leiterin der Frauenberatungsstelle Recklinghausen

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Christentum römisch-katholisch Für mich ist klar: Ich bleibe in der Kirche, denn ich möchte in der Kirche etwas bewegen.

Mark Terence Jones, 46, ist gläubiger Katholik und arbeitet als Prokurist bei einem gemeinnützigen Kindergartenträger in Hamburg. Er ist stellvertretender Bundesvorsitzender der Schwusos – Arbeitsgemeinschaft der Lesben und Schwulen in der SPD. Bis 2006 war er Mitglied der CDU, wo der die LSU (Lesben und Schwule in der Union) mitgründete. Von 2005 bis 2013 gehörte Jones dem Vorstand von Hamburg Pride an und organisierte den Christopher Street Day in Hamburg mit. Jones besitzt die britische Staatsbürgerschaft, lebt aber seit seinem fünften Lebensjahr in Deutschland.

Foto: Chris Lambertsen

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Mark Terence Jones, Hamburger mit britischem Pass, engagiert sich politisch für die Gleichstellung Homosexueller und die Öffnung der Ehe. Als gläubiger Katholik steht er dennoch zur Institution Kirche. Stefan Mielchen sprach mit ihm über diesen Widerspruch, seinen Glauben und den nie realisierten Wunsch, katholischer Priester zu werden.

Eigentlich hätte Mark Terence Jones Mitglied der Church of England werden müssen. Doch das wusste seine Mutter zu verhindern. Der heute 46-Jährige wurde in Großbritannien geboren, sein Vater war Angehöriger der britischen Armee, die Mutter Deutsche. Sie setzte sich durch. Eine Entscheidung mit Folgen, die sein Leben bis heute beeinflusst. Jones wird auf Wunsch der Mutter in Großbritannien katholisch getauft. Sein Vater hat mit der Kirche ohnehin nicht viel am Hut. Als der kleine Mark fünf Jahre alt ist, siedelt die Familie ins ostwestfälische Lübbecke über, eine Kleinstadt in der Nähe von Detmold – katholische Diaspora in einer überwiegend evangelisch-lutherisch geprägten Gegend. Aber es gibt eine kleine katholische Gemeinde mit einem engagierten Pfarrer: Werner Rusche. „Er hat mich von klein auf viele Jahre lang begleitet. Ein großartiger Mann”, erzählt Jones. Er ist dem Priester bis heute dankbar. Die Erstkommunion wird für den jungen Katholiken zu einem besonderen Tag, einem Schlüsselmoment seines Lebens, den er bis heute nur schwer in Worte fassen kann. „Als der Priester mit den Worten ‚Dies ist mein Leib, der für Euch hingegeben wird’ die Hostie hob, war das für mich ein ganz einschneidendes Erlebnis.” Jones weiß von diesem Augenblick an: Ich will katholischer Priester werden. Mit zehn Jahren ist es dafür zwar noch deutlich zu früh. Doch als Messdiener kommt er seinem Ziel schon ein Stück näher. Er wird einer der fleißigsten Ministranten der Gemeinde. Mit der Pubertät ändert sich dies. Jones beginnt sich für Politik zu interessieren und engagiert sich in der Jungen Union. Außerdem ist er ein sportbegeisterter junger Mann. In der Handballhochburg Lübbecke ist er seit langem aktiv, das Handballspielen nimmt immer breiteren Raum ein. Für die Kirche bleibt da kaum noch Zeit. Als er 14 ist, kommt es zu einem leichten Bruch. „Unser Pfarrer sagte in einer Sonntagspredigt sinngemäß, man müsse Prioritäten setzen im Leben – zum Beispiel Sport oder Kirche.” Jones entscheidet sich daraufhin für den Sport, engagiert sich für den Verein, ist Spieler, Trainer, Schiedsrichter und geht voll darin auf. Er zieht sich aus der Gemeinde zurück, vorerst. Doch Pfarrer Rusche gelingt es, ihn zurückzuholen. Während einer Rom-Freizeit, an der Jones kurzfristig teilnimmt, nach-

dem jemand abgesagt hat, führt er ein intensives, klärendes Gespräch mit dem Priester. „In dem Moment war alles wieder okay.” Jones hat sich nicht vom Glauben abgewendet, sondern lediglich eine altersgemäße Entscheidung getroffen, das ist auch dem Pfarrer klar. „Der Glaube wurde für mich erst danach wirklich wichtig”, sagt Jones heute. „Vorher ging es mehr um die Frage, wo und mit wem ich meine Freizeit verbringe.” Doch noch etwas treibt ihn um: „Es war die Zeit, in der ich merkte, dass irgendetwas mit mir anders ist.” Mark weiß eigentlich, dass er schwul ist. „Aber für mich galt damals: Was nicht sein darf, das kann auch nicht sein. Ich habe mein Schwulsein verdrängt.” Der Gedanke, Priester zu werden, ist weiterhin vorhanden. Und er ist auch hilfreich, um seine Orientierung zu verbergen. Als Trainer der Handballmannschaft ist Jones bei einigen Spielerinnen des Vereins mehr als nur beliebt. Doch deren eindeutige Avancen weist er zurück. Der Priesterwunsch kommt ihm da als Ausrede gerade recht: „Ich habe gesagt: Ich will ja Priester werden und darf sowieso nicht ...” Dieser Schutz funktioniert eine Zeit lang. An schwules Leben ist in Lübbecke ohnehin nicht zu denken. Nach der Mittleren Reife und dem Besuch der Höheren Handelsschule steht Jones vor der Entscheidung, wie sein weiteres Leben verlaufen soll. Der Vater redet ein gewichtiges Wort mit und setzt sich bei der Zukunftsplanung des Sohnes zunächst durch: „Du lernst erst mal etwas Vernünftiges”, heißt es. Jones fügt sich und macht eine kaufmännische Ausbildung. Der plötzliche Krebstod seiner Schwester wird zu einem tiefen Einschnitt. Ein Jahr später erleidet Jones selbst eine schwere Lungenkrankheit und springt dem Tod gerade noch von der Schippe. „Ich hatte mich während der OP schon verabschiedet und wurde wieder ins Leben zurückgeholt. Das war für mich ein großes Thema. Ich konnte nicht verstehen, warum ich als schwuler Mann, der nie Kinder haben würde, überlebe, aber meine Schwester, die so gerne Kinder gehabt hätte, nicht.” Nach seiner Genesung steht Jones in der Kirche seiner Heimatgemeinde. Er sucht eine Antwort, fühlt sich nicht unbedingt schuldig, eher von Gott verlassen. In seiner Hilflosigkeit schreit er das Kreuz an. „In dieser Zeit habe ich mich sehr intensiv mit meinem Glauben auseinan-

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Christentum römisch-katholisch

dergesetzt. Nicht wegen meiner Homosexualität, aber doch mit der Frage, warum ich als schwuler Mann weiterleben durfte und meine Schwester nicht.” Er zweifelt, hadert mit seinem Glauben. Es ist erneut Pfarrer Rusche, der Jones im Gespräch bestärkt. Sein Lebenswunsch wird wieder drängender: „Ich habe immer stärker den Ruf gespürt, Priester zu werden und mein Leben in den Dienst Gottes zu stellen.” Ein Bekannter berichtet ihm vom Collegium Clementinum in Bad Driburg. Dort können junge Männer das Abitur nachholen, um dann einen kirchlich-karitativen Beruf zu ergreifen, Priester oder Religionslehrer zu werden. Mit knapp 20 wagt Jones den Schnitt: Er kündigt seine Arbeitsstelle, stellt die Eltern vor vollendete Tatsachen und wechselt auf das Internat. „Dort habe ich zum ersten mal gemerkt, wie viele Schwule es tatsächlich gibt.” Einige seiner Schulkameraden gehen relativ offen mit ihrer Homosexualität um. Man tauscht sich aus, Jones gewinnt das Gefühl, als schwuler Mann nicht mehr alleine zu sein. „Die Vorstellungen vieler Menschen davon, was in einem solchen Internat unter schwulen Männern wohl alles abgeht, hatten mit der Realität allerdings nicht viel zu tun”, erinnert er sich. Trotzdem verliebt er sich in Christian, einen Mitschüler. „Es hat ziemlich lange gedauert, bis wir zusammenkamen. Er war dann mein erster Freund – im Internat.” Diese Liebe gibt ihm Kraft. Jones offenbart sich seinen Eltern. Doch bevor er dies bei einem Wochenendbesuch in Angriff nimmt, vertraut er sich dem Heimatpfarrer an. „Er schaute mich nur an, öffnete eine Flasche Wein und sagte: Danke für dein Vertrauen!” Pfarrer Rusche wertet nicht. „Das war ein Meilenstein und es ist einer der Gründe, warum ich bis heute der katholischen Kirche angehöre. Da war jemand, der sich auch später immer wieder für mich stark gemacht und mich so angenommen hat, wie ich bin.” Ein Seelsorger, der auch den Eltern hilft, mit der Situation umzugehen. „Er hat mich stark beeindruckt, er hat mich geformt. Und er hat nicht geurteilt, so wie das noch heute viele Geistliche machen, sondern mich einfach als Mensch angenommen. Das rechne ich ihm bis heute sehr hoch an.” Als Sünder fühlt er sich nicht, auch später kommt ihm der

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Gedanke nie. Doch er fragt sich, ob er als Homosexueller in der Kirche glücklich werden könne. Ein Austritt oder der Übertritt in die als liberaler geltende Evangelische Kirche kommt für Jones zu keiner Zeit in Frage. „Dafür ist mir das Fundament meines Glaubens, sind mir die Sakramente, auf denen diese Kirche fußt, zu wichtig. Darauf kann ich als Katholik nicht verzichten.” Das gilt für ihn bis heute. Auch wenn viele Äußerungen von Kardinälen und Bischöfen auf ihn als schwulenpolitisch Aktiven wirken, als schlage man ihm offen ins Gesicht. „Für mich ist klar: Ich bleibe in der Kirche, denn ich möchte in der Kirche etwas bewegen.” Im Collegium Clementinum ist das Coming-out offiziell kein Thema. Nur hinter vorgehaltener Hand wird darüber geredet. Doch die erste Liebe lässt sich nicht ignorieren. Jones ist klar, dass sich die Beziehung zu einem Mann nicht mit dem Ziel der Ausbildung und der Aussicht auf ein zölibatäres Leben vereinbaren lässt. „Wir beide fragten uns: Warum sollen wir jetzt noch Priester werden?” Gemeinsam mit seinem Freund Christian entscheidet er sich, die Schule zu verlassen. Als Paar wollen sie ihren Weg außerhalb der Kirche gemeinsam fortsetzen. Es wird ein tränenreicher Abschied aus Bad Driburg, Jones erhält emotionale Abschiedsbriefe von Mitschülern, die er noch immer besitzt. Die beiden Männer ziehen nach Hannover, wollen sich eine neue Existenz aufbauen. Doch die Beziehung scheitert. Jones kehrt zurück nach Lübbecke, in den alten Job und das alte Leben. Seine Suche aber geht weiter. Sie führt ihn nach Paring bei Regensburg, wo er einige Zeit später in das Kloster der Augustiner Chorherren eintritt, eines konservativen Priesterordens. Der Wunsch, Theologie zu studieren und selbst Priester zu werden, ist immer noch da. Jones will zur Ruhe kommen, Zeit haben, eine Entscheidung reifen zu lassen. „Ich bin dort im Kloster, wahrscheinlich wieder durch Gottes Fügung, auf Menschen getroffen, die mir sehr geholfen haben.” Er tritt ins Noviziat ein. Eine Zeit, die er nicht missen möchte und auf die er auch heute noch dankbar zurückblickt, weil sie sehr lehrreich war. Und die doch, nach insgesamt fast zwei Jahren in der Ordensgemeinschaft, abrupt endet: „Irgendwann kam der Generalprobst, der mich sehr gut kannte, und sagte, er habe das Gefühl, dass ich zu weltlich, zu politisch und des-


