curt Magazin #93 // Nachhaltigkeit im urbanen Raum

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curt. STADTMAGAZIN MÜNCHEN # 93 // FRÜHJAHR/SOMMER 2020

curt. STADTMAGAZIN MÜNCHEN # 93

NACHHALTIGKEIT IM URBANEN RAUM


HOPPLA AUCH DER THEATERSCHECK IST ÜBERTRAGBAR* *ABER NUR WENN SIE DAS WOLLEN

3 JAHRE GÜLTIG + MVV FÜR ALLE STÜCKE BIS ZU 40 % GÜNSTIGER

AN DER TAGESKASSE ERHÄLTLICH .

Z. B. FÜR FAMILIEN-MITGLIEDER ODER MENSCHEN DIE SIE MÖGEN WIR HOFFEN DAS WIR UNS ALLE BALD BEI BESTER GESUNDHEIT WIEDERSEHEN UND FREUEN UNS WIEDER FÜR SIE SPIELEN ZU DÜRFEN WWW.MUENCHNER-VOLKSTHEATER.DE


VORWORT Nachhaltigkeit ist irgendwie ein Arschloch. Sie kommt zwar überzeugend daher, aber wenn man versuchen will, sich nachhaltig zu verhalten, merkt man schnell, dass das nicht einfach ist. Der Definition nach ist ein Handlungsprinzip nachhaltig, bei dem eine dauerhafte Bedürfnisbefriedigung durch die Bewahrung der natürlichen Regenerationsfähigkeit der beteiligten Systeme (vor allem von Lebewesen und Ökosystemen) gewährleistet werden soll. Easy? Finde ich nicht. Ich kaufe Öko-Duschgel. Das funktioniert gut, klebt aber so komisch auf der Haut, dass das Abwaschen von der Haut viel länger dauert als bei Nicht-Bio-Duschgel. Nachhaltig? Keine Ahnung. Ich kaufe Bio-Nuss-Nougat-Creme und meine Frau schimpft mich, weil da Palmöl enthalten ist. Ist mir nicht aufgefallen, aber selbst ich weiß, dass Palmöl des Teufels ist. Also kaufe ich Schoko-Aufstrich mit Rapsöl. Das schmeckt aber scheiße und ich werfe das angegessene Glas weg. Ist ziemlich unnachhaltig und geht ins Geld. Ich gehe zu Fuß in die Arbeit und erledige auch die Einkäufe auf diese Weise, so oft es geht. Das ist schon mal gut. Ich habe aber trotzdem ein Auto, weil hin und wieder muss man eben doch viel einkaufen. Das trägt man dann nicht so einfach in der Gegend herum. Außerdem muss ich meine Familie gelegentlich über längere Strecken transportieren, schwer vorstellbar mit Fahrrad und Rucksack. Autofahren ist insgesamt aber schlecht. Also kaufe ich wenig Fleisch, aber wenn möglich regional und ohne Verpackung. Ich bestelle nur online, wenn es sich nicht vermeiden lässt, setze auf Qualität statt Masse und versuche, informiert zu bleiben. Aber nicht so viel, dass ich womöglich merke, wie wenig das alles vielleicht bringt. Außerdem habe ich zwei Kinder. Nach der Definition ist das so ziemlich das Nachhaltigste, was man machen kann. Bewahrung der natürlichen Regenerationsfähigkeit des Systems und so. Und es macht auch noch Spaß, was man von Dinkel-Grünkern-Bratlingen nicht behaupten kann. Doch jetzt gibt es diese Frau, die behauptet, dass Kinder in die Welt zu setzen, so ziemlich das Unnachhaltigste ist, was man machen kann. Ich sag‘s ja, ein Arschloch … Euer Thomas


# 93 NACHHALTIGKEIT IM URBANEN RAUM FRÜHJAHR / SOMMER 2020

COVERMOTIV FOTO: MICHAEL WENIGER

Das curt-Trash-Logo haben wir nach unserem CleanUp an der Isar aus einer Auswahl von über 5 kg Kleinstmüll gebastelt. Kippen, Kronkorken, Plastikzeug und anderer Scheiß, der an der Isar nichts verloren hat. Trash-Logo Making-of ► S. 96

06 Zufallsgenerator Was ist deine größte Umweltsünde? 08 SDGs – Sustainable Development Goals 17 Ziele für eine nachhaltige globale Entwicklung 14 Kein Recht auf Dreck! Im Gespräch mit Kathrin Hartmann 19 Buchtipps 20 Oh, mein Schrott Zu Besuch im Wertstoffhof 28 Good bye Plastik 42 Genossenschaftlich verpackungsfrei „nebenan unverpackt“ 46 Porträt: Edward Sizzerhand und seine Sizzerbees 52 Nachhaltige Münchner Institutionen & Projekte 58 Strategien für das Unplanbare Im Gespräch mit Thomas von Wittern 64 Spatzenfreunde 72 Nahstressgebiete – DAV & POW 75 Filmtipps 76 DIY – Spülmaschinenpulver und WC-Reiniger 78 Tiny Living– Gastbeitrag von Thomas von Wittern 80 Zu Fuß nach Lissabon Nachhaltig reisen mit Moritz Jendral 86 Karl Wilhelm Diefenbach 88 Extinction Rebellion & Red Rebels 90 Renaissance der Nachhaltigkeit 92 Voll auf dem E-Go Trip 94 Der weinbrandt rät: Ingwer Narrisch 96 curt CleanUp Making of 97 Impressum 98 #curtpräsentiert



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Moni, 27, UX-Designerin Das Skifahren. Bäume werden abgeholzt, die Pisten beschneit … heieiei.

WAS IST DEINE GRÖSSTE UMWELTSÜNDE?

BEFRAGUNG UND FOTOS: NURIN KHALIL

Marcello, 31, Gastronom & Florre, 30, Philosoph Motorrad fahren und der Konsum diverser südamerikanischer Produkte …


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Ines, 27, Art Director Ich fliege immer noch.

Frau De Bortolli, 86, Rentnerin Das Heizen. Da kommen immer die dunklen Schwaden aus den Schornsteinen und vieles davon ist die Gasheizung.

Parbo, 1, braves Mädchen: Jedes Häufchen braucht ein Tütchen. Schon doof, aber reintreten will ja auch keiner.

Nurin, 30, curt-Redakteurin Ich lerne gerade das tätowieren. Was da täglich an Müll anfällt, ist schlimm, aber aus hygienischen Gründen unvermeidbar.


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Am Ende eines dreitätigen Nachhaltigkeitsgipfels einigten sich die Vereinten Nationen im September 2015 auf siebzehn Ziele für die nachhaltige Entwicklung unserer Welt. Die einzelnen Ziele widmen sich jeweils einer globalen Herausforderung und sollen die Transformation unserer Erde zum Besseren sichern – auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene. Mehr als 150 Staats- und Regierungschefs sowie zahlreiche Ministerinnen und Minister aus aller Welt nahmen 2015 an der Sitzung in New York teil – so viele wie noch nie zuvor bei einer UN-Versammlung. Das gemeinsame globale Programm wurde einstimmig verabschiedet und die Ziele traten am 1. Januar 2016 mit einer Laufzeit von 15 Jahren (bis 2030) in Kraft. Die Umsetzung der Agenda 2030 und der SDGs in und durch Deutschland ist eine Bundesangelegenheit, aber auch Städte und Kommunen spielen eine wichtige Rolle bei der Verwirk­ lichung der Agenda.

17 ZIELE

FÜR EINE NACHHALTIGE GLOBALE ENTWICKLUNG

curt hat deshalb auch dem Referat für Gesundheit und Umwelt der Stadt München ein paar Informationen entlockt: Wir wollten wissen, wie es so steht in Sachen Agenda 2030. Fazit: Da ist noch reichlich Luft nach oben! Auf den folgenden Seiten haben wir eine Übersicht über die Ziele und ihre Schwerpunkte erstellt und einige „Tu Du’s“ aufgelistet (► 17ziele.de). Denn neben der Politik ist natürlich auch jeder einzelne von uns gefragt, einen Beitrag zu leisten, um die Welt Stück für Stück immer besser zu machen. In diesem Sinne: Packen wir’s an!

TEXT UND UMSETZUNG: PETRA KIRZENBERGER // ILLUS: SIMONE REITMEIER

SUSTAINABLE DEVELOPMENT GOALS


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KEINE ARMUT ARMUT IN ALLEN IHREN FORMEN UND ÜBERALL BEENDEN.

KEIN HUNGER

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GESUNDHEIT & WOHLERGEHEN EIN GESUNDES LEBEN FÜR ALLE MENSCHEN JEDEN ALTERS, WOHLERGEHEN FÖRDERN.

TU DU’S!

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DEN HUNGER BEENDEN, BESSERE ERNÄHRUNG, NACHHALTIGE LANDWIRT­S CHAFT.

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• Werde Fördermitglied bei Vereinen, die sich für die SDGs einsetzen. • Biete Deine Hilfe an, z. B. in der Obachlosenhilfe. • K aufe nur Lebensmittel, die Du auch aufbrauchen kannst. • I ss öfter vege­tarisch, reduziere Deinen Fleischkonsum. • Kaufe regionale Produkte • Organisiere und engagiere Dich (Gewerkschaften) • Tritt für bessere Bezahlung von Pflegekräften ein.

HOCHWERTIGE BILDUNG INKLUSIVE, GLEICHBERECHTIGTE, HOCHWERTIGE BILDUNG FÖRDERN. So sieht es in München aus1: Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss Unter 3-Jährige in Tageseinrichtungen

32,5 %

3- bis 5-Jährige in Tageseinrichtungen

89,9 %

Exklusionsquote

1 2

3,5 %

STAND 2017, QUELLE: SDG-PORTAL.DE QUELLE: 17-ZIELE.DE

5,3 %

2M it dem Programm Biostadt

München wird versucht, BürgerInnen zum Thema Biolebens­mittel aus der Region zu informieren und den Absatz von Biolebensmitteln – idealerweise aus der Region – zu steigern.

6 I n Sachen Sauberes Wasser

und Sanitäranlagen ist München TOP: 1a-Trink­ wasserqualität, regelmäßige Überprüfung aller Leitungen durch die SWM, vorbildliche Abwasseraufbereitung und keine Nitrate im Grundwasser.


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SAUBERES W ASSER

GESCHLECHTERGLEICHHEIT

GESCHLECHTERGLEICH­STELLUNG ERREICHEN, ALLE FRAUEN UND MÄDCHEN ZUR SELBST­BESTIMMUNG BEFÄHIGEN E ine Gesellschaft, in der Mädchen und junge Frauen ihr volles intellektuelles, soziales und politisches Potenzial ausschöpfen können, ist gleichzeitig auch eine sichere, gesunde und florierende Gesellschaft. Julia Gillard, ehemals Premierministerin von Australien

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MENSCHENWÜ ÜRDIGE ARBEIT & WIRTSCHAFT­SWACHSTUM

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VERFÜGBARKEIT UND NACHHALTIGE BEWIRT­SCHAFTUNG VON WASSER UND SANITÄRVERSORGUNG.

BEZAHLBARE ENERGIE ZUGANG ZU BEZAHLBARER, VERLÄSSLICHER, NACHHALTIGER UND MODERNER ENERGIE FÜR ALLE.

Kernkraftwerke hinzustellen, ohne zu wissen, wo der Atommüll endlagert werden kann, ist wie das Abziehen einer Handgranate bevor man weiß, wo man sie hinwerfen wird. Dieter Hildebrandt, Kabarettist, Schauspieler

DAUERHAFTES, BREITENWIRKSAMES UND NACHHALTIGES WIRTSCHAFTS­WACHSTUM, PRODUKTIVE VOLLBE­SCHÄFTIGUNG UND MENSCHEN­WÜR­DIGE ARBEIT FÜR ALLE.

INDUSTRIE, INNOVATION, INFRASTRUKTUR

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WIDERSTANDSFÄHIGE INFRA­STRUK­TUR AUFBAUEN, NACH­HALTIGE INDU­STRIE FÖRDERN, INNO­VATIONEN UNTERSTÜTZEN.


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WENIGER UNGLEICHHEIT UNGLEICHHEIT IN UND ZWISCHEN LÄNDERN VERRINGERN.

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NACHHALTIGE STÄDTE UND GEMEINDEN

STÄDTE UND SIEDLUNGEN INKLUSIV, SICHER, WIDERSTANDSFÄHIG UND NACHHALTIG GESTALTEN.

NACHHALTIGE/R KONSUM & PRODUKTION

NACHHALTIGE KONSUM- UND PRODUKTIONSMUSTER SICHERSTELLEN.

DA SCHAU HER!

Den Deutschen Nachhaltigkeitspreis für Städte in der Kategorie „Großstadt“ erhielt 2019 Osnabrück1 (Niedersachsen). Die BürgerInnen durften ihre Ideen zur nachhaltigen Stadtentwicklung einbringen. Schwerpunkte sind: weniger Platz für motorisierten Individualverkehr, mehr Grünflächen, ökologische Maßnahmen in der Bauleitplanung sowie eine nachhaltige Wirtschaftsförderung. Highlight: Deutschlands erstes Solardachkataster. 1

QUELLE: STIFTUNGEN.ORG, ALLIANZ UMWELTSTIFTUNG

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KLIMASCHUTZ

UMGEHEND MASSNAHMEN ZUR BEKÄMPFUNG DES KLIMAWANDELS UND SEINER AUSWIRKUNGEN ERGREIFEN.

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LEBEN UNTER WASSER

OZEANE, MEERE UND MEERES­­R ES­S OURCEN ERHALTEN UND NACHHALTIG NUTZEN.


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LEBEN AN LAND

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LANDÖKOSYSTEME SCHÜTZEN BZW. WIEDERHERSTELLEN, NACH­HALTIGE NUTZUNG FÖRDERN.

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FRIEDEN, GERECHTIGKEIT, STARKE INSTITUTIONEN

PARTNERSCHAFTEN ZUR ERREICHUNG DER ZIELE DIE GLOBALE PARTNERSCHAFT FÜR NACHHALTIGE ENT­WICKLUNG MIT NEUEM LEBEN FÜLLEN.

Wir können die erste Generation sein, der es gelingt, die Armut zu beseitigen, ebenso wie wir die letzte sein könnten, die die Chance hat, unseren Planeten zu retten. Ban-Ki Moon, UN-Generalsekretär (2007 – 2016)

11 I n diesen Bereich fällt die durch-

FRIEDLICHE UND INKLUSIVE GESELLSCHAFTEN FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG FÖRDERN

TU DU’S!2 • Hinterfrage Deine Konsumgewohnheiten. Brauchst Du das wirklich? • Informiere Dich und entscheide Dich für faire Produktionsweisen. • Nimm öfter das Fahrrad statt das Auto. • Pflanze Bäume und Pflanzen, die Luft filtern. • K auf’ weniger Produkte mit langen Lieferwegen. • Erzähl’ jedem von den 17 SDGs! • Engagiere Dich in Vereinen (z. B. bei Bellevue Monaco, Green City, ...) • Geh’ wählen!

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schnittliche Nettokaltmiete – keine Frage, dass es hier Verbesserungspotenzial gibt. Auch bei Naherholungsflächen ist noch Luft nach oben. Dafür gibt es in München vergleichsweise wenig „Verunglückte im Verkehr“.1 E s gibt ein Förder­programm zur Energie­einsparung, außerdem die Kampagne „München Cool City“, mit der sich das Referat für Gesundheit und Umwelt mit vielen PartnerInnen und BürgerInnen für den Klimaschutz und für ein lebenswertes München einsetzt und wertvolle Tipps und Infos zu Energiesparen und Klimaschutz gibt. 1 2

STAND 2017, QUELLE: SDG-PORTAL.DE QUELLE: 17-ZIELE.DE


HOCH 3 . München

GRENZENLOSE FAHRT

IN STADT UND LANDKREIS MÜNCHEN DANK 300 RADSTATIONEN

mvg.de/rad


KEIN RECHT AUF DRECK! EIN GESPRÄCH MIT KATHRIN HARTMANN


Anfang März ist das neue Buch der Münchner Autorin und Journalistin Kathrin Hartmann erschienen. In „Grüner Wird’s Nicht“ richtet sie ihren Blick und ihre Fragen, nicht wie sonst in ihren Arbeiten, an die Menschen in anderen Ecken dieser Welt. In ihrem Essay fokussiert sie sich auf Deutschland und dem Phänomen, dass die Gesellschaft zwar mit Sorge die immer düsterer klingenden Prognosen der Wissenschaftler zur Kenntnis nimmt, aber trotzdem an ihrem weitgehend ressourcenverbrauchenden Lebensstil festhält.

TEXT: DAVID EISERT // FOTO: STEPHANIE FÜSSENICH

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„Warum wir mit der ökologischen Krise völlig falsch umgehen“, schreibst du als Untertitel zu deinem neuen Buch. Wie könnte man denn deiner Meinung nach weniger falsch mit dieser Krise umgehen? Indem man sich zuallererst mit den Ursachen beschäftigt und sich fragt, wie wir überhaupt in diese Krise gekommen sind. Stattdessen versuchen wir krampfhaft an dem bestehenden System festzuhalten und reagieren erst am Ende der langen Kette von Zerstörungen mit eher hilflosen Maßnahmen. Zum Beispiel mit einem Preissystem für CO2 oder mit der Hoffnung, dass uns irgendwelche noch unbekannte Technologien retten werden. Das trägt letztlich nur dazu bei, sich nicht von der Idee des ewigen Wachstums zu verabschieden. Der zweite große Fehler ist, dass wir meinen, die verschiedenen Krisen voneinander trennen zu können. Denn sie hängen ja miteinander zusammen. Die Krise des Klimawandels hängt mit der Krise der Biodiversität zusammen, die ökologischen Krisen mit der sozialen Krise, also mit sozialen Spaltungen und Spannungen. Und wenn wir das nicht zusammendenken, dann sehe ich die Gefahrvon Lösungsversuchen, die wiederum die Ursachen der Krisen vorantreiben. ►

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Du setzt bei der Lösung des Problems nicht allein auf die Macht der Wissenschaft oder der Technik? Nein. Die Wissenschaft leistet ihren bedeutenden Beitrag zur Frage: Wo stehen wir und was kommt womöglich noch auf uns zu? Technologien haben natürlich ihre Berechtigung sofern sie kein Machtinstrument, sondern demokratisch kontrolliert sind. Wenn die Großkonzerne die Kontrolle behalten und der Politik das Messer auf die Brust setzen können – wie zum Beispiel die Energiekonzerne – halte ich das für falsch. Wenn man der Klimakrise mit der Renaissance der Atomkraft beikommen wollte, würde sich an den bestehenden Machtverhältnissen, die ja für diese und auch die anderen Krisen verantwortlich sind, nicht im Geringsten etwas ändern. So ein Machtgefälle darf nicht forciert werden. Was mir bei dieser Debatte allerdings zu kurz kommt, sind die progressiven Ideen. Wir sollten jenseits der Bewältigungsstrategien auch eine Utopie davon entwickeln, wie es denn schöner und besser zu machen sei. Die Diskussion dreht sich gegenwärtig um Einschränkungen und Verzicht und es geht dabei viel zu wenig um Chancen und Möglichkeiten für ein gerechtes Zusammenzuleben. Stattdessen betreiben viele Besitzstandswahrung, aus Angst vor dem Verlust persönlicher Privilegien. Ja, Leute werden Privilegien verlieren, aber einen SUV zu besitzen oder zum Shopping nach New York zu fliegen ist kein Menschenrecht. Somit tragen die Sachen, die du schreibst, einen stärkeren politischen als einen naturwissenschaftlichen oder ökologischen Charakter? Auf jeden Fall. Bei meinen Recherchereisen in die Länder des Südens, die ja vom Klimawandel heute schon betroffen sind, sieht man sofort, dass die Probleme nicht technisch und pragmatisch,

JA, LEUTE WERDEN PRIVILEGIEN VERLIEREN, ABER EINEN SUV ZU BESITZEN ODER ZUM SHOPPING NACH NEW YORK ZU FLIEGEN IST KEIN MENSCHENRECHT. sondern politisch gelöst werden müssen. Nirgends wird deutlicher, dass Naturzerstörung und Menschenrechtsverletzung zusammengehören. Selbst im Zuge von Klimaschutzmaßnahmen, die wir diesen Ländern aufnötigen, gibt es gewalttätige Faktoren. Technische Lösun­gen, wie das Aufforsten der Wälder oder das Bauen von Solarparks, werden wiederum auf dem Rücken der ärmsten Bevölkerung ausgetragen. Es kommt auch dort zu Vertreibung und Landraub. Was ist mit dem Argument, dass der Klimaschutz so viel Geld kosten würde und dass als Folge die Lebenshaltungskosten steigen. Das Ziel sollte doch sein, die Menschen mit billigen Dingen zu versorgen, denn das kann doch erstmal nicht verkehrt sein? Wann immer eine Sache für den einen sehr, sehr günstig zu bekommen ist, gibt es irgendwo einen anderen, der dafür draufzahlt. Wir wissen doch, dass zum Beispiel für sehr billige, aber auch für sehr teure Klamotten, irgendjemand weit entfernt mit seinen Menschenrechten dafür bezahlt. Auf der einen Seite bezahlen wir alle mit unseren Steuern massenhaft Geld für Subventionen, für zum Teil extrem umweltschädliche Dinge. Jahrelang ist die Kohle subventioniert worden und das Gleiche gilt für


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den Flugverkehr und die industrielle Landwirtschaft. Die direkten und indirekten Subventionen für Regionalflughäfen, die keiner nutzt, die fehlende Steuer auf Kerosin, das zahlen wir alle mit, auch für die Reparatur der Schäden, die dort entstehen. Müssten solche schmutzigen Industrien selbst dafür aufkommen – sie wären völlig unrentabel. Wenn also Lebensmittel und Energie billig sind, wenn Flugreisen billig sind, dann ist das auch politisch erwünscht. Wenn die Preise billig sind, dann gibt es keinen Grund, Löhne, Renten oder Hartz IV zu erhöhen. Der Hartz IV-Satz ist ja deshalb so niedrig kalkuliert, weil Lebensmittel in Deutschland so grotesk günstig sind.

schlag. Wenn mich die „richtigen“ Leute scheiße finden, dann habe ich ein paar Nerven getroffen und Dinge richtig gemacht.

