curt Magazin München #91 // Zeit

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curt. STADTMAGAZIN MÜNCHEN # 91 // FRÜHJAHR/SOMMER 2019

curt. STADTMAGAZIN MÜNCHEN # 91

ZEIT


27/04 – 05/05

RADIKAL JUNG 27/04 – 05/05 CAFÉ POPULAIRE UA Regie: Nora Abdel-Maksoud DURÉE D‘EXPOSITION UA Regie: Camille Dagen MEDUSA BIONIC RISE UA Künstlerische Leitung: THE AGENCY ANGSTPIECE UA Regie: Anta Helena Recke DIE HAUPTSTADT ÖE Regie: Lucia Bihler [50/50] OLD SCHOOL ANIMATION UA Regie: Peter Mills Weiss und Julia Mounsey YUNG FAUST Regie: Leonie Böhm DRITTE REPUBLIK UA Regie: Elsa-Sophie Jach und Thomas Köck AMSTERDAM DSE Regie: Sapir Heller

RADIKAL

JUNG ..

DAS FESTIVAL FUR JUNGE REGIE

REVOLT. SHE SAID. REVOLT AGAIN. DSE MAR-A-LAGO UA Regie: Christina Tscharyiski WHITE [ARIANE] UA Regie: ARIAH LESTER OPERATION KAMEN UA Regie: Florian Fischer DER MIETER Regie: Blanka Rádóczy UM DIE WETTE Regie: Philipp Moschitz KARTEN 089. 523 46 55 www.muenchner-volkstheater.de


VORWORT

Vor ein paar Tagen klingelte mein Handy und im Display erschien meine eigene Nummer. Aus Neugierde ging ich ran und meldete mich mit „Hallo?“. „Hallo?“, schallte es zurück und klang wie ein Echo meiner eigenen Stimme. Fehlschaltung, dachte ich und wollte auflegen, da sagte die Stimme: „Wer spricht da, hier Thomas?“ Ich stutzte etwas – die Stimme hörte sich verdammt nach mir an – und antwortete: „Hier auch Thomas, wie weiter?“ Die Stimme (also meine Stimme) antwortete: „Okay, nicht auflegen jetzt und vielleicht ist das hier eine Verarschung, aber hier ist Thomas und ich rufe an aus dem Jahr 2045. Ich habe so eine komische App geschickt bekommen, mit der man sich selbst in der Vergangenheit anrufen kann. Hat das geklappt, bist du noch dran?“ Ich legte auf. Da klingelte das Telefon erneut, wieder meine Nummer. Ich ging ran. „Was soll der Scheiß? 2045, dass ich nicht lache, wir haben 2019. Und im Jahr 2045 bin ich hoffentlich schon in Rente und liege irgendwo am Strand unter Palmen in einer Hängematte und mache keine Telefonstreiche. Also, Arschlecken, und ruf hier nicht mehr an, klar?“ „Heyheyhey, sagte die Stimme, alles gut, nicht aufregen, hör gut zu. Ich bin es wirklich, also besser gesagt, du. Und das mit dem Am-Strand-Liegen hat irgendwie nicht so gut geklappt, weil durch Faulheit ist noch niemand aus Mitteleuropa an den Strand gekommen. Aber das kriegen wir noch hin.“ Ich schwieg. „Pass auf, ich habe alle Lottozahlen ab 2019 parat, ich diktiere dir die runter. Du spielst fleißig – also ich, wir … egal – und dann wird das große Rad gedreht, alles klar?“ „So Zurück-in-die-Zukunft-mäßig, der Almanach, richtig? Und du bist Biff? Respektive ich, wir?“ „So ähnlich, ist doch spitze, oder? Also hier, Samstag, vierter Mai: fünf, achtzehn, dreiund…“ „Okay, das reicht, ich will nichts mehr hören!“, unterbrach ich mich. „Häh? Spinnst du? Los jetzt, schreib mit, ich will reich sein!“ „Tja, zu spät jetzt, schätze ich. Viel Spaß bei der Rente und ruf mich nicht mehr an, du Arsch, klar?“, gab ich zurück und legte auf. Das Telefon klingelte noch einige Male, bevor ich meine eigene Nummer blockierte und endlich meine Ruhe vor mir hatte. Ich arbeite echt hart daran, zu verdrängen, dass ich meine Zeit sinnvoller nutzen könnte, und da brauche ich echt niemanden, der mich auch noch daran erinnert. Ich dübelte zwei Haken in die Wohnzimmerwände, spannte meine Hängematte dazwischen und legte mich mit einem Bier in der Hand hinein. Ich: 1, Zukunfts-Ich: 0. Danke. Bitte. Viel Spaß beim Vertun eurer Zeit Euer Thomas


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# 91 COVER Illustration: Ronit Wolf ► ronitwolf.jimdo.com

06 Faktencheck 08 Vom klugen Umgang mit der Zeit Im Gespräch mit den Zeitforschern Karlheinz und Jonas Geißler 18 Münchner Zeit Uhren der Stadt 22 40 Jahre Kultur Die Glocke feiert Jubiläum 30 Der Zahn der Zeit Ein gar erschreckender Blick auf den Verfall 34 In Perlach ticken die Uhren noch anders 42 Selbstversuch Happy Hour 46 #curtpräsentiert Kartenverlosungen für Konzerte und Festivals 52 15 Jahre dunk!Festival Postrock in Belgien 54 Zeitzeugen Narben Fotostrecke 62 Die Zukunft ist nicht greifbar Im Gespräch mit einem Ex-Häftling 70 Kunst braaucht Zeit „Tagebuch einer Liebe” im Hofspielhaus 74 Bilderrätsel Redewendungen zum Thema Zeit 76 Brotzeit ist die schönste Zeit 80 Was ist das für 1 Zeit? Jetzt vs. früher – ein Vergleich 84 Hotel Krone Aus der Zeit gefallen 86 Gleichtakt Historische Tänze heute 92 Endzeit 97 Impressum


metropoltheater.com


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on

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Mirjam

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8 MONATE

Rund gehen im Leben drauf für das Löschen unerwünschter E-Mails.

Zeit unseres Lebens sitzen wir etwa

230

Tage, also 0,6 Jahre, auf de m

K lo

In 70 Jahren Lebenszeit küssen wir etwa

100 000 Mal. Ein durchschnittlicher Kuss dauert dabei rund 12 Sekunden. Der Weltrekord liegt bei 58 Stunden, 35 Minuten und 58 Sekunden.

Diese F rage kostet Frauen zwisch en ihre m 16. un d 60. Lebens jahr et 9,5 Mo wa nate ihrer L ebensz eit.

Was ziehe ich an?

Studie de hauses M s britischen Mod eatalan, 20 09

Sim

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Männer brauchen in der Regel mehr Zeit als Frauen.

AK

6 Stunden

Der durchschnittliche deutsche User verbringt täglich etwa mit internetfähigen Geräten oder Diensten. Das entspricht circa 1/3 seines Wachzustands.

Lebenszeit in Deutschland WHO-Studie von 2018

83,0 Jahre

78,2

Jahre


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Unser Leben in Zahlen P.M. 01/2014

Jahre

Monate

Schlafen

1 2

1 2

0 8

Unterhalten

TV

Arbeiten

Jahre

2 Jahre, 10 Monate Klatsch & Tratsch

0 2 0 6

0 5 Jahre

Jahre Jahre

Essen

Monate Monate

Autofahren

0 1 0 7

1 6

Sport

Putzen

Jahre

Jahre

Monate

Monate

Jahre Jahre

Schule

1 2 Monate

Kultur

Kino, Theater, Konzerte

0 3

0 2

Spielen

Kneipe

Arzt

Beten

mit eigenen Kindern

Monate

Monate Monate

und Weiterbildung

0 3 Monate

459.000

Stunden [ca. 52 Jahre] in der Blechlawine aus. Erstmals war nicht München mit jährlich 140 Stunden Stillstand Staumetropole, sondern Berlin mit 154 Stunden.

0 1 1 0

0 9 Monate

Jahre

2018 harrten Autofahrer in Deutschland rund

Wochen

0 9 Monate

Haushalt

Waschen und Bügeln

Pro Jahr warten wir etwa ...

156 Stunden vor dem Computer [75 Stunden Ladezeiten von Anwendungen].

BITTE WARTEN SIE!

6,75

Stunden beim Arzt.

6 Stunden

an der Kasse.


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TEXT: DAVID EISERT // FOTOS: LARA FREIBURGER

MEHR RHYTHMUS FÜR DIE STADT VOM KLUGEN UMGANG MIT DER ZEIT IM GESPRÄCH MIT DEN ZEITFORSCHERN KARLHEINZ UND JONAS GEISSLER

„Zeit kann man nicht sparen, nicht managen, nicht verlieren. Man kann mit der Zeit nur eines machen: sie leben.“ Karlheinz und Jonas Geißler beschäftigen sich als Zeitforscher intensiv mit dem Phänomen Zeit in unseren Gesellschafts-, Bildungs- und Wirtschaftssystemen. Als Gründer von timesandmore, einem Institut für Zeitberatung, bieten sie Vorträge, Workshops und verschiedene Beratungsformate an, um den eigenen Umgang mit der Zeit anders zu denken und individuelle Zeitkompetenz zu entwickeln. Ihr aktuelles Buch „Time is honey“ ist ein Plädoyer, die Zeit als eine gute Freundin und eine Bereicherung für das Leben zu sehen – und nicht als Belastung, die sich durch volle Kalender und permanenten Termindruck auf das Gemüt schlägt. Für curt haben sich Vater und Sohn einen Nachmittag Zeit genommen, um darüber zu sprechen, wie eine Stadt auch jenseits der Uhr von der Zeit durchdrungen ist.


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Jonas GeiĂ&#x;ler, Jahrgang 1979, Berater und Autor


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Was reizt Sie daran, zum Thema Zeit zu forschen, und welche Ansätze verfolgen Sie? JONAS GEISSLER: In meiner jetzigen Arbeit reizt mich die immense Bandbreite von welt- bzw. lebensphilosophischen bis zu ganz alltäglichen Fragen. Mit der Sicht durch eine zeitliche Brille möchte ich gerne eine andere Perspektive vermitteln, um zu neuen oder anderen Schlüssen, Ideen oder Bewertungen der Dinge zu kommen. Diese Perspektive ist für viele Menschen zunächst ungewöhnlich, denn Zeit ist für die meisten Menschen immer noch negativ besetzt. Und dem möchten wir dagegensetzen, dass Zeit nicht nur Money ist – etwas, dem ich hinterherhetzen muss und das mir immer fehlt –, sondern dass Zeit eben auch Honey ist: etwas Schönes und Verlockendes. KARLHEINZ GEISSLER: Was wir gemeinsam haben, ist, dass das Thema an alles anschlussfähig ist. Alles, war wir im Leben tun, ist zeitlich. Zeit ist ein Phänomen, das jedem Denken und jeder Handlung zugrunde liegt. Es geschieht nichts auf dieser Welt außerhalb der Zeit und außerhalb des Raumes. Das ist das Faszinosum an der Zeit. Und wenn ich mir das Leben erklären will, dann muss ich über die Zeit nachdenken. Verstehe ich Sie richtig, dass sich unsere Zeitbilder einem gewissen Weltbild unterordnen? Von den Ressourcen, die es auf der Welt gibt, scheint die Zeit diejenige zu sein, die unendlich vorhanden ist. J. G.: Die Vorstellung von Zeit ist ein Teil der Weltbilder, mit denen wir uns unsere Welt konstruieren, um sie für uns erlebbar und handhabbar zu machen. Die Zeitbilder sind häufig nicht bewusst, sondern implizit. Wir werden ja nicht mit einer bestimmten Zeitvorstellung geboren – ob wir z. B. immer der oder die Erste sein wollen –, sondern wir haben das erlernt. Und deshalb sind sie kontingent. Man kann sie also verändern oder auch verlernen, um stimmigere Zeitbilder zu entwickeln.