Im Grunde war das ein Rausschmiss

Foto: Chris Lambertsen

halb im Kloster nicht richtig aufgehoben sei. Im Grunde war das ein Rausschmiss.” Der Generalprobst sieht, dass Jones Gutes tun will – und weiß doch, dass die Klostermauern ihn zu sehr einengen. „Er sagte mir, dass ich meinem Glauben eine andere Richtung geben und ihn anders ausleben solle.” Jones kehrt dem Klosterleben den Rücken – bis heute. Mittlerweile ist er dankbar für den unsanften Abgang, der ihn zunächst tief trifft. „Für mich brach damals eine Welt zusammen. Ich war 25, ich wollte immer Priester der römisch-katholischen Kirche werden, Menschen helfen. Ich hatte keine Idee, wie ich meinen Glauben nun leben oder ihn in meinem Umfeld einsetzen sollte.” Die Politik wird ein Ersatz. Jones engagiert sich wieder in der CDU, wird zu einem der Mitbegründer der LSU, der Lesben und Schwulen in der Union. 2006 wechselt er schließlich in die SPD, wird sogar stellvertretender Bundesvorsitzender der Schwusos. Er engagiert sich für Homosexuelle, macht aber keine Kirchenpolitik, obwohl auch dies naheliegen würde. Gleichwohl sieht er die Zusammenhänge: „Religion spielt nach wie vor eine große Rolle in Deutschland, auch wenn es die Trennung zwischen Staat und Kirche gibt. Die Kirche ist ein Teil der Gesellschaft. Und deshalb versuche ich, den gesellschaftspolitischen Wandel in die Kirche zu tragen, auch wenn das sehr schwierig ist.” Erste Kontakte zum Erzbistum Hamburg, die in jüngster Zeit entstanden sind, ermutigen ihn. Jones würde gerne einen Gesprächskreis zum Thema Homosexualität innerhalb des Bistums in Gang bringen. „Ich sehe da für mich in Zukunft ein Aufgabengebiet.” In der Politik ist es für ihn nicht immer leicht, Verständnis für seinen Glauben und seine Haltung zur Katholischen Kirche zu erhalten, gerade unter Homosexuellen. „Da muss man häufig nur das Wort Kirche oder Papst in den Mund nehmen, und schon kriegt man sämtliche Vorurteile um die Ohren gehauen”, ist Jones‘ Erfahrung. Viele seiner Parteifreunde verstehen nicht, wie er einerseits für die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare eintreten und sich gleichzeitig zur Kirche bekennen kann, die genau das mit aller Kraft zu verhindern sucht. Er weiß um die Haltung der Bischöfe zur Homosexualität und hat den Glauben an die Institution den-

noch nicht verloren, bei allem Zweifel. Der Glaube an Gott ist für ihn wesentlicher. „Und ich kann Gott nicht von meiner Kirche trennen.“ In der Politik geht es ihm um das reale, das heutige Leben, um das, was den Alltag bestimmt. „Im Glauben geht es für mich aber nicht um das, was in dieser Welt geschieht, sondern um das was passiert, wenn ich meinem Schöpfer eines Tages gegenübertrete. Natürlich kann ich davor fliehen und sagen: Ich verlasse die Kirche. Aber dadurch erreiche ich nichts, weder für mich noch für andere. Also stelle ich mich den Problemen und versuche, meinen Beitrag zu leisten. Dann wird Gott am Ende möglicherweise sagen, das war alles Mist. Oder er wird sagen: Du hast Dein Möglichstes getan, Du hast die Menschen Geliebt. Du hast deine Neigungen ausgelebt, so wie ich sie dir gegeben habe.” Jones ist trotz aller Widersprüche mit sich im Reinen. Er hat seinen Weg gefunden: „Ich kann sehr wohl katholisch sein und gleichzeitig meine Homosexualität ausleben. Gott hat mich so erschaffen, wie ich bin. Und wenn er mich so geschaffen hat, wie ich bin, dann hat das seinen Grund. Also kämpfe ich dafür und werbe als Aktivist in meinem katholischen Umfeld dafür, dass es Dinge gibt, die wir vielleicht nicht erklären können, die aber trotzdem da sind und richtig sind.” Dass sein Weg möglicherweise noch die ein oder andere Gabelung bereithält, ist Jones bewusst. Wenn er seine Homosexualität ausleben dürfte, wäre er möglicherweise heute Priester – mit seinem Freund an seiner Seite. Dass er einen solchen Sinneswandel der Kirche noch erlebt, glaubt er allerdings nicht. Jones hat im Laufe der Jahre mehrere Priester kennengelernt, die trotz der verordneten Ehelosigkeit Liebesbeziehungen unterhielten, zu Männern wie zu Frauen. „Viele sind daran im Laufe der Jahre zerbrochen. Die Energie, die man aufwenden muss, um das zu verschweigen, ist enorm. Für mich war immer klar: Ich kann mich nicht vor den Bischof hinwerfen und ein Gelübde ablegen, während ich genau weiß, dass mein Partner ein paar Reihen dahinter in der Kirche steht, mit dem ich anschließend wieder Sex habe. Das konnte ich einfach nie.“

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Judentum

Chasan Jalda Rebling fotografiert von Manuel Miethe

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Bashert – match made in heaven

von Chasan Jalda Rebling

Viele Jahre meines Lebens waren geprägt von der Shoah, dem Blick zurück: Alpträume, Angst, Panik. In die Synagoge bin ich nur dann gegangen, wenn ich nicht mehr wusste, wohin mit meiner Trauer. Dazu kam die Enge der untergehenden DDR, die ich nicht verlassen konnte. Niemals hätte ich meine Mama alleine zurückgelassen, niemals hätte ich meine Kinder allein zurückgelassen. Als dann die Mauer fiel, hatten einige von uns Angst vor den „Deutschland den Deutschen” schreienden Horden. Das waren andere Menschen als jene, mit denen ich im Oktober 1989 auf der Straße war, um für ein Land zu demonstrieren, in dem man frei atmen kann. Die jüdische Musik war mein Lebensinhalt geworden. Die jiddischen Lieder wurden zum Protest gegen die zunehmende Militarisierung des engen Landes, in dem ich lebte. Nach dem Fall der Mauer stand dann plötzlich an jeder Ecke eine Klezmerband. Ich fragte nach den jüdisch-deutschen Wurzeln des Jiddischen, und das Universum der mittelalterlichen jüdischen Welt begann sich mir zu öffnen. In jenen wunderbaren verrückten 90er-Jahren, in denen Berlin wirklich kreativ war, in denen wir die Welt neu gestalteten, traf ich mein „bashert”. Es lehren unsere Weisen, dass der Ewige selbst, bevor ein Mensch geboren wird, bestimmt, welche Seelen zueinander gehören. Ich traf SIE. Es war wie ein Wunder. Wir teilten die tiefe Erfahrung von Töchtern, deren Mütter aus Auschwitz zurückgekehrt waren. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg, die Freude im Leben zu suchen, und die Freude und den Stolz, jüdisch zu sein. Gemeinsam sorgten wir für ein Kind und zwei Teenager und lebten unsere Liebe. Mitte der 90er-Jahre, als wir sehr langsam Vertrauen in die junge deutsche Demokratie fassten, war uns klar, wir sollten selbst unser jüdisches Leben gestalten. Die Künstlergruppe Meshulash war ebenso kreativ wie eine Gruppe von Juden, die begann, ihre eigene Gemeinde zu gründen. In der Syn-

Ich traf SIE Es war ein Wunder

agoge Oranienburger Straße wurde diskutiert, gelernt und gestritten. Es war ein Aufbruch. Die erste Synagoge, in der Frauen aus der Tora lasen. Dort lernte ich Tora lesen. Auf dem ersten jüdischen Frauenkongress Bet Debora habe ich zum ersten Mal einen Gottesdienst geleitet. Das war eine großartige Erfahrung, so völlig anders als ein Konzert. Jetzt wollte ich Nussach lernen, die Basics traditioneller jüdischer Liturgie. Inzwischen wurde unser Kind Bar Mitzva, er wurde zum ersten Mal zur Tora aufgerufen. Wir zwei Mames gaben dem Kind die Tora, ich las den Abschnitt vor seinem. Die Synagoge war krachvoll. Drei Rabbiner waren im Raum, unter ihnen Rabbiner Leo Trepp z‘‘l, der dem Kind den Segen gab. Es war ein tolles Fest. Erst am nächsten Tag erfuhren wir vom Tratsch in der Stadt. Hier hätte die erste lesbische Bar Mitzva stattgefunden. Worauf der Bar Mitzva zu Recht sagte: Ich bin doch ein Junge! Da in Deutschland mich niemand Nussach lehren konnte, ging ich in die USA und begann mein Studium im Aleph Cantorial Program. Das wurde zu einer unglaublichen logistischen und finanziellen Belastung für die Familie, und die spirituelle Arbeit auf diesem Weg war eine Herausforderung für uns alle. Ich lernte zu trauern und entdeckte damit die Freude, jüdisch zu sein. Endlich öffneten sich die nebelartigen Vorhänge, die mich von unserer Tradition getrennt haben. Ich konnte diese Freude in den Gottesdiensten wiederfinden. Wow! Als ich dann mit all dieser Freude und mit einer Ordination, die es in Europa bis zum heutigen Tage nicht gibt,

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Judentum

Die Welt ist groß, also unterrichte ich in London, Oxford, Paris und Jerusalem wieder nach Berlin kam, hatte sich die Situation geändert. Die Kreativität verlor sich zusehends und es ging jetzt nur noch um Macht und Einfluss. Als ich mein Wissen und meine Erfahrung teilen wollte, bekam ich zur Antwort: Aber Sie sind doch eine Frau! Im offiziellen jüdischen Leben in Deutschland habe ich keine Chance auf Anerkennung meiner Arbeit. Nu? Die Welt ist groß, also unterrichte ich für die European Academy for Jewish Liturgy in London, Oxford, Paris und Jerusalem, leite Gottesdienste in Skandinavien, Holland, England, den USA – nur nicht in Deutschland, ausgenommen unsere kleine erste Jewish Renewal Gemeinde OhelHaChidusch in Berlin. Eigentlich bin ich dankbar für diese Situation. Da ich außerhalb der offiziellen jüdischen Strukturen in Deutschland lebe, bin ich frei, nach kreativen Lösungen für Lebenssituationen von Menschen zu suchen, die nicht in diese Strukturen passen. Das ist ein Segen. So kann ich vieleMenschen mit Rat und kreativen Lösungen begleiten. Nein es gab für mich nie einen Grund meine Liebe zu verstecken. Bashert. Theologisch werde ich immer wieder gefragt: Was sagt deine Tradition zur Homosexualität? Einer der meist missverstandenen Sätze der Tora steht in Wajikra (Levitikus) 20, 13: Wenn jemand bei einem Man-

ne wie bei einem Weibe liegt, so haben beide eine Gräueltat begangen. Hier ist von to´eva, welches meist mit „Gräuel” übersetzt wird, die Rede. Aus dem Kontext vom Vers Dewarim (Deuteronomium) 7, 26 geht jedoch klar hervor, dass es hier um Götzendienst geht, also um kultische Praktiken zum Dienst an fremden Göttern: Ihre Götzenbilder sollt ihr verbrennen; das Silber und Gold, das an ihnen, darfst Du nicht begehren und dir nehmen, du möchtest sonst dadurch verstrickt werden; denn das ist dem Ewigen Deinem Gotte ein Gräuel. Ki to´evat HaShem Eloheka hu. Es hat also nichts mit der Liebe zwischen Menschen zu tun, die ja ohne die göttliche Liebe nicht existieren kann. Ähnliches gilt für das das talmudische Statement kol b´isha ervah – „die Stimme der Frau ist eine Schande“ (Babylonian Talmud Berakhot 24a). Da bin ich also doppelt diskriminiert, als Frau und als Frau, die ihr Leben mit einer Frau teilt. Nu? Abgesehen davon, dass auch diesem Statement schon lange fundiert widersprochen wurde, ist Eines für mich völlig klar: Neues entsteht niemals im Mainstream, sondern immer am Rande. Welches Recht hat ein Mensch, eine Liebe, die bashert, also von Gott gewollt wurde, nicht zu respektieren? Hier wird Liebe politisch.