Also ist billig nicht als günstig im Sinne von Fürsorge zu verstehen, sondern hat etwas Bevormundendes und Entwertendes? Billigkeit entwertet die Natur, entwertet Nahrung, entwertet die Arbeit, entwertet den Menschen. Billig produziert Armut, all das mit dem Ziel des Wachstums. Je weniger man für Arbeitskraft oder Soziales bezahlen muss, desto mehr bleibt für den Profit eines einzelnen über. Das belegt für mich ganz deutlich, dass das Ökologische und das Soziale nicht voneinander zu trennen sind.

Aktuell firmieren sich Aktivisten zu neuen Bewegungen, die sich dem Klima- und Umweltschutz widmen. Wo findest du einen gedanklichen Anschluss? Alles was emanzipatorisch ist und von unten kommt, finde ich gut. Fridays for Future finde ich ganz toll. Weil hier die jungen Leute aufstehen, denen man lange vorgeworfen hat, sie seien unpolitisch und konsumgeil. Die Bewegung hat viele politisiert. Sie hat viel Wissen generiert und das Empowerment wirkt ansteckend. Es entstehen neue Bündnisse mit anderen Professionen, etwa mit der Anti-Kohle-Begegnung und mit Pflegerinnen und Pflegern.

Wenn man ein wenig recherchiert, dann findet man über Menschen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, gewisse Bezeichnungen, die man verniedlichend oder auch diskreditierend finden kann. Du z. B. wirst als „engagierte Weltverbesserin“ bezeichnet und im Kontext schwingt mit, dass du selber ja auch keine Lösung parat hast. Wie gehst du mit diesen Dingen um? Ja, das ist herablassend, aber das ärgert mich nicht. Ich weiß ja, dass das Abwehrstrategien sind. Einmal hat Jan Fleischhauers in seiner Spiegel-Kolumne „Schwarzer Kanal“ regelrecht auf mich eingeteufelt, sowas ist dann wie ein Ritter-

Ärgerlicher finde ich die Anfeindungen darüber, dass ich zu meinen Recherchen ins Flugzeug steige. Noch ärgerlicher, wenn diese Zuschreibungen aus der Szene kommen, die an den gleichen Themen mit gleicher Absicht arbeitet. Da bin ich schon verwundert, dass hier keine Verhältnismäßigkeit gesehen wird. Hier würde der persönliche Verzicht einen falschen Hebel ansetzen, denn als Journalistin schaue ich mir ja vor Ort an, was die Folgen unserer Wirtschaft und unsers Lebensstils sind.

Die politische Rechte hat neuerdings auch den Begriff der Klimakrise für sich entdeckt. Eine neue und auch erschreckende Entwicklung? Das ist wirklich sehr bedenklich. Zum einen haben rechte Parteien auf EU-Ebene stets Klimaschutzpolitik blockiert. Es sind fast ausschließlich Rechte, die den Klimawandel leugnen. Aber es gibt da einen neuen Schwenk: Rechte, in Deutschland die AfD, haben den Umweltschutz zum Heimatschutz umgedeutet und benutzen das als Abschottungsstrategie. Sie sagen dann zum Beispiel: ►


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„Wenn ein Mensch aus Afrika nach Europa kommt, dann würde sein CO2Ausstoß rasant ansteigen.“ Einwanderung würde also dem Klima schaden. Deshalb gelte es diese Migration als Maßnahme zum Klimaschutz zu verhindern. Ende vergangenen Jahres stellte die AfD eine kleine Anfrage an den Bundestag und wollte wissen, wieviel Schadstoffe die Seenotrettung ausstößt. Das Gruselige dabei ist, dass sich diese Abschottungsargumente durchaus im Mainstream verfangen können. Selbst Biologen und Zoologen bedienen sich permanent Begriffen wie der Überbevölkerung oder der Bevölkerungsexplosion und das halte ich für sehr gefährlich, da dies rassistische Argumente sind. Es heißt, dass einige Menschen auf der Welt zu viel wären – natürlich nur in anderen Ländern, nämlich auf der Südhalbkugel.Dabei leidet ein weit größerer Teil der Weltbevölkerung genau dort unter den Auswirkungen, für die ein kleiner Ausschnitt der Menschheit in den reichen Ländern die Verantwortung trägt. Zum Abschluss noch ein wenig Bullshit Bingo. Im Diskurs werden häufig Schlagworte verwendet, die mit der Zeit einen gallertartigen Charakter bekommen haben. Was fällt dir spontan zu Folgendem ein?

Erneuerbare Energie Ein sehr komplexes Thema. Angefangen als Graswurzelbewegung, aktuell leider etwas ins Stagnieren geraten. Aber wenn wir uns bei der Energiewende auf die großen Konzerne verlassen hätten, dann würden wir auch morgen noch auf den Anfang warten. Verkehrswende Wäre so viel einfacher möglich als behauptet wird. Allein eine Frage des politischen Willens. Aber das Beispiel Kopenhagen zeigt, was alles für wenig Geld umsetzbar ist. Hier scheitert es in unserem Land daran, dass die Politik nicht den Mut hat, Konflikte mit Autofahrern und der Autoindustrie auszutragen. Selbstregulierung. Selbstregulierung und Eigenverantwortung führt zu keiner wirklichen Veränderung und sie sind nicht politisch. Generationengerechtigkeit Für meine Begriffe kann es nur die Gerechtigkeit geben. In den Ländern des Südens kämpfen Menschen schon immer über Generationen hinweg gemeinsam für Gerechtigkeit. Ich verstehe zwar, dass die jungen Leute, die hier auf die Straße gehen, ziemlich sauer sind auf diejenigen, die ihnen die Suppe eingebrockt haben. Trotzdem muss Gerechtigkeit für alle gelten. ▪

Nachhaltigkeit Das Wort benutzte ich nicht mehr im Positiven. Für mich hat sich das zu einem anderen Ausdruck für Systemerhalt abgenutzt. Es steckt nichts Verbindliches dahinter und soll nur beruhigend klingen. Grünes Wachstum Das gibt es nicht. Es gibt höchstens grün angestrichenes Wachstum. Der Begriff Grünes Wachstum beschreibt kein Wachstum, welches ökologisch oder sozial gerecht wäre, sondern weiter so, wie immer.

KATHRIN HARTMANN – GRÜNER WIRD'S NICHT Erschienen am 9. März 2020 im Blessing Verlag.


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BUCHTIPPS ZUM THEMA

Peter Lacy, Jakob Rutqvist, Philipp Buddemeier – Wertschöpfung statt Verschwendung. Die Zukunft gehört der Kreislaufwirtschaft.

George Saunders – Fuchs 8

Aldous Huxley – Schöne neue Welt (Klassiker!)

Ilona Koglin, Marek Rohde – Und jetzt retten wir die Welt!

VON PETRA KIRZENBERGER UND LEA HERMANN

Lewis Dartnell – Das Handbuch für den Neustart der Welt


WER NORBERT LANDTHALER AUS DIESER PERSPEKTIVE SIEHT, STEHT AUF DER FALSCHEN SEITE DER TÜR ZUR PROBLEMSTOFF-ANNAHME. WIR DURFTEN NUR AUSNAHMSWEISE ZUM FOTOGRAFIEREN REIN.


OH TEXT: JULIA FELL // FOTOS: LARA FREIBURGER

MEIN SCHROTT Egal, ob Grünwalder Gucci-Schnalle oder Schwabinger Schaumschläger – alle Münchner müssen irgendwann mal zum Wertstoffhof. Das Schöne ist: Hier sind alle gleich. Das nicht so Schöne: Nicht jeder kommt damit klar. Bei der wahrscheinlich egalitärsten Institution der Stadt sind Anraunzen, Pöbeln und sogar Rangeleien leider keine Seltenheit. Aber wieso eigentlich? Und wie sieht das Ganze aus Sicht der Leute aus, die hier arbeiten?

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s ist ein grauer Februarmorgen, als wir auf dem Wertstoffhof in Feldmoching vorfahren. Hier sind wir mit Sindy Ring und Norbert Landthaler verabredet, die beide schon seit den 90er Jahren auf dem Wertstoffhof arbeiten. Was mich direkt zur ersten Frage bringt: Haben sich Menge und Art des abgelieferten Mülls über die Jahre hinweg merklich verändert? „Viel Karton durch die Onlinebestellungen – das ist brutal“, sagt Ring. Auch auffällig, so Landthaler: Möbel werden heute deutlich schneller ausrangiert. Früher hatten etwa Schränke oft gut 30 Jahre auf dem Buckel, heute sind es eher drei Jahre. Ihre Beobachtungen decken sich mit den Statistiken des Abfallwirtschaftbetriebs München (Die Mengen an Altholz und Elektroschrott, die jährlich auf den Münchner Wertstoffhöfen gesammelt werden, sind zwischen 1998 und 2015 konstant gestiegen. Altkleider stagnieren zwar seit 2010, liegen aber immer noch bei unglaublichen 25.000 Tonnen pro Jahr. Fast Fashion lässt grüßen.) Einige der Klamotten, die in Feldmoching im Altkleidercontainer landen, bemerkt Ring, sind sogar noch neu verpackt. Da ist die Verlockung groß, sie gleich wieder herauszufischen und natürlich aus Sicherheitsgründen untersagt. Man darf überhaupt nichts mitnehmen, was auf den Wertstoffhöfen landet. Aber warum ist das so? Die Antwort ist so simpel wie traurig: Weil der Mensch ein Gierschlund ist. Vor etwa 20 Jahren war das Mitnehmen von auf Wertstoffhöfen abgeladenen Dingen noch erlaubt. Dann hat die Laissez-faire-Praxis Auswüchse angenommen, die nicht mehr zu kontrollieren waren: ►

HELDEN IN ORANGE: WERTSTOFFHOF-MITARBEITER SINDY RING UND NORBERT LANDTHALER


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BUDDHA IM BAUSCHUTT – ER NIMMT‘S MIT HUMOR


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In den offenen Trödelhallen haben sich die Leute bis aufs Blut um Dinge gestritten oder sie aus Frust kaputt gemacht. Es kam immer wieder vor, dass gewerbsmäßig organisierte Banden die Kunden schon vor der Einfahrt angesprochen und massiv bedrängt haben. Oder dass Leute in Container geklettert sind, weil sie irgendetwas Interessantes darin gesehen haben – und damit Gefahr liefen, Bekanntschaft mit einer Müllpresse zu machen. Deswegen hat der AWM 2002 die Halle 2 gegründet (früher in Untergiesing, heute in Pasing). Hier werden gut erhaltene Gegenstände, die auf den insgesamt zwölf Münchner Wertstoffhöfen landen, für einen schmalen Taler weiterverkauft. Die Einnahmen fließen zurück in den Müllgebührenhaushalt, außerdem werden soziale Projekte wie „Anderwerk“ mit eingebunden und so Arbeitsplätze geschaffen. Der AWM vermeidet auf diese Weise nach eigenen Angaben 1000 Tonnen Abfall im Jahr. Und woher kommt das Klischee vom grantigen Wertstoffhof-Sheriff, das z. B. der Comedian Simon Pearce, gebürtiger Puchheimer, in „Alleine unter Bayern“ so anschaulich erklärt? Ring und Landthaler vermuten dahinter den Frust, dass manches nicht angenommen werden kann. Wenn Leute mit Dingen ankommen, die einfach nicht entsorgt werden dürfen und ihre Ladung wieder mit nach Hause nehmen müssen. Dann werden die Kunden schon mal richtig eklig. „Wir hatten vor Kurzem eine Schlägerei auf dem Hof in der Tübinger Straße, bei der ein Kollege eine Schaufel auf den Kopf bekommen hat“, erzählt Landthaler. ►

SONDERBARE DINGE LANDEN HIER IMMER WIEDER. JEMAND HAT SOGAR EINMAL EIN FIEBERTHERMOMETER PER POST GESCHICKT.

FRÜHER FUNDSTÜCK, HEUTE HOFMASKOTTCHEN UND ENTSPANNTESTER TÜRSTEHER MÜNCHENS: DER MÖNCH AM EINGANG


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FEHLWÜRFE PASSIEREN NATÜRLICH – WIE DIESE LICHTERKETTE IN DER KABELTONNE. FRAU RING UND HERR LANDTHALER HOLEN DIE DEPLATZIERTEN KANDIDATEN RAUS, WENN SIE SIE SEHEN.


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Solche Extremfälle sind zwar selten, aber „die Beschimpfungen passieren tagtäglich“. Sogar Drohungen („Ab morgen arbeiten Sie nicht mehr hier, ich kenne den Bürgermeister!“) oder Beleidigungen („Wo sind Sie denn zur Schule gegangen – zur Müllschule?“) sind keine Seltenheit. Auch schräg: Manche Kunden erwarten, dass die Wertstoffhofmitarbeiter ihnen das Auto ausladen, bleiben neben ihrem geöffneten Kofferraum stehen und warten. „Wir helfen ja gerne“, so Landthaler, „aber es kommt halt auch drauf an, wie man uns fragt“. Verständlich. Und was wünscht sich ein Wertstoffhofmitarbeiter von seinen Kunden? „Anstand“, meint Ring. „Grüß Gott, Bitte und Danke sagen. Das vergessen hier ganz viele“.

ENERGIESPARLAMPEN GEHÖREN NICHT IN DEN RESTMÜLL – SIE ENTHALTEN QUECKSILBER.

Das ist wahrlich nicht viel verlangt. In diesem Sinne: Seid beim nächsten Wertstoffbesuch freundlich und bringt eine doppelte Ladung Wertschätzung für die Leute mit, die den Laden am Laufen halten. ▪

DIE DREI WICHTIGSTEN WERTSTOFFHOF-SPIELREGELN 1. Erlaubte Abgabemenge pro Bürger und Tag: 2 Kubikmeter (= etwa das, was in einen Kombi passt). Größere Mengen kann man gegen eine Gebühr auf einem der beiden Wertstoffhöfe Plus abgeben. 2. Eine Teilabladung ist nicht erlaubt. Heißt: man darf nur mit der Ladung kommen, die man auch abgeben möchte. 3. Eine Übersicht aller Wertstoffe und wo sie abgegeben werden können gibt’s online beim AMW (► awm-muenchen.de ► Abfalllexikon). No-Gos sind z. B. Fallobst (wird in den Müllpressen zu Saft und zieht Ungeziefer an), Tierkadaver und Rasenmäher, die noch Benzin oder Öl enthalten.

DES EINEN MÜLL IST DES ANDEREN SCHNÄPPCHEN: GUT ERHALTENE GEGENSTÄNDE WERDEN AUF DEN HÖFEN GESAMMELT UND IN DER HALLE 2 WEITERVERKAUFT.



Die Schattenseiten des Wunderstoffes zeigen sich überdeutlich in Form von Plastikteppichen auf den Weltmeeren, Mikroplastik in Tiermägen und Kunststoffmüllbergen. Ein wahrlich zweifelhaftes Vermächtnis des Anthropozäns. Wenn dereinst ein Archäologe auf Reste unserer Zivilisation trifft, so werden sie höchstwahrscheinlich aus Kunststoff sein. Es sei denn, es fällt uns noch was Besseres ein ... ►

Das Tolle ist: Plastik vermodert nicht und verrottet nur sehr langsam. Leider ist genau dieser Vorteil zugleich das Problem. Wir verwenden einen Stoff, der sich durch lange Haltbarkeit auszeichnet, für Dinge, die wir meist nur kurz benutzen. Plastik findet Einsatz in unterschiedlichsten Bereichen der Baubranche, der Textilindustrie, bei der Herstellung von Spielzeug und anderen Konsum-Produkten. Der größte Teil des weltweit bisher produzierten Plastiks wird jedoch für Verpackungen verwendet – Tendenz steigend. Wurden 1950 weltweit jährlich rund 1 Mio. Tonnen Kunststoff verwendet, waren es 50 Jahre später bereits 200 Mio. Tonnen pro Jahr.

Es gibt in der Tat viele Gründe, weshalb Plastik andere Materialien ersetzt: Es ist robust, lang haltbar und hat ein geringes Gewicht. Zudem ist Plastik geschmeidig und vielseitig einsetzbar. Wir verdanken ihm viele Annehmlichkeiten des modernen Lebensstils. Was wäre schließlich die Musik- und Filmindustrie ohne Vinyl, Kassetten und CDs oder die Fotografie ohne Filme?

Die Rohstoffe für Plastik, wie Kunststoffe (Plaste) umgangssprachlich genannt werden, stammen vor allem aus Erdöl. Im Grunde handelt es sich um ein faszinierendes Material, das sich durch außergewöhnliche Eigenschaften auszeichnet. Doch längst ist aus dem Wunder ein Albtraum und aus dem Segen ein Fluch geworden ...

GOOD BYE PLASTIK

RECHERCHE UND TEXT: PETRA KIRZENBERGER // FOTOSTRECKE & ILLUS: GERBERT&DÜRST ► gerbertundduerst.de

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59 MIO. TONNEN FÜR SONSTIGES

146 MIO. TONNEN FÜR VERPACKUNGEN (DIE MEISTEN DAVON NUR EINMAL GENUTZT)

3 MIO. TONNEN FÜR INDUSTRIEMASCHINEN

65 MIO. TONNEN FÜR DEN BAUSEKTOR

47 MIO. TONNEN FÜR TEXTILIEN

42 MIO. TONNEN FÜR GEBRAUCHSWAREN

27 MIO. TONNEN FÜR TRANSPORT UND VERKEHR

18 MIO. TONNEN FÜR ELEKTRONIK

2015 WURDEN VON WELTWEIT 407 MIO. TONNEN PLASTIK WIE FOLGT VERWENDET:

Fast die Hälfte des jemals hergestellten Kunststoffs wurde seit 2000 produziert (44 %).