Sie weisen gerne darauf hin, dass Sie sich nicht als Experten für Zeitmanagement-Methoden verstehen. K. G.: Womit wir tatsächlich große Schwierigkeiten haben, sind die Angebote zum Zeitmanagement. Das klassische Zeitmanagement ist letztlich ein Uhrzeit-Management. Und wir sehen die Uhr zwar als ein wirksames Hilfsmittel, aber auch als eine Ursache für unsere Zeitprobleme. Und dieses Zeitmanagement, das auf die Uhr ausgerichtet ist, ist nicht unser Thema. Sie haben lange an der Universität der Bundeswehr gelehrt. Wie hat sich dieses besondere Umfeld auf Ihre Forschung ausgewirkt? K. G.: Das Militär hat eine bestimmte Funktion in der Erziehung der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitverständnis. Das Militär ist ein System, das auf die Uhrzeit hin erzieht und nicht auf die Zeit an sich. Deshalb macht das Militär immer Zeitdruck, weil die Uhrzeit den Zeitdruck macht. Paradoxerweise gibt es beim Militär aber gar keinen Grund, Zeitdruck zu machen, solange kein Krieg geführt wird. Das Militär erzieht zum Zeitdruck, obwohl das Wichtigste beim Militär das Warten ist. J. G.: Hier sieht man, wie viel Mühe aufgewendet wird, um die eigene Existenzberechtigung aufrechtzuerhalten. Und das lässt sich auch gut auf die Wirtschaftswelt übertragen. Wenn ich an meinem Arbeitsplatz sitze und Zeit habe, dann ist das erst mal verdächtig. Und deshalb entwickeln die Leute Muster, die signalisieren, dass ihre Zeit permanent knapp ist. Zeitlücken sind im unternehmerischen Kontext quasi nicht existent, da die Leute schon selber dafür sorgen, dass sie keine Zeit haben. ►


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Karlheinz Geißler, Jahrgang 1944, Prof. em. für Wirtschaftspädagogik


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Also herrscht aktuell immer noch die Vorstellung „Zeit ist Geld“? K. G.: Das Muster, Zeit in Geld zu verrechnen, greift von der Ökonomie über in alle Bereiche der Gesellschaft. Durch verkürzte Schul- und Studienzeiten finden wir die Kolonialisierung des Musters „Zeit ist Geld“ im Bildungsbereich. Und dieses Muster ist nur über die Uhr möglich. Die Uhr durchdringt alle Lebensbereiche. Die Klage „Ich habe keine Zeit“ ist eigentlich falsch, denn natürlich habe ich Zeit. Jeden Tag kommt neue nach. Aber wenn ich dem Muster „Zeit ist Geld“ folge, dann kann ich natürlich nicht so denken. Denn dann gilt jede Zeit, die ich nicht produktiv nutze, als verschwendete Zeit. Und das ist unser Denkmuster. Zeit, die nicht umgesetzt wird in Geldwert, gilt als verschwendete Zeit. Aber sind diese Muster denn noch zeitgemäß oder praktikabel im modernen 21. Jahrhundert? K. G.: Zeitlosigkeit wird die neue Attraktion. Die Uhr ist zu langsam geworden, sie organisiert zu langsam. Pünktlichkeit ist zunehmend kein moralisches Kriterium mehr. Die Pünktlichen machen keine Karriere mehr, sondern nur die Flexiblen. Ich muss am Punkt sein, aber nicht mehr zwangsläufig pünktlich. Der moderne Mensch muss differenzieren, wann er was in welcher Form und Qualität abliefert. Immer mehr Betriebe erkennen, dass flexibles Verhalten und Reaktionsfähigkeit viel wichtiger werden als Pünktlichkeit. Vom Takt zum Rhythmus. Von der Zeit zum Augenblick. In langfristigen Prozessen kurzfristig zu reagieren, wird zeitgemäßes Arbeiten ausmachen. J. G.: Das klingt jetzt erst einmal radikal formuliert. Aber ich erlebe schon, dass vor allem in der agilen, digitalen New-Work-Welt die Orientierung an der Uhrzeit abnimmt. Kurzfristigkeiten sind hier gefragt, auch wenn das Modell der Uhrzeit noch erkennbar bleibt. Was passiert,

ist das Auflösen von starren Planungsphasen in iterative Schleifen. Denn eine gewünschte Exaktheit würde einen so komplexen Planungsaufwand bedeuten, dass wir so langsam werden, dass sich das Anfangen schier nicht mehr lohnt. Sich gemeinsam auf die Reise zu machen, im ständigen Kontakt über das mögliche Ziel zu bleiben, sind die Herausforderungen in der neuen Welt der Wirtschaft. Ich möchte gerne die Entwicklung der Stadt München mit ins Gespräch holen. Unsere Stadt entwickelt und verändert sich immer rasanter. Verdichtung, engere Taktungen: Sind das auch Themen, mit denen Sie sich beschäftigen? J. G.: Wir untersuchen das jetzt nicht empirisch. Als Bürger dieser Stadt bekommen wir diese Veränderungen aber natürlich mit. K. G.: München scheint mir im Moment eine der führenden Städte bei der Übersetzung von Schnelligkeit auf Verdichtung zu sein. Beschleunigung ist immer angesagt, wenn man Wirtschaftswachstum erzielen möchte. Hier lässt sich allerdings nicht mehr viel steigern. Und nun brauchen wir ein neues Steigerungsmittel und das ist die Verdichtung. Das Prinzip wird die permanente Bewegung sein. Die zweite Stammstrecke wird nicht dazu führen, dass der Fahrplan eingehalten wird, sondern dass der Fahrplan wegfallen kann. Und München ist führend bei der Bürgersteiggastronomie. Die Bank oder das Mäuerchen, auf die man sich früher vielleicht ganz privat hinsetzen konnte, wird weggeräumt, um ein Geschäft daraus zu machen. Wenn sich Plätze durch Verkehrsberuhigung verändern, dann ist zuerst die Gastronomie da – und nicht die Stimmen, die Raum zum Flanieren oder Ähnliches fordern. Es geht zuerst darum, mit dem Raum Geld zu verdienen. ►


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Die Uhr durchdringt alle Lebensbereiche. Die Klage „Ich habe keine Zeit“ ist eigentlich falsch, denn natürlich habe ich Zeit. Jeden Tag kommt neue nach.


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In Ihrem Buch schreiben Sie von Zwischenräumen, Fugen, Brachen, Pausen und ähnlichen Dingen, die der Menschen benötigt, um gut leben zu können. Wo sehen Sie diese Zwischenräume in unserer Stadtentwicklung? K. G.: Als Zeitform würde das bedeuten: mehr Rhythmus in die Stadt! Die Innenstadtgastronomie bringt keinen Rhythmus in das Leben. Grünflächen bringen diesen Rhythmus. Am Gärtnerplatz kann man das ganz gut beobachten. Es ist ein Platz geworden, der die Menschen anzieht und zum Zusammensein einlädt. J. G.: Der Hofgarten ist auch so ein rhythmischer Platz. Man kann sich hinsetzen, es wird Boule gespielt, Leute machen Musik, es wird getanzt. Das ist ein gelungener Übergang von einem Stadtteil zum nächsten. Solche Übergänge müssten mehr geschaffen werden, um eine Abwechslung zwischen langsam und schnell zu ermöglichen. In dieser Stadt, die nicht so wahnsinnig weitläufig ist, ließe sich problemlos ein autofreier Innenstadtbereich gestalten. Ich würde mir ein wenig mehr Progressivität und Mut in Richtung alternative Mobilitätskonzepte wünschen. K. G.: Der Sendlinger Tor Platz ist hingegen ein Negativbeispiel. Der müsste eigentlich Sendlinger Torschlusspanik Platz heißen, so wie er sich darstellt. Es ist ein wahnsinnig pulsierender Platz, der nur Hektik produziert. Der Isartorplatz übrigens auch. Das ist ein reiner Verkehrsknotenpunkt und mittendrin in dieser verrußten Atmosphäre befindet sich das Valentin-Karlstadt-Musäum. Wenn das mal keine Ironie ist.

Vor etwas mehr als zehn Jahren hielt das Smartphone Einzug in unsere Lebenswelt. Ich kann ständig kommunizieren und es ist platzsparend. Läge hier nicht eine Lösung für viele der Probleme im Umgang mit der Zeit? Oder werden nur neue Probleme produziert? J. G.: Das Schwierige ist, dass Sie beides gleichzeitig tun. Mobilität ließe sich zum Beispiel mit diesen Geräten viel sinnvoller organisieren. Vorausgesetzt jeder stellt seine Fahrten plus die freien Plätze im Wagen online. Theoretisch. Denn gleichzeitig steigert sich der Koordinationsaufwand der vielen Möglichkeiten, die nun zusätzlich geschaffen werden. Die Möglichkeiten werden ja permanent an uns herangetragen. Entscheiden, welche Möglichkeit wir ergreifen oder weglassen, das müssen wir als Person. Und wir müssen mit den Erwartungen umgehen, die an diese Möglichkeiten geknüpft sind. Das kostet Zeit, Nerven, Ressourcen und so weiter. Deshalb ist es beides gleichzeitig und die Trennlinie ist relativ unscharf. Und nahezu gefährlich werden die Geräte, wenn sie genutzt werden, um unsere Affekte zu regulieren. Denn wenn wir verlernen, selber unsere Affekte zu regulieren – was ein wichtiger Teil von Menschwerdung und Gemeinschaftsbildung ist –, dann wird es problematisch, denn dann beginne ich abhängig zu werden. K. G.: Durch permanentes Chatten entsteht auch eine ganz andere Art der Kommunikation. Der spontane Anteil, der emotionale Freude, Wut, Begeisterung etc. ausdrückt, ist hier nicht gegeben. Ich muss irgendwelche Zeichen schicken, um auszudrücken, dass ich mich freue. In diesen Kommunikationsmitteln muss ich immer abstrahieren. ►


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Digitalisierung per se ist nicht schlecht. Ist der Umgang damit die Herausforderung? J. G.: Wir pendeln zwischen den Dimensionen von Resonanz und Entfremdung. Resonanz entsteht, wenn ich in Kontakt zu anderen Menschen stehe, zur realen Umwelt. Ich gehe in einer Tätigkeit auf. Es geht darum, das Beziehungsbegehren, was wir Menschen haben, zu stillen. Denn wir werden aus einer Resonanzsituation heraus in die Welt geboren. Der Mutterleib ist der erste Resonanzraum, in dem sich der Mensch entwickelt. Entfremdung ist eine stumme Weltbeziehung. Ich habe zwar alle Möglichkeiten, aber ich spüre sie nicht mehr. K. G.: Und das hat etwas mit Zeit zu tun. Wir sind ja quasi unser eigenes Zeitsystem. Wir werden mit bestimmten Rhythmen geboren, die unseren Alltag zunächst bestimmen – Helligkeit, Dunkelheit, Sonnenlicht –, und wenn unser Zeitsystem Resonanz in unserer Umwelt findet, dann fühlen wir uns wohl. Deshalb fahren wir am Wochenende in die Natur, um diese ursprüngliche Resonanz in der Natur wieder zu erfahren. Auch in der Stadt kann man diese Resonanz erfahren. Und danach muss Stadtplanung geschehen, damit sie dem Menschen diese Resonanzerfahrung ermöglicht. Damit wird das Weglassen zu einer der großen Herausforderungen des neuen Jahrhunderts? Ich muss nicht mehr von wenigen Optionen die für mich passende herausfinden, sondern aus den unendlichen Optionen filtern, welche ich weglasse. Nicht mehr to do, sondern let it be? J. G.: Default is all in! Die aktuellen Smartphones geben ja nicht mir die Entscheidung, welche Funktionen ich nutzen möchte. Ich muss meine Häkchen setzen, wenn ich etwas nicht möchte. Der Umgang ist wesentlich stärker personalisiert. Die Gesetzgebung mit ihren Regelmecha-

nismen hinkt der digitalen Welt maßlos hinterher. Die Herausforderung ist, dass wir entscheiden müssen, ob wir auf push oder pull stellen. Welche Apps wir herunterladen. Zu welchen Gruppen wir nicht dazugehören wollen. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich mich aktiv für etwas oder aktiv dagegen entscheiden muss. Worin sehen Sie den klugen, erfüllenden Umgang mit der Zeit? J. G.: Resonanz und Wirksamkeit sind zwei unserer großen Themen im Umgang mit der Zeit. Zeiten, in denen ich Resonanzerfahrungen sammle, und Zeiten, in denen ich Wirksamkeit erfahre. Dazu kommen noch die Zeiten, die alles offenlassen. Die Zeiten, in denen die Zeit auf mich zukommt. In denen ich Dinge finde, nach denen ich nicht gesucht habe. In einem bewussten Zeitleben lasse ich den Dingen, die eher Nebenprodukte sind, eine Chance. Dinge wie Vertrauen, Freundschaft und Liebe. Das sind Dinge, die sich nicht direkt intendieren und managen lassen. Denn Vertrauen ist ein Nebenbei-Produkt meines Tuns und dafür muss ich sensibel für meine Umwelt sein. K. G.: Aus Sicht der Wissenschaft stecken wir in einem gewissen Dilemma. Die schönen Zeiten sind die, in denen ich nicht über Zeit nachdenke. Weil wir aber über Zeit nachdenken, möchten wir mehr über gerade diese schönen Zeiten erfahren. Das ist eine Paradoxie, mit der wir aber ganz gut leben können. ▪

Time is honey – Karlheinz Geißler, Jonas Geißler 256 Seiten, oekom verlag München, 2017 ► timesandmore.com


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MÜNCHNER ZEIT UHREN DER STADT

Wie eine Stadt tickt, erkennt man auch an den öffentlichen Uhren. Zwar prägen in München ebenso wie in anderen Städten klassisch-pragmatische Zeitanzeiger das Stadtbild – es finden sich aber auch Exemplare, die nicht dem gängigen Schema entsprechen. TEXT: STEPHIE SCHERR


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Uhren gibt es im und am Deutschen Museum viele. Eine aber sticht besonders ins Auge, nicht nur weil sie groß und prominent platziert ist. Vor allem ihr Aussehen zieht die Blicke auf sich: Neben den üblichen Ziffern finden sich hier alle Sternzeichen in schönstem Gold. Die Astronomische Uhr über der Durchfahrt zur Zenneckbrücke ist ein Aushängeschild der Museumsinsel.

ALTER PETER

Baujahr: 1935 Durchmesser Ziffernblatt: ca. 6,5 m Stundenzeiger Länge 3,78 m, Gewicht 38 kg Besonderheit: Neben der Uhrzeit werden auch Wochentag, Monat und Mondphase angezeigt.

ASTRONOMISCHE UHR AM DEUTSCHEN MUSEUM

Kaum ein Kirchturm in München ist so bekannt und beliebt wie der „Alte Peter“ – immerhin hat man von dort aus eine großartige Aussicht über die Stadt! Tagtäglich stapfen Touristen und Einheimische gleichermaßen die 306 Stufen nach oben und wenn sie Glück haben, sehen Sie kilometerweit. Aber auch die Turmuhren sind einen Blick wert. Baujahr: erstmals dokumentiert 1181, Umbau 1278 Uhrzeiger: Länge: zwischen 2,30 und 2,75 m, Gewicht: 20 bis 24 kg Besonderheit: die ältesten dokumentierten Turmuhren Münchens mit 8 Zifferblättern


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In Bayern gehen die Uhren bekanntlich an ders – zumindest wenn es nach Willy Brandt geht. Ob das auch bedeutet, dass sie rückwärtsgehen, weiß man nicht, aber zumindest bei einer Uhr am Isartor ist das der Fall. Nicht eingeweihte Passanten könnte das verwirren: Zwar geht die Uhr richtig, nur eben andersherum. Die römischen Ziffern sind verkehrtherum angeordnet. Baujahr/Jahr der Einweihung: 2005 Durchmesser Ziffernblatt: 2,80 m Uhrzeiger: Gewicht Stundenzeiger: 7 kg, Minutenzeiger 9,5 kg Besonderheit: Die Uhr wurde der Stadt von Petra Perle, der früheren Wirtin des Turmstüberls im Karl-Valentin-Musäum, geschenkt.