Chasan Jalda Rebling lebt mit ihrer Frau, der Künstlerin Anna Adam, in Berlin

Foto: Manuel Miethe

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Nein, es gab f端r mich nie einen Grund, meine Liebe zu verstecken

Chuppah Jalda & Anna Italien 2009 Fotos: Maartje Wildeman, Amsterdam

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Judentum

Kai Wendel und Kai Eckstein sind seit 2001 verpartnert

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Foto: Chris Lambertsen


Tikkun Olam – Verbesserung der Welt

von Kai Eckstein

Nach meinem Studium wurde ich Mitglied der „Society for Humanistic Judaism (SHJ)”, einer Dachorganisation für humanistisches Judentum in Nordamerika. Ich lebte mit meinem Freund in Hamburg, hatte keine Gemeinde, sondern hielt Vorträge und gab Seminare über das Judentum. Ich hatte mich schon ganz gut eingerichtet mit dem Gedanken, erstmal nicht als Rabbiner in einer Gemeinde zu arbeiten. Bis ich einen Anruf aus der Zentrale der SHJ bekam: „Sag mal, Kai, du hast doch Zeit. Kannst du dir vielleicht vorstellen, eine Gemeinde in San Francisco zu übernehmen?” – San Francisco war viel zu verlockend, um Nein zu sagen. Also zögerte ich nicht allzu lange: „Ja, ich denke, das kann ich.” – „Gut, dann schick doch deine Bewerbungsunterlagen an die und die Adresse. Ach ja: Sie hatten dort schon einige Bewerber für die Stelle, aber das hat alles nicht geklappt. Ich drück’ dir die Daumen.” Ich wurde also zum „Bewerbungsgespräch” eingeladen, d. h. ich war eine Woche lang in San Francisco, um mich dem Vorstand und den Gemeindegliedern vorzustellen und um Gottesdienste zu halten. Ich wohnte in der Gästewohnung der Vorstandsvorsitzenden und ihres Mannes. Die beiden führten mich auch auf eine Tour durch die Stadt, besonders ins Castro-Viertel, vorbei an all den schwulen Läden und Cafés. Ich fragte mich, ob sie mich wohl hierher führten, weil sie ahnten, dass ich schwul bin? Bis dahin hatte ich noch nicht erwähnt, dass, falls sie mich denn einstellen sollten, ich natürlich mit meinem Partner hierherkommen würde. Nicht lange darauf legte ich die Karten auf den Tisch. Das war beim Abendessen, und meine Gastgeber fingen herzhaft an zu lachen und umarmten mich. Ich muss wohl recht verstört gewirkt haben, denn die Vorsitzende erklärte mir sofort: „Wir haben dich ins Castro gebracht, um zu sehen, wie du darauf reagierst. Weißt du, wenn du hier in unserer Gemeinde Rabbiner sein willst, musst du aufgeschlossen sein. Und wir dachten: Na ja, ein Rabbi aus Deutschland, wer weiß, wie konservativ der wohl ist? Es freut uns, dass du offen schwul bist und deinen Freund mitbringst.”

In meiner Zeit als Rabbiner dieser Gemeinde konnte ich erleben, wie selbstverständlich es ist, jüdisch und schwul zu sein, und es war nicht mal eine schwul-lesbische jüdische Gemeinde! Ich wurde Mitglied einer regionalen Rabbinerkonferenz in der San Francisco Bay Area, das ist ein Zusammenschluss von Rabbinern und Rabbinerinnen aus ganz verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums. Den Vorsitz dieser Konferenz hatte Allen Bennett, ein Reformrabbiner, der sich als einer der ersten Rabbiner in den USA schon in den 1970er-Jahren als schwul geoutet hat (und damals waren so positive Reaktionen, wie ich sie erlebt habe, noch keineswegs selbstverständlich). Als Rabbi war er immer auch engagiert in der Schwulenbewegung: Er war Rabbiner der schwul-lesbischen jüdischen Gemeinde Sha’ar Zahav in San Francisco und auch derjenige, der 1978 die Trauerfeier für Harvey Milk gestaltete, und steht bis heute als Beispiel dafür, wie es gelingen kann, sein Jüdischsein und sein Schwulsein positiv und integrativ zu leben und also beides in Einklang zu bringen. Wenn die Frage gestellt wird: „Wie kann man im Judentum Homosexualität mit Religion vereinbaren?”, gibt es darauf nicht nur eine Antwort. Ein orthodoxer Rabbiner wird diese Frage wahrscheinlich anders beantworten als ein Reformrabbiner. Das hängt auch mit der unterschiedlichen Weise zusammen, wie beide die biblischen Texte verstehen. Oft argumentieren orthodoxe Gelehrte mit der Unveränderbarkeit des Textes, da sie dem Text als Wort Gottes autoritativen Charakter beimessen. Progressive Rabbiner dagegen verstehen den Text meist als ein Dokument, das in einer bestimmten Zeit entstanden ist und in eine bestimmte Situation hinein gesprochen wurde. Damit verliert der Text oft seine göttliche Autorität, und es wird möglich, Homosexualität als etwas Positives zu verstehen, das nicht verleugnet oder unterdrückt werden muss. Ein Rabbiner ging Anfang der 1960er-Jahre noch einen Schritt weiter: Rabbi Sherwin Wine und seine Gemeinde in

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Judentum

...ich erlebte, wie selbstverständlich es ist, schwul und jüdisch zu sein

der Nähe von Detroit erkannten für sich, dass sie nicht mehr an einen Gott glauben konnten und das traditionelle Gottesverständnis für sie nicht mehr nachvollziehbar war. Sie hielten aber an ihrem Judentum fest, und so entstand die Bewegung des Humanistischen Judentums. Sie zeichnete sich schon früh durch eine sehr offene Haltung gegenüber Schwulen und Lesben aus. Diese Strömung innerhalb des Judentums ist für mich zu meiner religiösen Heimat geworden. Im Humanistischen Judentum sehe ich für mich eine Möglichkeit gegeben, zwei Aspekte meiner Identität (Judentum und Homosexualität) so zu verbinden, dass es mir gut tut. Ich muss mich nicht rechtfertigen, warum ich auf Männer stehe, mir wird kein Schuldgefühl eingeredet oder gesagt: „Eigentlich wäre es ja doch besser, wenn du deine Homosexualität unterdrückst oder gar nicht auslebst.” – Nein, im Humanistischen Judentum kann sich niemand auf vermeintlich von Gott stammende Aussagen in der Bibel berufen, um eine bestimmte (heterosexistische) Position durchzusetzen und damit Menschen zu diskriminieren und auszugrenzen. Im Mittelpunkt stehen der Mensch und die Annahme, dass Ethik und Moral eben menschlichen Bedürfnissen dienen sollen und nicht auf der Grundlage von göttlichen oder übernatürlichen Quellen definiert werden. Der hu-

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manistische Grundgedanke darin legt die Verantwortung des Menschen für sein Leben in seine Hände; es ist an ihm, eine Welt zu schaffen, in der er und seine Mitmenschen ein erfülltes Leben führen können. Ich sehe darin natürlich keinen Gegensatz zum Judentum, im Gegenteil: Man findet diesen Gedanken auch in dem hebräischen Begriff Tikkun Olam (Verbesserung der Welt), was auch traditionell als eine Aufgabe von Jüdinnen und Juden verstanden wird. Für mich gehört eben auch die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Lesben und Schwulen dazu. Wenn es gelingt, dass sich schwule Juden und lesbische Jüdinnen als selbstverständlichen Teil der jüdischen Gemeinschaft verstehen und sie sich hier selbstbewusst einbringen können, dann wird das eine Bereicherung sein für die schwul-lesbische Community und für die jüdischen Gemeinden gleichermaßen. Dann kann es möglich sein, dass man umarmt wird, wenn man sich outet, statt verstoßen und als minderwertig abgetan zu werden. Das wäre eine Verbesserung der Welt.


Kai Eckstein Geboren 1970 Studium der Judaistik und Philosophie. Ordination zum Rabbiner in Jerusalem und Ordination zum Humanist Minister der Humanist Society of Friends. Gemeinderabbiner in der San Francisco Bay Area, danach hauptamtlicher Mitarbeiter bei Hein & Fiete, dem schwulen Infoladen in Hamburg, dort t채tig in der HIV/STI-Pr채ventionsberatung. Mitglied der Society for Humanistic Judaism und der American Humanist Association. Kai Eckstein lebt mit seinem Partner Kai Wendel in Hamburg.

Foto: Chris Lambertsen

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Islam Wenn Liebe eine Sünde ist, was auf der Welt soll dann keine Sünde sein?

Frau Osman, Sie sind eine Muslima mit deutsch-türkischen Wurzeln. Wie dürfen wir uns Ihre Familie vorstellen?

Also weder Fisch noch Fleisch.

L.O: Ich bin in Bayern geboren. Mein Großvater stammt aus der Türkei, meine Mutter aus dem Allgäu mit Wurzeln in Südtirol, mein Vater ist in Deutschland geboren und in einer Mischkultur aufgewachsen, Darüber weiß ich allerdings nur sehr wenig, weil er kaum darüber spricht. Aus seiner Sicht sind wir komplett deutsch. Das geht so weit, dass mein Vater unsere Namen hat ändern lassen: Ich bin als Osman geboren, mein Vater hat ein zweites N anfügen lassen, so dass wir alle Osmann heißen.

L.O.: Religion hat mich zunächst nicht interessiert. Aber in der Pubertät begann für mich die Suche: Was bin ich eigentlich, wo komme ich her, wo liegen meine Wurzeln? Ich hatte immer viele türkische Freunde, von denen ich zwangsläufig viel mitbekommen habe. Das waren in der dörflichen Umgebung oft konservative Ansichten, die ich eher befremdlich fand. Den Islam, der dort vertreten wurde, fand ich widersprüchlich, aber auch irgendwie schön. Unser Haus lag direkt neben einer Moschee. Dort bin ich öfter hingegangen und habe auch den Koran-Unterricht beim Hodscha besucht. Das hat mich sehr interessiert und ich habe mir schließlich einen Koran gekauft und für mich selbst angefangen, darin zu lesen.

Welche Rolle hat die Religion gespielt? L.O.: Ich bin katholisch getauft worden und auch noch zur Erstkommunion gegangen. Meine Eltern dachten wohl, dass ich es im konservativen Bayern dadurch leichter haben würde. Aber eigentlich bin ich konfessionslos aufgewachsen. Obwohl ich schon als Kind öfter in der Türkei war, bin ich erst über sehr viele Umwege zum Islam gekommen. Mein Vater ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Er sagt, dass für ihn die Wissenschaft die einzige Religion sei. Trotzdem kennt er die erste Sure aus dem Koran. Aber er sagt, dass Religion mit seinem Leben nichts zu tun hat. Wie sehen Sie sich selbst – als Türkin? L.O: In der Schule bin ich wegen meines Nachnamens oft gefragt worden, ob wir Türken seien. Wenn man mich heute fragt, dann sage ich: Ja! Ich muss das nicht mehr verleugnen: Der Teil von mir ist da, und ich finde ihn schön und ich muss ihn nicht mehr verstecken, Aber das geht auch erst, seitdem ich in der Großstadt lebe. Ich habe mir autodidaktisch Türkisch beigebracht und zumindest ein Smalltalk ist möglich. Wie werden Sie von Türken gesehen? L.O.: Man wird schnell als Vorzeige-Deutsche mit Migrationshintergrund betrachtet, die gut vermitteln kann. Aber wenn es Streit gibt, hast du den türkischen Teil verloren, dann bist du nur noch die Deutsche, die einen Fehler gemacht hat.

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Wie hat sich Ihr Weg zum Islam vollzogen?