DIE RECYCLING-LÜGE IN DEUTSCHLAND

curt 31


ca. 8.300 Mio. Tonnen Kunststoff wurden 1950 – 2015 produziert

VON DIESEN 500 MIO. TONNEN RECYCELTEM KUNSTSTOFF WURDEN WIEDERUM ...

0

1500 Mio.

3000 Mio.

4500 Mio.

6000 Mio.

7500 Mio.

... ca. 300 Mio. Tonnen entsorgt

ca. 4.600 Mio. Tonnen wurden entsorgt

ca. 700 Mio. Tonnen wurden verbrannt

ca. 100 Mio. ca. 100 Mio. Tonnen Tonnen sind verbrannt noch in Gebrauch

ca. 2.500 Mio. Tonnen sind noch in Gebrauch

ca. 500 Mio. Tonnen wurden recycelt

WELTWEITE PRODUKTION, NUTZUNG UND ENTSORGUNG VON KUNSTSTOFFEN VON 1950 BIS 2015

Offiziellen Daten zufolge lag die Recyclingquote in Deutschland 2016 bei 45 Prozent. Fast die Hälfte wird also an Recyclingunternehmen geliefert. Hier wird jedoch auch der Abfall mitgezählt, der exportiert wird. Länder wie Malaysia ersticken sprichwörtlich an unserem Plastikmüll. Um unsere Müllberge zu bewältigen, wird der Plastikmüll oft unkontrolliert verbrannt oder landet in offenen Deponien in der Natur und im Meer. Mit erheblichen Folgen für die Umwelt und die Gesundheit der Menschen dort. Nur 15,6 % der Kunststoffe in Deutschland werden tatsächlich zu Rezyklat, also wiederverwendbaren Kunststoffgranulat. Plastik aus seinen Rohstoffen herzustellen ist derart billig, dass Rezyklate derzeit wirtschaftlich keine Chance haben.

DIE RECYCLING-LÜGE IN DEUTSCHLAND

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curt 33



33,7 % an Küste & Meeres­ boden

29 MIO. TONNEN AN DEN KÜSTEN UND AM MEERESBODEN

0,5 % an der Meeresoberfläche

26,8 % in Küstengewässern

39 % im offenen Meer

Schätzungen der Plastikmengen in den Weltmeeren von 2018 gehen davon aus, dass ca. 86 Mio. Tonnen Plastik bislang im Meer gelandet sind.

200.000 BIS 440.000 TONNEN TREIBEN AUF DER WASSEROBERFLÄCHE

23 MIO. TONNEN IN KÜSTENGEWÄSSERN

35 MIO. TONNEN IM OFFENEN MEER

DIE UNSICHTBARE MÜLLDEPONIE IM MEER

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Coca Cola

Nestlé

1,7 MIO. TONNEN

Danone

750.000 TONNEN

Unilever

610.000 TONNEN

88 000 000 000

Spitzenreiter dieser traurigen Hitliste ist ganz klar Coca Cola. Der Getränke­konzern produziert jährlich 88 Milliarden(!) Plastikflaschen – das entspricht 167.000 Flaschen pro Minute.

0

0,5 Mio

1,0 Mio

1,5 Mio

2,0 Mio

2,5 Mio

3,0 Mio.

3 MIO. TONNEN

DIE VIER GRÖSSTEN KONZERNE PRODUZIEREN DEMNACH PRO JAHR(!) JEWEILS KUNSTSTOFFABFALL IN HÖHE VON:

Die von Coca Cola prozierten Flaschen aneinander gereiht reichen 31 Mal zum Mond und zurück. Das sind 9 Nullen!

2019 veröffentlichten Konsumgüterkonzerne erstmalig, wieviel Plastik sie verbrauchen.

31 x

DER PLASTIKMÜLL DER GRÖSSTEN KONSUMGÜTERKONZERNE

36 curt




ENTWICKLUNGSSTÖRUNGEN BEIM EMBRYO

BRUSTKREBS

SCHILDDRÜSENERKRANKUNGEN

NIEDRIGE SPERMIENZAHL

DIABETES

UNFRUCHTBARKEIT

FETTLEIBIGKEIT

SCHILDDRÜSENERKRANKUNGEN

BEI MÄNNERN:

FRÜHE PUBERTÄT

PROSTATAKREBS

BEI KINDERN:

FETTLEIBIGKEIT

HYPERAKTIVITÄT/ADHS

ASTHMA

EIN NIEDRIGERER IQ

Quellen der gesamten Strecke: Natur + Umwelt 01/2020; Plastikatlas (beides vom BUND Naturschutz in Bayern e. V.) Ein Aktionspaket zum Thema Plastik und dessen Vermeidung gibt es über freiwilligen-management@bund.net

FETTLEIBIGKEIT

DIABETES

UNFRUCHTBARKEIT

BEI FRAUEN:

Die Schadstoffe im Plastik, die wir z. B. durch Mikroplastik aufnehmen, können sich langfristig und mitunter gravierend auf unsere Gesundheit auswirken. Das kann unterschiedliche Symptome und Erkrankungen zur Folge haben.

AUSWIRKUNGEN VON TÄGLICHEM KONTAKT MIT PLASTIK AUF UNSERE GESUNDHEIT

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DO. IT. YOURSELF.

DIY!

♥ Nutze Schraubgläser und Edelstahlboxen ♥ ToGo-Getränke in eigenenThermobechern oder einfach mal sitzen bleiben ♥ Sich zum Essen hinsetzen statt Take-away ♥ Edelstahlflasche befüllen statt Plastikflaschen kaufen ♥ Wiederverwendbare Tücher (z. B. Bienenwachs) statt Alu- oder Frischhaltefolie ♥ Stoffbeutel, Korb oder Rucksack statt Plastik-Tüten ♥ Eis aus der Waffel statt aus dem Becher ♥ Wochenmärkte und verpackungsfreie Läden nutzen ♥ Vermeide Kunstgewebe (Kunstpelz, Fleece, Thermostrumpfhosen, Polyester ...)

UNTERWEGS UND BEIM EINKAUFEN

♥ Selber kochen statt Fertiggerichte kaufen ♥ Spülmittel, Putz- und Waschmittel selber machen (siehe auch DIY-Rubriken der letzten curt-Hefte) ♥ Auf Küchenpapier verzichten ♥ Filterkaffee statt Kaffeekapseln oder -pads ♥ Kräuter selbst anpflanzen ♥ Spültücher und -schwämme aus Zellulose und Baumwolle

IN KÜCHE UND HAUSHALT

♥ Seife statt Plastik-Seifenspender und Duschgel ♥ Rasierhobel aus Holz und Metall ♥ Rasierseife ♥ Menstruationstassen und waschbare Binden ♥ Deo in fester Form ♥ Holz-Zahnbürsten mit Naturborsten ♥ Festes Shampoo ♥ Spülungen und Gesichtsmasken selber machen ♥ Wattestäbchen aus Papier & Baumwolle ♥ Taschentuchboxen oder Stoff-Taschentücher benutzen ♥ Waschbare Abschminkpads

IM BAD

Veränderung beginnt bei dir. Wir haben ein paar einfache Tipps, mit denen der Verzicht auf Plastik leichter wird.

EASY LIVING – OHNE PLASTIK

40 curt



42 curt

TEXT: LUKAS NICKEL // FOTOS: LARA FREIBURGER

GENOSSENSCHAFTLICH

VERPACKUNGSFREI

Was Schönes entstehen kann, wenn man gemeinschaftlich eine Idee verfolgt, zeigt nebenan unverpackt in Laim. Wer Konsumgenossenschaften für eine altbackene Idee hält, die in Zeiten von internationalem Kapitalismus keinen Platz haben, soll hier eines Besseren belehrt werden.


curt 43

An der Grenze zwischen Pasing und Laim liegt ein echtes, kleines Stadtteilzentrum. Am Willibaldplatz halten mehrere Linien des öffentlichen Nahverkehrs. Man kann Blumen und Brot kaufen, den Supermarkt oder die Apotheke aufsuchen. In diesem Viertel wurde niedrig gebaut. Die Häuser haben drei, maximal vier Stockwerke. Man könnte sich auch in einer beliebigen deutschen Kleinstadt befinden – wenn man nicht erst 10 Minuten zuvor an der Donnersbergerbrücke in die Tram gestiegen wäre. Vielleicht ist es genau diesen Umständen zu verdanken, dass die Aufrufe von Sabina Poetzsch über Flugblätter und Postings auf „nebenan.de”, nicht unbeantwortet blieben, sondern wahrgenommen wurden und schnell durch positive Rückmeldungen beantwortet wurden. In der Nachbarschaft etwas bewegen und eine Konsumgenossenschaft gründen – dafür braucht es zum einen Leute, die Lust haben, sich ehrenamtlich zu beteiligen und natürlich GenossInnen, die von dem Projekt überzeugt sind und über das nötige Kleingeld verfügen, die Gemeinschaft zu unterstützen. Die Idee von Initiatorin Sabina ist dabei klar: alleine, im eigenen Konsumkosmos, fühlt man sich schnell machtlos. So stand wahrscheinlich jeder schon einmal im Supermarkt, verloren vor einer Wand mit in Plastik eingepacktem Gemüse. Wenn man nachhaltig einkaufen möchte, muss man sich stark an das Angebot der Industrie anpassen. Dem kann man jedoch etwas in der Gemeinschaft entgegensetzen und es schaffen, einen eigenen Unverpackt-Laden zu gründen. Plastikfreies einkaufen im Viertel zu moderaten Preisen – für viele Münchner bisher nur ein Traumszenario, so dass Sabina mit dieser Idee schnell viele NachbarInnen erreichte. Schon bald kamen Menschen mit idealistischen Beweggründen zusammen, „die in der Nachbarschaft was bewegen und anstoßen, oder aber auch für ihre Kinder etwas Besseres schaffen wollen,” erklärt Kira Nolte, mittlerweile Teil des Aufsichtsrats. Schnell war ein fester Kern an Beteiligten gefunden, der sich, den jeweiligen Vorkenntnissen und Interessen entsprechend, in verschiedene Aufgabenbereiche aufteilte. Interessant ist hier insbesondere, dass die Grundlage dieses Gemeinschaftsprojekt eine Konsumgenossenschaft ist. Die Zeiten ändern sich: „Man merkt, wie sich die Luxus-Wahrnehmung verschiebt, dass gesundes Leben mehr Luxus ist”, stellt Kira fest. Darin sieht sie eine Chance für die Geschäftsform der Genossenschaft und sagt weiter, dass man ja gerade das Ziel habe, unabhängig von den großen Handelsketten zu agieren. In dem nicht einfachen Gründungsprozess, wurde der Gruppe aus Laim vom Genossenschaftsverband Bayern unter die Arme gegriffen. Dieser konnte mit Wissen aus vorherigen, ähnlichen Projekten und mit einem kritischen Blick auf den Businessplan sicherstellen, dass man nicht „zu idealistisch” an die Sache herangehe und gleichzeitig dabei profitabel sei. Solch ein Gründungsprozess wird zudem vom Registergericht und vom Notar begleitet, damit rechtlich im Endeffekt alles unter Dach und Fach ist. ►


44 curt

Ein sehr schönes Detail, in der Geschichte der noch jungen Unternehmung, ist das problemlose Finden eines Ladenlokals. Direkt neben einer Genossenschaftsbank am Willibaldplatz wurde der „Traumladen” frei. Glücklich berichtet Kira, es sei nur Verhandlungssache gewesen, den Laden zu kriegen und die Vermieter wären auch begeistert, sowas ins Geschäft zu lassen.” Dass mittlerweile deutlich über 500 Anteile unterzeichnet wurden, unterstreicht eindrucksvoll die Zustimmung bei den MitbürgerInnen. Mit dem Geschäft will sich „nebenan unverpackt” fest ins Viertel und in die Nachbarschaft integrieren. Gelingen soll dies insbesondere durch das geplante Café und die angedachten Workshops. So soll der Standort zum natürlichen Treff- und Anlaufpunkt werden. Zukünftig möchte man auch München weit zeigen, „dass man als normaler Bürger trotzdem was bewegen kann” und es dafür gar nicht viel Eigenkapital braucht, sondern durch die Gemeinschaft bewerkstelligt werden kann. Voraussichtlich sollen die Ladentüren am Willibaldplatz 18 ab Juni allen offenstehen. ► nebenan-unverpackt.de

DAS TEAM VORSTAND Sabina Poetzsch Andreas Vollmann AUFSICHTSRAT Jasmin Schelter Bernhard Bergdolt Kira Nolte ZUKÜNFTIGER MARKTLEITER Quirin Frankenberger


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WENN DIE BIENE EINMAL VON DER ERDE VERSCHWINDET, HAT DER MENSCH NUR NOCH VIER JAHRE ZU LEBEN. KEINE BIENEN MEHR, KEINE BESTÄUBUNG MEHR, KEINE PFLANZEN MEHR, KEINE TIERE MEHR, KEINE MENSCHEN MEHR. ALBERT EINSTEIN, 1949

BEATMAKER GOES BEEKEEPER EDWARD SIZZERHAND UND SEINE SIZZERBEES

TEXT: TIM BRÜGMANN // FOTOS: BENEDIKT ROTH PHOTOGRAPHY, HAUKE SEYFARTH

SAVE THE BEES! Ein Motto, das in München nicht erst seit letztem Sommer und der hitzigen Diskussion rund um das Volksbegehren Artenvielfalt skandiert wird. Denn von allen Bestäubern spielt vor allem die heimische Honigbiene die größte ökologische Rolle. Nahezu 80 % aller Nutz- und Wildpflanzen werden von der Westlichen Honigbiene bepudert. Den restlichen Teil erledigen u. a. Hummeln, Wildbienen und Schmetterlinge. Somit gilt Apis mellifera hierzulande nach Rind und Schwein als das drittwichtigste Nutztier. Allein ihre enorme Bestäubungsleistung sichert die Vielfalt unserer Nahrungsmittel, wobei Maja mit ihrem Namen auch für gute Ernten und ökologische Artenvielfalt steht. Doch auch sie leidet unter der voranschreitenden Dezimierung ihres Lebensraumes und dem Einsatz von Pestiziden. Selbst die Vereinten Nationen haben das Thema Bienensterben auf ihre Tagesordnung gesetzt, denn falls es so weitergehen sollte, gibt es bald gar nix mehr. Kein Obst, kein Gemüse, kein Brot, kein Fleisch. Wie gut, dass sich immer mehr Imker einer neuen Generation der Sache annehmen und nicht nur großartigen Honig produzieren, sondern ihn auch modern vermarkten und vielleicht ganz nebenbei die Bienen retten. Wir haben einen von ihnen getroffen. ►


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eats und Honig sind Edward Obikas Leidenschaft. Geboren in Brooklyn, New York, wurde er in den Neunzigern mit der RapCrew Square One unter dem Alias Edward Sizzerhand weltweit bekannt. Anfang des neuen Jahrtausends veröffentlichte der Münchner DJ und Produzent zusammen mit Ali Rasul, Iman Magnetic und Gianni Dolo über Showdown Records mit Walk of Life schließlich eines der wohl geachtetsten Rap-Alben aus deutschen Landen. Mit hochfeinem Boombap prägten Square One ihrerzeit die hiesige Szene. Fast zwanzig Jahre später ist der Beat-Tüftler und einstige Backspin-Redakteur mit rund 600 Tapes und 6000 Platten nicht nur leidenschaftlicher Musiksammler, nein, er ist mittlerweile auch Herr über rund 70 Bienenvölker. Sizzerhands Hobby wuchs in zehn Jahren zu einem landwirtschaftlichen Familienbetrieb heran: Sizzerbees Dabei war der Weg von den Killa Beez hin zu den Sizzerbees keineswegs der einer Sinn- oder Schaffenskrise. Seine Anfänge als Imker machte Edward, als er 2009 nach dem Tod der Großeltern aus der Stadt zurück zum familieneigenen Bauernhof in Feldmoching zog. Im Norden Münchens, zwischen Feldern, Wiesen und Landschaftsschutzgebiet befand sich schon früher sein altes Tonstudio, doch eine zufällige Begegnung beim Joggen ließ das flüssige Gold schließlich in sein Leben tropfen.

Ein redseliger Imker und die eigene Neugier sorgten dafür, dass Sizzerhand Mitglied im Bienenzuchtverein München wurde und nach ersten Kursen sein eigenes Bienenvolk geschenkt bekam. Natürlich reichte ihm das bald nicht mehr und die Zeichen standen auf Expansion. Die pure Natur und kooperationswillige Landwirte aus der Umgebung ermöglichten ungeahnte Synergien. Edwards Bienen befruchten seitdem nahegelegene Obstbäume, die Landwirte bauen im Gegenzug bestimmte Sorten für seinen Honig an. Ein Geben und Nehmen straight outta Feldmoching. Den letzten Schritt vom Hobby zum Profi machte Sizzerhand an der Imkerschule im österreichischen Warth, wo er nicht nur seine betriebswirtschaftlichen Kenntnisse als Imker schärfte, sondern auch mit einer Abschlussarbeit über Bartpflegeprodukte aus Bienenwachs zum Meister wurde. Der Facharbeiter für Bienenwirtschaft wird dabei seit jeher von Freundin und Mutter sowie einer Riege an Freunden unterstützt. Und so gehören nicht nur diverse Biohonig-Sorten, sondern auch ein Bartöl mit Namen Guagl Pfeffa sowie das Bartbalm Kraitl Wax zum festen Sortiment. Veredelt werden die Craft-Produkte durch die Grafikerin luckymecaro. Nicht weniger hochwertig ist auch das in den Produkten enthaltene Propolis. Ein desinfizierendes Kittharz, das nicht nur Bienen vor Krankheiten und Infekten schützt. ►

ICH HABE KEINEN EINFLUSS DARAUF, WOHIN MEINE MÄDELS FLIEGEN, ALLERDINGS HABE ICH SEHR WOHL EINEN EINFLUSS AUF DIE QUALITÄT DES HONIGS SOWIE DIE ART UND WEISE, WIE ICH MIT DEN BIENENVÖLKERN UMGEHE.


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50 – 70.000 Arbeiter, 500 – 2000 Drohnen und eine Königin zählt das gemeine Bienenvolk. Bei den Sizzerbees handelt es sich um die sogenannte Apis mellifera carnica, eine sanftmütige Naturbiene und Unterart der Honigbiene, die sich besonders gut für die Imkerei eignet. Wenn der Honigkonsum in den Diätmonaten einmal schwindet, lädt Edward zu Lehrgängen für Kindergärten und Schulen ein. Der größte Vorteil seiner Bienen ist, dass sie sich zum Großteil in Parks und ausgesuchten Gärten auf Nektarsammlung begeben. So bleibt der Honig von Spritzmitteln und weiteren ungesunden Stoffen verschont, die sich so mancher aus Industrie-Squeezern als Honigmix aus den letzten Winkeln der EU aufs Brot ballert. Sortenreiner Akazienhonig in Bioqualität? Edle Kastanie, wilder Wald oder sogar gesunder Buchweizen aus der Region? Bei Sizzerbees wird nur das in Handarbeit ins Glas gefüllt. Künstliche Befruchtung sowie das Beschneiden der Flügel von Königinnen werden aus ideologischen Gründen abgelehnt. Die verwendeten Materialien für Verpackungen und Bienenbehausungen sind natürlich oder entstammen sogar dem eigenen Bio-Wachskreislauf. Doch macht der Mann nicht eigentlich auch Musik? Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Musik zurück in Edwards Leben drängte und er „seinen Mädels“ ein Album widmete. Eine Ode an das flüssige Gold quasi, wobei Sizzerhand nicht bloß Hip-Hop mit der Imkerei verbindet. Mit einer Art musikalischer Honigverkostung überträgt er die Imkerei auf die Musik und kreiert ein einzigartiges Rezept.