ISARTOR

HAUPTBAHNHOF

Blickt man auf Bahnhofsuhren, dann meist flüchtig und in Hektik: Zug oder S-Bahn will erreicht werden, da ist das Aussehen einer Uhr eher Nebensache. Hauptsache, sie geht richtig! Und dennoch ist auch die Uhr an der Fassade des Münchner Hauptbahnhofs ein Stück Kunst: Lenz Geiger, der Sohn des für die Fassade des Hauptbahnhofs verantwortlichen Künstlers Rupprecht Geiger hat das Zifferblatt passend zum Plattenrelief seines Vaters entworfen. Baujahr: 1950er-Jahre Besonderheit: Sehen kann man die Uhr aktuell nicht, da sie im Zuge des Bahnhofumbaus abgebaut und eingelagert wurde.


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TEXT: YAEL CURI // FOTOS: GLOCKE ARCHIVMATERIAL UND LARA FREIBURGER

40 JAHRE KULTUR VON ALLEN, FÜR ALLE DIE GLOCKENBACHWERKSTATT FEIERT JUBILÄUM „Geduld, Vernunft und Zeit macht möglich die Unmöglichkeit.“ Dieses Zitat des deutschen Dichters Simon Dach aus der Barockzeit hat auch für die 1979 gegründete Glockenbachwerkstatt e. V. seine Gültigkeit. Das alte, freundliche Bürgerhaus mitten im Herzen der Stadt ist im Winter ein warmes Wohnzimmer, im Sommer ein grüner Biergarten. Vor allem aber ist es ein Treffpunkt für Jugendliche, Musiker, Künstler und Kreative, zugleich Förderzentrum der Erziehung, der Wohlfahrtspflege und der Integration von verschiedenen Gruppen in ganz München.


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Alles hat als Elterninitiative angefangen, um Betreuungsmöglichkeiten für Kinder zu bieten. „Damals hatte das Viertel einen anderen Charakter als jetzt, es war noch nicht durchgentrifiziert. Griechische, türkische Migranten und Geflüchtete vor dem Jugoslawien-Krieg wohnten hier“, erklärt Andreas Alt, Mitarbeiter des Vereins seit 2004. „Die Nachbarschaft wollte selber etwas machen und brauchte dafür einen Raum. Deswegen hat die Stadt dieses Haus für das Projekt gemietet.“ Heute, mit 47 Mitgliedern und ca. 40.000 Besuchern allein im vergangenen Jahr, hat das Angebot sich enorm erweitert: offene Kinder-, Jugendlichen- und Erwachsenen-Kurse, Stadtteiltreff, Bandräume, Bolzplatz, Kindergarten … und Preise, die auf schmale Budgets zugeschnitten sind. Egal ob morgens oder abends, unter der Woche oder am Sonntag: Wer zur Glocke kommt, spürt sofort die lockere Stimmung und große Vielfalt. Während des Tages reicht das Angebot von Töpfern und Schreinern über Capoeira bis hin zu Fußballtraining, Kindergarten und Schülerhort. Später, wenn die Sonne untergeht, wird die Werkstatt zur gemütlichen Kneipe und Konzertbühne, wo auch Elektro-Partys, Hip-Hop Sessions und Diskussionsrunden stattfinden. „Es ist so wichtig für uns, dass unsere Besucher auch ohne Geld Kultur genießen können“, erklärt der Sozialpädagoge und betont nochmals, dass in der Glockenbachwerkstatt keiner gezwungen wird, etwas zu konsumieren. „Man muss nicht trinken, nicht essen, gar nichts, man kann einfach nur da sein.“ ►



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In der Blumenstraße 7 steht die Tür immer offen. Das Haus verbindet Generationen, Kulturen und Nationalitäten. Es ist ein Ort für Dialog, Partizipation und Mitgestaltung. Wer also einen Kurs geben oder selbst eine Veranstaltung auf die Beine stellen will, bringt einfach seine Ideen mit. „Es ist gut, dass wir von der Stadt unterstützt werden und uns nicht diesem komplett kommerziellen Anspruch unterwerfen müssen. Jeder kann sich ausprobieren“, betont Alt. „Dabei muss nicht beim ersten Mal alles super klappen und tausend Menschen kommen. Es geht auch, wenn einfach 30 Leute kommen. Das ist total schön und die Veranstalter lernen ebenfalls dazu.“ Ja, an Flexibilität mangelt es dieser coolen Location wirklich nicht. Aber wie in jeder Familie gab es auch schwierige Momente in der Glockenbach-Gemeinschaft. Etwa als vor rund fünf Jahren der hauseigene Bolzplatz wegen einer Renovierung eines Stadtgebäudes fast verschwunden wäre. Dank der riesigen Mobilisierung von Eltern, Nachbarn und sogar Prominenten fand die Stadt eine Bebauungsalternative, um die Fläche intakt zu lassen. Zu Recht ist Andreas stolz auf dieses Ereignis: „Es war eine tolle Erfahrung auch für die Kinder, die zu dieser Zeit den Kindergarten besuchten. Für die war es ein totales Demokratie-Erlebnis: auf die Straße gehen, demonstrieren und gewinnen. Durch diese ganze Geschichte sind wir mehr miteinander verbunden.“ ►


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Und weil Raum ohne Zeit nicht existiert, loben sie gerade ihres 40. Jubiläum mit mehr Herzblut als je zuvor. „Wir wollen nicht so einen Tag mit großem Getrommel veranstalten, wo wir sagen, wir sind jetzt 40 … und dann ist alles vorbei, sondern wir haben verschiedene Bausteine, reguläre Veranstaltungen mit Highlights“, berichtet er und fügte hinzu, dass auf ihrer Homepage eine Ecke für alte und neue Fans eingerichtet wurde, um Anekdoten, Fotos oder Videos zu teilen. Also eine Plattform, auf der jeder mitmachen kann. Die Stadt verändert sich und dies betrifft alle Bereiche der Gesellschaft: Bildung, Wohnung, Nachtbarschaft. Deshalb lohnt es sich, Initiativen wie die Glockenbachwerkstatt zu bewahren, in denen der Austausch und die Integration mehr wiegen als der Kommerz. Genau so galt es gestern, genau so gilt es heute in der Glocke: Kultur von allen, für alle. Die Diversität des urbanen Lebens gilt es zu umarmen. Für die Zukunft hat Andi noch einen Wunsch: „Wir wollen weiterhin eine Oase bleiben, in die Menschen kommen können, in der sie sich ausprobieren können. Deine Herkunft, deine Identität ist dabei egal.“ ▪ #dasistglocke

► glockenbachwerkstatt.de

Auf dem Blog der Glocke erfährt man alles über das diesjährige Jubiläumsprogramm.

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ANDREAS ALT FOTO: LARA FREIBURGER


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TEXT: HEIKE FRÖHLICH ILLU: ANDY WEIXLER

Wenn man davon ausgeht, dass ein heute Dreißigjähriger eine Lebenserwartung von 90 Jahren hat, stimmt die Aussage: Ein Drittel der Lebenszeit geht es aufwärts, dann zwei Drittel wieder bergab. Der Alterungsprozess ist aber ganz individuell, viele Faktoren, allen voran natürlich Krankheiten, haben entscheidende Auswirkungen. Und ein jeder kann Einfluss darauf nehmen! Eine gesunde Lebensweise wirkt sich positiv auf Verfallsprozesse aus. Trotzdem: The end is near. We’re all gonna die!

Das Risiko zu sterben, verdoppelt sich etwa alle acht Jahre. Mit 14 Jahren ist die Gefahr, aus dem Leben zu scheiden, noch 1 zu 2.000. Bis ins mittlere Alter spielen diese Zahlen keine große Rolle, aber da das Risiko exponentiell wächst, geht die Kurve steil nach oben.

EIN GAR ERSCHRECKENDER BLICK AUF DEN VERFALL DES MENSCHLICHEN KÖRPERS

DER ZAHN DER ZEIT

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Ab acht Jahren nimmt die Durchblutung der Niere stetig ab. Ab 15 Jahren lässt die Elastizität der Augenlinse nach. Schätzungsweise mit 90 Jahren verliert die Linsenkapsel ihre Funktion komplett. Ab 20 Jahren nimmt die Körpergröße ab, ebenso fangen die meisten Organe und Körperfunktionen an abzubauen. Die Reaktionsgeschwindigkeit beginnt bereits jetzt abzunehmen, Nervenimpulse werden nicht mehr so schnell übertragen. Die geistigen Fähigkeiten befinden sich auf ihrem Höhepunkt. Ab 25 Jahren wird die Nasenschleimhaut und das Nasenbindegewebe dünner.

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Ab 30 Jahren beginnt die Haut dünner zu werden, Collagen wird langsamer produziert. Erst mit hypothetischen 140 Jahren aber wäre der Kollagengehalt der Haut aufgebraucht. Abgestorbene Hautzellen lösen sich nicht mehr so schnell ab, was die Produktion neuer verlangsamt. Auch der Tastsinn verschlechtert sich zunehmend. Wegen Veränderungen im Testosteronspiegel schrumpfen bei vielen Männern die Haarfollikel, Haarverlust ist die Folge. Außerdem produzieren die Follikel nach und nach keine Pigmente mehr, sodass weiße Haare nachwachsen können. Spätestens ab Mitte 30 beginnen Zahl und Größe der Muskelzellen zu schrumpfen. Dieser Prozess beschleunigt sich jenseits der 50 noch einmal deutlich. Das Lungenvolumen beginnt nun, deutlich kleiner zu werden. Es kann nicht mehr so viel Sauerstoff aufgenommen werden. Das Gewicht der Eierstöcke beginnt zu sinken, weniger Eizellen werden produziert. Die Schleimhaut in der Gebärmutter wird dünner und damit weniger geeignet, eine befruchtete Eizelle zu beherbergen. Die Qualität des Spermas verschlechtert sich, wodurch Fehlgeburten wahrscheinlicher werden. Der Busen nimmt an Fettgewebe ab, verliert Größe und Form. Das Risiko für Brustkrebs steigt, was jedoch mit genannten Veränderungen nicht zusammenhängt, eher mit altersbedingten Zellschäden. Die Knochendichte beginnt abzunehmen. Bis zu 10.000 Nervenzellen gehen pro Tag verloren; Erinnerungsvermögen, Koordination und Gehirnfunktion lassen nach. Der totale Gedächtnisverlust droht aber erst mit etwa 125 Jahren. 0,5 bis 2 Prozent der Muskelmasse werden nun jährlich abgebaut. Wer trainiert, kann dem Prozess entgegensteuern.

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Ab Ende 20 verschlechtert sich bei zwei Dritteln der Erwachsenen die Nierenleistung; Medikamente werden nicht mehr so leicht abgebaut.

Die geistigen Fähigkeiten beginnen abzubauen.

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Mit drei Jahren hat die Niere bereits ihre maximale Filterleistung erreicht.

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Die Durchblutung nimmt ab. Bei Männern beginnt der Testosteronspiegel zu sinken.

Die Schwimmhäute, die der Embryo noch an Fingern und Zehen trägt, werden abgebaut.

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JAHRE

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Mitte 40 fällt es dem Auge zunehmend schwer scharfzustellen. Die Hälfte aller Männer über 50 haben mit einer vergrößerten Prostata zu kämpfen. Normalerweise so groß wie eine Walnuss, kann sie zur Größe einer Mandarine anwachsen und den Harndrang verstärken. Die Haarzellen im Innenohr werden weniger, was dazu führt, dass mehr als die Hälfte der über 60-Jährigen schlechter hört. Die „guten“ Bakterien im Verdauungstrakt nehmen ab, vor allem im Dickdarm. Schlechtere Verdauung wie z. B. Verstopfung und Magen-DarmErkrankungen nehmen zu. Ab 60 bauen die Schleimhäute der Stimmlippen und des Kehlkopfes ab. Frauen bekommen häufig eine rauere, tiefere Stimme, während Männerstimmen dünner und höher werden können. Nach der Menopause nimmt die Knochendichte bei Frauen rapide ab, was zu Osteoporose führen kann. Der Geruchs- und Geschmackssinn bauen zunehmend ab. Ab 65 beginnt das Hirn abzubauen. Allerdings beeinträchtigt hohes Alter keineswegs die Intelligenz. Die Wahrscheinlichkeit, die Kontrolle über die Blase zu verlieren, steigt. Der durch die weibliche Menopause verursachte Östrogenabfall lässt das Gewebe der Harnröhre dünner und schwächer werden. Während 30-Jährige noch etwa zwei Tassen Blasenvolumen haben, ist es bei 70-Jährigen nur noch die Hälfte. Erst mit 70 Jahren beginnt die Leber abzubauen. Sie ist das einzige Organ, das bis ins fortgeschrittene Alter leistungsfähig erhalten werden kann. Durch Verlust der Knochendichte und die sich stauchende Wirbelsäule kann man im Alter schrumpfen. Zum 80. Geburtstag ist es durchaus möglich, dass Senioren etwa 5 cm kleiner geworden sind.