Was hat die Lektüre bewirkt? L.O.: Ich stand vor einem riesigen Rätsel und habe gedacht, dass ich damit nicht viel anfangen kann. Also habe ich mir weiterführende Literatur über den Koran gekauft, um zu erfahren, was das ist und wohin das führt. Da war ich zwischen 16 und 18 Jahre alt. Konvertiert bin ich dann mit 19 Jahren. Nachdem ich mich drei Jahre intensiv mit dem Islam auseinandergesetzt hatte, konnte ich für mich und mein Herz sagen: Ich bin damit einverstanden. Aber ich bin auch durch große Irrfahrten gegangen. Inwiefern? L.O.: Nach meinem Abitur bin ich nach Köln gezogen, eine sehr multikulturelle Stadt. Und dort bin ich an teilweise salafistische Leute geraten. Die waren zunächst sehr nett und sehr offen und haben mich zum Freitagsgebet in die Moschee eingeladen. Dort durfte ich aber nur komplett verhüllt erscheinen, und ich wusste sofort: Das ist nichts für mich, denn das beschränkt mich und engt mich ein. Ich habe mich einfach nicht glücklich gefühlt. Als ich dann noch zum Fußballtraining wollte, wurde das abgelehnt. Man bestand darauf, dass ich das Nachmittagsgebet verrichte – denn wenn ich das nicht tue, sei es so, als würde ich ein Kind überfahren. Spätestens da wusste ich: Hier will ich nie wieder hin!


Bei wem mussten Sie sich stärker erklären: Bei Muslimen für Ihre Homosexualität oder bei lesbischen Freundinnen für Ihren Glauben? Lisa Osman konvertierte als 19-Jährige zum Islam. Stefan Mielchen sprach mit ihr über ihr Lesbischsein, den muslimischen Glauben – und wie sich beides miteinander vereinbaren lässt.

Wie ging es dann weiter? L.O.: Ich war an einem Punkt, wo ich sehr traurig wurde und mich fragte, wohin ich eigentlich gehöre. Dann begann ich, mich mit der DITIB auseinanderzusetzen, der türkisch-islamischen Union. Auch dort war man zunächst sehr einladend. Aber als klar wurde, dass ich auf Frauen stehe, war das auch ganz schnell vorbei. In Köln hatte ich ein Studium begonnen und auch das Fach Islamwissenschaften belegt. Mein großes Glück war, dass ich dort einen schwulen Dozenten hatte. Er hat mir einen Weg gezeigt, wie ich damit Leben kann, denn ich war schon sehr traurig, nirgendwo dazuzugehören und meinen Glauben mit anderen teilen zu können. Es ging immer gut – bis zu dem Punkt, wo es um das Lesbischsein ging. Da war es dann vorbei.

L.O.: Das hält sich die Waage, weil beide Seiten das häufig nicht verstehen können. Die lesbischen und schwulen Freundinnen und Freunde fragen: Wie kannst du eine Religion vertreten, die uns verfolgt? Bei den Muslimen kam ich immer richtig gut an. Ich war das Vorzeigekind: macht Abitur, studiert, ist gläubig, betet, fastet, trinkt keinen Alkohol – also die perfekte Schwiegertochter. Und dann kommt dieser Makel, der aller zunichte macht. Er war groß genug, um jegliche Bindung zu bestimmten Freunden oder deren Eltern zu kappen. Das war schon oft so. Hat Sie das in Ihrem Glauben bestärkt oder zweifeln lassen? L.O.: Als ich noch nicht so gefestigt war, hat mich das oft stolpern lassen. Mir gingen so viele Dinge durch den Kopf: Du begehst eine Sünde, du wirst in die Hölle kommen und so weiter. Mein Islam-Dozent hat mir den offen schwul lebenden Imam Daayiee Abdullah empfohlen, mit dem ich oft geskyped habe. Immer wenn ich vor der Frage stand, Liebe oder Glaube, hat er mir die Angst genommen und gesagt: Der Verstand der Menschen ist begrenzt, und sie sind nicht in der Lage zu begreifen, dass es uns gibt. Aber wenn Allah in der Lage ist, alles zu erschaffen, dann hat er uns genauso erschaffen. Er hat uns so erschaffen, wie wir sind und weil er wollte, dass wir so sind. Wir sind kein Zufallsprodukt, wir sind kein Fehler, denn Gott macht keine Fehler. Allah ist perfekt.

Was hat dieser Dozent ihnen vermitteln können? Sind Sie eine streng gläubige Muslima? L.O.: Seit ich klein bin, fühle ich mich zu Mädchen hingezogen. Mein Dozent hat mir gezeigt, dass das Eine das Andere nicht ausschließt, dass also meine Liebe zu Frauen nicht die Liebe zu Gott ausschließt. Er hat immer gesagt: Glauben geht nicht ohne Liebe und Liebe geht nicht ohne Glaube. Du kannst nicht glauben, ohne eine Liebe zu Gott entwickelt zu haben, und du kannst nicht lieben, ohne an etwas zu glauben. Das sagt ein Wissenschaftler. Welche Erfahrungen haben Sie mit anderen Gläubigen gemacht, die Homosexualität ablehnend gegenüberstehen? L.O.: Ich habe immer versucht, den Kontakt so gering wie möglich zu halten, um ihnen keine Angriffsfläche zu bieten. Denn ich wollte mich einerseits nicht verleugnen und auf eine offene Frage auch eine ehrliche Antwort geben. Andererseits wollte ich dazugehören und eine Gemeinde haben. Meine Freunde fragten: Warum Islam? Warum Muslima? Und ich suchte Leute, mit denen ich meinen Glauben teilen konnte, aber andererseits auch Leute, die kein Problem damit hatten, dass ich lesbisch bin. Diejenigen, die beides vereinen, sind sehr, sehr selten. Es gibt wenige, aber die sind dann auch wirklich treue Freunde.

L.O.: Wie definiert man streng? Es gibt so viele verschiedene Einflüsse innerhalb dieses Glaubens, weil er eben nicht von oben herab verkündet wird. Frauen, die sich verschleiern, würden das von mir nicht behaupten. Meine Freunde hingegen, die selbst Muslime sind, sagen: Du trinkst keinen Alkohol, du gehst nicht auf Partys, du betest, du fastest – du bist strenger als wir, die in einer Mischkultur aufgewachsen sind und uns anpassen, wo es passt. Sie würden schon sagen, dass ich streng bin. Ich selbst sehe mich in der Mitte. Ich möchte kein Extrem sein, sondern der bestmögliche Muslim, der ich sein kann. Dazu gehört es beispielsweise, fünfmal am Tag zu beten. Ist das immer möglich? L.O.: Mein Alltag lässt das nicht zu. Ein Strenggläubiger würde sagen: Du musst dir die Zeit nehmen! Aber ich kann zum Beispiel an der Uni nicht einfach rausgehen und meinem Professor sagen, dass ich mal kurz beten muss. Ich versuche das dann abends nachzuholen, aber das schaffe ich nicht immer. Für mich ist es wichtig, nicht aus Angst vor irgendeiner Bestrafung zu beten. Das Gebet ist ein Gespräch mit Allah, das man führt, wenn das Herz danach verlangt. Nicht nur,

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Islam Worauf gründet sich diese Hoffnung?

wenn man um etwas bittet, sondern auch, um innezuhalten und danke zu sagen: für meine Kraft, für meine Freundin oder für eine bestandene Prüfung. Ich muss das machen, weil ich das will, nicht weil ich denke, dass ich es muss. Dann ist es für mich kein reines Gebet. Welcher Aspekt des Glaubens ist für Ihren Alltag bestimmend? L.O.: Menschen zu helfen! Das ist für mich ein ganz zentraler Aspekt. Dazu gehört auch die Nächstenliebe innerhalb des Islam, die Barmherzigkeit. Ich habe viele Freunde, die Probleme mit ihrem Glauben haben oder genau mit der Thematik, die mich auch beschäftigt, und die fragen oder sich vergewissern wollen: Komme ich jetzt in die Hölle? Das kann ich ihnen zwar nicht beantworten, weil ich nicht Gott bin. Aber ich kann ihren Kummer ein wenig lindern, indem ich ihnen etwas zu lesen oder weitergebe, was ich gehört habe. Diese Art von Hilfe ist mir sehr wichtig. Wann hatten Sie Ihr Coming-out? L.O.: Bei meinen Eltern war das relativ früh, mit 12 oder 13 Jahren. Das geschah ganz beiläufig. Ich kam nach Hause, meine Mutter kochte und ich sagte ihr, dass ich wohl auf Mädchen stehe. Da hat sie erst einmal gelacht und gesagt, dass ich erst einmal älter werden und abwarten solle. Mein Vater hat es von meiner Mutter erfahren, ein direktes Gespräch mit ihm hatte ich mir nicht zugetraut. Richtig offiziell in der Schule und bei meinen Freunden war es dann mit 18 Jahren. In der Zeit haben Sie begonnen, sich intensiver mit dem Islam auseinanderzusetzen. Haben Sie sich damals schon gefragt, ob beziehungsweise wie Ihre sexuelle und Ihre religiöse Identität miteinander vereinbar sind? L.O.: Diesen Kampf mit mir selber hatte ich sehr oft, wo ich dachte: Lass es bleiben, es funktioniert nicht. Aber ich habe mir gesagt, die Angelegenheit zwischen Gott und mir ist privat. Allah kennt mich, Allah weiß, wie ich bin und was ich fühle. Ich kann vor ihm nichts verstecken, egal, wie sehr ich mich verbiege. Er weiß was ich fühle, er weiß auch, wenn ich unglücklich bin. Andererseits war ich auf der Suche. Im Islam habe ich Hoffnung gefunden, und deshalb habe ich mich am Ende weder vom einen noch vom anderen abhalten lassen.

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L.O.: Ich denke, dass wir ein Schicksal haben, das bestimmt ist. Einen Weg, auf dem wir ankommen. Im Islam steht die Barmherzigkeit im Vordergrund, der alles vergebende Gott, der dir jeden Fehler verzeiht. Man sagt im Islam, dass kein Fehler, den ein Mensch machen kann, größer sein kann als die Barmherzigkeit von Allah. Die Liebe, die man dadurch empfängt, habe ich in keiner anderen Religion gespürt. Ich musste mich mit dem Katholizismus auseinandersetzen, aber da ist sehr viel von Strafe die Rede, von der Erbsünde und so weiter. Damit kann ich mich nicht identifizieren. Viele Gläubige beziehen sich auf den Koran, wenn sie Homosexualität verurteilen. Was halten Sie denen entgegen? Woraus beziehen Sie die Gewissheit, keine Sünderin zu sein? L.O.: Ich weiß nicht, ob es eine Sünde ist oder nicht. Für mich sage ich: Wenn Liebe eine Sünde ist, was auf der Welt soll dann keine Sünde sein? Liebe ist die stärkste Kraft von allen. Ist diese Frage für Sie überhaupt wichtig? L.O.: Ja, sehr! Das ist eine essenzielle Frage, die dein Leben jeden Tag bestimmt. Aber wenn ich mich jeden Tag damit auseinandersetzen würde, dann würde ich wahnsinnig werden. Man sagt, dass ein Sünder für ein Sandkorn Gutes ins Paradies kommen kann, ein Gläubiger aber auch für ein Sandkorn Schlechtes in die Hölle. Nehmen wir an, Homosexualität wäre eine Sünde, aber ich versuche, die bestmögliche Gläubige zu sein, die ich sein kann, und alles dafür zu tun: Dann glaube ich, dass diese „Sünde” mir In sha‘ Allah, so Gott will, vergeben würde. Im Koran selber gibt es einige Stellen, wo das thematisiert wird. Ich habe den Koran nur auf Deutsch gelesen. Ich kann kein Hocharabisch, und selbst wenn, würde ich nicht alles verstehen. Viele Wörter im Hocharabischen sind nicht richtig zu übersetzen ins Deutsche, so dass es immer wieder zu unterschiedlichen Auslegungen kommen wird. Deshalb bin ich immer sehr vorsichtig mit den Stellen im Koran, die da interpretiert werden. Wenn mir jemand sagt, „das steht im Koran”, dann frage ich immer zurück: „Wo denn? Nenn mir deine Sure, wo das ganz klar drinsteht”. Gehen Sie regelmäßig in die Moschee? L.O.: Nein. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil ich weiß, dass die Leute mich dort nicht akzeptieren würden, wenn sie wüssten, wie ich bin und was ich empfinde. Man würde mich dort nicht haben wollen, und an einen Ort, an dem ich nicht erwünscht bin, gehe ich nicht. Wie schmerzhaft ist das? L.O.: Das ist einerseits sehr traurig, weil ich mich immer mit der Frage auseinandersetzen muss: Bin ich normal oder bin