DIE IDEE EIN ALBUM ZU MACHEN, KAM IN DER TAT ERST DURCH DIE MEISTERPRÜFUNG UND DIE SENSORIK. A Taste Of Honey (29.11.2019 via Beat Art Department) verwöhnt das Ohr mit würzigen Beats, die sich dem ureigenen Geschmack von Wildblüten (Wildflowers) oder der Edelkastanie (Chestnut) über den Sound nähern. Das kann bitter sein – aber auch blumig wie Phacelia oder frisch wie die Rapsblüte (Colza). Insgesamt hat Sizzerhand hier 14 Honigsorten vertont. Die Einnahmen seiner Platte fließen wiederum komplett in die Bienenzucht zurück und schließen den Kreislauf. Dabei steht das Album für seinen ganz persönlichen Ausgleich, bei dem sich Beatmaker und Beekeeper nicht in die Quere kommen, aber durchaus inspirieren. Und sollte das Wetter oder die Saison mal nicht mitspielen, schließt sich der Imker eben etwas länger im Studio ein, nippt am eigenen Sizzerbees-Glühwein und feilt an den übrigen Sortenvertonungen. Nachhaltigkeit funktioniert auch in der Musik, wie dieses Beatstrumental beweist. Neben den vielen Honigsorten in Bioqualität plant Edward nicht nur weitere Pflegeprodukte und saisonale Spezialitäten, sondern auch schon den Nachfolger zu A Taste Of Honey, der diesmal keine zehn Jahre auf sich warten lassen und Sizzerhand vielleicht auch wieder live erlebbar wird. ▪ SIZZERBEES – BIO-HONIG AUS MÜNCHEN – 100 % Natur – 100 % Regional – 100 % Lecker ► sizzerbees.com


NACHHALTIG IN MÜNCHEN EINE AUSWAHL LOKALER INSTITUTIONEN UND PROJEKTE

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The Conscious Project Bewusst leben – ein Begriff, der viel beinhaltet, vieles bedeuten und vielseitig ausgelegt werden kann. Von Nachhaltigkeit über vegane Ernährung bis hin zu Yoga umfasst „bewusst“ leben, oder im englischen „conscious“ eine Bandbreite an Möglichkeiten. Das ist auch der Grund, wieso Debby und Jessi diesen Namen für ihr The Conscious Project gewählt haben: Um die Freiheit zu genießen, ihr Konzept so vielfältig wie möglich zu gestalten und dabei alles anzusprechen, was ihnen wichtig ist. Ganz nach dem Motto „What’s good for us“, das sich oft auf ihren Instagram-Bildern wiederfindet. „Bewusst leben kann überall anfangen“, ist ihr einheiliges Motto. In der Essenz geht es darum, sich klar zu machen, welche Auswirkungen das eigene Handeln hat. Nicht nur auf die Umwelt, sondern auch auf sich selbst. „Für mich gibt es keine schlimmere Vorstellung, als durch mein Handeln anderen zu schaden“, fasst Debby zusammen. „Egal, ob derjenige mir gegenüber sitzt oder am anderen Ende der Welt ist. Das eigene Handeln und die Auswirkungen dessen zu hinterfragen ist immens wichtig. Dabei hat die sogenannte Consciousness für jeden eine individuelle Bedeutung und jeder kann, nicht

zuletzt durch uns, neue Facetten kennenlernen. Sich Dinge bewusst machen kann überall anfangen. Wir wollen auf keinen Fall predigen, sondern dabei helfen, neue Themen abseits von denen, mit denen man sich vielleicht schon befasst, zu entdecken.“ Das Thema Nachhaltigkeit ist dabei vermutlich das mit der aktuell größten Aufmerksamkeit und in den sozialen Medien schon eine Weile Thema. Zero Waste Accounts sind im letzten Jahr aus dem Boden gesprossen, wie das Biogemüse aus regionalem Anbau über das sie oft posten. Und dennoch haben es Debby, Jessi und ihr insgesamt fünfköpfiges Team geschafft, sich mit ihrem Projekt von der Masse abzuheben. Neben interessanten Fakten, DIYs und persönlichen Einblicken sind es vor allem die Interviews mit den verschiedensten Vertretern des bewussten Lebens bei denen man hängen bleibt. Angelehnt an das klassische Serienformat arbeitet das Projekt in Staffeln, was nicht nur für die Zuschauer eine Orientierungshilfe ist, sondern auch bei der Produktion hilft, den roten Faden zu behalten. Zudem bietet es die Möglichkeit, vor allem zukünftige Staffeln eventuell thematisch zu gliedern, z. B. mit verschiedenen Folgen zu Mental Health oder Yoga. Die Liste der bisherigen Interviewpartner kann sich bereits jetzt sehen lassen:


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Den Start machte Sinah Diepold, Gründerin des Münchner Yoga Studios Kale & Cake, weiter ging es mit Benedikt Klarmann, dem Gründer der Naturkosmetikmarke Junglück und Markus Mitterer von rehab republic. Dass der Fokus dabei auf Personen aus München liegt, ist natürlich kein Zufall, denn auch The Conscious Project selbst sind hier beheimatet. Unsere Stadt macht es uns zum Glück leicht, bewusst und nachhaltig zu leben. „Auf jeden Fall ist es leichter, als in ländlicheren Gegenden. Wir haben eine große Auswahl an Bioläden, Geschäften mit fair produzierten Produkten oder Gemüseständen“, findet Debby. „Potenzial gibt es aber auf jeden Fall noch bei der Mülltrennung, vor allem im Hinblick auf Plastikmüll. Und auch die Aufklärung, dass es Alternativen wie Unverpackt-Läden gibt, kann noch ausgebaut werden.” Als uns im Sommer 2019 die Idee kam, wussten wir gleich, dass wir eine Art ‚Hub‘ gründen wollen, der die vielen tollen Münchner Projekte bündelt und vorstellt“, erklärt Jessi. „Natürlich wollen wir das Projekt auf lange Sicht hin größer und deutschlandweit aufziehen, aber für den Anfang war München ein super Ausgangspunkt“. Und auch die Entscheidung für Instagram war gut durchdacht. „Uns war schnell klar, dass wir den Hub über Social

THE CONSCIOUS PROJECT-TEAM: JESSICA GRÄBER, VIKTOR WEISER, LORENA GARCIA, DEBORAH COHRS, KEVIN LAMOTHE


Media machen wollen, statt einfach eine Website aufzuziehen“, erzählt Debby. Man kann es sich leicht machen, Instagram-Videos zu drehen – man kann dabei aber auch so professionell vorgehen wie es The Conscious Project tun: „Bei jedem Interview sind zwei Kameraleute mit dabei, um aus verschiedenen Blickwinkeln zu filmen. Für den Zuschauer ist das eine sehr angenehme und willkommene Abwechslung, die sich bemerkbar macht: Auf Instagram ist auch Reichweite nicht gleich Reichweite“, erklärt Debby. „Auch wenn wir derzeit erst knapp 500 Follower haben, interagieren diese mit uns, kommentieren fleißig und wir haben einen super Austausch.“ Dass dabei der ein oder andere Gegenwind nicht ausbleibt, ist klar. „Aber das ist auch wichtig. Es bringt uns nichts, wenn wir nur Lob für unsere Arbeit bekommen. Am Ende öffnet uns Kritik die Augen und holt uns ein wenig auf den Boden zurück“, betont Debby. „Vor allem die eigene Vorbildfunktion wird einem dadurch noch einmal bewusster gemacht.“ Nicht nur der Austausch mit den Followern ist es natürlich, der für sie selbst den Reiz ausmacht, sondern vor allem das, was die Gründerinnen selbst von ihren Interviewpartnern lernen. Jessi, die Redakteurin ist und die Interviews führt, genießt es, mit Leuten zu spre-

chen, die eine eben solche Leidenschaft für ihre Projekte haben, wie sie für ihr eigenes. „Es ist einfach schön, wenn es nicht immer nur darum geht, Geld zu machen, sondern seine Leidenschaft auszuleben“, ergänzt Debby, Auf ihre Gesprächspartner kommen sie dabei durch ganz unterschiedliche Herangehensweisen. Ob durch persönliche Kontakte, klassische „Kaltakquise“ oder auf Empfehlung anderer Interviewpartner – an spannende Themen und Projekte gelangt das Team ohne Probleme, denn sobald sie ihre Idee und ihren Hub vorstellen, ist die Begeisterung groß und alle wollen mitmachen. „Schön ist, dass man dadurch auch schnell selbst Teil dieser Gemeinschaft ist, die sich gegenseitig hilft und unterstützt. Wenn es überall auf der Welt so wäre, hätten wir weniger Probleme“, schwärmt Jessi. Dass ihre Idee noch nicht überall angekommen ist, merken die beiden ganz konkret in ihren Gesprächen: „Wenn wir der älteren Generation von unserem Projekt erzählen, finden sie die Grundidee gut, aber können mit dem Thema nicht viel anfangen. Ihnen fällt Veränderung oft schwerer als der jüngeren Generation, ebenso können sie sich leicht auf den Schlips getreten fühlen.“ Aber auch hier kann durch sanfte Hinweise ein Umdenken angestoßen werden. „Inspirieren kann es auf jeden Fall“, ist sich Debby sicher.

„Natürlich braucht es für den großen Umschwung die Politik und auch die Wirtschaft, aber auch da kann es nur funktionieren, wenn die Leute laut genug sind. Wichtig ist, dass die Kraft der vielen kleinen Projekte gebündelt wird, um damit wirklich etwas bewegen zu können.“ ► instagram.com/the.conscious.project

TEXT: STEPHIE SCHERR

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Unfairmüllt

Vildvuchs

Unfair – fast schon ein harmloser Begriff, um die Flut an Plastikbergen zu beschreiben, die wir Tag für Tag produzieren. Leichtfertig, kurzsichtig und absolut hirnrissig, die fein säuberlich geschälte Ananas in Styropor und Frischhaltefolie eingeschweißt weiter zu verkaufen. Aber Schimpfen bringt nichts, der Mensch muss handeln. Und Lisa, Kathrin und Lina tun das. 2018 gründeten sie unfairmüllt – Initiative plastikfreier leben. Seitdem brainstormen sie zusammen, wie sich die Flut an Plastikmüll vermeiden lässt. Vom Müll sammeln bis hin zur Suche nach Möglichkeiten, verpackungsfrei einzukaufen, das Trio geht’s an. Passend zum Thema gibt es Workshops, gemeinsame Treffen und Kippen-Cleanups. Manches klingt dabei zu einfach um wahr zu sein. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass sich allein beim Gemüse- und Obstkauf vieles einsparen lässt, wenn man sein eigenes Sackerl mitnimmt. Ja, es könnte vieles so einfach sein, wenn es sich nicht jeder zu einfach machen würde. Auch dass wir vor Quarantäne-Zeiten nicht verschont bleiben ist mittlerweile jedem klar geworden. Der angeordnete Hausarrest bietet etliche Möglichkeiten, daheim vieles selbst zu machen – ob mit oder ohne Kids. Anregungen zu hausgefertigten Hygieneprodukten, Gartenutensilien und Tipps für einen plastikfreien Kühlschrank gibt es unter ► facebook.com/unfairmuellt

Direkt an der Isar essbare Wildkräuter sammeln? Oh ja, das geht – und wie! Victoria von Vildvuchs macht Kräuterwanderungen mitten in München. Denn am Flussufer lässt es sich nicht nur gut Bier trinken, Flanieren und Grillen, sondern auch was Frisches für die heimische Küche pflücken. Klar, Bärlauch und Brennnessel kennt man und kann man in der freien Natur meist eindeutig bestimmen. Aber wie sieht’s mit Taubnessel oder Vogelmiere aus? Victoria zeigt nicht nur, wie vielfältig Münchens Flora und Fauna ist, sondern auch, wie man die gesammelten Kräuter, Blüten und Wurzeln verarbeiten kann. Zum Beispiel zu Pesto oder Tee. Was könnte noch regionaler, nachhaltiger und günstiger sein? Auch FermentationsWorkshops bietet die Kräuterpädagogin an. Diese Form des Haltbarmachens feiert ja gerade ein fulminantes Comeback. Neben den Klassikern Kimchi und Kombucha zeigt Victoria auch, wie man selbst Ginger Beer oder Wasserkefir herstellt. Geplant sind zudem Workshops zur Herstellung von Naturkosmetik, natürlich komplett ohne Chemie und Mikroplastik. Wer nicht direkt einen Workshop buchen will, dem sei der Instagram-Account von Vildvuchs ans Herz gelegt. Hier gibt es nicht nur wertvolle Tipps in Sachen bewusste Ernährung, sondern auch echten Natur- und Food-Porn fürs Auge. ► vildvuchs.de

TEXT: LISA LINDHUBER

TEXT: NURIN KHALIL

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Etepetete

fairafric

Keine Verschwendung, weniger CO2 und 100% Bio. Das gibt’s bei Etepetete. Seit 2015 kann man dort „Retterboxen“ bestellen. In diesen landet Obst und Gemüse, das für den regulären Einzelhandel zu krumm, zu klein, zu groß oder schlichtweg zu „unperfekt“ ist. Dafür arbeitet Etepetete mit Bio-Bauern in und um München zusammen. Die krumme Ausbeute – und die variiert logischerweise jede Woche – landet in komplett plastikfreien Kartons und wird per CO2-neutralem Versand direkt nach Hause geliefert. Der Gang zum Super- oder Gemüsemarkt steht dementsprechend deutlich seltener an. Dank der Box hat man immer was Frisches und Saisonales daheim! Zur Auswahl stehen übrigens verschiedene Boxen: Nur Gemüse, nur Obst, gemixt oder eine reine Rohkost-Box. Da ist für jeden Geschmack was dabei. Schon über 2,7 Mio. Kilo Gemüse und Obst konnten bisher gerettet werden. Ein weiterer cooler Aspekt: Man isst deutlich abwechslungsreicher. Lila Kartoffeln, Navetten oder Schwarzwurzeln – bei wem steht das schon auf dem regulären Speiseplan? Die Kirsche auf dem Gemüsehäubchen: In jeder Box befindet sich ein eigens entwickeltes Rezept – jeweils abgestimmt auf den Inhalt der Box. Das Kredo von Etepetete: Schlau, frisch, anders. Recht haben sie. Denn die Vorstellung, dass Obst und Gemüse immer die perfekte Form, Farbe und Größe haben müssen, ist doch echt überholt. ► etepetete-bio.de

Die Münchner Firma fairafric produziert faire, nachhaltige Schokolade. Dabei schafft sie aber nicht die Zutaten von Afrika nach Deutschland, sondern arbeitet an zwei Standorten. Geschäftsführung, Distribution und Marketing sitzen in der bayerischen Landeshauptstadt, währen­d die Produktion in Ghana stattfindet. Das ist fair und hilft der lokalen Bevölkerung. Fairness ist aber nicht ganz günstig: Die Tafel Schokolade kostet den Kunden vier Euro. Dadurch gewährleistet fairafric allerdings, dass pro Tafel mindestens 50 Cent nach Ghana gehen. Das Crowdfunding gab ihnen recht: In der initialen Runde bestellten 1.000 Unterstützer 5.000 Tafeln zu einem ähnlichen Preis. Durch die Produktion in Ghana und die Verschiffung nach Deutschland entstehen natürlich Emissionen. fairafric hat sich jedoch auf die Fahnen geschrieben, diese durch Investitionen in Klimaschutzprojekte wieder auszugleichen. Auch die Schokolade wird künftig nicht mehr in Aluminium, sondern in kompostierbarer Holzzellulose verpackt. Die kleine Firma zeigt den Verbrauchern: Faire, nachhaltige Produktion ist möglich. Dafür muss es nur eine Nachfrage geben. Und das bedingt bei uns vor allem eines: Bewusstsein, Wertschätzung und ein Blick über den Tellerrand. ► fairafric.com/de

TEXT: JULIA MAEHNER // FOTO: FAIRAFRIC

TEXT: LISA LINDHUBER

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TEXT: JULIA MAEHNER // FOTO: ALEXANDERA YEEPS, REHAB REPUBLIC

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rehab republic

Klimacafé München

Barbie girl aus dem gleichnamigen Song von 1997 wäre vermutlich über die steigende Verteufelung von Plastik empört. Und auch gar kein Fan der Münchner Initiative rehab republic. Was wie eine Vereinigung von Menschen auf Drogenentzug klingt, ist in Wahrheit eine Organisation, die den Müll reduzieren möchte. Konkret geht es hier um die Dinge, die eben nicht natürlich abbaubar sind. Um dies zu erreichen, halten die freiwilligen Helfer bei rehab republic Workshops in Firmen, veranstalten Schnibbelpartys und bieten DIY-Kurse an. So wollen Sie den Menschen Alternativen näher bringen und zeigen: Es geht auch ohne Plastik, ohne Verpackungen – und das alles ganz ohne belehrend zu wirken. Das bedeutet aber nicht, dass die Mitglieder dieser Initiative keinen Spaß haben, denn die Events der Gemeinschaft setzen vor allem auf das spielerische Lernen und die Begeisterung der Teilnehmer am großen gemeinsamen Ziel Klimaschutz. Das ist auch die große Stärke dieses Vereins, der Menschen mitreißt und so die Welt ein kleines bisschen sauberer macht. ► rehab-republic.de

Seit September 2019 bringen die Biologin Steffi und ihr Team Menschen verschiedenster Bereiche und Altersstufen in einen von Hierarchie befreiten Dialog zu klimarelevanten Themen zusammen. Einmal im Monat laden sie beim Klimacafé im Dialog im Import Export zu Podiumsdiskussionen ein (z. B. zum Thema Waldsterben, Klimaskepsis, nachhaltiges Weihnachten, Klimagerechtigkeit oder Artensterben), das von interessanten Referenten aus dem Bereich der Forschung oder verschiedenen Umweltorganisationen unterstützt wird. All diese Menschen gestalten das Klimacafé mit – in der Vielfalt und Gemeinschaft liegt die Kraft. Man möchte anregen und vermeiden, dass die Gefühle von Aussichtslosigkeit und Hilflosigkeit zur Angststarre führen. Noch können wir handeln – und müssen es jetzt tun. Gemeinsam. In Zukunft möchte die Initiative auch vermehrt in die Aktionsform übergehen, Ideen gibt’s schon viele ... Seid dabei! ► klimacafemuc.com


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STRATEGIEN FÜR DAS UNPLANBARE TEXT UND FOTOS: PETRA KIRZENBERGER

In der Friesischen Teestube in Schwabing gehen die Uhren anders. Man fühlt sich wie aus der Zeit gefallen: gemütliche Sofas statt Hektik und Stress. Perfekt, um bei einer Tasse Tee den Lärm der Welt zu vergessen. Und genau der richtige Ort für ein Treffen mit THOMAS VON WITTERN: Gründer der Wunderbau, einer Gesellschaft für gemeinwohlorientiertes Bauen und Leben, und Mitglied des Cradle-to-Cradle-Vereins. Wir haben mit ihm über Veränderung, ­Wertschöpfung und die Stadt der Zukunft gesprochen.