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Quellen: sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/das-ist-ja-der-gipfel-79492 www.br.de/themen/wissen/alterungsprozess-mensch-theorien-100.html www.alterung.eu/alterungsprozess/ www.telegraph.co.uk/news/newstopics/howaboutthat/4995546/Old-age-begins-at-27as-mental-powers-start-to-decline-scientists-find.html www.quora.com/What-age-does-the-human-body-begin-aging-negatively www.dailymail.co.uk/health/article-1035037/Old-time-When-body-really-starts-going-downhill.html www.dailymail.co.uk/health/article-1035037/Old-time-When-body-really-starts-going-downhill.html

Das Herz kann Blut nicht mehr so effektiv durch den Körper pumpen, denn Blutgefäße beginnen Elastizität einzubüßen, während Arterien härter werden und von Ablagerungen blockiert sein können. Wird die Blutzufuhr zum Herz verringert, ist dies als Angina pectoris schmerzhaft spürbar. Der Mund produziert weniger Speichel, der Bakterien wegspülen könnte. Deswegen werden Zähne und Zahnfleisch empfindlicher. Außerdem beginnt sich bei vielen Erwachsenen das Zahnfleisch um den Zahn zurückzuziehen.

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Die Coolsten cruisen & dĂźsen.

HOCH 3 . MĂźnchen Fotos: fotolia.de, Kerstin Groh

Das Rad der Stadt und des Landkreises

mvg.de/rad


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ST. MICHAEL PERLACH, PFANZELTPLATZ, ALPEN, CA. 1910, VON AUGUST ZERLE

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IN PERLACH TICKEN DIE UHREN NOCH ANDERS

TEXT: CARINA NEUMANN FOTOS: HEIMATARCHIV PERLACH

E

in Maibaum ragt stolz neben der alten Kirche gen Himmel, der Dorfbrunnen erzählt Geschichten vergangener Zeiten und der Hachinger Bach plätschert gemütlich vor sich hin. In traditionellen Bauernhäusern wohnen die Urururenkel ihrer Erbauer, auf der Straße nickt man sich zu und der Wirt zählt die Striche auf den Bierdeckeln. Wir befinden uns aber nicht auf dem Land, sondern im 16. Stadtbezirk Münchens: Perlach. Hier ticken die Uhren noch anders. Wer dem Großstadtrummel mal entfliehen möchte, der steige in den Bus 55 oder 139 und fahre zum Pfanzeltplatz. Hier treffen wir Heimatforscher Uli Walter, der uns in die Geheimnisse Perlachs einweiht.


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Erste Lektion: Sag niemals „Alt-Perlach“ so wie wir zu Beginn unserer Recherche. Das mögen die Perlacher nämlich gar nicht. Es gibt offiziell nur Perlach, Waldperlach und Neuperlach. „Alt-Perlach“ ist eine Wortschöpfung, die erst nach der Entstehung Neuperlachs entstand. Und nur weil es mittlerweile auch ein neues Perlach gibt, ist das ursprüngliche Perlach ja nicht gleich alt. Das klingt so altbacken ... Uli kennt die Perlacher gut, denn er ist quasi selbst einer. Seit über 20 Jahren wohnt der ursprüngliche Oberpfälzer nun hier, in einem schönen Häuschen mit Garten, von dem man in den ersten Stadtringen nur träumen kann.

Dreieinhalb Jahrhunderte älter als München Uli leitet außerdem das Heimatarchiv und ist stellvertretender Vorsitzender des Perlacher Festrings. Er stellt nicht nur traditionelle Feste mit auf die Beine, sondern kennt auch die erstaunlichsten Fakten über Perlach. Zum Beispiel, dass das einstige Dorf, das erst 1930 eingemeindet wurde, weitaus älter ist als München selbst. Die erste urkundliche Erwähnung erfolgte bereits im Jahr 790, also 368 Jahre, bevor die Landeshauptstadt schriftlich auftaucht. Perlach hieß einst „Peraloh“, und das kam so: „Pera“ ist ein altgermanisches Wort für „Braunbär“. Dieser war früher neben viel anderem Wild hier heimisch. „Loh“ kommt von „Lowald“, was so viel wie „locker bewachsener Wald“ heißt. Einst nannte man Perlach also „Bärenwald“. Tatsächlich zählten die Wälder um Perlach und die „Perlacher Haid“ zu den Jagdgebieten der feinen Münchner Herzöge. Und nicht nur das, es gab hier auch vier Hofmarkschlösser, von denen heute noch zwei übrig sind.


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LANDKARTE. HOLZSCHNITT VON PHILIPP APIAN AUS DEM JAHR 1568

ZUM EHEM. EDELSITZ (HOFMARK) PERLACHECK (1790) GEHÖRIG, SPÄTER STRIXNERHOF (1908), ERBAUT 1879, PUTZBRUNNER STR. 3, AUFNAHME UM 1920, MIT TAUBENHAUS. CARL AUGUST VON STEINHEIL HAT HIER (VORGÄNGERBAU) SEINE JUGEND VERBRACHT (1804 – 1830).


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Von Perlach bis ins Schwarze Meer Überhaupt gibt es in Perlach noch so manches Überbleibsel, das die Jahrhunderte überdauerte. Traditionen werden hier noch gepflegt und gehegt. So stehen auf manchen Häusern – viele davon sind unter Denkmalschutz stehende Bauernhäuser, die renoviert wurden – noch die alten Bezeichnungen für die Familien, die hier einst lebten. Diese wiederum wurden nach ihren Berufen benannt. Der „Wasserer“ war zuständig für die Aufsicht über den Hachinger Bach, am Dorfplatz wohnte der Sattler und so weiter.

Über den Hachinger Bach, der quer durch den Stadtteil fließt und an dem uns Uli entlangführt, kennt der Heimatforscher auch manch charmante Anekdote. Zum einen war er damals schon weitaus ungefährlicher und berechenbarer als die Isar, die in der Stadt oft für verheerendes Hochwasser sorgte. Zum anderen versorgte er die Menschen und Tiere mit dem lebenswichtigen Nass. Am Rande des Ortzentrums wird der Bachlauf breiter. Hier befindet sich die ehemalige „Rossschwemme“, an der die Arbeitspferde getränkt und gewaschen wurden. „Es gibt ein altes Sprichwort, das lautet etwa so: ,Weiber sterm, koa Verderm, Ross verrecka, Bauernschrecka‘“, lacht Uli. Für die Bauern waren die Rösser unentbehrlich, sogar wichtiger als die Bäuerin. Etwas romantischer ist da der Fakt, dass das Bachwasser auf seinem langen Weg ins Schwarze Meer mündet. ►

KINDER IM HACHINGER BACH SEBASTIAN-BAUER-STR., AUGUST 1932


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Vom „Blonden Bock“ und der „Wahren Weiße“ Unsere Tour führt vorbei am „Gasthof zur Post“, das erstmals im Jahr 1446 erwähnt wurde und zu dem im 19. Jahrhundert eine Radrennbahn zählte – damals ein total angesagter Sport. Übrigens brauen die Perlacher in der „Forschungsbrauerei“ seit den 1930er-Jahren auch ihr eigenes Bier: Der „Blonde Bock“ und die „Wahre Weiße“ kommen auf den Dorffesten zum Einsatz. Der Maibaum darf dort natürlich auch nicht fehlen. Der Burschenverein „Die G’mütlichen“ bewacht den weiß-blauen Stolz gemeinsam mit den anderen Perlacher Vereinen von Ende März bis zum 1. Mai jede Nacht. Nicht, dass er wieder von den Unterbrunner Burschen in einer Nacht-und-NebelAktion geklaut wird wie 1977! Die Unterbrunner sind gefürchtete Maibaumdiebe und haben schon 64 Mal zugeschlagen. Das Maibaum-Auslösen kann teuer werden: „Bier und Brotzeit für alle, und die essen und trinken nicht wenig“, so Uli. 2011 haben die Perlacher übrigens den Truderinger Maibaum gestohlen.

GASTHAUS ZUR POST, EHEM. TAFERNWIRTSHOF (SEIT 1446), NACH DEM BRAND 1840 WIEDER AUFGEBAUT


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Übliche Verdächtige Uli selbst geht zum Essen und Trinken am liebsten in den Perlacher Hof mit urigem Biergarten, wo auch unser Foto entstand, oder in die Forschungsbrauerei. Es gibt aber auch richtige Boazn in Perlach, wie zum Beispiel das „Zum Fiaker“. „Naa, naa, da geh I ned nei“, schmunzelt Uli. „Da drinnen sitzen immer die üblichen Verdächtigen.“ Wir waren nach unserem Bier mit dem Heimatforscher noch auf einen Umtrunk dort und wissen genau, was er meint: Die Boazn könnte glatt Rita Falks Krimireihe um den „Dorfsheriff“ Eberhofer entsprungen sein, der im tiefsten Niederkaltenkirchen dubiosen Mordfällen auf die Spur kommt. Feuchtfröhlich ist es aber allemal im „Fiaker“! Mit dem Döner wurde es nach unserem Bier dann leider nichts mehr, der Türke hatte nach 20 Uhr bereits zu. Die Bürgersteige werden hier schon etwas früher hochgeklappt als in anderen Vierteln. Dafür gibt es aber „a sauguads Eis“ im „Il Gelato“, wie Uli empfiehlt. Die Schlange geht im Sommer raus bis zur Straße. Mit der süßen Abkühlung setzt man sich dann auf den Pfanzeltplatz mit Blick auf den Geschichtsbrunnen oder an den Hachinger Bach und genießt die Ruhe.

Ab ins Grüne! Wer etwas ins Grüne will, kann dem Naturlehrpfad folgen und Spannendes über die Perlacher Tier- und Pflanzenwelt erfahren. Bären gibt es hier zwar nicht mehr, dafür aber viele Vogelarten, Fische, allerlei Wassertiere und sogar Fledermäuse. Zu Besuch im Heimatarchiv Na, neugierig auf ein wenig Dorfidylle in der Großstadt geworden? Der Perlacher Festring lädt zu zahlreichen Veranstaltungen ein. Auch ein Besuch im Heimatarchiv lohnt sich – da sprechen wir aus Erfahrung. Denn Perlach bietet noch so viele andere spannende Geschichten. Etwa die der alten Kirchenglocke, die einst als Kriegsmunition eingeschmolzen wurde. Oder die des Schwaigerhofes, der seit 1848 im selben Familienbesitz ist. Doch all diese Anekdoten kann Uli viel besser erzählen als wir – und tut das gerne auf seinen Führungen. Auf der Website des Perlacher Festrings erfahrt ihr alles über das Heimatarchiv und kommende Events. ▪

► festring-perlach.de

Redaktionsausflug nach Perlach. Wir sagen, danke, Uli!


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HOUR AUF DER SUCHE NACH MÜNCHENS BLAUESTER STUNDE


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MÜNCHEN, WO GIBT ES NOCH RICHTIG VIEL, FÜR RICHTIG WENIG? WO LAUERT SIE, DEINE BLAUESTE STUNDE? CURT WAGTE DEN HIMMELSSTURZ HINEIN IN LITERWEISE UNVERNUNFT UND BIS AN DIE GRENZEN DES GASTRONOMISCH ZUMUTWIE AUSHALTBAREN.

TEXT UND FOTOS; TIM BRÜGMANN, DAVID EISERT

Doch vor dem Blick ins Glas erst einmal einen zurück, denn die Geschichte der „glücklichen Stunde“ reicht weiter zurück, als manch einer im Limbus zwischen einem Liter Long Island Ice Tea und Zombie-Pitcher erwarten könnte. Die gute alte „Happy Hour“, die seit dem Siegeszug von Craftbeer und Spirituosen-Verständnis unlängst an den äußeren Rand der Getränkekarte gedrängt wurde, scheint – wie so ziemlich jeder englische Begriff – von Shakespeare geprägt. Fernab von Mai Tai und Konsorten geht Shakespeares Happy Hour auf dessen Werk „Heinrich V.“ von 1599 zurück. Denn dort verkündet jolly ol’ Henry bereits im ersten Akt: „Therefore, my lords, omit no happy hour that may give furtherance to our expedition.“ Und wahrlich, ausgelassen wurde sie nicht, die Happy Hour. So taucht sie nach Ende des Ersten Weltkrieges als Slang-Begriff der U. S. Navy wieder auf und bezeichnet ebenfalls eine Zeit der organisierten Unterhaltung. Boxkämpfe etwa ermöglichten es den Seglern, ganz ohne den freundlichen Handschlag von Captain Morgan, gehörig

Dampf abzulassen. Als sich nicht-militärisches Personal des Begriffs annahm, änderte er abermals seine Bedeutung. Und so galt die frohe Stunde während der Prohibition der 20er- und 30er-Jahre als Euphemismus für all die, die sich schon vor dem Abendessen noch schnell und vor allem heimlich ein Tröpfchen im Pub um die Ecke gönnen wollten. Im 20. Jahrhundert angekommen, steht die Happy Hour zumindest hierzulande weitestgehend für befremdlichen Amerika-Kitsch, in IKEA-Gläser gefüllte Sahne-ZuckerInfernos und eine schallende Ohrfeige in Richtung mexikanischer Küche. Sie ist ein nicht totzukriegender Brauch angesichts gastronomischer Revolutionen und kennt vor allem eins: Keine Gnade! Worauf warten wir also noch? Nichts wie hinein in die käseüberbackenen PitcherOasen der Landeshauptstadt. Natürlich pünktlich zur Happy Hour. ►


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SAUSALITOS IM TAL – Straßenverkauf, Im Tal 16 Ohne Worte. Bei dieser Happy Hour müsste sofort geschossen werden. Der Barkeeper hat den Film „Cocktail” zwar hundertmal gesehen, aber kein einziges Mal verstanden. Pfützen Alkohol in Plastik bei Minusgraden an der Straße verkaufen und dann so tun, als ob das dank Maccheroni-Strohhalm nachhaltig sei. Dagobert Duck hätte seine wahre Freude an diesem Konzept, denn die Leute reißen den Jungs das Gesöff aus den Fingern, als ob es pures Gold wäre. Unser persönlicher Tiefpunkt auf der wilden Reise durch die Nacht. Spätestens, als dem MixMan die Pulle aus der Hand fiel und viel zu viel Rum ins Glas floss, was mit der gleichen Menge der restlichen Ingredienzen versucht wurde auszutarieren, hätte man es wissen müssen.