ich nicht normal? Wobei ich mir darüber mittlerweile keine Gedanken mehr mache, auch weil ich gesehen habe, wie viele homosexuelle Muslime es gibt. Andererseits habe ich durch LIB, den Liberal-Islamischen Bund, eine Gruppe von Muslimen entdeckt, die durchaus in der Lage ist, das zu akzeptieren. Wo kann man lesbische und schwule Muslime treffen? L.O.: Das ist schwer, weil viele sich verstecken. Sie haben Angst, dass die Familie etwas erfährt. Ich habe durch mein Fußballspielen viele lesbische Mädchen getroffen, die muslimischstämmig sind und gemerkt haben, dass ich mich viel mit dem Islam beschäftige. Sie haben sich hilfesuchend an mich gewandt. Das Internet ist als Treffpunkt natürlich auch wichtig, weil es anonym ist und einen gewissen Schutz bietet. Welche Erfahrungen mit Diskriminierung haben Sie in ihrem persönlichen Umfeld gemacht, abgesehen davon, in der Moschee nicht erwünscht zu sein? O.L.: Meistens trauen sich die Leute nicht, mir das offensiv ins Gesicht zu sagen. Das passiert eher hintenrum, das habe ich sogar schon unter meinen Freunden erlebt, als ich eine türkische Freundin hatte, auf die Druck ausgeübt wurde, weil sie etwas begehrte, was sie nicht begehren soll. Mit meiner jetzigen Freundin habe ich erst vor kurzem ein Erlebnis an der U-Bahnhaltestelle gehabt. Wir wurden ziemlich übel beleidigt, auch auf Arabisch, obwohl wir nicht mal Händchen gehalten haben, weil ich damit in der Öffentlichkeit generell sehr vorsichtig bin. Es hieß: „Scheiß Lesben, wir zeigen euch schon noch, was mit Leuten wie euch passiert ...“ Da war ich sehr baff und habe mich gefragt, warum dieser Mann so viel Aggressivität in sich hat. Hätte mich meine Freundin nicht zurückgezogen, dann hätte es auch schnell handgreiflich werden können.

Wie offen treten sie in ihrer Polizeiausbildung auf, sowohl als Lesbe wie als Muslima? L.O.: Es kommt darauf an. Meine Klasse weiß beides, und meine Mitschüler genießen es, wenn wir einen türkischen Abend haben und ich koche, was ich sehr gerne mache. Sie hören interessiert zu, wenn ich von meiner Kultur oder meiner Religion erzähle, sie hören gerne türkische Musik und sie wissen auch, dass ich eine Freundin habe und sind da sehr offen. Gegenüber meinen Vorgesetzten halte ich mich aber in beiden Punkten bedeckt. Helfen der Glaube oder das Gebet Ihnen über Beleidigungen hinweg oder darüber, sich so bedeckt halten zu müssen? L.O.: Früher hatte ich oft Vergeltungsgedanken, wenn mich jemand beleidigt oder mir eins ausgewischt hat. Das ist ja normal, dass man dann denkt: Den soll doch der Schlag treffen ... Durch den Islam ist es mir gelungen, zu vergeben. Jemandem, der mir Böses wünscht, dem sage ich: Ich wünsche mir, dass Allah dir vergibt, dass du auf den richtigen Weg gelangst und deine Gedanken reinigen kannst. Es ist ganz einfach: Wenn dir jemand etwas Böses wünscht – wünsche ihm nicht auch etwas Böses, sondern wünsche ihm Vergebung. Wenn Allah alles vergeben kann, dann sollte man als Mensch erst recht alles vergeben können.

Haben Sie etwas Vergleichbares auch schon einmal wegen Ihres Glaubens erlebt? L.O.: Ich selbst nicht, aber viele Muslime schon. Auch innerhalb der Polizei, wo ich meine Ausbildung mache, gibt es gewisse Vorurteile, wird schnell verallgemeinert. Da muss ich dann immer dagegenhalten – zum Beispiel, dass es nicht überall Zwangsehen gibt, wo Töchter in muslimischen Familien leben. Da wird viel dahergeredet. Aber es gibt auch viele Situationen, in denen ich einfach nichts sage, zum Beispiel in der U-Bahn. Wenn ich in meinem näheren Umfeld mit Vorurteilen konfrontiert werde, dann verteidige ich meinen Glauben. Oft ist es so, dass die Leute, die sich herausnehmen über den Islam zu urteilen, nicht viel Ahnung davon haben. Sie wissen meist nicht, dass es ‚den’ Islam nicht gibt, sondern tausende von Strömungen, von Auslegungen und Rechtsschulen. Davon haben die wenigsten Leute eine Ahnung.

Foto: Stefan Mielchen Lisa Osman, 24, wurde in Günzburg geboren und ist in Laichingen aufgewachsen. Ihr Großvater stammt aus der Türkei, der Vater wurde in Deutschland geboren, die Mutter ist ebenfalls Deutsche. Lisa Osmans Familie lebt nicht religiös, sie wurde dennoch katholisch getauft. Nach ihrem Coming-out konvertierte sie mit 19 Jahren zum Islam. Zurzeit absolviert sie eine Ausbildung zur Kommissarin im gehobenen Dienst der Schutzpolizei. Außerdem engagiert sie sich im Liberal-Islamischen Bund (LIB).

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Islam Es geht nicht darum, das Gesetz oder den Buchstaben zu erf端llen, sondern in lebendiger Beziehung zum barmherzigen Gott zu sein.

Andreas Ismail Mohr Licht Stadt Aquarell 2015

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Interview mit dem Arabisten und Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr. Das Gespräch führte Jens Ehebrecht-Zumsande

Herr Mohr, als Arabist und Islamwissenschaftler vertreten Sie eine zeitgemäße Lesart des Islam und eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Koran. Was ist Ihnen dabei besonders wichtig? A.I.M.: Die Basis ist zunächst eine gute Kenntnis der Texte und Quellen. Ich beziehe mich auf den arabischen Korantext und habe auch einige kürzere Originaltexte aus dem Arabischen übersetzt, vor allem Überlieferungen (Hadithe), die im Islam eine bedeutende Rolle spielen. So kann ich mich wirklich auf die Originalquellen beziehen. Das ist schon mal nicht ganz unwichtig. Unter anderem setzen Sie sich in mehreren Aufsätzen auch für eine differenzierte Betrachtung von Homosexualität und Islam ein. Woher kommt Ihr Interesse? A.I.M.: Zunächst bin ich beides – schwuler Mann und Muslim. Als Student der Islamwissenschaft, also seit meinem 19. Lebensjahr, war die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Islam und seinen grundlegenden Schriften meine Welt. Die Auseinandersetzung, persönlich wie auch wissenschaftlich, mit dem Thema Homosexualität und Islam kam aber erst später. Was ist denn Ihre Kernthese zum Thema Homosexualität und Islam? Wie begründen Sie die Vereinbarkeit? A.I.M.: Die Grundthese ist auf jeden Fall die, dass Homosexualität und Religiosität kein unauflöslicher Widerspruch sind, so als ob ein muslimischer Mensch, egal ob Mann oder Frau, auf keinen Fall homosexuell sein könnte. Das behaupten zwar manche Gruppen oder Gelehrten, aber ich sehe das nicht so. Natürlich ist die Sache nicht ganz einfach und auch nicht ohne Widersprüche, aber grundsätzlich besteht da kein unauflösbarer Gegensatz. Das kann ich auch wissenschaftlich begründen.

Dieses Verständnis bleibt aber von vielen anderen Muslimen sicher nicht unwidersprochen? Was antworten Sie dann? A.I.M.: Nach unserem heutigen Wissen ist Homosexualität etwas ganz Natürliches. Und der Islam, oder genauer gesagt die Offenbarung, ist für gläubige Muslime etwas genauso von Gott Gegebenes wie die Natur. Ein muslimischer Wissenschaftler hat es in englischer Sprache einmal so formuliert, dass das Werk und das Wort Gottes nicht in einem Widerspruch stehen können. Das muss harmonieren. Und wenn das so nicht ist, dann verstehen wir vielleicht etwas falsch. Wie erklären Sie es sich, dass trotz dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse offenbar so wenig davon in den Gemeinden oder bei einzelnen Glaubenden ankommt? Muslimische Gemeinden werden doch oft als besonders homophob, oder zumindest ablehnend gegenüber dem Thema wahrgenommen. A.I.M.: Die Frage ist wirklich, was an der Basis überhaupt an Erkenntnis da ist. Was wird an der Basis besprochen und thematisiert, bzw. was wird ausgeklammert und nicht wahrgenommen? Oftmals ist Sexualität und insbesondere Homosexualität einfach kein Thema. Das war ja lange Zeit im Abendland auch nicht viel anders. Dabei ist das Thema Homosexualität, oder wenigstens Homoerotik, der islamischen Kultur gar nicht so fremd. Faktisch wurde es in der Tradition mehr thematisiert als in Europa, oftmals sogar positiv konnotiert, z.B. in der Dichtung. Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch, dass eine aktuelle Studie „Muslime in Deutschland” ergeben hat, dass über 50 Prozent der Muslime in Deutschland positiv zur Ehe für homosexuelle Paare stehen. Ist das eventuell ähnlich, wie es derzeit etwa auch bei der katholischen Kirche zu beobachten ist, dass die Basis da oft weiter ist als die Kirchenleitung? Das Referendum zur Öffnung der Ehe in Irland hat das ja jüngst deutlich gemacht.

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Islam

A.I.M.: Ich denke, das ist so. Man muss differenzieren. Natürlich gibt es in den Gemeinden diejenigen, die sagen, dass dies alles ganz schlimm und verboten sei. Diese Position wird vermutlich in salafistischen Kreisen als die einzig wahre vertreten. Aber es gibt doch eben auch viele Muslime, zumindest in Deutschland, die sagen „Wir kennen aber homosexuelle Paare, die gut zusammenleben. Und das ist okay!” Welche Rolle für eine Verbesserung der Akzeptanz von Homosexualität spielen denn möglicherweise die verschiedenen Verbände, oder auch einzelne Imame oder Islamwissenschaftler*innen? A.I.M.: Die Rolle der Verbände ist faktisch vor allem doch eine politische. Sie organisieren das Leben der Gemeinden. Sie sind nicht so sehr religiöse Institutionen, sie lehren nichts. Wenn Sie als großen Verband beispielsweise die DITIB nehmen, da ist das vielleicht ein wenig anders. Die DITIB ist recht eng mit der türkischen Religionsbehörde (Diyanet) verbunden. Da kann man schon erwarten, dass z.B. auch bei der Auswahl der Imame darauf geachtet wird, dass theologische Erkenntnisse weitergegeben werden. Bei den anderen Verbänden ist es eher so, dass da viele einzelne Personen und Meinungen vertreten sind. Beispielsweise hat sich der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime, Aiman A. Mayek positiv zum Thema Homosexualität geäußert. Dennoch ist sein Einfluss auf die einzelnen Gemeinden oder gar Imame auch begrenzt. Da darf man die Verbände vielleicht auch nicht überfordern.

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schichte von Lot eine gewisse Rolle und auch die Hadithe, also die gesammelten Überlieferungen über Aussprüche und Handlungen des Propheten. Tatsächlich gibt es da viele negative Aussagen. Aber es gibt auch andere Stellen, die man durchaus im Sinne einer Homoerotik beanspruchen kann. Ein Beispiel: In den islamischen Paradiesvorstellungen wird sehr sinnenfroh von Früchten, von Wein und von der Vermählung mit Jungfrauen erzählt. Es gibt aber auch Jünglinge, die im Paradies auftreten. Diese werden als Schenken-Knaben dargestellt, die die Paradiesbewohner bedienen, die Wein ausschenken. Die Jünglinge werden mit ähnlichen Eigenschaften beschrieben, wie die Jungfrauen, die die Gattinnen der Paradiesbewohner sein werden. Da gibt es viele weitere Bilder, die eng verbunden sind mit altarabischer Dichtung und spätantiken Ideen. Das legt doch zumindest nahe, dass Schönheit und Erotik – und zwar gleichermaßen von jungen Frauen, wie von jungen Männern – auch im ewigen Leben eine Rolle spielen. Also sind muslimische oder orientalische religiöse Vorstellungen viel sinnenfreudiger und durchaus offen für Erotik – mehr, als wir es im christlichen Abendland kennen?