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Erzähl uns ein bisschen von dir! Wie würdest du dich selbst beschreiben? Ich hab das Glück gehabt, mir ein Studium Generale gönnen zu können: Ich hab Sport studiert, Kunstgeschichte, Medizin, Volkswirtschaft und Bauingenieurwesen. Das hat eine selektive Wahrnehmung gefördert. In einem System der Spezialisierungen schafft man Inselbegabungen. Es ist aber wichtig, dass es Generalisten gibt – oder eben auch so Hefte wie das eure – wo man sich fachübergreifend mit einer Thematik auseinandersetzt. Es gibt wahnsinnig viele Betrachtungsweisen und Perspektiven, um ein Thema zu behandeln! Eines der Themen, mit denen du dich beschäftigst, ist das Cradle-toCradle-Prinzip (C2C). Was ist das genau? C2C ist eine Gedankenschule, die Anhaltspunkte liefert, Sachen richtig zu machen. Wir denken uns eine Wirklichkeit, die nicht schadet: von Energie- und Ingenieurwesen über Technik bis hin zu Produkten, die keinen negativen Impact haben. Die Funktion eines Toasters beispielsweise verändert sich nicht, wenn ich ihn so entwickle und baue, dass er komplett in seine Bestandteile zerlegbar ist. Du kannst ihn reparieren und die Teile wieder hernehmen. Oder aber das Produkt bleibt Eigentum vom Hersteller. Man mietet z. B. eine Waschmaschine. Nach x Waschgängen kriegst du eine neue – die alte wird zerlegt und refurbisht. In bestimmten Industriezweigen funktioniert das schon so. Bei C2C schaffen wir Raum – beispielsweise im Stadtlabor – wo sich Leute begegnen und neue Ideen besprechen können. Architekten und Bauleute, die versuchen, weniger Müll zu erzeugen. Das ist ein großer Impact! Wir wollen Systeme umdrehen, zu Rückgewinnungssystemen machen, damit nichts umsonst ist. Es geht darum, Rücknahmesysteme zu schaffen und Organisationen zu beraten, wie das funktionieren kann – biologisch, technisch usw. ►


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DIE NATUR SELBST ARBEITET NUR IN ZYKLEN. DAS IST, WAS DEN LEUTEN HOFFNUNG GIBT: IN EINEM KREISLAUF VERLIERT MAN NICHTS. ES VERÄNDERT SICH NUR TEMPORÄR. Dafür braucht es aber den Mut zur Veränderung. Veränderung ist wichtig. Das erhält uns am Leben. Wir sollten diesen Wechsel zulassen. Den Mut haben und daran glauben, dass uns genau DAS stärker und nachhaltiger macht. Wenn wir die Stadt neu erfinden wollen, müssen wir neue Wege gehen. München als Stadt der Erneuerung! Das ist doch geil! Wo stehen wir aktuell in diesen Entwicklungen? Wir haben 98 % schon erreicht. What?! Ein Auto wird heutzutage schon zu 94 Prozent rezykliert. Das ist viel! Klar, ich brauch viel Energie, um es herzustellen, aber das Material ist nicht verloren. Wir haben in Sachen erneuerbare Energien unglaublich viel geschafft: Wind, Thermosolar usw. Vieles wird noch nicht genutzt, aber es ist da. Über das Internet kann ich z. B. jeden Menschen an jedem Ort erreichen und ihm Zugang zu Information gewähren. Das gab es noch nie! Wir haben Sensorik, mit der wir genau sehen, was wann auf unserer Erde passiert. Es ist alles da. Es ist nur falsch verteilt.

Und warum legen wir dann nicht einfach los? Blockieren wir uns selbst? Wir bewegen uns in einer Fake-Welt momentan, in der uns Medien, Werbung und Co. mit suggestiven Welten zuballern. Es ist im Grunde alles unecht, was uns täglich trifft. Unser natürlicher Sensor für Wahrheit geht dadurch teilweise oder ganz verloren. Wir sind durch unser Denken eigentlich ermächtigt. Und zugleich sind wir machtlos, weil wir diese Ermächtigung zum Selbstdenken in die Ohnmacht abstürzen lassen. Dabei hatte keine Generation jemals so viel Wissen frei zur Verfügung wie jetzt! Und was machen wir aktuell daraus? Panik. Aber die Katharsis gehört wohl zu den Phasen des menschlichen Bewusstseinsprozesses dazu. Zwingt uns nicht der Klimawandel zum zeitnahen Handeln? Klimawandel hat es schon öfter gegeben. Wir haben sowas wie ein Dinosaurierproblem: Die mussten sich auch plötzlich mit neuen Gegebenheiten konsolidieren. Das haben sie nicht geschafft, darum sind sie ausgestorben. Auch wir müssen uns mit dem Wandel auseinandersetzen. Was wir 50 Jahre lang schön und toll gefunden haben – all die Urlaube und unsere Lebensweise – wird es so nicht mehr geben. Die Party ist vorbei. Die Frage ist: Wie setze ich mich damit auseinander? Kann ich der Natur helfen? Die Natur ist zu großen Teilen in der Lage, die Scheiße, die wir bauen, zu kompensieren. Wir müssen aber dazu beitragen, die Balance wiederherzustellen. Dinge wie der Klimawandel, Migrantenwellen und dergleichen zeigen uns auch, wo unsere Systeme haken. Das sind Warnings, die Fragen aufwerfen: Wie gehen wir mit der Veränderung um? Menschlich, psychisch, logistisch, infrastrukturell. Der Klimawandel ist ein Wandel des Klimas – und zwar des gesellschaftlichen und menschlichen Klimas.


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Welche nächsten Schritte sind nötig? Was können wir tun? Wir müssen vollkommen neue Lösungsansätze finden und eine Alternative schaffen – wie auch immer die aussieht. Ich bin kein Wahrsager, aber ich glaube, wir können es schaffen. Stellt man die richtigen Fragen, folgen die richtigen Antworten. Wenn man das Geld dafür bereitstellt, neuartige Gedanken unterstützt und Forschung ermöglicht, kann das funktionieren.

WIR BRAUCHEN STRATEGIEN FÜR DAS UNPLANBARE. ES FEHLT HALT LEIDER OFT AM RICHTIGEN ZUGRIFF UND AN DER NÖTIGEN INSPIRATION. DIE IDEE VON C2C IST HIER EIN ANFANG: MAN ENTWICKELT PRODUKTE, DIE EINEM KREISLAUF ENTSPRECHEN. Dazu muss man erst mal Geld in die Hand nehmen. Man forscht nicht für ein weiteres Krebsmittel, weil man weiß: Bei dem Dreck, den wir in die Luft blasen, ist der Krebs unausweichlich. Das ist falsch sortiertes Geld. Warum nicht das gleiche Geld dafür ausgeben, dass der Dreck gar nicht erst in die Luft kommt? Es braucht eine politische Initiative, die das fordert. Fridays for Future lässt das schon anklingen, der normale Mensch muss das einfordern. Die Lösung aber ist eine politische Entscheidung. ►


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Man kann sowas schaffen – das merken wir beim Kohleausstieg: Das hat viel Geld gekostet, aber beispielsweise Nordrhein-Westfalen zu einem Land gemacht, in dem man die Luft wieder atmen, wo man leben kann. Und das innerhalb von einer Generation! Wir brauchen also noch deutlichere Bewegungen in Richtung direkte Demokratie: Bürgerbegehren, Volksbegehren, Initiativen usw. Ziviles Engagement bedeutet, dass man sich dieser Möglichkeiten bewusst wird und sich fragt: Gibt es eine Lösung? Was kann ich tun? Es läuft nur grad eine Menge schief in der Politik. Man hat nicht den Eindruck, dass da auch nur ein einziger NICHT korrupt ist ... In der Politik ist Korruption besonders unehrenhaft. Die anderen sind gekaufte Korrupte: Der Manager von Siemens – gekauft von Siemens – muss machen, was Siemens hustet. Der Einzige, der Geld dafür kriegt, dass er nicht korrumpiert, ist der Politiker. Der kriegt aber von der Allgemeinheit sein Geld und auch für kurze Amtszeiten eine Pension, die ein anderer nicht mal für 45 Jahre Arbeit kriegt. Das sind so Subsysteme, die Politiker komplett korrumpieren. Will man was ändern, muss man hier ansetzen: Die Funktionsträger von Bundes- und Länderparlamenten haben einen Eid auf dieses Land geschworen. Man kann verlangen, dass sie nicht korrupt sind. Wie sieht das Leben in der Zukunft für dich aus – in der Stadt und global? Wir haben eine partizipativ-zirkuläre Ökonomie, wir übernehmen Verantwortung – in Sachen Konsum, aber auch durch die Sachen, die wir schaffen, erzeugen und tun. Es gibt mehr direkte Demokratieprozesse und mehr Generalisten. Die Probleme der Stadt lösen keine Spezialisten – das sieht man ja.

IN DER ZUKUNFT LEBEN WIR EINE ORGANISCHE VERBINDUNG ZWISCHEN LAND UND STADT – VOR ALLEN DINGEN FÜR DIE SELBSTVERSORGUNG. Wie eine Art digitale Großmarkthalle: Der eine Bauer liefert seinen Gemüsekorb in die Herzogstraße, der andere fährt seine Kartoffeln nach Haidhausen – das ist alles offen! Was für Systeme man mit unserer Technik generieren kann – die wären von der Logistik, der Wertschöpfung etc. viel besser als das jetzt! Keine Zwischenhändler, die Leute lernen sich kennen – ois easy! Die Maschinenproduktivität in Deutschland ergibt jährlich eine Wertschöpfung von insgesamt fast zwei Billionen Euro. Wenn ich die besteuere und verteile – was total legitim wäre – dann hätte jeder im Monat 1500 Steine partizipatives Einkommen in der Tasche. Die Schweizer haben das so geregelt: Die soziale Unterstützung beträgt bis zu 3400 Franken, das ist nichts Soziales, das ist absolut menschenwürdig. Missbrauch jedoch wird damit bestraft, dass du das nie wieder beziehen darfst. Jeder kann und darf mal in die Situation kommen, die überfordert, keine Frage! Die Gemeinschaft hilft und er darf sich da wieder rausarbeiten. Eine schöne Vorstellung! Meine Vision ist, dass jeder Respekt und Achtung vor dem anderen hat – und vor unserer Gemeinschaft. Ob das ein Deutscher ist, ein Afrikaner oder einer mit Down-Syndrom, also fernab von Nationalitäten oder sonstigem. Dann wird das Unmögliche lebbar!


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Was willst du den curt-LeserInnen noch mit auf den Weg geben? Nimm so viele Möglichkeiten wahr wie nur irgend möglich! Sei Generalist statt Spezialist. Inspiriere so viele Menschen wie möglich durch dein Tun. Lass uns Momente der Begegnung und Berührung schaffen und möglichst offen gestalten – durch Events, Kunst, Kultur – bei denen sich alle Menschen eingeladen fühlen und niemand ausgegrenzt wird. Man muss den Leuten das Gefühl vermitteln, dass sie auch was ge winnen, einen Vorteil haben. Es macht vielleicht Spaß, etwas Neues zu gestalten! Weg vom Mainstream, raus aus dem „boring capitalism“. Was brauchst du schon wirklich? Ein paar gute Schuhe, ein paar Klamotten und so viel Pulver, dass du deine Miete zahlen kannst. ▪ Die große Standuhr in der Friesischen Teestube tickt. Was sie anzeigt, ist erstaunlich: Während unseres spannenden Gesprächs sind drei Stunden wie im Flug vergangen. Vielleicht sollten wir das öfter tun: die Zeit ein wenig verlangsamen, uns der Dinge besinnen, die wir bereits erreicht haben. Zurücktreten vom Lärm der Welt und fragen: Was ist wichtig? Wie siehst du das? Oder: Brauchen wir das wirklich?

CRADLE-TO-CRADLE (C2C) ist eine Bewegung, die Rohs­toffe zu ihrem Ursprung zurückführen und wieder nutzbar machen will. Tatsache ist: Nichts auf unserem Planeten ist jemals wirklich weg. Es ist nur woanders, in einer anderen Form gebunden. Alles, was produziert wird, ist irgendwann Müll – oder eben nicht. Die Gedankenschule des C2C: Häuser zu bauen und Produkte herzustellen, sich in ihre Einzelteile zerlegen und wieder verwerten lassen. So gehen Rohstoffe nicht verloren, sondern sind kompostierbar, regenerierbar, rückbaubar … Für diese Art von Recycling muss neu gedacht und kreativ designt werden: Die aktuell am Markt befindlichen Produkte sind nur mit großer Mühe zu sortieren und schlecht bis gar nicht zerlegbar. Die Rohstoffe wieder in Umlauf zu bringen ist sehr aufwändig – oder schlicht unmöglich. Produkte müssen anders geplant und gefertigt werden: für eine höhere Lebensdauer, bessere Qualität und Reparaturmöglichkeiten, die langfristig die Ressourcen unseres Planeten schonen. Mehr Info und Mitmach-Möglichkeiten findet ihr hier ► c2c-ev.de

BUCHTIPP: CRADLE TO CRADLE Michael Braungart, William McDonough


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TEXT: LEA HERMANN ILLUS: YAEL CURI

EIN SPATZ BRAUCHT VIELE FREUNDE

Früher waren sie überall: Sie pickten vor dem Bäcker Krümel auf, badeten in der Pfütze bei der Bushaltestelle oder zwitscherten in der Hecke. Jetzt sind sie fast aus dem Stadtbild verschwunden – oder wann hast du in letzter Zeit einen Spatz in München gesehen? Dem 30 Gramm leichten, frechen Vogel mit dem braunen Federkleid geht es schlecht. Einst als Kulturfolger dem Menschen vor 10.000 Jahren angepasst, ist es mit den paradiesischen Zuständen in der Großstadt schon lange vorbei. Der Spatz ist zum Gentrifizierungsopfer geworden. Die vielen Sanierungen im sauberen München kosten ihn Nistplätze. „Es gibt kaum noch Ritzen und Hohlräume an Gebäuden, die die Vögel zur Brut nutzen können“, erklärt Sylvia Weber vom Landesbund für Vogelschutz das Problem. Typisch für sein Verschwinden ist auch ein Fall, wie er sich am Goetheplatz ereignet hat: Als dort vor ein paar Jahren Rollädenkästen abgedichtet und die eingewachsene Fassadenbegrünung entfernt wurde, sind die Vögel, die in Gruppen leben, schlichtweg verstummt. „Spatzen haben angestammte Plätze, wo sie sich vor Feinden geschützt versammeln, tschilpen und aus-


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ruhen“, erklärt uns die Gebäudebrüter-Beauftragte. „Fallen diese Plätze weg, ist die ganze Kolonie schutzlos und wandert ab.“ Auch mit der Nahrung läuft es nicht so rund. Erwachsene Tiere snacken zwar am liebsten Körner und können gut vom Menschen durchgefüttert werden, aber nicht der Nachwuchs. „Die Küken im Nest werden überwiegend mit Kleinstinsekten, wie Blattläusen oder Insektenlarven, gefüttert“, sagt Sylvia Weber. Doch die kommen wegen Flächenversiegelungen und Insektenvernichtungsmitteln immer seltener vor. In Indien ist das Problem sogar so krass, dass dort der Weltspatzentag initiiert wurde. Seit 2010 wird am 20. März auf die brenzlige Lage des klugen Tieres aufmerksam gemacht, der bei uns auf der Vor-Warnliste für bedrohte Arten steht. „Man kann für den Spatz aber relativ leicht einen Lebensraum schaffen, ohne dabei gleich die ganze Stadt zum Naturschutzgebiet zu erklären“, macht die Expertin Hoffnung. Um den Haussperling, wie er eigentlich heißt, zu helfen, hat der Landesbund für Vogelschutz die Fundraising-Kampagne „Spatzenfreunde“ ins Leben gerufen. Dadurch können Münchner und Münchnerinnen

zum Paten für den neugierigen Vogel werden. Mit dem Geld der „Spatzenfreunde“ wird auch Sylvia Webers Aufklärungsarbeit finanziert. Circa einmal pro Woche ist sie als Ansprechpartnerin zum Thema Spatzen auf Baustellen unterwegs: „Viele Leute wissen nicht, dass man eine Vogelart wie den Spatzen nicht einfach obdachlos machen darf.“ Wenn es nach Sanierungen oder bei Neubauten keinen Platz mehr für die Vogelart gibt, berät sie Interessierte, wie artgerechte Nistkästen am Haus angebracht werden können. Auch mit der Stadtverwaltung arbeitet sie zusammen und versucht, die Behörden zu sensibilisieren, dass die kleinen Federbällchen unbedingt Schutz brauchen. Immerhin hat der Vogel für uns in München wegen einer Kult-Serie eine besondere Bedeutung: „Einer unserer häufigsten Kosenamen ist doch ‚Mein Spatz‘ oder ‚Spatzl‘ – der ,Monaco Franze‘ hat das salonfähig gemacht.“ Rund 60 Paten, also Freundinnen und Freunde, hat der Spatz dank der Kampagne bisher. Ein Newsletter informiert jährlich über die bislang erreichten Erfolge, die es durchaus gibt. Zum Beispiel am Marienhof mitten in der Innenstadt. Ausgerechnet da, wo die Bagger lautstark für die zweite Stammstrecke graben.

Dort sitzen die quirligen Spatzen brav aufgereiht am Zaun des U-Bahn Aufgangs oder fliegen zwischen den vier bepflanzten Trögen hin und her. Dass diese dort stehen und die Vögel trotz Baustellen-Chaos ihren Rückzugsort nicht verloren haben, ist Sylvia Webers Verdienst. Zum Glück, sonst würden wahrscheinlich viele Passanten, die von der U6 oder U3 hochkommen, grantig dreinschauen, anstatt sich über die frechen Vögelchen an unerwarteter Stelle zu freuen. Obwohl der Baulärm nach wie vor dröhnt, ist das Tschilpen der Spatzen gut zu hören. Und genau so etwas macht eine Stadt doch erst so richtig lebenswert. ▪

► lbv-muenchen.de/spatzenfreunde


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NACHHALTIG STERBEN

TEXT: SONJA PAWLOWA // FOTOS: ANGELA ACHILLE, EVA JÜNGER

D Du willst nach einem Leben in Achtsamkeit der Erde keinen Haufen Müll hinterlassen? Du hast ja keine zweite Chance, wenn dein Bestattungsarrangement ein Fehlkauf war. Am besten, du stellst die Weichen schon jetzt. So wird weder die Erde noch deine Familie belastet. Denn eins ist sicher: Du stirbst. Jeder stirbt irgendwann. Die gute Nachricht: Du kannst mit deinem Tod das Klima retten. Nachhaltigkeit beim Sterben ist möglich.


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WAS GENAU KANNST DU TUN? Gesund sterben. Darauf hast du natürlich keinen Einfluss. Aber je giftiger dein Körper, desto schädlicher dein Leichnam. Idealerweise sind deine Überreste nach 25 Jahren restlos verdaut. Auch wenn du vorbildlich lebst, verseuchst du die Erde, wenn du mit Rückständen einer Chemotherapie begraben wirst. Ersatzteile wie Herzschrittmacher und Implantate verbleiben auch nach der Verwesung im Boden und werden höchstens die Archäologen der Zukunft erfreuen. DU WILLST NACKT GEHEN, ALLENFALLS IN TÜCHERN? Geht nicht. Noch immer gibt es eine Sargpflicht für den Transport zum Friedhof und für die Erdbestattung. Auch wenn du dich verbrennen lassen willst, brauchst du einen Sarg. Das überrascht die meisten. SUMMEN UND BRUMMEN STÖRT DIE TOTENRUHE NICHT. GANZ IM GEGENTEIL. IM WALDFRIEDHOF GEHT DAS LEBEN IN BIENENSTÖCKEN UND INSEKTENHOTELS LEBEN WEITER.

Seit Ende 2019 existiert für Muslime und Juden eine Ausnahmegenehmigung zur Bestattung in Leintüchern aus religiösen und „weltanschaulichen“ Gründen. Das gilt aber nur fürs Einbuddeln. Aufbewahrung und Transport in Leintüchern geht trotzdem nicht. ►


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Auch da gilt die Sargpflicht für den Transport und die Einäscherung. Für das Kremieren lohnt es sich gar nicht, einen Baum zu töten und 1500 Euro für den Sarg auszugeben, denkst du. Genaugenommen nur für einen Tag. Den Sarg sieht womöglich keiner außer den Leichenfahrern. Verstorbene drei Tage lang zu Hause aufzubahren, ist seit langem aus der Mode gekommen. Selbst ein offener Sarg in der Leichenhalle ist kaum mehr zu finden. Normal hingegen: Im Krankenhaus sterben, vom Bestatter ins Krematorium gebracht werden, Wochen später die Urnenbeisetzung. Der Sarg wird zusammen mit dem Verstorbenen im Krematorium verbrannt. Alles läuft wie am Fließband. Zwar respektvoll, aber effizient. Nachhaltig ist es nicht. NACHHALTIGKEIT BEIM MATERIAL In der Friedhofssatzung der Stadt München ist die Verwendung von Särgen aus Vollholz vorgeschrieben. Sie dürfen die physikalische, chemische und biologische Beschaffenheit des Bodens und des Grundwassers nicht nachteilig verändern. Das gilt auch für Urnen. Bestelle also nicht blind im Internet. Auch Vollholz-Särge

Friedhofssatzung von 2000 ► muenchen.de/rathaus/Stadtrecht/vorschrift/800.pdf

DU WILLST DICH VERBRENNEN LASSEN?