EURO YOUTH HOTEL – Senefelderstraße 5 Die Euro Bar ist die Oase in der finsteren Gastronacht. Allerdings beläuft sich die Happy Hour hier nur auf Bier und das lief außer Konkurrenz. Zur Überbrückung bis zum nächsten Happy-Hour-Spülgang ab 23 Uhr aber gerade recht, denn das Bier kommt schnell und kühl, das Publikum ist international und bierselig. Eine Bahnhofshalle voller Fernweh, BackpackerRomantik und trüber Blicke. LEO‘S LOUNGE – Rosenheimer Str. 98 Naiv aus der Zeit gefallen und definitiv kein Laden, für den man nach Haidhausen fahren muss. Bewundernswert ist allerdings, wie konsequent fehlerhaft so ein Gastrokonzept gefahren werden kann. Angefangen beim falschen Apostroph bis hin zum Möbelerlebniswelt-Kolonialstil und dem hilflosen Versuch, über XL und XXL irgendwas zu retten. „Hoffentlich schmeckt’s. Der Barkeeper ist neu ...“, hieß es ebenso trocken, wie es nur das mit schonungsloser Trockenheit werbende Burger-Bun vermuten ließ. Wer das alles braucht, um glücklich zu werden, der hat RTL II auf Platz 1 seiner Senderprogrammierung. Wo ist Charles Schumann, wenn man ihn braucht?

PEACHES – Donnersbergerstraße 50a Das Peaches ist erstaunlich unscheiße. Natürlich meilenweit entfernt von einer ehrlichen Cocktailbar, gibt sich der Service freundlich, versucht, die Drinks zumindest liebevoll anzurichten und auch nicht das Gefühl zu vermitteln, hier würde mit billigem Schnaps und Zucker der Gast sediert. Im Peaches hat man den Text vom Hotelund Gaststättenverband zumindest nicht komplett missverstanden. Trotzdem ein Rätsel, wie so ein vollkommen aus der Zeit gefallener Laden am Wochenende komplett reserviert ist. Klar, wir haben die großen Sauereien wie die Tischabfalleimer mit Wunderkerze und auch den bis zum Rand mit Rum gefüllten Glas-Elefanten nicht richtig in Aktion gesehen, für rund 30 Euro gehen wir aber nächstes Mal auf Großwildjagd.


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CAFE REITSCHULE – Königinstraße 34 Hier kommt man der Idee einer Happy Hour als Gestaltung des Übergangs zwischen zwei Geschäftsideen sehr nah. Voraussetzung ist natürlich, dass ein Laden über unterschiedliche Geschäftsbereiche verfügt. Der Tages- bzw. Café-Betrieb verabschiedet sich langsam und das Lokal bereitet sich auf die Abendgäste als Restaurant und Bar vor. Möglichst unaufgeregt und geräuscharm werden die Kuchenvitrinen verräumt und die reservierten Tische eingedeckt. Und um der Wuseligkeit, die in dieser Fuge zwangsläufig entsteht, etwas entgegenzusetzen, kann sich der Gast ein oder zwei Gläser Champagner zu einem günstigen Preis schmecken lassen. Vermutlich steckt in dem Angebot etwas Ironie, aber es ist die Geste, die zählt. Dass wir keine Ahnung von Champagner haben, dafür kann ja die Reitschule nichts. Die Idee ist gut, aber wir nicht bereit dafür.

ABSEITS – Marktstraße 3 Ein Idyll der Unaufgeregtheit in der hektischen Atmosphäre rund um die Feilitzstraße. Es läuft Fußball und in der Halbzeitpause werden Hard-Rock-Klassiker gespielt. Die letzte Renovierung wurde zu D-Mark-Zeiten durchgeführt, die Getränkekarte baut auf eine solide Mischung aus Bier und Shots. So geht Kneipe. Hier eine Happy Hour mit Cocktails zu vermuten, war fast schon fahrlässig. Trotzdem wird der Gast mit täglich wechselnden Angeboten gelockt. Samstags gibt es den Whiskey Cola etwas günstiger – all night long. Aber auch der Preisnachlass von 1 Euro macht es nicht erträglicher. Wiederkommen ja, aber dann ehrlich Bier trinken und die Preise günstigwürfeln. BARSCHWEIN – Franzstraße 3 Die Schwabinger Abfüllstation ist eine schon länger umgezogene Institution für junge Leute mit halbwegs gefülltem Geldbeutel und wenig Geschmack. Hier hätten wir die Happy Hour vermutet, werden aber jäh enttäuscht. Die Preise sind verhältnismäßig günstig und ein paar Specials locken mit Mengenrabatt. Wir haben uns für einen Kranz Kölsch entschieden, auch wenn es Fässer geben würde, wobei Kölsch ja mindestens

zwei Dinge für sich in Anspruch nehmen will: Sprache und Bier. Bei Letzterem kann man nur von Themaverfehlung sprechen. Nimmt man die 500 km, die zwischen dem Dom und der Münchner Freiheit liegen, jedoch als Entschuldigung, lässt sich eine folkloristische Note aus dem Gebräu herausschmecken. LOS BANDIDOS – Thalkirchner Straße 71 Eine Dauerschleife aus All-inclusive-Busreise nach Lloret de Mar mit einer Prise ewigem Oktoberfest. Einzig die omnipräsenten Smartphones lassen erahnen, dass wir uns nicht im Jahr 1993 befinden. Freitag und Samstag gibt es die ganze Nacht lang bunte Pitcher oder Maßkrüge um die 10 Gulden. Junge Menschen tanzen zu einer „Ronny’s Popshow“CD ausgelassen auf den Bänken, es werden Führerscheinprüfungen oder wahlweise letzte Abende vor dem Übertritt in den Stand der Ehe gefeiert. Bei der freundlichen, wenn auch überforderten Servicekraft ordern wir eine Mischung aus Pils (!), Tequila, Ginger Ale und Lime Juice. Warum man jedoch solche Panschereien der mexikanischen Trinkkultur unterschieben will, bleibt nebulös. Was dann aber in einer Wasserkaraffe mit zwei Gläsern serviert wird, hat mit gepflegter Gastlichkeit so gar nichts mehr am Hut. Ihr Verbrecher! ▪


46 curt präsentiert

#curtpräsentiert

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KONZERTE

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4.

#indie #rock

©  Marton Bodnar

KAKKMADDAFAKKA MUFFATHALLE

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4.

#progressive #postrock

CRIPPLED BLACK PHOENIX FEIERWERK

10

Wir verlosen Freikarten für jedes der aufgeführten Konzerte und Events. Die Gewinnspiele dazu findet ihr jeweils ca. vier Wochen davor auf ► curt.de/muenchen

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4.

#sadcore #dark #ambient

SOAP&SKIN MUFFATHALLE

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4.

#indie #folk

DAN MANGAN FEIERWERK

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4.

#postpunk #ambient

FAZI & LEROY IMPORT EXPORT

15

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4.

#artpunk #indie #rock

ART BRUT FEIERWERK


4.

27

#artrock #pop

4.

#punkrock

PASCOW TECHNIKUM

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4.

#singersongwriter

SAM FENDER TECHNIKUM

30

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4.

#popkultur

LINUS VOLKMANN HEPPEL & ETTLICH

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4.

#postrock

MONO STROM

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4.

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#grunge #rock #pop

FRITTENBUDE MUFFATHALLE © Frederik Wetzels

© Andreas Langfeld

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4.

#elektropunk #pop

BILDERBUCH ZENITH

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SELIG STROM

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5.

5.

#neoclassical

NIKLAS PASCHBURG HEPPEL & ETTLICH

11

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5.

#rock #indie #emo

WE INVENTED PARIS ZEHNER

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5.

DAVE HAUSE + THE MERMAID BACKSTAGE

#alternative #rock

03

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#folk

© Dalten Paley

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THE GET UP KIDS BACKSTAGE © Durimel

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© Michael Weibel

© Hendrik Schneider

curt präsentiert 47

16

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5.

#modern #jazz

KAMASI WASHINGTON ALTE KONGRESSHALLE


© Chiara D'Anzier

48 curt präsentiert

16

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5.

20

#garagepunk #artrock

© Klickfinger

5.

BUILT TO SPILL KAMMERSPIELE

#electonica

KAZY LAMBIST & GABRIEL V. AMPERE

19

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5.

#rap #hiphop

ROGER & MC RENE STROM

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5.

#indie #pop

BRUCKNER AMPERE © Grand Hotel van Cleef Musik GmbH

© Gregoire alexandre

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5.

#indie #rock

RON GALLO FEIERWERK

19

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26

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5.

#indie

FORTUNA EHRENFELD AMPERE

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5.

#punkrock

JAWBREAKER BACKSTAGE

01

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6.

#alternative #blues #rock#rock

THE SHEEPDOGS STROM

15

.0

6.

#rock #powerpop

TEENAGE FANCLUB STROM

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6.

#folkrock #southernrock

BAND OF HORSES DACHAUER MUSIKSOMMER

28

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6.

#sludge #alternative #metal #rock

MELVINS FEIERWERK

30

.0

6.

#hamburgerschule #rock #indie

TOCOTRONIC DACHAUER MUSIKSOMMER


curt 49


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7.

© Eliot Lee Hazel

15

CAT POWER & BAND BACKSTAGE

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7.

#postrock

FAR BEHIND THE SUN U. A. SUNNY RED

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9.

#alternative #dark #cabaret

AMANDA PALMER ALTE KONGRESSHALLE

22

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9.

#triphop #electronica #progressive

#singersongwriter #folkrock

ARCHIVE PHILHARMONIE © Ingo Pertramer

© Eliot Lee Hazel

50 curt präsentiert

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9.

#indie #pop

THEES UHLMANN AMPERE

08

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0.

#ska

THE SELECTER BACKSTAGE

. L 08 A 3. TIV 1 . – ES 07 T F E IG SZ


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SZIGET FESTIVAL – JOIN THE LOVE REVOLUTION! 7. –13. AUGUST @ DONAUINSEL BUDAPEST Das Sziget Festival in Budapest bietet seinen Besuchern viel mehr als nur Musik. Auch in diesem Jahr werden über 400.000 Menschen aus den verschiedensten Ländern in die ungarische Hauptstadt kommen, um ausgelassen die Musik, die Kunst und das Leben an sich zu feiern. Sieben Tage lang rund um die Uhr wird ein Programm geboten, das nicht nur tanzwütige Festivalgänger zufriedenstellt, sondern auch jede Menge Kontrastangebote für die ganze Familie bereithält. Die Veranstalter meinen das wirklich ernst, denn Kinder unter elf Jahren können die Insel kostenlos betreten.

TEXT: DAVID EISERT // FOTO: SZIGET PRESSE

Aus über 100 Nationen kommen Künstler und Besucher angereist und verschmelzen zu einer Gemeinschaft aus Szitizen, die die Insel nördlich vom Budapester Stadtzentrum zu einem Ort des Zusammenkommens, einem Ort des Friedens und einem Ort des kreativen Austausches machen. Béke-sziget – die Insel des Friedens. Den Veranstaltern des größten Musikfestivals in Mitteleuropa liegen neben dem Spaß auch Themen wie Freiheit, Gleichheit, Anti-Rassismus, Teilhabe oder Umweltschutz besonders am Herzen. 1.500 Shows auf etwa 60 Bühnen! Es gibt hier für jeden das Passende. Fast jedes Musikgenre bekommt hier eine Bühne: von Pop, Indie, Metal, Elektro bis hin zu klassischer Orchestermusik, Varieté Shows und Kleinkunst. Außerdem werden großartige Kunstinstallationen zu sehen sein, Workshops, Aktivitäten und Vorstellungen aller Art angeboten. Das Programm lässt in seiner Breite wirklich keine Wünsche offen. Um nur einige der Acts zu nennen: Ed Sheeran, Foo Fighters, Twenty One Pilots, Florence and the Machine, The 1975, CHVRCHES, Kodaline, Of Mice & Men, Catfish and the Bottlemen, Masego, Richard Ashcroft, Gang of Youths, IDLES, Pale Waves, Frank Carter, Frank Turner … ► szigetfestival.com