In Ihren Forschungen beschreiben Sie auch Quellen und Traditionen, in denen Sexualität und Homosexualität positiv gewürdigt werden. Davon ist in der öffentlichen Wahrnehmung doch recht wenig bekannt.

A.I.M.: Ja. Das sind natürlich Bilder, aber trotzdem: Schönheit, Jugend, Vermählung, Genuss von Wein und auch erotische Sinnenfreude – das sind die Bilder, die im Zusammenhang mit dem Paradies und der Erlösung stehen. Da ist durchaus Platz für Sexualität und wohl auch für Homoerotik. Das ist in dieser Weise in der christlichen Tradition vielleicht so nicht vorhanden. Beispielsweise hat aber die spätere, „islamische”, weltliche arabische Dichtung dies durchaus aufgegriffen, indem homoerotische Liebe mit Verweis auf die koranischen Paradiesesbeschreibungen verherrlicht wurde.

A.I.M.: Das steht natürlich sehr im Kontrast zu den eher normativen Texten; für letztere spielt der Koran mit der Ge-

Also könnten muslimische Lesben und Schwule sich durchaus darauf beziehen! Was raten Sie muslimi-


schen homosexuellen Frauen und Männern, die in einen Konflikt zwischen ihrer Identität und ihrem Glauben geraten? A.I.M.: Von den vielen Aspekten, die da zu beachten wären, wäre mir besonders wichtig, dass sie als gläubige Muslime sich bewusst machen, worum es im Kern der Religion geht: Es geht nicht zuerst um Gesetze, Normen und Vorschriften. Das ist auch wichtig, aber nicht das absolut Ausschlaggebende. Der Kern ist der Schöpfer und seine Barmherzigkeit. Mein Tipp wäre also, auf das eigene Innere zu achten und sich als Geschöpf Gottes wahrzunehmen. Es geht nicht darum, das Gesetz oder den Buchstaben einzelner Regelungen zu erfüllen, sondern in lebendiger Beziehung zum barmherzigen Gott zu sein. „Barmherzigkeit” (rahma) ist die im Koran am häufigsten genannte Eigenschaft Gottes.

Foto: Privat Andreas Ismail Mohr 1983-1989 Studium der Islamwissenschaft, Iranistik und Semitistik an der Universität Heidelberg. 2001-2005 Studium

Englisch,

Kunst

und

Erziehungswissenschaften

für

das Lehramt der Sekundarstufe I an der Universität Köln. Nach verschiedenen Stationen als Lehrer, u.a. in Hagen und Köln, von 2011 bis 2012 Mitarbeiter beim Koranforschungsprojekt Corpus Coranicum der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2012 wiss. Mitarbeiter beim Projekt

Episteme in Bewegung SFB 980, Berlin) und Lehrbeauftragter am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin für klassisch-arabische Lektüre (Koran und Hadith). Tätig in der Christlich-Islamischen Gesellschaft e.V. (http://www. chrislages.de) sowie Mitglied im Koordinierungsrat der Vereinigungen des christlich-islamischen Dialoges in Deutschland e. V. (http://www.kcid.de). Weiterführende Texte und Informationen von Andreas Ismail Mohr, u.a.: Islam und Homosexualität – eine differenzierte Betrachtung, 2007: www.ismailmohr.de/islam_homo.html

Ein schwieriges Verhältnis: Homosexualität und Islam – Was sagt der Koran dazu?, 2007: www.ismailmohr.de/islam_homo2.html

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Außenansicht Dass ihre Kirche sie diskriminiert, ist für viele Gläubige nicht aussprechbar

Frau Gekeler, sind die zahlreichen Einrichtungen der evangelischen und der katholischen Kirche gute Arbeitgeber? C.G: Wenn ich an Homosexuelle denke, dann ist das auf jeden Fall zu verneinen, insbesondere was katholische Einrichtungen betrifft. Für Konfessionslose und Andersgläubige ist die Ausgrenzung bei beiden christlichen Kirchen gleich. Die Kirchen haben eine Sonderstellung als Arbeitgeber. Wie sieht die aus? C.G.: Die Kirchen können noch mehr Anforderungen an ihr Personal stellen als zum Beispiel Tendenzbetriebe: Sie dürfen, salopp gesagt, mit ihrem gesamten Personal machen, was sie wollen – man nennt das Loyalitätsobliegenheiten. Tarifrecht, Mitbestimmung und Streikrecht sind stark eingeschränkt. Dieser so genannte Dritte Weg ist sehr umstritten. Im Individualarbeitsrecht reden wir von Diskriminierung und Menschenrechtsverletzung. Das ist nicht übertrieben: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat 2010 einem Kirchenmusiker das Recht zugestanden, ein Familienleben zu führen – er hatte gewagt, nach einer Scheidung wieder zu heiraten und war seinen Job los. Der EGMR sprach von einer Menschenrechtsverletzung, weil die deutschen Gerichte sein Recht auf Familienleben nicht berücksichtigt hatten.

und verwalten dürfen, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze. Zu jenen zählen führender Rechtsexperten aber Arbeitsschutz, Kündigungsschutz, Schutz vor Diskriminierung und so weiter, also auch in christlichen Krankenhäusern und Kindergärten. Doch Gesetzgeber und Rechtsprechung pflegen meist eine merkwürdige Rechtsauslegung, die zu einer kirchenfreundlichen Rechtstradition in Deutschland geführt hat. Heute berufen sich fast alle Politiker, aber auch viele Richter darauf und sagen: Wir können gar nicht anders, als den Kirchen freie Hand bei der Diskriminierung ihres Personals zu gewähren. Ordnen, Regeln und Verwalten dieser Angelegenheiten ist meiner Meinung nach aber etwas anderes als völlige Selbstbestimmung und umfängliche Loyalitätspflichten. Und ein Arbeitsverhältnis ist keine innerkirchliche Angelegenheit! Weil damit der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes außer Kraft gesetzt wird? C.G.: Man muss auf mehrere Grundrechte verzichten, wenn man dort arbeitet. Das betrifft die Glaubens- und Gewissenfreiheit (Religionsfreiheit), das Recht auf Familien- und Privatleben ebenso wie die Freiheit der Berufswahl oder den Schutz vor Diskriminierung. Und zwar auf allen personellen Ebenen: Wir reden hier über Küchenhilfen genauso wie über Ärzte oder IT-Fachleute. Ist die evangelische Kirche der bessere Arbeitgeber?

Worauf gründen diese Sonderrechte? C.G.: Einerseits gilt das Betriebsverfassungsgesetz nicht, weil es aus tiefsten Adenauer-Zeiten stammt und diesbezüglich nicht reformiert wurde. Dreh- und Angelpunkt ist aber Artikel 140 des Grundgesetzes: Darin heißt es mit Rückgriff auf die Weimarer Reichsverfassung, dass die Religionsgemeinschaften ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln

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C.G.: Also für Konfessionslose und Andersgläubige sicher nicht. Bei Homosexualität kann es je nach Verkündigungsnähe, also zum Beispiel für Pfarrer durchaus schwierig werden. Das ist von Landeskirche zu Landeskirche verschieden – in der einen kann beispielsweise ein homosexuelles Paar gemeinsam im Pfarrhaus wohnen, in der anderen nicht. Ganz durch ist das Thema innerhalb der evangelischen Kirche also


Die Politologin Corinna Gekeler interviewte zahlreiche Bewerber*innen und Beschäftigte, die von Diskriminierungen durch kirchliche Arbeitgeber betroffen sind. Stefan Mielchen unterhielt sich mit Corinna Gekeler über ihr Buch „Loyal dienen – Diskriminierendes Arbeitsrecht bei Caritas, Diakonie und Co“.

noch nicht, aber es betrifft nicht die Ärzte oder die Erzieherinnen. Im Gegensatz zur katholischen Kirche – woran liegt das? C.G.: Die deutschen Bischöfe haben sich wohl wahnsinnig geärgert, dass sie die Eingetragene Lebenspartnerschaft nicht verhindern konnten, und prompt bestimmt: Wenn die heiraten dürfen, dann dürfen wir ihnen kündigen. Und das steht nicht nur auf dem Papier, es wird auch gemacht! Ich denke, dass die evangelischen Landeskirchen insgesamt entspannter mit dem Thema Homosexualität umgehen. Warum das auf katholischer Seite anders ist, kann ich nicht sagen. Da wird häufig auf die Weltkirche verwiesen. Interessant aber ist, dass es beispielsweise in Österreich diese Loyalitätsobliegenheiten für die Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen nicht gibt.

mosexualität wissen. Und man lebt in der ständigen Angst, angeschwärzt zu werden. Man kann nur eine „diskrete“ Verpartnerung vornehmen, also in einem Formular angeben, dass der Arbeitgeber von der Eingetragenen Lebenspartnerschaft nichts erfährt. Kein großer Fortschritt, wenn man bedenkt, wie hart dieses Recht erkämpft wurde. Werden kirchliche Arbeitgeber auch detektivisch tätig?

C.G.: Es gibt viele, die gerne wegschauen, weil sie die betroffenen Mitarbeiter*innen schätzen und halten wollen. Es gibt aber auch andere, die tatsächlich eine Art Privatdetektei einstellen oder jemanden aus der Gemeinde schnüffeln lassen. Das kann sehr weit gehen, bis ins Privatleben und dort, wo sich Leute sicher fühlen. Es gibt Fälle, wo sich kirchliche Mitarbeiter bei Gayromeo eingeloggt haben, um schwule Kollegen auszuspionieren. Warum hört man so wenig von solchen Fällen?

Lässt sich die Zahl der Diskriminierungsfälle beziffern? C.G.: Dafür werden zu wenige Fälle öffentlich. Aber wie immer, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, kommt es nicht darauf an, ob es nur einen Menschen betrifft oder hunderte. Die Ausgrenzungen finden statt und das heißt, der Skandal ist allemal da! Und das liegt nicht fünf Jahre zurück, sondern es betrifft ganz aktuell Menschen, die sich um ihre Existenzsicherung sorgen. Was sind die größten Beeinträchtigungen für homosexuelle Arbeitnehmer*innen im kirchlichen Dienst? C.G.: Sich verstecken zu müssen und ständig Angst zu haben, dass man auffliegt. Man steckt in einem System, in dem man erpressbar wird, sobald andere von der eigenen Ho-

C.G.: Es gibt wenige, die sich an die Medien wenden oder klagen. Kündigungsschutzklagen enden häufig in einem Vergleich – immer mit der Auflage zu schweigen. Die Vergleiche zahlt die Kirche aus der Portokasse und alle tun so, als wäre nichts gewesen. Hat es die Kirche vielleicht auch so leicht, weil sie Arbeit in der Pflege oder Betreuung von Menschen leistet, die von vielen wertgeschätzt wird und bei der die öffentliche Hand froh ist, dass sie von diesen Trägern übernommen wird – obwohl die kirchlichen Einrichtungen genauso Geld erhalten wie alle anderen auch? C.G.: Die Frage ist, zu welchem Preis dies geschieht! Zum Beispiel das Rote Kreuz oder die Arbeiterwohlfahrt unterhal-

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Außenansicht ... wer richtet wen?