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stammen oft aus Sargfabriken, wo sie wie ein IKEA-Schrank aus vorgefertigten Bauteilen in nur 10 Minuten zusammengesetzt werden. Woher das Holz kommt, ist schwer nachzuvollziehen, vor allem bei den Mahagonimodellen. NACHHALTIGKEIT DURCH DOPPELNUTZUNG „Ist doch schade um den schönen Sarg“, sagt Lydia Gastroph von „w e i s s ... über den tod hinaus“. Nachhaltigkeit bedeutet für sie Wiederverwendbarkeit und Doppelnutzung. Bei Särgen ist das schwer vorstellbar. Doch nicht, wenn man die Särge schon vor dem Tod verwendet. Mit ein paar Einlegeböden zaubert Lydia aus dem aufgestellten Sarg einen Schrank für Pullover, Bücher oderwas auch immer. Die Schranksärge, die sie anbietet, sind bis ins Innerste nachhaltig und extrem schön dazu. Zeitlos gewissermaßen. Neben dem Schranksarg gibt es auch Sargtruhen oder flache Särge, die als Sitzbank verwendet werden können. Eine Doppelnutzung macht besonders Sinn, wenn du dich sowieso lieber verbrennen lassen willst. Nachdem du jahrelang einen Schrank genutzt hast, wird er nach deinem Tod als Sarg mit

dir als Inhalt zum Krematorium transportiert. Du wirst samt Sarg lautlos in den Ofen gefahren, wo der Schamotte rot glüht. Bei 850 Grad Hitze entflammt sich der Sarg dann von selbst. Die Asche wird anschließend von nicht abbaubaren Rückständen wie Implantaten, Titanplatten oder Sargnägeln befreit, gesiebt und gemahlen. Das Krematorium füllt die verbleibenden etwa drei Kilo Asche in eine versiegelte Aschekapsel. Das ist ein Behälter aus Kartoffelstärke, der wie ein schwarzer Plastiktopf mit Schraubdeckel aussieht. Biologisch abbaubar – aber schön ist die Aschekapsel nicht. Deshalb gibt es Urnen. Sie umhüllen die Aschekapsel und können auch schon im Leben Verwendung finden. Bei „we i s s“ sind es Kunstobjekte, Unikate aus Keramik, Holz, Filz oder Hanfpapier. Nebenbei taugen einige als Keksdosen oder Blumenvasen. Ihnen ist eins gemeinsam: Sie sind Meisterwerke und haben ihren Preis. Für die Schranksärge werden nur heimische Hölzer verwendet. In München baut sie ein Schreiner in Sendling. Ganz lokal und ohne lange Transportwege. Du kannst dir deinen Schranksarg in Natur oder in Farbe bestellen.

Den ersten dieser Särge hat Lene Jünger für ihren Vater entworfen. Hermann Jünger war als Goldschmiedprofessor an der Akademie der bildenden Künste und Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Ein Mann, dem Ästhetik wichtig war. Für ihn war es undenkbar, nach einem Leben für die Kunst in Fabrikware zu enden. Deshalb schreinerte ihm seine Tochter Lene einen Sarg nach seinem Geschmack. Ein Sarg, zu schön, um gleich wieder verbuddelt zu werden.

Lenes Schwester, Kati Jünger, stellte als Keramikerin zeitgleich Urnen her. Auch bei diesen blutet dem Betrachter das Herz bei dem Gedanken, dass sie nach der Beerdigung für die Welt verloren sind.


Schließlich soll er lebenslang als Möbelstück in deiner Wohnung verbleiben. Er wird mit Pigmentölen und Naturfarben behandelt, alles abbaubar und von heimischen Herstellern. Die Griffe kannst du an- und abschrauben. Sie bestehen aus handgeschmiedetem Eisen, dürfen also mit in die Erde. Das ist keine Selbstverständlichkeit! Bei Billigsärgen wird zuweilen sogar Spritzgussplastik verwendet. Nackt kommt auch niemand in die Kiste. Für die Sargausstattung gelten in München Anforderungen, die der Umweltverträglichkeit dienen. Beispielsweise Matratzen und Kissen, die mit einer Art Maischips gefüllt sind und gern von Mäusen gefressen werden. Als Bekleidung bietet sich eine Art Totentuch an, ein Design von Gabi Suchantke-Rackner, das sie Fährhüllen nennt. Auch hier wieder nachhaltig gedacht, denn sie werden von Langzeitarbeitslosen bei der gemeinnützigen GmbH Münchner Arbeit genäht. DU WILLST LIEBER LEBEN ALS FÜR DEINEN TOD SPAREN? Wer gar kein Geld ausgeben kann oder will, zimmert sich den Sarg eben selbst. Das ist erlaubt, wird aber kaum gemacht. Stephan Alof, der Unternehmenspartner von Lydia


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Gastroph, erzählt: „Wir hatten letztes Jahr hier im Glockenbachviertel einen Sterbefall eines 9-jährigen Jungen, der verunglückt ist. Der Vater hat mit Freunden zusammen den Sarg selbst gebaut. Das ist Trauerarbeit. Das ist Psychotherapie.“

Im Waldfriedhof tritt der Friedhofscharakter deutlich in den Hintergrund. Die Pfade führen durch kleinere Grabfelder zu Baumgräbern, großen Langgraswiesen mit anonymen Urnengrabstätten, Biotopbereichen, einem See und schattenspendendem Wald.

Alles in allem ist das Sterben teuer. Mit allem Pipapo können leicht 30.000 € zusammenkommen. Stephan denkt gerade über das Waldorfschulen-Prinzip (Anmerkung: Reiche finanzieren Arme) für Begräbnisse nach. So müssten mittellose Künstler sich nicht auf anonyme Bestattungen ohne Grabstein oder Grabplatte beschränken.

Die klassischen Gräber werden wie überall mit Blumen bepflanzt. Sie spenden Nahrung für Bienen und andere Insekten. Die werden ganz offensichtlich gehegt und gepflegt auf dem Gelände. Überall stehen Bienenstöcke und Insektenhotels. Blumen sind auch bei der Begräbnisfeier wichtig. Grabschmuck jenseits von Gebinden oder Trauerkränzen stellt die Weihenstephaner Fachschule für Blumenkunst her, wo auch Wiesenblumen oder Herbstlaub Verwendung finden.

Grabsteine sind teuer und ein weiteres Nachhaltigkeitsthema. Recycling, Upcyling und Grabmalpatenschaften werden angeboten. Steinmetze bedauern, dass die hochwertigen Natursteine nicht weiterverwendet werden. Möglicherweise sind Grabsteine ohnehin bald überholt. Der Trend geht zum Baumbegräbnis. Überraschend ist die Geschwindigkeit, mit der etwa der Waldfriedhof diese Entwicklung aufgegriffen hat. Aber Bäume und Wald waren schon seit über hundert Jahren das Konzept des Waldfriedhofs. Als Park und grüne Lunge soll das Areal auch der Erholung dienen.

WOZU BRAUCHE ICH ÜBERHAUPT EIN BEGRÄBNIS? Die zentrale Frage für Stephans Trauerreden ist: „Was war das für ein Mensch?“ Diese Frage ist der Ausgangspunkt für alles. Nachhaltigkeit bedeutet für Stephan vor allem, dass ein geliebter Mensch nicht einfach lieblos verschwindet. Stephan hat lange in der Palliativmedizin gearbeitet.

„Ich habe weit über tausend Menschen in den Tod begleitet. Tod in der Intensivstation bedeutet, eine Viertelstunde später bist du weg in der Kühlung. Da gibt es nicht die Möglichkeit, in Ruhe Abschied zu nehmen.“ Dabei sollen der Tote, sein Leben und das Begräbnis nachhaltig in Erinnerung bleiben. Stephan unterstützt die Hinterbliebenen, damit auch ungewöhnliche Vorstellungen eines Abschieds umgesetzt werden können. „Es ändert sich gerade ganz viel. Meine Generation wird in den nächsten 10 bis 15 Jahren ihre Eltern bestatten. Meine Generation hat ganz andere Bedürfnisse an eine Bestattung als unsere Elterngeneration. Für mich gilt: Ich lebe im Glockenbachviertel. Ich liebe in diesem Viertel. Ich arbeite in diesem Viertel. Warum muss ich auf den Ostfriedhof? Ich denke an Guerilla-Begräbnisse, aber das ist nur ein Spaß. Warum kann ich nicht da, wo ich lebe, auch bestattet werden: hier in meinem Viertel? Lokal bleiben, Baulücken suchen, Kirchen, die irgendwann zugesperrt werden – das werden unsere neuen Begräbnisstätten.“ Das wäre Nachhaltigkeit bis zum Schluss. ▪ ► gastroph-alof.de


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NAHSTRESSGEBIETE MEHR ALS 100 MILLIONEN MENSCHEN PILGERN JÄHRLICH IN DIE ALPEN. ABGASE, MÜLL UND DER STETE STROM AN MENSCHEN STRESSEN DAS FRAGILE ÖKOSYSTEM DER BERGE. ZWEI MÜNCHNER VEREINE ARBEITEN DARAN, DAS ZU VERMEIDEN. TEXT: JULIA MAEHNER, LUKAS NICKEL // FOTO: JULIA MAEHNER


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amstagmorgen. Kurz hinter München staut es sich auf der Autobahn und die Blechlawine rollt zum Berg. Abgase, die das Ökosystem der Alpen leiden lassen. Der Bayerische Rundfunk bezeichnete unsere Berge 2018 als „Frühwarnsystem” für den Klimaschutz, laut Bund Naturschutz steigen die Temperaturen hier doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt. Da schmerzt jeder Wagen. Die naturverbundenen Bewohner der Landeshauptstadt zieht es aber am Wochenende in die Berge wie eine Wespe zur Grillparty. „Die wenigsten Münchner informieren sich, wie man autofrei in die Berge kommen kann und stellen sich lieber mit dem Auto in den Stau”, kritisiert Julia Mrazek vom Deutschen Alpenverein (DAV). Die Betreuerin des Projekts „Bergsport mit Zukunft” sieht genug Möglichkeiten, ohne Auto auf Gipfel oder Piste zu kommen. Max Isensee sitzt dem Verein Protect Our Winters Germany (POW) vor, der sich zum Ziel setzt, Klimaschutz in den Köpfen von Wintersportlern zu verankern. Mit seiner Organisation möchte er nicht nur Bewusstsein schaffen, sondern der Community auch Möglichkeiten an die Hand geben, das Bergerlebnis klimafreundlicher zu gestalten. Max’ Anliegen ist ganz klar: “Schütze was du liebst – von Wintersportlern für Wintersportlern”. Das ist auch bitter nötig, denn nicht nur die Abgase stressen die Natur, auch der Müll, die Kippen und Verpackungen von Snacks belasten Flora und Fauna. Eigentlich sollte man nichts als Fußstapfen hinterlassen, egal, ob auf 500 oder 5000 Metern.

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Könnten die Alpenländer, gar der bayerische Staat mit kostenpflichtigen Passierscheinen reagieren, ähnlich wie bei bestimmten Trails in den USA? „Der Genuss der Naturschönheit und die Erholung in der freien Natur sind nach der Bayerischen Verfassung Grundrechte”, erklärt Julia. Oder wäre die Einführung von erhöhten Parkgebühren an den Wanderparkplätzen eine Möglichkeit, Wanderer zur Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs anzuregen? Schon jetzt gibt es Hunderte von Touren, die mit Bus und Bahn erreichbar sind. Zudem könnten die erhöhten Parkgebühren den Ausbau des Nahverkehrnetzes fördern. „Wenn sich die Menschen in den Bergen richtig verhalten, sind Einfluss auf Flora und Fauna eher gering”; Julia sieht den Massentourismus besonders im Winter kritisch: Bedingt durch den Klimawandel müssten für bestimmte Tourismusbranchen Alternativen gefunden werden, um die Alpen dauerhaft zu erhalten. Dennoch sei der Skisport gerade für die wirtschaftliche Entwicklung des Alpenraums wichtig. Neben der umweltfreundlichen Anreise und dem Bewusstsein für das korrekte Verhalten in den Alpen möchte Max von POW auch Konzepte für die Wirtschaft umgesetzt sehen. „Wir streben keinen Massentourismus an, sondern Nachhaltigkeit von und für die WintersportCommunity.” In diese Richtung geht auch das Konzept der Gebiete der „Alpine Pearls”. Die kooperierenden „Perlen“ fördern die Möglichkeit, autofrei an den Urlaubsort zu gelangen. Vor Ort ist die Mobilität garantiert. Sie erlaubt ein umwelt- und klimafreundliches Freizeitangebot. „Das ist auch eine Entwicklung, die die Orte und Täler selbst betreiben und mitgestalten – somit auch mitverantwortlich sind, damit das so passiert”, sagt Max. ►


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Ähnlich entwickelten sich die Bergsteigerdörfer, eine Initiative des Österreichischen Alpenvereins, in denen Einheimische im Einklang mit der Natur leben und Bergsportlern und Urlaubern Jahr um Jahr ein nachhaltiges Erlebnis auf dem Berg bieten. Diese Form des Wirtschaftens strebt der DAV an. „In seinem Grundsatzprogramm hat der DAV formuliert, dass touristische Wachstumsspiralen durchbrochen gehören und eine Ausweitung des Intensivtourismus abzulehnen ist”, sagt Julia. Dazu gehöre eben auch, Massentourismus zu reduzieren. Beide Vereine hoffen, Bergsportlern die richtigen Wege aufzuzeigen und dadurch auch Einfluss auf die Industrie auszuüben, schließlich hat der Bergsportler an sich ein politisches Potential: „Wir beeinflussen die Politik ja auch durch unser Verhalten. 10 Millionen Wintersportler sind auch eine Masse an Wählern,” sagt Max. Und da sind diejenigen, die sich nur im Sommer in den Bergen aufhalten noch gar nicht mitgerechnet. Verbieten oder zum Verzicht zwingen will hier allerdings niemand. Ob Skifahren oder Bergsteigen: Die Münchner sollen ihre Hausberge weiterhin genießen können, sollen sich einfach an bestimmte Spielregeln halten und für ihr eigenes Handeln Verantwortung übernehmen. „Jeder kann und sollte sein eigenes Verhalten regelmäßig hinterfragen und verbessern”, erklärt Julia. „Oft wird kommuniziert, dieser Klimaschutz bedeute Verzicht – sei es auf Fleisch, den Komfort des eigenen Autos oder die eine Woche Mallorca. Aber vielleicht sollte man es nicht Verzicht nennen, wenn man aufhört, auf Kosten der zukünftigen Generationen zu leben.” ▪

DAV – DEUTSCHER ALPENVEREIN • gegründet im Jahr 1869, über 1,2 Millionen Mitglieder • „Der Grundgedanke war, der Deutsche Alpenverein solle alle Verehrer der erhabenen Alpenwelt in sich vereinigen.“ – Theodor Trautwein, Gründer • größte nationale Bergsteigervereinigung der Welt • organisiert und verfügt über 321 Berg- und Schutzhütten • Ziel: früher Erschließung der Alpen durch Wege und Unterkunftshäuser, heute Naturschutz und Erfahrungsaustausch ► alpenverein.de

POW – PROTECT OUR WINTERS • gegründet im Jahr 2007 von Profi-Snowboarder Jeremy Jones • Ziel ist es, Klimaschutz in der Wintersport-Community zu verankern • über die folgenden Jahre entstanden viele nationale Ableger • im Januar 2017 gründete sich die deutsche Division • Fokus liegt im Raum München als wichtiger Standort von Industrie und Sportlern: Hier gibt es auch einen POW-Stammtisch ► protectourwinters.de

WAS KANN ICH SELBER TUN? • öffentliche Verkehrsmittel nutzen, wo es geht • wenn mit dem Auto, dann das Auto voll machen und Fahrgemeinschaften bilden • Ausrüstung lieber reparieren als neu kaufen • Müll wieder mit runter ins Tal nehmen • geplanten Routen von Touren (Wandern, Bergsteigen & Skifahren) folgen, um Tiere nicht aufzuschrecken und die Fauna zu schützen • Nachhaltig planen: Lieber für ein Wochenende in die Berge fahren als nur einen Tag. ► alpenverein.de/haltung-zeigen ► protectourwinters.de/handeln


DAS SYSTEM MILCH Milch kostet praktisch nichts, das ist toll! Oder doch nicht? „Das System Milch“ wirft einen ernüchternden Blick auf eine Branche, die aufgrund mächtiger Interessenverbände gar nicht nachhaltig arbeiten kann. Wirkliche Lösungen bietet die Doku nicht an, regt aber doch zum Nachdenken und dem bewussten Umgang mit einer wertvollen Ressource an.

UNSERE GROSSE KLEINE FARM Ein Paar beschließt, aufs Land zu ziehen und eine Farm zu gründen, die völlig natürlich sein soll – ohne Monokultur, ohne Gifte. Das ist manchmal etwas moralisierend, insgesamt aber doch beeindruckend hartnäckig, trotz zahlreicher Rückschläge, und zudem eine schöne Liebeserklärung an die Natur.

DIE WIESE – EIN PARADIES NEBENAN „Die Wiese – Ein Paradies nebenan“ nimmt uns mit auf deutsche Wiesen und zeigt uns dort die Vielfalt der Natur. Das geht angesichts der zahlreichen Tierbeispiele nicht ganz so in die Tiefe, vermittelt aber doch einen Eindruck, was sich alles dort draußen abspielt und wie wichtig der Kampf für Umwelt und Artenschutz ist.

UNSER SAATGUT Früher war alles besser? Darüber kann man sich streiten. Zumindest aber in der Landwirtschaft ist etwas dran, wie „Unser Saatgut“ zeigt: Mehr als 90 Prozent der Saatvielfalt ist inzwischen verlorengegangen. Die Dokumentation klärt darüber auf, auch über die Gründe und zeigt Versuche, die Vielfalt heute noch zu bewahren.

LAND DES HONIGS Das oscarnominierte „Land des Honigs“ stellt uns eine Mazedonierin vor, die im Einklang mit der Natur lebt und sich gleichermaßen liebevoll um ihre kranke Mutter und ihre Bienen kümmert. Der Dokumentarfilm führt dabei vor Augen, wie wichtig es ist, Teil dieser Welt zu sein – ein ebenso poetischer wie bitterer Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit.

ZEIT FÜR UTOPIEN Eine Reihe von Ansätzen auf der ganzen Welt, wie sich gemeinsam mehr Nachhaltigkeit er reichen lässt. Ob die Konzepte realistisch sind, ob sie überhaupt wahr sind, das bleibt hier immer etwas offen. Denkansätze für einen bewussteren Umgang liefert der Dokumentarfilm aber zweifelsfrei.

Mehr Filmtipps ► curt.de/muenchen/kultur/filme

TEXT: OLIVER ARMKNECHT

WIR HABEN EUCH EINE AUSWAHL AN DOKUS ZUSAMMENGESTELLT, DIE SICH MITLÖSUNGSANSÄTZEN AUSEINANDERSETZEN, MISSSTÄNDE AUFZEIGEN ODER DARAN ERINNERN, WARUM DER KAMPF FÜR DIE ZUKUNFT SO WERTVOLL IST.

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TEXT: LEA HERMANN // ILLUS: LENI BURGER

Wieso enthalten herkömmliche Putzmittel oft Duftstoffe und Tenside, die richtig scheiße für die Umwelt sind? Warum sind so viele Produkte in einer Packung nochmal einzeln in Plastik umhüllt? Und überhaupt geht das nicht alles irgendwie günstiger UND nachhaltiger? Hast du dich das alles auch schon einmal gefragt? Dann hat curt mit folgenden DIYs die Lösung.