Wir verlosen 2 x 3 Tagestickets! Infos und Gewinnspiel ► curt.de/mue


#dnk19

15 JAHRE dunk!FESTIVAL IN ZOTTEGEM, BELGIEN TEXT: TIM BRÜGMANN // FOTO: CASPIAN @ DUNK! © BRAM DE GFEVE

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curt 53

V

om 30. Mai bis 1. Juni verwandelt sich das Jeugdheem de Populier in Zottegem bereits zum 15. Mal in den Austragungsort des legendären dunk!festivals. Der Weg führt dabei quer durch die wogenden Felder Flanderns hinein in den dunklen Mahlstrom des Post-Rock, Metal, Doom, Sludge, Drone, Ambient und Neo Classical. Die Initiatoren, Familie Lievens, laden einmal mehr nach Ostflandern zum großen Klassentreffen der Szene direkt am Vereinsgelände des Basketball-Clubs Helios Zottegem. Dabei haben sie wie jedes Jahr zur Himmelfahrt Christi ein himmlisches Line-up versammelt. Wer sich keinen überteuerten Aufenthalt auf dem Roadburn Festival leisten will, aber auch keine Bierdusche inmitten der konsumfördernden Desertfeste nehmen will, für den führt kein Weg am sonst so verschlafen wirkenden Örtchen Zottegem vorbei. Das von den Heimischen mit liebevollem Dialekt „dünk!“ oder „dönk!“ ausgesprochene Festival bietet dabei feinste Nischenunterhaltung in familiärer Atmosphäre, ohne an Relevanz und Internationalität der auftrumpfenden Bands zu sparen. Egal ob die über alle Maßen erhabenen Russian Circles, Bands wie God is an Astronaut oder pg.lost, die Legenden Swans oder das Who-is-Who der belgischen Postrock-Familie: Tag für Tag wird das überschaubare Gelände auf zwei Bühnen in sphärische Klangteppiche, tonnenschwere Riffs und dicke Schleier Trockeneis gehüllt. Ein jeder, der sich den Weg durch den sprichwörtlichen Wald schlägt, wird eben jenen Anblick nicht vergessen. Denn um zur großen Zeltbühne oder zur intimen Forest-Stage zu gelangen, führt der Trampelpfad vorbei an Lichterketten und soundseligen Festivalbesuchern umringt von schattenspendendem Grün. Doch nicht nur die A-Liste des Genres genießt auf dem dunk!festival ein Bad im Applaus Gleichgesinnter. Gerade eine gesunde Prise Nerdigkeit macht aus Belgiens kompromisslosestem Festival ein wahres Mekka für Musikfans. Familie Lievens

ist nicht nur zuständig für glasklaren Sound und perfektes Licht, sie gibt auch mit dem hauseigenen Record-Label Newcomern wie Alteingesessenen die Chance, sich neuen Zuhörern zu präsentieren. Ein eigenes Vinyl-Presswerk findet sich seit letztem Jahr ebenfalls an Ort und Stelle und erweitert den dunk!-Kosmos um eine sympathische handwerkliche Komponente. Die Präsentation ist bei aller grundehrlichen Substanz nicht nur Steckenpferd des Genres an sich, sondern auch des Festivals selbst. Ein eigenes Merchandise-Zelt und die enge Kooperation mit den spanischen Design-Ikonen Error! geben dem dunk! einen enorm wertigen Anstrich. Wertig, eine Beschreibung, die für die Verpflegung weit untertrieben wäre. So ist das Angebot, das durch freiwillige Helfer bereitgestellt wird, neben den mannigfaltigen Musikdarbietungen ein weiteres Highlight. Ob frische Pizza aus neapolitanischem Mehl, vegane Optionen, Selbstgebackenes oder eine riesige Paella: Belgien kann nicht nur Fritten, auch wenn die ortsansässigen und ebenfalls legendären FryBoys sowohl für ihre göttlichen Goldstifte als auch ihre ausufernden Aftershow-Partys auf dem alten Sportplatz bekannt sind. Dass Jünger der Hopfen-Ambrosia ebenfalls nicht durstig die Matte fliegen lassen müssen, liegt knappe 50 Kilometer von Brüssel ebenfalls auf der Hand. Auch zum 15. Jubiläum gilt es, den Hut vor den Lievens, ihrer unermüdlichen Helfer-Truppe und der Gemeinde Zottegem zu ziehen. Das dunk!festival lässt absolut nichts vermissen. Ganz im Gegenteil: Einmal dort gewesen, erscheint alles andere wie Rumpelbude und Dosenbier. ▪ dunk!Festival 2019 ► dunkfestival.be // Live: Ufomammut, Alcest, Bossk, Kokomo, This Patch of Sky, Tangled Thoughts of Leaving, Gifts From Enola­u. v. m. Wir verlosen Freikarten auf curt.de/mue!


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ZEITZEUGEN IDEE: MICHAEL DENGLER // FOTOS: CHRISTIAN VOGEL NARBEN DER CURT-REDAKTION: CHRISTOPH BRANDT, CHRISTIAN GRETZ, TIM BRÃœGMANN, PETRA KIRZENBERGER, CHRISTIAN VOGEL


TRADITION + ZIEGELSTEIN = NARBE, 2010

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MOUNTAINBIKE + TREPPE = NARBE, 2014

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HERZ + LUNGE = NARBE, 1988

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JUGENDLICHER ÜBERMUT + KLETTERN = NARBE, 1987

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KELLERTREPPE + WÄSCHEKORB = NARBE2, 1879

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PLAYMOBILMÄNNCHEN + FEUERZEUG = NARBE, 1984

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FEUERHOLZSUCHE + ALKOHOL = NARBE, 2001

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TEXT: CHRISTIAN GRETZ // ILLUS: CHLOÉ DONZÉ


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INTERVIEW MIT EINEM EX-HÄFTLING

Felix begrüßt mich freundlich in seiner geräumigen Münchner Wohnung. Eines fällt sofort auf: Es wird viel gelesen hier. Nicht nur im hohen Regal vor mir, sondern auch auf dem großen Wohnzimmertisch, an dem wir uns gegenübersitzen, liegen diverse Bücher und Zeitungen. In den folgenden zwei Stunden bleibt der Lesestoff allerdings unberührt. Stattdessen reden wir. Über Zeit. Zeit im Gefängnis. Seine Zeit im Gefängnis. Zeit, die inzwischen Vergangenheit ist, denn seit vier Jahren ist Felix wieder ein freier Mensch. Über mehr als ein Jahrzehnt war er das nicht. Er verbüßte eine Haftstrafe. Wofür? Das ist für das Thema genauso irrelevant wie sein Alter oder sein richtiger Name, sagt Felix, der eigentlich anders heißt. Er hat Recht.

Hattest du nach der Verkündung des Urteils die Hoffnung, früher als angekündigt wieder frei zu sein? Dass jemand ins Gefängnis geht und sagt „Ich akzeptiere den vollen Strafrahmen“, ohne die Hoffnung zu haben, nach zwei Dritteln der Zeit entlassen zu werden, ist sehr unwahrscheinlich. Das wäre genau so, als wenn jemand, der an einer schlimmen Krankheit leidet, sagen würde: „Nun ja, das war’s jetzt. Dann werde ich eben jetzt daran sterben“, ohne jegliche Hoffnung zu haben, dass er geheilt werden könnte oder zumindest ein Medikament oder eine Therapie für Linderung sorgen könnte. Die Zwei-DrittelRegelung ist ja sogar gesetzlich verankert. Ist bei Straftätern, die ein Verbrechen planen, deiner Ansicht nach schon früh auch der Gedanke mit im Spiel: „Wenn ich erwischt werde, muss ich für soundso viele Jahre ins Gefängnis.“? Die Lebenswirklichkeit, wie ich sie vom Gefängnis kenne, ist, dass selbst der noch so planvoll Vorgehende nicht damit rechnet, dass er ins Gefängnis geht. Das heißt, bis man erwischt wird, ist die Zeit hinter Gittern nie ein Thema? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand die Gefängnisstrafe einkalkuliert. Jeder geht davon aus, dass es irgendwie schon gut geht. Wenn Täter nicht fest davon ausgehen würden, dann würden sie die Tat nicht begehen. Es ist vergleichbar mit dem Rauchen: Die Menschen wissen zwar alle, was auf dem Spiel steht, aber völlig irrational geht jeder Raucher davon aus, dass er schon nicht von Lungenkrebs betroffen sein wird. Das er einer derjenigen sein wird, die ohne Konsequenzen davonkommen. ►


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Ab welchem Zeitpunkt hast du über die Zeitkomponente der Strafe nachgedacht? Ab dem ersten Augenblick, an dem feststand, dass ich ins Gefängnis gehen musste. „Wie lange?“ „Was wird in dieser Zeit sein?“ Das sind Fragen, die im normalen Leben nicht vorkommen. Kein normaler Mensch plant auf viele Jahre im Voraus sein Leben. Wir haben unser „Heute“, „Morgen“, „Übermorgen“, „Nächste Woche“ und höchstens vielleicht vereinzelt irgendwelche konkreten Pläne, die ein Jahr in die Zukunft reichen. Es verändert sich ja schließlich so vieles im eigenen Umfeld, dass es unmöglich ist, sein Leben so weit im Voraus zu planen. Im Gefängnis hingegen ist man mit einer ganz anderen Situation konfrontiert. Man hat plötzlich eine ganz andere Relation zu seinem Dasein. Man wird sich bewusst: „Hoppla, es gibt morgen, übermorgen, auch in zwei oder drei Jahren, aber nur mit der Vorgabe, dass ich dann eben immer noch in derselben Situation bin.“ Wie sah der Alltag im Gefängnis aus? Die meisten Leser stellen sich die Zeit dort sicher so vor, wie er in Filmen oder Fernsehserien dargestellt wird. Jeder Tag im Gefängnis funktioniert nach strengen Ritualen, immer wiederkehrenden Abläufen. Vom Aufschließen der Zelle um Punkt viertel nach sechs, dem Ausrücken zur Arbeit (außer am Wochenende), Einrücken zur Mittagspause, Ausrücken zur Arbeit, Einrücken und eine Stunde Hofgang, danach in die Zelle. Jeden Tag die gleichen exakt durchgetakteten Vorgänge. Und das ist ein Problem. Weil man nach einiger Zeit überhaupt keinen Bezug und kein Gefühl mehr für Zeit hat. Alles hat einen Wiederholungscharakter.

Fängt man dann an, sich Schlupflöcher zu suchen und die Tage auf irgendeine Art zu „markieren“ und „besonders“ zu machen? Das geht nicht. Beziehungsweise nur wenn man damit beginnt, sich eine geistige Beschäftigung zu suchen. Wenn man weiß: „An diesem Tag hab ich mich mit dieser oder jener Thematik beschäftigt.“ Aber der Großteil der Gefangenen geht arbeiten und knallt sich danach vor den Fernseher. Und dann ist es aus. Dann hat man nämlich nach vier oder fünf Jahren gar keinen Anhaltspunkt mehr, weil es keine Akzentuierung von Zeit mehr gibt. Ein freier Mensch hat Anhaltspunkte wie „vor einem halben Jahr war ich auf einer Feier, habe mich mit einer bestimmten Person getroffen, eine Reise gemacht“ und so weiter. Solche Wertakzente entfallen im Gefängnis. Aber oft sind solche Akzentuierungen doch an externe Ereignisse gebunden. Wenn man Leute zum Beispiel auffordern würde, sich an 2006 zu erinnern, würden vermutlich viele die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland nennen. Solche Ereignisse erlebt man doch selbst im Gefängnis über die Medien mit. Das stimmt zwar insofern, als dass man weiß: „Da war die WM.“ Aber es verankert sich ganz anders, wenn man sinnliche Erlebnisse hat. Der Besuch einer Fanmeile oder einer Grillparty, um beim WM-Beispiel zu bleiben. Gelegenheiten, bei denen man neue Leute kennenlernt, neue Umgebungen sieht, riecht, sich irgendwo an das Ufer eines Sees setzt, sich die Nacht um die Ohren schlägt nach einem der Spiele. Im Gefängnis hingegen erfährt man zwar von solchen Ereignissen, aber man besetzt sie nicht mit einer Gefühlsqualität. ►


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Wenn man z. B. vor einem Jahr in Barcelona war, dann kann man sich vermutlich heute noch lebhaft daran erinnern. Wie war die Stimmung, das Gefühl am Strand, in der Fußgängerzone, beim Besuch einer Sehenswürdigkeit? Das ist etwas völlig anderes, als wenn man vor einem Jahr einen Film über diese Stadt gesehen hat. Du hast die Arbeit als zentralen Punkt deines Alltags im Gefängnis beschrieben. Das klingt vermutlich für viele, die noch nie im Gefängnis waren, aber jeden Tag zur gleichen Zeit zur Arbeit gehen, sehr vertraut. Ist Arbeit im Gefängnis normal und inwiefern kann man als Gefangener mitentscheiden, welche Arbeit man verrichtet? Ja, Arbeit ist verpflichtend und gehört zum Alltag im Gefängnis. Das Thema Selbstbestimmung ist kompliziert. Es gibt sie in Maßen und es kommt natürlich auf die jeweilige Person an. Wenn jemand grundsätzlich eine Querulanten-Einstellung gegenüber allem an den Tag legt, dann schlägt sich das natürlich auf die Entscheidung derer nieder, die ihm einen Arbeitsbereich zuteilen. Ebenso kann man aber auch in einem Bereich arbeiten, der den eigenen Fähigkeiten und vielleicht sogar Interessen entspricht, wenn diese erkannt werden. Ich habe zum Beispiel eine Zeitlang in einer Druckerei Manuskripte korrigiert. Aber wirkliche Selbstbestimmung gibt es nicht. Die darf es im Gefängnis auch gar nicht geben. Man hat als Gefangener nicht das Recht zu sagen: „Ich will dieses oder jenes.“ Falls man das versucht, geht gar nichts mehr. Man wird überwacht und beobachtet von der Gefängnisleitung und dann entscheidet jemand darüber, wo man eingesetzt wird.