ten auch Pflegeeinrichtungen, dort kommt man aber ohne Diskriminierung aus. Sie haben für Ihre Studie zahlreiche Interviews mit Betroffenen geführt. Wie viel Selbstbewusstsein ist Ihnen dabei begegnet – und wie viel Selbstverleugnung? C.G.: Für manche Gesprächspartner*innen war es ein riesiger Schritt, mit mir zu reden. Also darüber, dass man nicht dazugehören darf und dass ihre Kirche sie diskriminiert: Das ist für viele Gläubige nicht aussprechbar. Es war häufig mit einem schlechten Gewissen verbunden: Darf ich das erzählen – es geht mir doch gut in der Kirche? Aber auch mit dem Wunsch: Ich möchte gerne angenommen werden und an der Dienstgemeinschaft teilhaben – warum darf ich dann meinen Beitrag zur Nächstenliebe nicht leisten? Damit verbunden war die Empörung, als Gläubiger zweiten Ranges zu gelten und ausgeschlossen zu werden. Das wird übrigens insbesondere von Geschiedenen in neuen Partnerschaften inzwischen so laut thematisiert, dass es bis Rom gehört wurde. Was bedeutet das im Alltag der Betroffenen? C.G.: Ich habe mit einem Lesben-Paar gesprochen, dem im Verlauf des Gespräches klar wurde, dass sich die beiden nicht trauen, gemeinsam einkaufen zu gehen. Sie haben das so in ihren Alltag umgesetzt, dass es ihnen schon nicht mehr aufgefallen ist. Ein anderer Fall war der einer älteren Dame, die sich heimlich verpartnern musste und ganz verbittert war, dass ihr solche Steine in den Weg gelegt werden, obwohl sie doch schon so lange Jahre dazugehört. Oder der junge Mann, der heiraten und seinen Namen ändern wollte, und dessen Chef ihm gesagt hat: Ich schaue weg, aber ich kann Dich nicht befördern. Er hat mir gesagt: Natürlich ist das ein fauler Kompromiss, aber ich bin über den Einsatz der Einrichtung erfreut. Er ringt mit sich, er findet die Kirche gut, er findet seinen Chef gut, er hat sich bewusst eine kirchliche Einrichtung ausgesucht – da geht man nicht so einfach, auch wenn man die angestrebte Leitungsfunktion nicht bekommt. Kann man als Homosexueller überhaupt guten Gewissens bei einem kirchlichen Dienstgeber arbeiten, wenn man dieses System stärkt?

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C.G.: In manchen Regionen hat man einfach keine Alternative. Kirchen haben oft eine Monopolstellung. Homosexuelle können gegebenenfalls noch auf evangelische Arbeitgeber ausweichen, aber Konfessionslosen oder Muslimen ist diese Möglichkeit verbaut. Wenn ich als Schwuler oder als Lesbe bereit bin, mich zu verstecken, die Regeln zu akzeptieren und auszuhalten, als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden, kann ich dort vielleicht guten Gewissens arbeiten. Aber ich muss immer damit rechnen, selbst in die Situation des Anschwärzers zu geraten, wenn ich selbst versteckt lebe und jemand anderes sich ein offenes Leben erlaubt. Denn es können die Fragen kommen: Wussten Sie, dass der Kollege schwul ist ...? Ich muss nicht nur wegschauen, sondern das System mittragen. Aber ist es nicht eine fragwürdige rechtliche Grundlage, die den Kirchen diese Praxis ermöglicht? C.G.: Deutschland war Schlusslicht bei der Umsetzung der EU-Anti-Diskriminierungsrichtlinie und hat eine Kirchenklausel geschaffen, die von dieser EU-Richtlinie abweicht. Den Kirchen wurden in Paragraf 9 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) Sonderrechte eingeräumt: Sie dürfen moralische Vorstellungen nicht nur an an verkündigungsnahe Berufe stellen (was die EU-Richtlinie hergibt), sondern an das gesamte Personal. Beispielsweise kann das Eingehen einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft in Deutschland unabhängig von der Verkündigungsnähe als Kündigungsgrund gelten. Hält man das europäische Recht dagegen, dürfte dies nicht so sein. Da wäre zum Beispiel ein verpartnerter Arzt kein Problem, ein offen schwuler Pressesprecher der Caritas dann vielleicht schon. Was kann man dagegen unternehmen? C.G.: Es ist juristisch nicht geklärt, ob der Paragraf 9 so gestaltet sein darf. Der Gesetzgeber könnte ihn auf einfachgesetzlichem Weg abschaffen. Aber auf den Gesetzgeber zu warten, hat derzeit keinerlei Aussicht auf Erfolg. Es gibt immer wieder einzelne Urteile, in denen Richter sagen, dass Paragraf 9 eigentlich dem höher zu bewertenden europäischen Recht widerspricht. Man könnte diese Fälle dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zur Entscheidung vorlegen, aber das hat bislang noch kein Richter getan. Darauf sollten Kläger aber hinarbeiten, und ich würde mir


... ich schaue weg, aber ich kann dich nicht befördern.

wünschen, dass mehr Menschen diesen Weg gehen, gerne auch medienwirksam. Was müsste man dafür auf sich nehmen? C.G.: Man braucht einen sehr langen Atem, einen sehr guten AGG-spezialisierten Anwalt, und man muss bereit sein, nicht mehr bei einem kirchlichen Arbeitgeber beschäftigt zu sein. Außerdem muss man damit rechnen, dass die Medien die Fälle so aufgreifen, dass man erkannt wird.

Corinna Gekeler Als Journalistin und Kommunikationsberaterin beschäftigt sich Corinna Geke-

Solange die Politik sie gewähren lässt, können sich die Kirchen also ganz entspannt zurücklehnen?

ler seit Langem mit sexueller Vielfalt, HIV/Aids und Menschenrechtsfragen. Sie erhielt 2007 den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung. Nach Einführung der EU-Richtlinie zur Antidiskriminierung fiel ihr auf, dass den Kirchen

C.G.: Richtig. Und wenn es mal Ärger gibt, dann gibt es einen Vergleich, bei dem alle zum Schweigen verurteilt werden. Aber jedes Stück Medienaufmerksamkeit macht es schwieriger, sich bequem zurückzulehnen. Die Kirchen verlieren ernorm an Glaubwürdigkeit, sobald diese Fälle öffentlich werden. Deshalb sollten sich Leute zusammentun und gemeinsam in die Öffentlichkeit gehen. Es wäre gut, wenn diejenigen, die von sich aus kündigen, weil sie die Situation nicht mehr aushalten, oder die beispielsweise heiraten wollen und sich deshalb eine neue Stelle suchen, auf den Putz hauen würden. Aber es sollten nicht nur die Betroffenen den Mund aufmachen, sondern auch das Umfeld, das sich fragt, warum Schwule und Lesben nicht die gleiche Arbeit machen dürfen wie man selbst oder nicht befördert werden. Warum stellen nicht auch andere solche Fragen, die nicht soviel zu verlieren haben wie jene, die sich outen müssen?

in der deutschen Umsetzung viele Ausnahmen erlaubt werden. Da es zu den Auswirkungen wenig Informationen gab, schrieb sie selbst ein Buch dazu.

Vielleicht geht niemand nach außen, weil das System so einfach funktioniert? Man weiß voneinander, aber man übt keinen Verrat – höchstens an sich selbst. C.G.: Als ich zum ersten Mal gehört habe, dass es Jahrestreffen schwuler Priester gibt, da war ich ehrlich gesagt platt. Bei aller Hierarchie, aber wenn es selbst auf Priesterebene klar ist, dass man sich deckt – warum wird dann ein IT-Fachmann gekündigt? Wer ist denn dann noch „die Kirche“ – und wer richtet wen?

Foto: Stefan Mielchen Informationen zum Buch: http://www.alibri-buecher.de/Buecher/Kirchenkritik/Corinna-Gekeler-Loyal-dienen::443.html Informationen zu Corinna Gekeler: http://wellenlaengen-beratung.de/Kompetenzen__Referenzen_1.html

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Zwischen Zugehörigkeit und Distanzierung Jens Ehebrecht-Zumsande sprach mit dem Psychoanalytiker Prof. Dr. Udo Rauchfleisch

Herr Prof. Rauchfleisch, was bewegt Menschen, sich einer religiösen Institution oder Gruppe zugehörig zu fühlen, die sie doch auf Grund der sexuellen Identität kritisch sieht oder gar ausgrenzt? U.R.: Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass es sich hier ja nicht um die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe handelt, wie etwa eine Berufsgruppe oder eine Freizeitgruppe. Religiöse Gemeinschaften sind für viele Menschen doch außerordentlich bedeutsam. Die Schwierigkeit liegt oft darin, dass jemand sich auf der einen Seite in einer Gruppe sehr wohl fühlt und dort auch in allen möglichen Aspekten akzeptiert ist. Aber dann genau in diesem einen Punkt – dem der sexuellen Identität und der gelebten Homosexualität – erfährt, nicht angenommen zu sein. Dieser wichtige Teil der Person muss versteckt werden, weil sonst mit massiver Ablehnung zu rechnen ist. Das ist ein schwieriger Konflikt. Da ist ein Austritt dann doch eine naheliegende Lösung? U.R.: Die Frage der Zugehörigkeit ist hier eine sehr existenzielle, denn weil es um Religion geht, geht es sehr tief. Das berührt ganz tiefe und existenzielle Schichten. Aus einer Freizeitgruppe kann ich mich viel leichter distanzieren als aus einer religiösen Gruppe. Religionen sind in der Regel ja erst einmal sehr positiv und werden auch von vielen homosexuellen Frauen und Männern durchaus als tragend erfahren. So ist es oft ein Abwägen: Riskiere ich es, mich von dem Kreis zu entfernen, der mein Hauptbezugskreis ist? Führt das nicht aber zu einer Spaltung der Lebenswelten und letztlich zu einer Spaltung der ganzen Person?

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U.R.: Ja sicher! Das führt innerlich zu einem wahnsinnigen Spagat. Mit der Homosexualität wird innerlich etwas gefühlt oder auch real gelebt, was auf der anderen Seite aber in der Gemeinde oder Familie kein Thema sein darf. Das löst einen enormen Druck aus. Je mehr die Gemeinde oder religiöse Gruppe mein Hauptbezugsfeld ist und je mehr auch moralischer Druck eine Rolle spielt, desto schwerer fällt natürlich eine Distanzierung. Menschen, die noch in anderen Beziehungsnetzen leben, haben es da sicher leichter. Nicht wenige religiöse Personen, letztlich auch viele homosexuelle Seelsorger*innen, erkranken ja tatsächlich daran – angefangen von Burnout-Erkrankungen bis hin zu massiven körperlichen und psychischen Zusammenbrüchen. U.R.: Das ist ja nicht verwunderlich. Aus der Forschung wissen wir, dass Verheimlichungsstress zu den Stresssituationen gehört, die die meisten Kräfte erfordern. Wenn jemand etwas existentiell Wichtiges dauernd verheimlichen muss und mit den Menschen, mit denen er oder sie wesentlich zusammenlebt, nicht äußern darf, dann ist dieser Stress krankmachend. Und oftmals ist dann ja nicht nur die homosexuelle Person allein betroffen, sondern das ganze familiäre Umfeld. U.R.: Ganz genau – und das ist dann eine fatale Situation, die wiederum erneut Druck auf die Betroffenen auslöst. Da gibt es ja viele Beispiele – gerade aus besonders strengen religiösen Gruppen, wie etwa freikirchliche oder auch muslimische Gemeinden. Mal angenommen eine Person distanziert sich von einer religiösen Gruppe und sagt: „Ich mache dieses Doppelleben nicht mehr mit!” Da gibt es viele


Bei aller Unterschiedlichkeit der drei monotheistischen Religionen, sind sie sich in einer kritischen Sicht auf Homosexualität doch weitgehend einig – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Begründungen. Im Gespräch mit dem schweizer Psychologen und Psychotherapeuten Udo Rauchfleisch kommt die komplexe Problemlage bei der Vereinbarkeit von Homosexualität und Religion in den Blick.