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SCHNELL GEMACHTES SPÜLMASCHINENPULVER DAMIT DER WAHNSINN MIT DEN EINZELN VERPACKTEN SPÜLMASCHINEN-TABS EIN ENDE HAT DU BRAUCHST: 100 g Natron (Drogerie) • 100 g Soda (Drogerie) • 100 g Zitronensäure-Pulver (Mit Glück in der Drogerie oder online) • ein verschließbares Glas mit Einweggummi SO GEHT'S: Wiege alle Zutaten ab, schütte sie in ein Einmachglas und rühre alles gut durch. Fertig! Je nach Verschmutzungs-Grad des Geschirrs, verwendest du 1 – 2 TL pro Waschgang. Natron und Soda lösen den Schmutz. Die Zitronensäure enthärtet das Wasser und beugt Kalkablagerungen vor. Der Einweggummi verhindert, dass Feuchtigkeit ins Glas kommt und das Pulver dadurch verklumpt. Falls dir beim DIY-Pulver der „Frischeduft“ abgeht, kannst du eine ausgepresste Zitronenhälfte in den Besteckkorb legen. Nebenbei sorgt die Zitrusfrucht auch noch für mehr Glanz.

NATÜRLICHER WC-REINIGER MARKE EIGENBAU DAMIT DU WEISST, WAS DRIN IST UND EINER PLASTIKVERPACKUNG EIN ZWEITES LEBEN SCHENKST DU BRAUCHST: 2 EL Speisestärke • 500 ml Wasser • 2 EL Zitronensäurepulver • 100 ml abgekochtes und abgekühltes Wasser • Ein Schnapsglas voll Bio-Spülmittel • 5 Tropfen Teebaumöl • eine leere Flasche WC-Reiniger

SO GEHT'S: Verrühre mit einem Schneebesen die Speisestärke in einem Topf mit 500 ml Wasser und lass das Ganze köcheln. Rühre solange weiter, bis eine zähflüssige Masse entsteht, die an Kleister erinnert. Dann kannst du den Topf vom Herd nehmen. Die Speisestärke dient als Bindemittel für die anderen Zutaten. • Rühre das Zitronensäurepulver in das abgekochte und abgekühlte Wasser ein, bis es sich auflöst. Wartest du nicht aufs Abkühlen, entsteht ein schwerlösliches Zitrat und du musst das Ganze nochmal machen. Also aufpassen! • Vermische nun die Kleistermasse mit der Zitronensäurelösung und gib Spülmittel und Teebaumöl hinzu. Mixe alles kräftig durch. • Fülle das Gemisch in die leere WC-Reiniger Flasche. Achtung: Innerhalb von circa zwei Monaten aufbrauchen!


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GASTBEITRAG UND FOTOS: THOMAS VON WITTERN

Im Herzen Schwabings, Altbau, Parkett und hohe Decken, grüner Innenhof und repräsentatives Entrée, Straßencafés, der Elisabethmarkt fußläufig – kein schlechtes Leben im Sommer 2018. Und dann das! Ein Freund, Freigeist und fahrende Seele mit viel Lebenserfahrung wirft ihn mir wie beiläufig hin – den einen Satz: Was braucht es wirklich für ein gutes Leben? Formuliert in Österreich, mitten in Wien, präsentiert von zwei Menschen und einer innovativen Unternehmung. Marketing-Gag oder wirklich eine neue, gelebte Haltung in unserer Zivilgesellschaft? Es lässt mich nicht mehr los, ich will die Protagonisten persönlich kennenlernen. Meine Neugier ist gewaltig, als ich in das Büroatelier eintrete. Offene Kunsträume – als Büro, Gemeinschafts- und Seminarraum genutzt, um einen grünen Innenhof angeordnet – TINY-Neuland mitten in Wien. Jeder hat viel Raum für sich, aber braucht wenig Platz zum Sein – einfach TINY. Das Konzept von Theresa und Christian überzeugt mich, weil es gelebt ist in jedem Moment. Autar-

kes, gesundes und gutes Leben mitten in der Stadt und/oder mobil im Wohnwagon für überall. Ich bin angestoßen, aber wie geht es weiter? Was ist möglich in München und Umgebung? Was gibt es schon? Erschütternd wenig. Drei bekannte Initiativen, immer wieder zum Umziehen gezwungen, versuchen seit Jahren das Leben im Wagon zu etablieren, haben es aber sehr schwer, sich dauerhaft an einem Platz zu etablieren. Die Bürokratie und die Behörden sind noch nicht offen für TINY Living. SOMMER 2018 – Schicksal, plötzlich sucht Wohnwagon für einen eigenen Wagen einen Platz und Betreuung. Wenn nicht München, wo dann? Holz zu Holz – am Sägewerk in Eurasburg lerne ich Josef und seine Freunde kennen. Eine alte Säge aus den 50ern; Enthusiasten, die offen sind für Neues und viel Platz. Schon ist aus der Idee ein klares Konzept entstanden. Wir schaffen eine Möglichkeit zum Kennenlernen von TINY Living und dem Wohnwagon. Zum Anschauen, Informieren und Träumen. Für alle, die diese neue (alte) Lebensform kennenlernen wollen.


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OKTOBER 2018 – wir feiern ein Wochenende lang mit fast 300 Freunden, Mitstreitern und Interessierten die Einweihung unseres autarken Wohnwagons. Gesund und urgemütlich, höchste Wohnqualität auf 33 qm, umgeben von Holzvertäfelung und ökologischem Lehmputz im Innern, gewärmt von der Kraft der Sonne und dem knisternden Feuer im Kamin-ofen. Die Neugier der Besucher ist gewaltig, das Konzept überrascht und inspiriert. Viele wollen daran teilhaben – z. B. einmal Probewohnen in einer anderen Wohn- und Lebenswelt. Was geht? Was ist wichtig? Es geht nicht alles, aber alles was wichtig ist geht. Weniger ist mehr. Aber wie viel Platz, welche Dinge brauche ich wirklich? Die Tage im und mit dem Wohnwagon zeigen mir, den Gästen und Besuchern, was wirklich notwendig ist und schaffen viel Raum für Neues, Anderes, Kreatives, Lebendiges.

Wohnwagon auf unseren Festen. Erlebnisse im autarken Wohnwagon fürs Leben – von tiefem Schnee bedeckt, von der ersten Frühlingssonne gewärmt, von den atemberaubenden Sonnenuntergängen verzaubert und vom knisternden Kaminfeuer getragen.

FRÜHJAHR 2020 – wir haben den Wagon und das temporäre TINY-Experiment gelebt und gefeiert. Mit über 100 Probewohnen-Gästen, etwa 800 Interessenten am Platz und am

MEHR ZUM THEMA: ► wohnwagon.at ► einfach-gemeinsam-leben.info ► kleinwohnformen.ch ► tinyhousevillage.de ► tinyhouse-wendland.de ► muehle17.de ► olga089.blogsport.de

TINY habe ich in diesen Monaten als Privileg und Luxus wahrgenommen – das Alleinsein im Wagon, die Vorbereitung auf die Gäste und die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. TINY ist möglich, auch in einer Stadt wie München. Man muss nur wollen und mit dem Herz dabei sein. Das Geschenk der Reduktion ist weit größer, als ich es erwartet habe und öffnet Türen – zu sich selbst, zu Herzen von Menschen und einer neuen Perspektive des Zusammenlebens. TINY Living ist wertvoll und voller Erkenntnisse für ein gutes Leben.


TEXT: SONJA PAWLOWA // FOTOS: MORITZ JENDRAL

ZU FUSS

NACH LISSABON NACHHALTIG REISEN MIT MORITZ JENDRAL


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Wie ist es wirklich ist, klimagerecht zu reisen, zeigt der Münchner Fotograf MORITZ JENDRAL. Theoretisch weiß jeder, dass Pilgern wie im Mittelalter die persönliche CO2-Bilanz erheblich nach unten korrigiert. Aber Theorie und Praxis sind zwei Paar Wanderstiefel. Moritz hat begriffen: „Wir sind viel zu schnell unterwegs. Alles braucht seine Zeit“. Darum ist er 2200 Kilometer von Frankreich nach Lissabon zu Fuß gegangen. Über fünf Monate war er unterwegs. Dabei hat er mit seinen kleinen Schritten nur winzige ökologische Fußabdrücke hinterlassen und ein bisschen das Klima gerettet, aber vielmehr hat diese nachhaltige Reise einen nachhaltigen Abdruck in seinen Kopf hinterlassen. Es war seine Heldenreise, sagt er.

Zu den beliebtesten Zielen im Segment Städtereisen gehört Lissabon. Die Flüge sind billig und dauern nur etwa drei Stunden. Kurz ins Wochenende und Montag pünktlich zur Arbeit wurde noch vor wenigen Jahren von einer ganzen Generation BWL-Studenten als ultimativer Lifestyle betrachtet. Heute ist das verpönt. Flugshaming bringt zunehmend alternative Fortbewegungsmodelle hervor.Ob Segelschiff oder Schusters Rappen – wir müssen eine neue Art des Reisens ausprobieren.

Wir müssen unser Leben ändern Die Ausgangssituation für Moritz war ein Leben mit zuviel Stress, zuviel Strom, zuviel Arbeit am Computer anstatt Sport. Ausstieg aus der Beengung und ein freier Blick auf sich und die Welt sind also das Ziel. Aber kein neuer Stress mit Pathfinding oder Survival-Training. Eine lange Strecke zu Fuß ist Herausforderung genug. Wie hart ist es wirklich? „Ich konnte nicht mehr stehen. In den ersten vier Wochen habe ich mich abends ins Bett gelegt und auf mein Hemd gebissen. Die Füße haben so geschmerzt, als würde jemand meine Knochen brechen.“ Blasen hat Moritz nicht bekommen. Er schwört auf wright socks, gute Schuhe und eine Creme. Geht aber auch ohne, zum Beispiel barfuß wie eine Tschechin, die von Prag nach Spanien gewandert war, allerdings mit viel Hornhaut. Alle Wetter hautnah Aus der beheizten Bude das Klima zu retten fühlt sich deutlich anders an als Hitze, Kälte und Gegenwind. 25 km mit 15 kg Gepäck bei unterschiedlicher Steigung und nur sechs Stunden Tageslicht sind eigentlich genug. Wenn Unwetter und ein Hurrikan eine Brücke unterspülen, kann sich schnell ein Umweg von 10 km auftun und er muss bewältigt werden. Der Rucksack bremst im Wind, die Nässe geht durch und durch. Hilft nichts. Im Sommer bei 38 Grad Hitze von Schatten zu Schatten springen, ist ja auch kein Zuckerschlecken. ►


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Meine Entscheidung Wenn ich denke „der Tag wird kacke“, weil es regnet oder der Hunger auf die Laune schlägt, dann wird es garantiert ein Kack-Tag. Ein ironisch-humoriges „Juhu, es regnet“ bringt einen Lacher. Dann kann ich akzeptieren, wie es ist und den Flow finden. Und wenn es trotzdem zu hart kommt, kann man sich geistig immer noch wegbeamen. Erwartungen werden enttäuscht. Grundsätzlich so. Biblische Weisheit. Leckeres Essen und ein warmes Bett können Anreize sein, sich bei völliger Erschöpfung bis ans Etappenziel zu schleppen. Es kann anders kommen: Herberge zu, schlechter Koch. Oder auch besser als gedacht: Weggefährten oder zufällige Bekanntschaften finden – alle trinken gemeinsam einen Rotwein, Anis oder Portwein. Sie feiern sich selbst. Jeden Tag. Und dann wird erzählt. Vom persönlichen Crash, Krankheit oder Krise. Alle teilen alles und dann geht es weiter. Vom richtigen Zeitpunkt Ende September loszugehen hat einen Vorteil: Weniger Gedrängel. Pilgern auf dem Jakobsweg ist ja modern. Im Sommer beschreiten Tausende gleichzeitig denselben Camino. Nervig. Herbergen sind ausgebucht. Es ist heiß. Porsche-Pilger, die pünktlich in Santiago sein wollen. Moritz machte sein eigenes Tempo. Rentner joggten an ihm vorbei. Spontan bildeten sich aber auch Geh-Gemeinschaften. Manchmal für eine Etappe, manchmal für eine Woche. Doch gab es keine feste Formation oder Anführer. Wenn die Vorderen zu schnell gingen und die Entfernung zu den Hinteren zu groß wurde, mussten alle wie ein Wolfsrudel laut über die Bergkuppen heulen, um zu hören, ob noch alle dabei waren. ►



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Kein Ballast Moritz schickte 7 kg unnötiges Gepäck mit der Post nach Hause. Das Zelt, der Kochtopf, der Benzinkocher, das brauchte er nicht. Denn im Zelt zu übernachten, ist im Winter nicht möglich. Ganz schnell war klar: Einsamkeit ist ein Zustand, der nicht jedem taugt. Die Tage werden kürzer, die Nächte kälter. Hart, wenn man seinen Schweinehund im klammen Zelt mit nichts als sich selbst bekämpfen muss, findet Moritz. Das zusätzliche Gewicht, das sich aus dem Proviant ergibt, das Volumen eines wintertauglichen Schlafsacks, der Mangel an Toiletten und Duschen, Zelt auf- und abbauen – das macht Sinn im Sommer, im Winter schlechte Laune. In den Herbergen kann man waschen, ist aber teuer. Wäsche zum Wechseln der durchschwitzten Wanderkluft und ein paar Lagen gegen Regen und Kälte schaden nicht. Pilger stinken oft. Hygienefreaks sollten daheim bleiben. Der Weg ist das Ziel Wer klimaschädliche Transportmittel vermeiden möchte, muss nur zurückschauen. Ausgetretene Pfade wie der Jakobsweg sind erprobt und erschlossen. Eine kluge Entscheidung für einen Anfänger, weil er für Fußgänger die nötige Infrastruktur bietet. Die Jakobswege sind in Etappen von durchschnittlich 25 Kilometern eingeteilt, die auch nicht an Autobahnen oder Schnellstraßen entlang führen. Überall gibt es Herbergen und Wirte, die an Fußgänger gewöhnt sind. Moritz wollte sich nicht mit Planung aufhalten, sondern so schnell wie möglich los. Deshalb entschied er sich für die Strecke von Lyon nach Lissabon. Warum nicht fliegen? Die Geschwindigkeit nimmt der Reise ihren Wert. Darum Schluss mit der Fastfood-Haltung, sagt Moritz. Dass er aus dem Flugzeug unterwegs nichts sieht, ist für ihn als Fotografen ein Hauptmanko. Frankreichs mittelalterliche Dörfer und Landschaften in allen Farben des Herbstes, Spaniens schneebedeckte Berge am Horizont und eine wilde Gischt an der Küste Portugals, hat er mit der Kamera eingefangen. Insgesamt sind es 12.000 Fotos geworden. Du kannst bald eine Auswahl in einem ArtReiseführer sehen, an dem Moritz momentan arbeitet. Wir halten euch auf dem Laufenden. Und die Erfahrung „Ich kann das. Ich habe es geschafft“, die ist echt nachhaltig. ▪


Mit seinen revolutionären Ansichten war Diefenbach nicht nur seinen Zeitgenossen im 19. Jahrhundert, sondern auch den meisten heutigen Bewohnern Münchens eine Erkenntnis voraus. Einige Monate nach Beginn seines Studiums erkrankte Diefenbach schwer an Typhus und zog sich eine Thrombose im rechten Arm zu, die zum Schwund der Oberarmmuskulatur führte. Er therapierte sich in Eigenregie mit „naturgemäßer Lebensweise“ und wurde in der Folge ein vehementer Verfechter eines konsequent gesunden Lebensstils. Er ernährte sich ausschließlich von veganer Rohkost und verzichtete auf Alkohol und Tabakprodukte. Außerdem lief er barfuß und gerne auch ganz nackt umher, was dazu führte, dass er sich im ersten Nudistenprozess der Geschichte gegen die Anklage wegen „grobem Unfugs“ verteidigen musste. Wenn er Kleidung trug, dann waren es weite, luftige Gewänder, die den Körper nirgends einengten. Er schwor auf die gesundheitsfördernden Einflüsse von Sonnenlicht und

Es ist keine leichte Aufgabe, die schillernde Persönlichkeit K.W. Diefenbach in wenigen Worten zu umschreiben. Er war weit mehr als ein Maler – er war ein Kulturrebell. Als er 1872 im Alter von 21 Jahren zum Studium an der Kunstakademie nach München kam, war das wilhelminische Kaierreich begründet und der deutsch-französische Krieg gerade beendet. Mit seinen Themen Nacktheit, Natürlichkeit, Körperlichkeit und Freiheit wandte er sich gegen die autoritäre, prüde und materialistisch-mechanistische Welt des Kaiserreichs.

Eine Straße in Solln hat man zwar irgendwann lange nach seinem Tod nach ihm benannt – zu Lebzeiten hatte Karl Wilhelm Diefenbach es in München aber zwanzig Jahre lang schwer. Unter anderem als „Kohlrabi-Apostel" wurde er von seinen Zeitgenossen verspottet, so lange, bis der Maler und Visionär schließlich das Weite suchte.

SEINER ZEIT VORAUS

DIEFENBACH

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Staat als erlaubt erklärt und systematisch betrieben wird.“ Diefenbach blieb seinem Credo „Lieber sterben, als meine Ideale verleugnen!“ bis zuletzt treu. Seine letzten Jahre bis zu seinem Tod 1913 verbrachte er auf Capri und in Sorrent. Noch zu Lebzeiten erfuhr er die Anerkennung für seine Ideen, die ihm in München verwehrt geblieben war. ▪ TEXT: CHRISTIAN GRETZ // FOTO: WIKIPEDIA

Stattdessen gründete er nach seiner Rückkehr nach Wien eine Kommune mit rund zwanzig Anhängern, welche zwar nur zwei Jahre bestand, heute aber als Keimzelle vieler Alternativbewegungen des 20. Jahrhunderts gilt. Ob Friedensbewegung, Umweltbewegung, Kleiderreform, sexuelle, schöpferische oder religiöse Befreiung – viele Themen, die erst einige Jahrzehnte später wieder ins Gespräch kamen, wurden bereits damals diskutiert. Von einem seiner Schüler, Magnus Schwantje, der ein führender Tier- und Menschenrechtler wurde, stammt zum Beispiel die Fügung „Ehrfurcht vor dem Leben“, die oft Albert Schweitzer zugeschrieben wird. Diefenbach selbst schrieb 1893 in einem Brief an die spätere Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner: „In meinem Ringen nach der Lösung der Frage, wie der Mensch [...] zum grausamsten Vernichter des Lebens werden konnte, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass der Menschenmord nur die natürliche Folge ist des Tiermordes und dass er niemals [...] verschwinden wird solange Tiermord zu Ernährung in Gesellschaft, Schule, Kirche und

Im Jahr 1895 überquerte er zusammen mit seinen Kindern, deren Privatlehrerin und drei Schülern die Alpen und konnte nach einem kurzen Aufenthalt am Gardasee und dank der Unterstützung einer italienischen Herzogin für kurze Zeit nach Ägypten auswandern. Dort waren seine Gemälde gefragt und er konnte Kräfte sammeln. Er plante, seine Ideen für ein naturnahes Leben mit einer Wanderausstellung in ganz Europa zu verbreiten.

Vom Verein blieb letztlich nicht viel mehr als der Name – „HUMANITAS“. So nannte Diefenbach auch seinen Rückzugsort, das alte Steinbruchhaus in der Einöde von Höllriegelskreuth südlich von München. Dorthin zog er sich nach Verspottungen durch die Münchner Mitbürger und Schikanen der Behörden im Jahr 1885 mit seinen drei kleinen Kindern zurück und betrieb eine „Werkstätte für Wissenschaft, Kunst und Religion“. Nach einer erfolglosen Ausstellung seiner Gemälde in München verließ er die bayrische Landeshauptstadt Anfang der 1890er-Jahre und ging nach Wien. Dort wurde seine erste Ausstellung zwar ein Sensationserfolg, jedoch wurde er vom Direktor des Kunstvereins ausgebeutet. Diefenbach verlor sein finanzielles Vermögen und wurde obdachlos.