Wird man für die Zeit, die man arbeitet, bezahlt? Ja, man bekommt circa 100 bis 120 Euro im Monat. Der große Unterschied zu einem 8-Stunden-Arbeitstag eines „freien“ Menschen, auch wenn dieser sich per Arbeitsvertrag dazu verpflichtet, täglich und pünktlich anwesend zu sein, ist aber auch die Selbstbestimmung über die Gestaltung des Arbeitstages. Das fängt schon vor der Ankunft an. Du kannst entscheiden, ob du mit dem Bus fährst oder mit dem Fahrrad an der Isar entlangfährst und wie lange du dir dafür Zeit nimmst. Ob du dir beim Bäcker ein frisches Croissant holst oder kurz ein Schwätzchen mit dem Kollegen an der Kaffeemaschine hältst oder wo, wann und mit wem du deine Mittagspause machst. Im Gefängnis ist alles straff getaktet und immer gleich. Aber schwerer als diese Taktung wiegt das Fehlen sinnlicher Bezüge. Damit meine ich Erlebnisse, die Zeitmarken setzen. Wenn solche Bezüge fehlen, fühlt es sich irgendwann an, als wäre man in einer Zeitschleife gefangen. Auch Gespräche mit anderen Gefangenen können das nicht ändern, denn wenn diese ähnlich lange im Gefängnis sind, dann können sie auch nichts erzählen, was hilft, solche Zeitmarken zu setzen. Man merkt erst, wie wichtig scheinbar banale Unterhaltungen über die Erlebnisse vom letzten Wochenende sind, wenn es keine Erlebnisse gibt. Besuche von der „Außenwelt“ können dieses Abgeschottetsein zumindest einseitig etwas durchbrechen. Sie sind nur alle zwei Wochen für zwanzig Minuten erlaubt. Denkt man im Gefängnis oft über die Zukunft nach? Die Zukunft ist nicht mehr greifbar. Sie scheint weit entfernt zu sein, aber vor allem hat man im Gefängnis keine Möglichkeit, seine Zukunft zu gestalten, und davon lebt Zukunft. ►


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Ein freier Mensch kann, ja muss sogar Zukunft gestalten. Im Gefängnis darf man ja nicht mal ein Telefon die Hand nehmen, wann immer man es möchte. Hat man im Gefängnis zumindest nach der Arbeit nicht alle Zeit der Welt und ist nur eingeschränkt, was die Nutzung der Zeit betrifft? Man kann bis spät in die Nacht lesen, schreiben oder eine Fremdsprache erlernen. Dinge, die man als freier Mensch vielleicht gerne machen würde, sich aber keine Zeit nimmt, weil die Palette an verlockenden Alternativen so groß ist. Diese Alternativen fallen als Häftling ja weg. Der Freiheitsentzug wiegt schwer. Keiner blendet die Einschränkung aus und sagt: „Hurra, jetzt hab ich ja Zeit für alles, was ich vorher nicht gemacht hab.“ Das Zeitempfinden eines Häftlings ist invers. Im Gegensatz zu einem freien Menschen, der sich denkt: „Ein neuer Tag beginnt, was mache ich heute? Womit kann ich meine Zeit verbringen, damit ich am meisten Freude daran habe?“, ist der Gedankengang im Gefängnis eher: „Wieder ist ein Tag, den ich hier drin sein muss, vorbei. Jetzt muss ich den nächsten absitzen.“ Vielen Häftlingen fehlt eine gewisse Reflexionsfähigkeit. Diese Abwehrhaltung ist schlimm, weil man sich dadurch selbst der Möglichkeit beraubt, sich Inseln zu schaffen. Ich habe viel Zeit mit Lesen verbracht. Von Anfang an war mir klar, dass ich mir keinen Fernseher anschaffen werde. Das hätte mich kaputtgemacht. Aber auch Lesen gibt einem nicht diese sinnliche Qualität, die so sehr fehlt in einer Umgebung, in der immer alles gleich ist: Gerüche, Geräusche, Gespräche, Gesichter. Man versucht diesem Kontinuum zu entfliehen, aber es gelingt nicht.

Für einen Großteil der Gefangenen besteht der Zeitvertreib im Körperkult. Die trainieren wie besessen. Das hat auch nichts mehr mit Fitness zu tun. Statussymbole wie eine schicke Uhr, ein teures Auto oder exklusive Schuhe fehlen. Deshalb wird der Körper so „aufgemotzt“, dass man das Gefühl hat, andere in seiner Umgebung damit übertrumpfen zu können. Damit einher geht dann auch die bitterböse Verachtung der meisten für jeden, der lieber etwas liest, als an diesem Kampf um den stärksten Körper teilzunehmen. Trotzdem ist Zeit das absolut dominierende Thema für alle im Gefängnis: „Wie lange musst du sitzen, wie lange hat der, wann ist die frühestmögliche Chance, entlassen zu werden …?“ Die ganze Existenz ist an die Zeitfrage gekoppelt. Zeit spielt im Gefängnis vor allem in quantitativer Hinsicht eine Rolle, nicht in qualitativer. Nimmst du deshalb seit deiner Entlassung diesen qualitativen Aspekt der Zeit bewusster wahr als vor der Inhaftierung? Das ist eine gute Frage. Man muss aufpassen, dass man sich das immer vor Augen hält. Es ist vielleicht vergleichbar mit der Rückkehr von einer Reise in ein Land mit wenig Wohlstand. Vor Ort oder bei der Rückkehr nach Hause denkt man sich: „Wow, mir geht es so gut. Ich muss wirklich dankbar und bescheiden sein.“ Oder: „Was soll das ganze Streben nach finanziellem Reichtum? Man kann auch mit weniger glücklich sein.“ Und nach zwei Wochen ist man wieder gefangen im Hamsterrad und beneidet den Nachbarn um sein neues Auto. Da ist wirklich jeder gefordert, die Gestaltungsfreiheit über die Qualität, die er seiner Zeit verleihen kann, zu schätzen und nicht als selbstverständlich zu betrachten. ▪


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Kunst braucht Zeit: Zeit für die Umsetzung. Zeit im Leben des Künstlers. Zeit, um auf das Publikum zu wirken. Das ist bei der Bildenden Kunst so, vor allem aber bei Musik und Theater. Gerade diese Darstellungsformen brauchen ihre Zeit, verlangen sogar nach ihr. Und haben auf der anderen Seite den Vorteil, dass sie auch mit ihr spielen können.

KUNST BRAUCHT ZEIT IM GESPRÄCH MIT CHRISTIANE BRAMMER, MARKUS HERZOG UND NORBERT GROH VOM MÜNCHNER HOFSPIELHAUS

TEXT: STEPHIE SCHERR // FOTOS: PETER SCHULTZE

Christiane Brammer, Markus Herzog und Norbert Groh arbeiten gemeinsam an einer Eigenproduktion für das Hofspielhaus. Das verlangt ihnen nicht nur viel Zeit ab, sondern gibt ihnen auch die Möglichkeit, Dinge mit ihr auszuprobieren. Den Grundstein dafür liefert das Stück selbst: Basierend auf dem Liederzyklus „Tagebuch eines Verschollenen“ von Leoš Janáček wird mit den Brautbriefen Dietrich Bonhoeffers die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe erzählt. „Tagebuch einer Liebe“ wird von Christiane Brammer für ihr Theater inszeniert, die musikalische Leitung übernimmt Norbert Groh, in den Hauptrollen sind der Tenor Markus Herzog und die Künstlerin Fatima Dramé zu sehen. Bereits der zugrunde liegende Liederzyklus selbst spielt mit der Zeit: Es sind immer wieder lange Pausen vorgesehen, die dem Publikum die Möglichkeit geben sollen, das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten, zu reflektieren und auf sich wirken zu lassen. Tagebücher und Briefe selbst sind bereits Formate, die viel mit Zeit zu tun haben: Sie wird dokumentiert, der Inhalt wird für die Ewigkeit festgehalten. Ein langer Zeitraum wird dargestellt – oder vergeht im Falle von Briefen, wenn man auf eine Antwort wartet. Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer schrieben sich eine lange Zeit Briefe – vor allem dadurch bedingt, dass Bonhoeffer in Haft war. Es blieb ihnen also nicht viel übrig. Passender könnten diese Briefe nicht vertont werden als durch Janáčeks Liederzyklus: Denn auch die Ursprungsgeschichte handelt von einer Liebe entgegen jeder Konventionen. „Je mehr ich mich damit befasse, desto mehr sehe ich, wie diese beiden Stücke miteinander harmonieren“, stellt Norbert Groh fest und macht damit neugierig


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FATIMA DRAMÉ ZUSAMMEN MIT MARKUS HERZOG IN DEN HAUPTROLLEN VON „TAGEBUCH EINER LIEBE” ZU SEHEN


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darauf, wie die Kombination am Ende auf der Bühne funktionieren wird. Im Grunde geht es um einen Prozess, da sind sich alle Beteiligten einig. Die Musikstücke bedingen sich gegenseitig, greifen ineinander und zeigen eine Entwicklung, eine stringente Geschichte. Das Theater und die Bühne bieten viele Möglichkeiten, mit der Zeit zu spielen. Eine sehr beliebte Variante: ein „altertümliches“ Stück in unsere Gegenwart zu versetzen und somit für mehr Identifikation beim Publikum zu sorgen. „Wir heben das Stück in die heutige Zeit, weil das Thema einer solchen Liebe heute noch genauso Relevanz hat wie damals. Die Geschichte ist zeitlos“, erklärt Christiane Brammer ihre Entscheidung. Dazu passend ist die Musik, obwohl sie bereits vor über hundert Jahren entstand, das, was man gemein hin als „modern“ bezeichnen kann.

Wir heben das Stück in die heutige Zeit, weil das Thema einer solchen Liebe heute noch genauso Relevanz hat wie damals. Die Geschichte ist zeitlos.“

Nicht nur die Zeit, in der das Stück spielt, sondern vor allem die Zeit, die das Stück braucht, spielen bei der Inszenierung eine wichtige Rolle: „Ich finde, dass die Pausen zwischen den Stücken wichtig sind. Das Publikum braucht diese Zeit, um ein bisschen nachzuforschen und sich zu fragen: ‚Was hat das jetzt mit mir gemacht?‘ So eine Pause kann dann auch einmal eine Minute dauern, in der sich jeder Einzelne fragen kann: ‚Was hätte ich in dieser Situation getan?‘ Diese Pause wird mit dem Publikum etwas tun und das finde ich wichtig“, stellt Christiane ihr Konzept und den Umgang mit der Zeit dar. „Es ist vom Komponisten auch bewusst gewollt, dass längere Pausen zwischen den Stücken entstehen. Die Länge dieser Pausen variiert auch bewusst“, ergänzt Markus Herzog. Zeit dehnen, Zeit raffen, realitätsnah oder doch -fern spielen: Auch hier muss eine Entscheidung getroffen werden. Im Fall von „Tagebuch einer Liebe“ hat sich Christiane Brammer für die Komprimierung entschieden: „Die Geschichte wird innerhalb eines knappen Monats spielen, vielleicht sogar nur innerhalb eines Tages. Wie viel Zeit dann wirklich vergeht, wird aber gar keine so große Rolle spielen, da der Prozess und die Entwicklung für sich sprechen.“ Das macht für sie den Zug, den Flow aus, der das Publikum mitreißen soll. Und auch hier spielen die Pausen eine Rolle, denn sie können natürlich eine Art Zeitsprung symbolisieren. Wenn ein Stück dem Publikum vorgeführt wird, spielt die Zeit somit viele verschiedene Rollen. Aber auch, bevor es so weit ist, will sie beachtet und vor allem investiert werden. Viele verschiedene kreative Köpfe sind bei der Entstehung beteiligt und gerade bei einer komplexen Verknüpfung zweier Werke, wie es bei „Tagebuch einer Liebe“ der Fall ist, ist der Aufwand groß. „Wenn man anfängt aufzuzählen, sieht man sehr schnell, wie viel Zeit investiert werden muss“, stellt Norbert Groh fest.


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„Vorbesprechungen, Planungen, Proben, Melodien einsingen und üben, Regiearbeit besprechen … der zeitliche Aufwand ist groß!“ Und dennoch reduziert sich die gemeinsam investierte Zeit bei musikalischen Darstellungen im Vergleich zur rein schauspielerischen, findet Christiane Brammer „Die Sänger müssen die Stücke natürlich bereits vorher können. Und wenn jemand ein Stück nicht singen kann, dann nutzt die Zeit am Ende auch nicht viel. Schauspieler wiederum erarbeiten vieles erst bei den gemeinsamen Proben.“ Dennoch löst die intensive und vor allem lange Auseinandersetzung mit einem Stück in allen Beteiligten etwas aus. Das kann sein, dass man sich ganz in einer Rolle verliert und plötzlich Gemeinsamkeiten entdeckt, dass man vielleicht auch zu sehr in die Materie eintaucht und mit der Zeit wieder herausfinden muss. „Auf jeden Fall ist es spannend zu sehen, was mit einem selbst während dieser Zeit passiert.“ Gerade in diesen intensiven Phasen verlangt die Kunst dann auch das, was ihr zusteht, und wieder ist es die Zeit: „In den sechs Wochen Probezeit, die man in der Regel für ein Stück hat, bleibt wenig Zeit für etwas anderes“, stellt Markus Herzog klar. „Man ist in einem komplett anderen Zustand. Wochentage verschwimmen, es gibt kein Wochenende. Die Zeit wird relativ.“ Wie eng Zeit und Theater miteinander verbunden sind, wird einem wohl erst klar, wenn man hinter die Kulissen schaut. Wie viele verschiedene Rollen sie spielen kann, ist erstaunlich. Sie fordert und gibt so viel, wie kaum ein anderer Aspekt der Kunst. Zeit & Theater: vielleicht ebenso eine Liebesgeschichte wie die, die das Hofspielhaus im Sommer erzählen wird. ▪ Tagebuch einer Liebe, ab Juni im Hofspielhaus ► hofspielhaus.de


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BILDER RÄTSEL Ach du liebe Zeit! Ronit Wolf hat mal wieder Redewendungen zum Thema der Ausgabe illustriert. Jetzt ist es für euch an der Zeit, der Lösung auf die Spur zu kommen.

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ILLUS: RONIT WOLF


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3 5 Lรถsungen: 1. Kampf gegen die Zeit 2. Zeit haben 3. Zeit stehlen 4. Zeitreise 5. Zeit ist Geld 6. Zeit heilt alle Wunden.

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Die Brotzeit ist eine Pause, während deren etwas gegessen und getrunken wird, sagt der Duden. Doch sind wir mal ehrlich: Die wahre Bedeutung von Brotzeit geht darüber weit hinaus. Das Wort „Brotzeit“ löst bei vielen nicht nur akuten Appetit aus, sondern ruft auch Emotionen und Erinnerungen hervor. Egal ob Sommer oder Winter, irgendwie begleitet uns die Brotzeit doch immer. Denke man nur mal an die Brotzeit während der warmen Jahreszeit. Etwa der selbstgemachte Obazda mit Brezn im Biergarten zur kühlen Maß. Der wohlverdiente Proviant am Gipfelkreuz nach einer schweißtreibenden Bergwanderung. Die Unmengen an Essen, die auf der Picknickdecke an der Isar ausgebreitet werden. Der warm gewordene und trotzdem köstliche Snack nach einer Abkühlung im Maria-Einsiedel-Bad. Auch wenn wir es vielleicht nicht immer Brotzeit nennen, das Gefühl bleibt doch irgendwie das gleiche.