Beispiele, wo dann versucht wird, auf das familiäre Umfeld einzuwirken. Eltern werden z. B. angesprochen oder unter Rechtfertigungsdruck gesetzt. Insofern ist das oft nicht nur ein individuelles Problem, sondern zieht weitere Kreise. Das kann wiederum Schuldgefühle auslösen und Druck auf betroffene Homosexuelle erhöhen. Das erschwert dann eine Distanzierung von der religiösen Gruppe. Und es geht bei vielen Schwulen und Lesben auch um die berechtige Angst, dass es zu einem Bruch mit der religiösen Familie kommen kann. Gerade für Migrant*innen, die oft in besonders enger Weise mit ihrer Familie verbunden sind, ist das eine sehr schwere und belastende Situation. Als Außenstehender kann ich dann natürlich kritisch fragen, was die homosexuellen Frauen und Männer noch in ihrer religiösen Gruppe hält. Wie kommt es, dass Menschen bereit sind, eine solche schwierige Situation auszuhalten, bis hin zur Erkrankung? U.R.: Ich denke, man kann das gut vergleichen mit anderen Beziehungen. Da kann ich von außen ja auch sagen: „Wie hält jemand es in dieser Ehe aus? Warum lässt die sich nicht einfach scheiden?” Es kommen viele Faktoren zusammen. Das Vertraute aufzugeben ist nicht immer einfach. Bei religiösen Gruppen kommt hinzu, dass es um tiefe und existentielle Fragen geht. Ein Ausstieg führt für viele zu einem tiefen Bruch mit Lebensentwürfen, denen sich die Personen verbunden fühlen, oder gefühlt haben. Zudem verknüpfen ja viele religiöse Gruppierungen diesen Schritt mit dem Begriff der Sünde oder einem Verstoß gegen ein vermeintlich göttliches Gebot. Es braucht daher enorme Kräfte, um dem zu widerstehen. So gesehen kann eine Krise aber auch eine Chance sein, aus der dann Veränderung und Reifung erwächst.

Die offiziellen Positionen zur Homosexualität in den verschiedenen Religionen unterscheiden sich deutlich. An der Basis sieht es oftmals ja aber anders aus. So haben aktuelle Befragungen von Katholik*innen ergeben, dass eine breite Mehrheit sich einen deutlich liberaleren Umgang mit Homosexualität wünscht, bis hin zur Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Das mag sicher auch für manche jüdische oder muslimische Gläubige gelten. U.R.: Eine Position, wie beispielsweise die der kathölischen. Kirche, die die homosexuelle Veranlagung als gegebene Tatsache einstuft, im nächsten Schritt aber fordert, dass die Homosexualität nicht ausgelebt werden darf, ist abzulehnen. Das führt zu einer Zerreißprobe, die krankmachend und vollkommen absurd ist. Für die katholische Kirche muss man das Thema der Homosexualität sicherlich in einem viel größeren Kontext sehen. Es besteht sozusagen die Angst vor einem Machtverlust und die Sorge, dass ein ganzes Bündel von Positionen sich auflösen kann, wenn man an einem Punkt eine Öffnung macht: die Frage nach der Rolle der Frau, das Thema Zölibat, Empfängnisverhütung usw. Und das ist eine große Angst, die dazu führt, lieber nichts zu verändern. Sind denn dann Homosexualität und Religionen überhaupt vereinbar? U.R.: Auf jeden Fall. Es hängt dabei sehr wesentlich davon ab, wie weit oder eng der Rahmen ist, der in der jeweiligen religiösen Gemeinschaft gegeben wird. Es braucht aber in den Religionsgemeinschaften insgesamt einen veränderten Umgang mit den Heiligen Schriften und den eigenen Traditionen.

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Ich würde gerne noch einmal eine ganz andere Perspektive einbringen: Im Zusammenhang mit Homosexualität wird Religion weitestgehend vor allem als Problem wahrgenommen. Kann man aber nicht auch sagen, dass Religion eine wichtige Ressource für lesbische und schwule Menschen ist? U.R.: So ist es! Und das ist auch das Tragische daran, dass etwas, was eine solch reiche Ressource ist, nun zu dem wird, was extreme Unfreiheit bringt. Da haben alle Religionen eigentlich viel emanzipatorisches Potential! Religiöse Inhalte könnten genutzt werden für die Unterstützung in Selbstwerdungsprozessen. Gott sei Dank ist das ja auch vielfach so. Religion kann aber auch vollkommen zur Manipulation, zur Einengung und Ausgrenzung benutzt werden. Aber ich muss auch sagen – und das ist schlimm genug –, dass das im Bereich der Psychoanalyse ganz ähnlich ist. Das ist auch eine emanzipatorische Theorie, die so viel an Befreiung bewirken kann. Aber die Psychoanalyse hat, was die Auseinandersetzung mit Homosexualität betrifft, ja auch eine homophobe Geschichte. Da gibt es manche Parallelen zur Religion.

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Was würden Sie aus psychologischer Sicht den betroffenen Frauen und Männern in den Religionsgemeinschaften empfehlen? U.R.: Es gibt da keine Patentlösung! Das ist natürlich sehr genau und sehr individuell zum Wohl der Einzelnen zu klären. Grundsätzlich würde ich immer empfehlen genau zu prüfen, wo ich mich outen kann und wo ich mich vielleicht besser distanziere. Damit ist die Frage verbunden, was die jeweilige Entscheidung an Kraft kostet und zu schauen, was ich möglicherweise verliere. Wie schon gesagt, gehört der Verheimlichungsstress zum Schlimmsten, was es gibt. Es gibt aber auch Situationen, in denen es klug sein kann, wenn ich mich dort nicht oute, weil ich z.B. noch nicht stark genug bin für die mögliche Auseinandersetzung. Und zugleich würde ich immer schauen, wo es in der jeweiligen religiösen Gruppe bereits Menschen gibt, bei denen ich Solidarität und Unterstützung erfahre und mit denen ich mich verbinden kann. Das sind ähnliche Dynamiken, wie in jedem Comingout-Prozess.


Fotos: Claude Giger

Das bedeutet aber auch, dass Veränderungen in den religiösen Gemeinschaften am Besten von innen heraus angestoßen werden, sie zugleich aber auch die kritische Anfrage von außen brauchen? Udo Rauchfleisch,

U.R.: Veränderungen in Gruppen und Institutionen gehen natürlich immer am besten, wenn sie von innen heraus initiiert werden. Ich kann das aus meiner Erfahrung berichten. Ich kann als schwuler Psychoanalytiker, sozusagen mit den „Weihen“ der psychoanalytischen Gesellschaft ausgestattet, die homophoben Elemente in der psychoanalytischen Szene mit einer anderen Kraft kritisieren und hinterfragen, als wenn ich das von außen tue.

Prof. Dr. rer. nat., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker DPG, DGPT Jahrgang 1942 Professor emer. an der Universität Basel für Klinische Psychologie, Gastprofessor an verschiedenen in- und ausländischen Universitäten und Fachschulen, Seit 1999 Privatpraxis für Psychotherapie und Beratung in Basel Forschungsschwerpunkte: Theorie und Praxis der Psychoanalyse, Dissoziale/antisoziale Persönlichkeiten, Gewalt, testdiagnostische Methoden, musikpsychologische Themen, Grenzgebiete Psychologie – Theologie, Homosexualität, Transsexualität – Transidentität

Ist das aber nicht auf Dauer enorm kräftezehrend? Zahlreiche Veröffentlichungen

U.R.: Sicher – das kostet viel Kraft. Es ist aber dauerhaft weniger anstrengend als der Spagat eines Doppellebens. Und das kann ja auch Spaß machen! Denn daraus kann auch eine Kraft entstehen, wenn ich spüre, dass ich wirksam bin und Veränderungen in meiner Gruppe oder Gesellschaft anstoßen kann. Ich habe jedenfalls diesen Weg gewählt!

www.udorauchfleisch.ch

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Danke Wir danken sehr herzlich den Autor*innen, Interviewpartner*innen und Mitwirkenden. Ohne sie wäre die Erstellung dieser Broschüre nicht möglich gewesen.

Angela Jansen www.fraujansen.de für die Tipps zur Reinzeichnung und moralische Bestärkung Kai Eckstein für viele Mails um den Globus Rolf Erdorf für die richtigen Wörter Ulrich Rölfing für die Druckrechte des Bildes: Katholische Provinz VII Dr. Rita Bake für Anregung und Unterstützung Annika Mehmeti für Kontakte und Unterstützung Rita Schmitt fürs Lesen Gerlind Habicht für Geduld und Hilfe bei der „Bürokratie“ Maartje Wildeman für die Bilder - Chuppah Jalda & Anna Manuel Miethe für die Fotos von Jalda Rebling Torsten Henck für das Foto vom Redaktionsteam vor der Kirchenpforte Stefan Diezmann vom Wallstein Verlag für die sehr kurzfristige Abdruckerlaubnis des Textes von Walter Homolka SUB München für die Kontakte und das Foto der Ausstellung „Just me and Allah“ Landeszentrale für politische Bildung Hamburg Bücherhallen Hamburg

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Impressum Herausgeber: Hamburg Pride e.V. Ernst-Merck-StraĂ&#x;e 12-14 20099 Hamburg Erster Vorsitzender: Stefan Mielchen

Idee, Konzept, Grafik und AD: Chris Lambertsen Theologische Beratung und Autor*innenbetreuung: Jens Ehebrecht-Zumsande Text-Redaktion: Stefan Mielchen Covermotive: Jakub Godziszewski

Die Rechte der Texte und Fotografien liegen bei den jeweiligen Autor*innen, die des Gesamtwerkes bei Hamburg Pride und Chris Lambertsen.

Hamburg, im Juni 2015

Jens Ehebrecht-Zumsande | Chris Lambertsen | Stefan Mielchen Foto: Torsten Henck

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Informationen

Beratung – Netzwerke – Informationen. Eine Auswahl

Judentum:

Christentum: im

Yachad – Vereinigung schwuler, lesbischer und bisexueller Jüdinnen und Juden: www.yachad.israel-live.de

Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK) e. V.: www.huk.org

Keshet Ga’avah – The World Congress of Gay, Lesbian, Bisexual, and Transgender Jews: www.glbtjews.org

Netzwerk katholischer Lesben: www.netzwerk-katholischer-lesben.de

www.nehirim.org

Die LesBiSchwulen Gottesdienst-Gemeinschaften deutschsprachigen Raum: www.lsgg.org

Ökumenische Arbeitsgemeinschaft Lesben und Kirche: www. lesben-und-kirche.de

Weitere Initiativen und Angebote:

Arbeitsgemeinschaft schwule Theologie e.V.: www.westh.de Die lesbisch-schwulen Konvente in den evangelischen Kirchen in Deutschland: www.lesbischschwulerkonvent.de Infobereich auf der LSVD Seite: www.lsvd.de/homosexualitaet/homosexualitaet-religion/homosexualitaet-und-christentum.html

Islam: Liberal-Islamischer-Bund e.V.: www.lib-ev.de Position des LIB zum Thema Homosexualität: http://www. lib-ev.de/pdf/LIB_Positionspapier_HomosexualitaetimIslam. pdf Infobereich auf der LSVD Seite: www.lsvd.de/homosexualitaet/homosexualitaet-religion/homosexualitaet-und-islam. html

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LSVD-Zentrum für Migranten, Lesben und Schwule (MILES): www.berlin.lsvd.de/projekte/miles/ Baraka – a place for international lesbians, gays & friends: www.baraka-online.info Queeramnesty: www.queeramnesty.de REMID – Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V.: www.remid.de/blog/2014/03/homosexualitaet-in-den-religionsgemeinschaften-deutschlands


you may say I´m a dreamer...

Illustration von Pablo Stanley zu dem John-Lennon-Song IMAGINE

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Herausgeber

EINGETRAGENER VEREIN

Mit Beiträgen von: Nils Christiansen Kai Eckstein Jens Ehebrecht-Zumsande Corinna Gekeler Prof. Dr. Walter Homolka Mark Terence Jones Ulrika Kilian Chris Lambertsen Dr. Ingeborg Löwisch Stefan Mielchen Andreas Ismail Mohr Dr. Wunibald Müller Lisa Osmann Mit freundlicher Unterstützung

Prof. Dr. Udo Rauchfleisch Chasan Jalda Rebling Manuela Sabozin PD Dr. Wolfgang Schürger


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