Um die „Schande“ eines zweiten unehelichen Kinds zu vermeiden, wurde Diefenbach von seinen Schwiegereltern in die Ehe gezwungen. Am Morgen nach seiner standesamtlichen Trauung im Januar 1882 hatte er eine Erleuchtung: Er hatte die Quelle allen Elends gefunden! Im Bestreben diese Erkenntnis mit seinen Mitmenschen zu teilen, gründete er zwei Monate später den Verein „Menschheit“, der sich der „Versöhnung der Menschheit mit der Natur, zu ihrer Erlösung“ widmen sollte. Um Säale für Vorträge über naturgemäße Lebensweis anmieten zu dürfen, stellte er gleich einen Antrag an den Magistrat der Stadt München. Zu ersten Vorträgen kam es allerdings erst 1884, zwei Jahre später.

frischer Luft – und das in einer Zeit, in der in den Städten die industrielle Massenproduktion von Wirtschaftsgütern erstmals richtig Fahrt aufnahm, die Schlote der Fabriken rauchten und in denen meistens Menschen ohne Urlaubsanspruch und abgeschottet von der Natur arbeiteten.

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TEXT: PETRA KIRZENBERGER // FOTO: THOMAS VONIER ► foto.thomas-vonier.de


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Die EXTINCTION-REBELLION-Bewegung, ursprünglich aus Großbritannien stammend, agiert inzwischen weltweit. Ihre Hauptforderung: Die Netto-Emissionen von Treibhausgasen in Deutschland sollen bis zum Jahr 2025 auf null gesenkt werden. Die Fakten liegen auf dem Tisch – und zwar nicht erst seit dem Report des Weltklimarats (IPCC) vom Oktober 2018: Durch den Klimawandel stehen wir vor dem ökologischen Kollaps. Die drohende Klimaerwärmung birgt für Mensch und Umwelt große Risiken. CO2-Ausstoß, Fracking, Rodungen, Massentierhaltung, Überfischung und Vermüllung der Meere bedrohen das Leben auf unserem Planten. Das Aussterben der Menschheit in absehbarer Zukunft ist ein durchaus reales Szenario. Millionen von Menschen leiden bereits jetzt an den Auswirkungen von Dürren, Überschwemmungen und Verteilungskriegen. Regierungen missachten diese Tatsachen trotz der elementaren Bedrohung. Ihre Entscheidungen und Aktionen stehen in keinem Zusammenhang zu der fortschreitenden Zerstörung unseres Lebensraums. Und sie missachten das Recht der Öffentlichkeit, umfassend und wahrheitsgemäß über Risiken und Ausmaße informiert zu werden. XR ruft zur gewaltfreien Rebellion auf, um die Klimakatastrophe abzuwenden und unser Überleben zu sichern. Zu diesem Zweck organisieren die Rebellen verschiedenste Aktionen, Trainings, Vorträge und Demos. ► extinctionrebellion.de/og/muenchen

FORDERUNGEN DER XR SAGT DIE WAHRHEIT: Regierungen müssen die volle Wahrheit über die ökologische Krise offenlegen und dieses gemeinsam mit den Medien klar kommunizieren.

Die RED REBELS sind eine Street-Art-Performance im Rahmen von EXTINCTION REBELLION. Zu diversen Kundgebungen und Protestaktionen hüllen sich XRMitstreiter in rote Gewänder, das Gesicht mit weißer Farbe bemalt, die Augen schwarz betont. Ihr Auftritt ist bemerkenswert – geheimnisvoll, mystisch und wie von einer anderen Welt vermitteln die Red Rebels das Gefühl, eine Zukunft zu kennen, die uns noch verborgen ist. Ihre Selbstbeschreibung ist ebenso poetisch wie ihre Performance: „Die Red Brigade symbolisiert das Blut, das wir mit allen Lebewesen teilen, das uns verbindet, das uns zu Einem macht. So bewegen wir uns als Eins, handeln als Eins – und fühlen als Eins. Wir sind untrennbar miteinander verbunden und empfinden mit allem, was uns umgibt. Wir sind Vergebung, wir sind empfänglich und demütig, voll Mitgefühl und Verständnis.“

NETTO-NULL BIS 2025: Es muss eine umfassende „Klimamobilisierung“ erfolgen, um verbindlich festgelegte Klimaziele – u. a. die Reduktion der CO2-Emissionen auf null bis 2025 – zu erreichen. Der Ressourcenverbrauch muss drastisch reduziert werden.

Die Red Rebels wollen die Herzen der Menschen berühren, sie zum Staunen bringen und sie inspirieren. Sie stehen für Hoffnung und den Wandel, den wir alle gemeinsam möglich machen können!

OLITIK NEU LEBEN! Die Regierung muss eine BürgerInnenversammlung für die notwendigen MaßnahP men gegen die ökologische Katastrophe einberufen und nach deren Beschlüssen handeln.

► redrebelbrigade.com


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RENAISSANCE DER NACHHALTIGKEIT

TEXT: TONI GROSS // ILLUS: YAEL CURI

Viele wiederverwendbare Produkte erleben gerade ihren zweiten Frühling. So auch das tolle Bienenwachspapier, welches beispielsweise als Ersatz für die verteufelte Alufolie dient, um das schmackhafte Pausenbrot einzupacken. Die Denkweise der Menschen verändert sich. In immer mehr Köpfen ziehen Nachhaltigkeitsgedanken ihre Kreise. Save the Planet! Der Umwelt zu Liebe! Und wie das am besten? Na, durch zum Beispiel nachhaltige Produkte, wie eben das Bienenwachspapier. Nur warum erst jetzt? Frühere Generationen, unsere Großeltern, kannten viele Dinge bereits. Es ist also nicht neu. Es ist nur in Vergessenheit geraten. Jedoch trägt der aktuelle Hype dazu bei, viele dieser Produkte wieder aufleben zu lassen.


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Wer kennt sie nicht, die Jutebeutel. Vor ein paar Jahren, waren sie bereits das Must-Have der Hippster-Kultur. Das Accessoire, was auf gar keinen Fall fehlen durfte, wenn man sich auf die Straße wagte. Nun ersetzt das gute Stück wieder unsere Plastik- und Papiertüten, bei unseren täglichen Einkäufen im Supermarkt. In eben diesem hat sich auch ein weiteres Fabrikat seinen Platz zurückerobert. Durchforstet man die Obst- und Gemüse abteilung, lassen sich, zwischen den Nischen der einzelnen Warenkörbe, wiederverwendbare Obstnetze entdecken. Zum Teil etwas moderner als früher und mit einem gepimpten Zug-Stopp-Verschluss, damit auch nichts verloren geht, erfüllen sie einfach aber genial ihren Zweck.

Bleiben wir beim Einkaufen, wechseln jedoch in die Drogerieabteilung. Lässt man seine Blicke über die Regale schweifen, wird man neben den herkömmlichen und bekannten Shampoos nicht nur moderne und v. a. vegane Bestseller entdecken. Nein, nein! Die gute alte Seife hat ihren Platz in diesem Regal zurückerobert. Ob zum Einseifen des Körpers oder speziell für die Haare, das Waschstück steht zur Abholung, sogar in diversen Duftnuancen, für dich bereit. Und wieder etwas Plastik gespart.

Wenn man aufs Ganze gehen will, stehen einem zum gewöhnlichen Supermarkt auch immer mehr „Keine/Ohne-VerpackungsLäden“ zur Verfügung. Hier nimmt man seinen Jutebeutel, sein Obstnetz und andere Behälter in die Hand und füllt nur die Mengen ab, die man eben gerade auch braucht. Super Ding. Der gute alte Tante Emmaladen ist wieder da. Das alles gab‘s schon mal. Zu Omas Zeiten. War denn früher alles besser? Oder ist Nachhaltigkeit auch so etwas wie Mode? Kommt alles wieder? Oder hat sich tatsächlich die Denkweise der Menschen verändert? Man kann es nur hoffen. #fragOma, um weitere nachhaltige Produkte wiederzuentdecken oder sogar neu zu erfinden. ▪


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VOLL AUF DEM E-GO TRIP

TEXT: CHRISTOPH BRANDT

München – wo Selbstüberschätzung wichtiger ist als Sicherheit und wo es augenscheinlich mehr Stau fördernde Baustellen als befahrbare Straßen gibt – hat sich im Sommer letzten Jahres eine weitere Plage eingehandelt: den gemeinen Elektro-Scooter. Ich für meinen Teil fand die Dinger schon räudig, als sie zwar keinen Motor, dafür drei Räder besaßen und man sie mit einem spackigen Knauf steuerte. Die sogenannten Kickboards waren ein klassisches 1:0 für die natürliche Selektion. Und ich dachte, es existieren bereits Segway-Touren, um von Weitem herauszufinden, wer die Schwachmaten der Gesellschaft sind. Das ist wohl auch der Grund, weshalb ein Großteil der E-Scooter-Nutzer sich vor der Fahrt hemmungslos die Kante gibt. Schließlich kann nur so die soziale Schmach überwunden werden, sich mit dem peinlichen Vehikel in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Oft steht man mindestens zu dritt auf einem Gefährt, weil der schnapsselige Flachlandtiroler am Lenker seinen Führerschein auf dem Nintendo abgelegt hat und ergo mutmaßt, dass sich sein beachtlicher Promillewert auf mehrere Mitfahrer verteilen lässt. Die hiesigen Herren in Blau haben ob der süßesten Versuchung, seit es Nullchecker gibt, bis dato sage und schreibe knapp 2000 Lappen einkassiert. Von wegen „Letzte Meile“, das kannste einem erzählen, der die Hose hinten zumacht. Obwohl in München derzeit ca. zehn Anbieter mitmischen, werden die Leihroller in den Randgebieten eher selten gesichtet. Was ein Jammer, denn dort, wo die Haltestellen sehr weit auseinander liegen, würden die Scooter ja sogar einigermaßen Sinn machen. Je näher man sich aber Richtung Marienplatz bewegt, desto häufiger begegnet man unbedarften Kamikaze-Winzlingen oder vitalen Teilzeit-Adoleszenten auf ihren Spritztour-Spaßmobilen. Als ob die Teilnahme am Straßenverkehr auf den zu schmalen Radschutzstreifen für Normalsterbliche wie mich nicht schon abenteuerlich genug wäre.


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In Sekundenbruchteilen konvertiert ein flinker Hipster zu einem Gravitationsopfer namens Gipster. Total im Beastmode trifft der Proll-Pumper (10.000 Volt in den Armen, aber im Kopf leuchtet das Birnchen nicht) auf die fast lautlos vor sich hin surrende Rollmops-Prinzessin Zeppelin. Mit der Aerodynamik eines Mehrfamilienhauses deployt sie rasch die Kinnbremse, aber da hilft auch kein NaturNeopren, Specki Buletti knallt direkt aufs Oblatengesicht. Dazwischen flucht ein flanierender Renter „Deutsche Panzer rollen wieder!“ und rettet sich durch einen beherzten Köpper in die Botanik. Ich plädiere daher für die Helmpflicht fürs Fußvolk. Dazu wird jeder verunfallte E-Tretrollerfahrer ohne Wenn und Aber zum Organspender und was von ihm übrig bleibt, pumpt man vorsorglich gehörig mit Anti-Idiotika voll. Bei der Vorstellung, dass sich demnächst neue Rockerbanden wie die „Rolls Angels“ formieren, schießt mir echt die Milch ein. Dann sind da noch die Juicer, die mit ihren Diesel-Feinstaubschleudern halbleere E-Scooter einsammeln und jene für ein paar Kröten bei sich daheim in Hinterdupfing mit Strom beladen. Weil dies jedoch Nacht für Nacht geschieht, sieht kaum einer, was der geschäftstüchtige Saftspender zur Ökobilanz beiträgt, nämlich CO2 in Hülle und Fülle. In punkto Nachhaltigkeit ist das trendige Fortbewegungsmittel derzeit genauso überflüssig wie ein Furz im Käseladen. Dafür ist deren Qualität viel zu schäbig, die Haltbarkeit gleicht einer Eintagsfliege und die Entsorgung in der Isar trägt wenig zur Verschönerung des Stadtbilds bei. Es tangiert mich rektal, dass sich allerorten von Hunden vollgepinkelte Rollerhalden auftürmen. Selbst frierende Penner auf dem Bürgersteig müssen sich inzwischen gegen ihren Willen mit Überresten aus Trittbrettern und Lenkstangen zudecken. Last but not least stellt sich mir die zentrale Frage: Wenn die Elektro-Flitzer ständig auf den ganzen Fahrradwegen herumstehen, wo soll dann bitte die „Fridays for Hubraum“-Schickeria zukünftig ihre SUVs parken? ▪


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DER

ANDT

WEINBR

RÄT

TEXT: CHRISTOPH BRANDT

INGWER NARRISCH! Nachdem der weinbrandt seinen leidigen Leber-Case und die ärztlich angeordnete Alk-Askese mit Bravour überstanden hat, lebt er von nun an prophylaktisch. In letzter Konsequenz will er ehestens in ferner Zukunft möglichst vital ins Gras beißen. Wer steht lukullisch hoch im Kurs, ist scharf wie Nachbars Lumpi und Best Buddy von Fonsie Schuhbeck? Fast richtig! Der weinbrandt mag zwar die schärfste Chili am Strauch sein, aber diesmal geht es de facto um Zingiber officinale, angeberisch für Ingwer. Unser Gewürz-Guru vom Platzl hat seiner Lieblingsingrediens buchstäblich die Freistaatsangehörigkeit verliehen. Es ist null übertrieben und mitnichten eine G’schicht’n aus’m Paulanergarten, dass die exotische Speise jede Menge

Vitamin C, Magnesium und Eisen enthält. Ist dem weinbrandt blümerant, schützt die Knolle vor Erbrechen und trägt mit ihrer antibakteriellen Wirkung zu einer gesunden Darmflora bei. Lediglich an der seifigen Note scheiden sich so manche Geister. Was liegt daher näher, als die eigentümliche Wunder-Wurzel mit einem vollmundigen Allheilmittel zu vermählen: Bayerischem Flüssigbrot.

Radler, ist jedoch durch das ungleiche Mischverhältnis relativ kräftig. Trotz der ausgeprägten Zitrusnoten, bleibt das Bierempfinden stets smooth im Vordergrund. Keinesfalls darf man Ingwer Narrisch mit Ginger Beer verwechseln. Denn Ersteres verfügt über zünftige 4,6 Volumenprozent. Und Letzteres ist tatsächlich eine alkoholfreie Limo und eignet sich vorrangig für Cocktails wie den ominösen Munich Mule.

2018 hatten Alex und Sigi in ihrer Giesinger WG-Küche exakt dieselbe geniale Eingebung. Rasch wurde der Entsafter angeschmissen und sich solange am Forschungsdrang berauscht, bis die stimmigste Formel gefunden war: 84 % hopfiges Märzen aus Rosenheim, addiert mit 16 % feurigem Bio-Ingwer-Sirup aus Holzkirchen, ergeben ein süffiges Biermixgetränk mit gehörig Bums drin. Der Markenname ist übrigens einem ganz bestimmten Ausruf entlehnt. Als Hans Krankl 1978 bei der „Schmach von Córdoba” das Siegtor gegen Deutschland erzielte, brüllte der österreichische Kommentator Edi Finger völlig ballaballa ins Mikro: „Ingwer Narrisch!!!”

Präventiv bevorzugt der weinbrandt weiterhin die Desinfektion von innen. Wenn die Virenhemmer noch naturbelassen, nach dem Reinheitsgebot und mit ein paar Umdrehungen daherkommen, vorsorgt er für sein Leben gern.

40 Jahre später gibt es endlich das adäquate Getränk zum berühmt berüchtigten Gejohle. Obacht, es geht potentiell schon in Richtung

Der weinbrandt rät: Ein bisschen scharf muss sein, dann ist die Welt voll Sonnenschein! Sollten sich Trübstoffe am Flaschenboden absetzen, ist das natürliche Stärke und Teil des Geschmacks. Also immer dran denken, erst einmal sanft schwenken! Verkaufsstellen findet ihr unter ► ingwer-narrisch.de


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Die letzten Boazn Münchens aus 8 Stadtteilen zusammengefasst in einem Kartenspiel.

PRÄSENTIERT VON

Für 8,90 Euro (inkl. MwSt. und Versandkosten) online bestellbar auf boazn-quartett.de


CURT-CLEANUP AN DER ISAR. FOTOS: MICHAEL WENIGER, LEA HERMANN

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Impressum // curt 97

CURT MAGAZIN MÜNCHEN Widenmayerstr. 38, 80538 München

CvD & ART DIREKTION Melanie Castillo ► mel@curt.de

SCHLUSSREDAKTION &LEKTORAT Birgit Bramlage, Heike Fröhlich, Toni Gross

LITHO & FINAL COUNTDOWN Petra Kirzenberger ► petra@curt.de

DRUCK Mühlbauer Druck ► muehlbauer-group.de

ÜBER UNS

DIE MITARBEITER*INNEN DIESER AUSGABE

curt München erscheint 2 x im Jahr als monothematisches

Melanie Castillo, Petra Kirzenberger, Tim Brügmann, David

Magazin in einer Auflage von 5.000 – 10.000 Stück (je nach

Eisert, Nurin Khalil, Sonja Pawlowa, Yael Curi, Lea Hermann,

Finanzierungslage) und ist gratis.

Simone Reitmeier, Lara Freiburger, Christoph Brandt, Julia Maehner, Stephie Scherr, Julia Fell, Lisa Lindhuber, Toni Gross,

Das ehrenamtliche Projekt ist der idealistischen Zusammen-

Lukas Nickel, Oliver Armknecht, Christian Gretz, Lena Gerbert,

arbeit vieler kreativer Köpfe zu verdanken, die sich auf unserer

Basti Dürst, Michael Weniger, Carina Neumann, Birgit Bramlage,

unkonventionellen Plattform austoben. 100 % DIY. Non-profit.

Heike Fröhlich, Thomas von Wittern und Thomas Karpati.

Romantik pur! Auch bei curt mitmachen? Bitte Mail an ► muenchen@curt.de Der Druck des Magazins wird durch Anzeigen finanziert. Danke an alle, die uns unterstützen! Wir fahren die Ausgaben in der Stadt selber aus – falls also mal unser Magazin-Aufsteller leer sein sollte, sagt bitte kurz an und wir bemühen wir uns um Nachschlag. Das jeweils aktuelle Magazin könnt ihr euch auch nach Hause bestellen. ► curt.de/muenchen/curt-bestellen

DIE CURT-DEALER DER STADT Feierwerk, Backstage, City Kino, Café Kosmos, Bergwolf, Trachtenvogl, Münchner Volkstheater, Metropoltheater, Muffatwerk, Münchner Kammerspiele, Corleone, deinkiosk.de, Glockenbachwerkstatt, Neues Maxim, Valentin Stüberl,

# 94 ERSCHEINT IM HERBST 2020 Auf curt.de/muenchen findet ihr unsere vergangenen Printmagazine als e-paper. Außerdem empfehlen wir euch auf dem Blog Events, Konzerte, Musikalben, Filme, Theater und Pipapo. Und verlosen massenhaft Freikarten.

► curt.de/muenchen ► facebook.com/curt.muenchen ► instagram.com/curtmuenchen ► twitter.com/curtmuenchen

Gorilla-Bar, Laden, Südstadt, Substanz, Kooks, Import Export, Santo Anger, Hotel Krone, Literatur Moths ... Solange wir coronabedingt nicht bei unseren curt-Dealern auslegen können, kommt unser Magazin entweder direkt zu

Ein Nachdruck der Texte oder Fotos in curt – auch im

euch per Post oder über alternativ ausgetüftelte Stationen.

Internet – ist nur mit schriftlicher Genehmigung gestattet.

Alle Infos dazu findet ihr auf curt.de/muenchen.

Sonst: Beule!


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#curtpräsentiert

KONZERTE Die gewohnte Übersicht unserer Konzert-Präsis im Magazin mussten wir aus gegebenen Umständen für diese Ausgabe leider kicken. Auf ► curt.de/muenchen halten wir euch auf dem Laufenden, wie es um die Konzertabsagen bzw. -verlegungen steht und verlosen massig Freikarten.


STICKEREI

SIEBDRUCK

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OFFSETDRUCK

TEXTILDRUCK

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VEREDELUNG

www.muehlbauer-druck.de


KAMMER 24 STUNDEN LANG, THEATER FÜR ZU HAUSE


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