BROTZEIT IST DIE SCHÖNSTE ZEIT TEXT & FOTOS: LISA LINDHUBER

Die Brotzeit-Erinnerungen festigen sich bei den meisten schon in jungen Jahren. Bereits im Kindergarten und spätestens in der Schule wurden nicht nur die Aufdrucke auf der Pausen-Box verglichen, sondern vor allem der Inhalt – und der wurde gerne auch mal getauscht. Meine Radieserl gegen deine Gurke? Na, freilich! Denn ja, Brotzeit verbindet. Schließlich kann eine Brotzeit auch ein gemeinsames Zusammensitzen und Essen am Tisch meinen. Zeit, die man sich nicht nur zum großzügigen Schnabulieren, sondern auch für seine Familie und Freunde nimmt. Quality Time würde man das wohl heute nennen. Dann liegt der Fokus einfach nur darauf, wer sich jetzt das letzte Stück Käse schnappt und wer eigentlich schon wieder das Glas Essiggurken leer gemacht hat. Für den Moment die wohl einzigen wesentlichen Dinge – so ganz offline. Wobei so eine ordentliche Brotzeit schon ziemlich Instagram-tauglich aussieht, oder? ▪


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WAS IST DAS FÜR 1 ZEIT?

JETZT VS. FRÜHER – EIN VERGLEICH

TEXT: CARINA NEUMANN

JETZT

„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ – rund 5.000 Jahre altes Zitat von Aristoteles oder Sokrates, hier scheiden sich die Geister ... Fällt euch was auf? Bereits vor Tausenden von Jahren meckerte die Menschheit über die verkommene „Jugend von heute“. Es ist das gängige Pendant zu „Früher war alles besser“. Zugegeben, Aristoteles und Sokrates fänden unsere robotermäßige Smartphone-Generation vielleicht auch etwas gruselig. Aber gruselig fanden die Menschen einst auch Bücher! Diese Leute, die ihre Nase ständig in sogenannte Romane steckten und stunden- bis tagelang in dieser mysteriösen Welt der Buchstaben verschwanden – äußerst dubios! Von Realitätsverlust und Flucht aus der Wirklichkeit war da die Rede. Und heute? Heute ist ein gutes Buch ja wohl das Unschuldigste der Welt. Erst recht verglichen mit diesem Internet ... da geht’s ja zu wie im W­ilden Westen! Und dann ständig dieses Abtauchen ins Smartphone. Verlieren die Menschen da nicht den Bezug zur Realität? Na, kommt euch das bekannt vor? Wer weiß, vielleicht halten unsere Nachkommen in der fernen Zukunft Smartphones ja mal für das Harmloseste überhaupt? Die Technik steckt noch in den Kinderschuhen und wir sollten nicht ganz so streng zu ihr sein. Zwischen all den Duckfaces, Selfies und Under-Boobs vergessen wir oft, dass die Sozialen Netzwerke weltweit auch Großes bewegen. In der Politik setzen sie Zeichen und verbreiten Nachrichten abseits der öffentlichen Medien, die sonst im Verborgenen bleiben würden – und deren Kenntnis so wichtig ist. Auch in Sachen Pragmatismus muss selbst der größte Smartphone-Gegner zustimmen: Die Dinger sind halt einfach verdammt praktisch! Wie lange habe ich mich nicht mehr verlaufen, dank Google Maps! Und wie lange habe ich die letzte U-Bahn nicht mehr verpasst, dank der MVG-App! Um bei der lieben Technik zu bleiben: Wer erinnert sich noch an die Höllentage im KVR? Nummer ziehen, auf und ab laufen, sitzen, eine rauchen, Löcher in die Decke starren ... und für den ganzen Scheiß auch noch einen


VS.

Stets sind wir verfügbar, tippen im Gehen, Stehen, auf dem Klo und beim Essen auf unsere Devices ein und nicht nur die steigende Zahl der Burn-out-Fälle und Verkehrstoten durch Smartphones zeigt, wie bescheuert das ist. Was ist nur aus dem Müßiggang geworden, dem Einfach-vor-sich-hin-Starren mit diesem herrlichen Leerlauf im Kopf? Haben wir verlernt, uns selbst in der Stille auszuhalten? Der Planet geht vor die Hunde, weil wir „jedes Jahr ein neues Smartphone“ wollen sollen und die Rohstoffe dafür aus unserer kostbaren Erde geschält werden, während halb Afrika in unserem Elektroschrott erstickt. Ist es das, was wir der nächsten Generation vorleben wollen? Dass die elektronischen Dinger in unseren Händen wichtiger sind als sie und ihre Zukunft? Momentan scheint’s, als hätten wir hier in München von vielem zu viel und von einer Sache zu wenig: Liebe! Die Liebe ist es, die uns zu guten Taten motiviert und zu einem achtsameren Miteinander. Glückliche Menschen kaufen nicht, das wissen die treibenden Kräfte des Kapitalismus natürlich längst. Und so gilt es, uns ständig in einem Zustand des Mangels und der Unzufriedenheit zu halten. Überall suggerieren diverse Posts und Clips, dass wir nicht schlank, schön, cool … genug sind und dringend dieses Auto, Make-up, Smartphone … brauchen. Menschen, die sich selbst mögen, sind zufriedener und weniger verführbar und so wäre das Bestreben, mit sich okay zu sein und den Mut zu einer eigenen Meinung zu haben, zugleich ein Dienst am Planeten. Mehr Zufriedenheit = bewusster Konsum = weniger Müll. Ein guter Anfang wäre vielleicht, das Handy öfter in der Tasche und die Finger von Facebook und Konsorten zu lassen: Die Kommunikation über soziale Kanäle triggert uralte Hirnareale aus einer Zeit, als unser Überleben davon abhing, Teil einer Gruppe zu sein. Das Teilen von Informationen und Emotionen stellt Nähe her und soziale Netzwerke faken diese Art der Beziehungspflege. Greifen wir also im Beisein unserer Lieben zu oft zum Handy, um mehr Likes und virtuelle Freunde zu sammeln, leiden unsere echten Freundschaften, glaubt man den Ergebnissen einer aktuellen Studie. Zuhören + präsent sein = wahre Nähe. Und glückliche Beziehungen machen uns gesünder und widerstandsfähiger. Anstatt uns also von diesen Geräten die Neurochemie durcheinanderwürfeln zu lassen, sollten wir unser Hirn und vor allem die praktischen Helferlein bewusster nutzen und als das sehen, was sie sind: Tools, die das Leben erleichtern – und nicht ersetzen sollen. Wollen wir die Kurve kriegen, brauchen wir Vollzeit-Menschen, die sich achtsam im Hier und Jetzt bewegen und lieb zu sich und anderen sind. Auf dass die Zukunft keine dystopische Vision voller digitaler Zombies ist, sondern ein lebenswerter Ort voller Magie und Freude. Glücklicherweise wachen immer mehr Leute auf und setzen sich ein für ein besseres Morgen. Ich hoffe, wir blicken dereinst kopfschüttelnd zurück und sagen: Was war das für 1 Zeit? ▪

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Urlaubstag verschwenden! Schlimmer geht’s kaum! Heute kann man die Zeit im Höllenschlund wunderbar abkürzen, indem man online einen Termin vereinbart. Wenn das nicht mit die beste Errungenschaft der Münchner Neuzeit ist! Auch an die Morgen nach durchzechten Nächten, in denen ich wie ein Aschenbecher roch, erinnere ich mich nur zu gut. Da waren schmerzende Lungen und krächzende Stimme. In Bars und Clubs zu rauchen, war ja schon ein bisschen cool und verrucht. Aber Sex, Drugs & Rock’n’Roll hin oder her: Dieser Dank geht raus an das Nichtrauchergesetz der Neuzeit! In Liebe, meine Lungen und Strumpfhosen – die zwar immer noch Laufmaschen, aber wenigstens keine Brandlöcher mehr haben! Und ja, die armen Städte dieser Welt werden immer voller, aber immerhin kann man dem Münchner U-Bahn- und Busnetz (die DB erwähne ich an dieser Stelle jetzt mal nicht) keineswegs vorwerfen, dass es diese Massen nicht gebührend kanalisiert und mittlerweile selbst in die äußersten Zipfel dieser Stadt transportiert. Und zu später Stunde, wenn die U-Bahnen schlafen gehen, erwachen die guten Münchner Nachtbusse zum Leben. Ein weiteres Schmankerl der letzten Jahre ist die „Oide Wiesn“: ein klarer Beweis dafür, dass Alt und Neu wunderbar nebeneinander bestehen können. Und während Dirndl und Lederhosen in den 80ern und 90ern total out, spießig und langweilig waren, erleben sie seit ein paar Jahren ihren zweiten Frühling. Mit Baujahr 1990 bin ich ja noch ein vergleichsweise „junges Ding“, daher kenne ich die Isar nur als grüne Oase. Doch das war nicht immer so: Zu den Jugendzeiten meiner Eltern war es völlig abwegig, hier zu baden – viel zu dreckig, zu wild und gefährlich. Und heute? Können wir es nicht erwarten, im Sommer durch die Isarauen zu streifen, uns ins kühle Nass zu legen, mit dem Schlauchboot den Fluss hinunterzufahren und unser Handtuch auf der grünen Wiese auszubreiten. Also, wenn das nicht kickt, weiß ich auch nicht! Überhaupt weiß heutzutage wirklich jedes Kind, dass man die Umwelt schützen muss. Wir haben es ja auch bunt getrieben auf unserem Planeten. Aber dennoch scheint es, als walte mittlerweile immer mehr Vernunft in Sachen Umweltschutz. Die großen Mülleimer an der Isar werden eifrig genutzt und abgesehen von Trump ignoriert auch kaum noch jemand den Klimawandel. Seit der Hippiezeit in den 60ern und 70ern gab es nicht mehr so viele Vegetarier, Veganer und Ökos wie jetzt. Muss man jetzt nicht gut finden, kann man aber durchaus! Denn auch das Bewusstsein für Ernährung und Fleischkonsum sind Entwicklungen, die unseren Planeten dem Gleichgewicht wieder ein Stück näher bringen. Und in Sachen Liebe ernten wir heute auch, was die Blumenkinder damals säten: Liebt doch, wen ihr wollt – Hauptsache, ihr liebt! Und hier wären wir wieder bei der alles umfassenden Essenz des Lebens, egal ob früher oder heute: Seid lieb zueinander! Noch nie hatten wir in Europa so viele Jahre in Folge Frieden. Bewahrt ihn! Und denkt immer daran: Wenn wir später mal sagen: „Früher war alles viel besser“, dann meinen wir damit jetzt! ▪


WAS IST DAS FÜR 1 ZEIT?

JETZT VS. FRÜHER – EIN VERGLEICH

FRÜHER

In den 20 Jahren, in denen ich München nun mein Zuhause nenne, hat sich einiges verändert – und vieles nicht unbedingt zum Besseren. Münchens Mankos werden allgegenwärtig diskutiert und darum soll es hier heute nicht um Horror-Mieten, fehlende Radwege oder die miese Luft gehen. Nicht um den stetig länger werdenden Stau, den aggressiven Ton auf den Straßen oder die irren Auswüchse des Tourismus. Es nervt, dass Kulturraum stetig knapper wird und es nach wie vor kaum adäquaten Ersatz für schmerzlich vermisste Clubs wie das 59to1 oder das legendäre Atomic Café gibt. Und es ist schade, dass alle gleich aussehen, seit Hipster das Stadtbild prägen und jedes Erstsemester rumläuft wie ein Yakuza: die nudeligen Ärmchen mit Tinte verziert und das Milchgesicht mit Wikingerbart auf maskulin getrimmt. Auch beim Tages-Make-up vieler jungen Frauen scheint das Motto „Fake ist Trumpf“ zu sein: Falsche Wimpern, übertrieben betonte Augenbrauen und Gesichtskonturen waren zu meiner Zeit State of the Art in der Travestie-Kunst. Es ist die zunehmende Achtlosigkeit im Umgang mit uns selbst, unseren Mitmenschen und unserer Welt, die mich quält. Immer noch produzieren wir zu viel und schmeißen die Hälfte weg, während immer mehr Menschen zu wenig zum Leben haben, wie die wachsende Zahl von Obdachlosen und Flaschensammlern in der Stadt deutlich zeigt. Doch das kümmert uns nicht, wir haben ja für jedes Bedürfnis eine Instant-Lösung. Der Deliveroo-Boy muss bei jedem Wetter raus und dank Tinder, Netflix und Co. sind des Menschen liebste drei F bequem abgedeckt: Fressen, Ficken, Fernsehen. Wir dröhnen uns zu und lassen uns fernsteuern. Vorangetrieben wird diese Entwicklung von unserer Bereitschaft, Verantwortung abzugeben und das Denken smarten Devices zu überlassen, die längst unseren Alltag prägen. Der moderne Münchner scheint sich auf Schritt und Tritt beschallen und beschäftigen zu müssen. Man quasselt, chattet, wischt und starrt, beim Joggen, Radfahren, Einkaufen. „Hauptsach’ die Luft tscheppert!“, wie der Bayer so schön sagt. Eine Runde Candy Crush geht immer und so mancher zieht sich ganze Serien in der S-Bahn rein! Stichwort Privatisierung des öffentlichen Raumes: Wie oft wird man unfreiwillig Zeuge von Gesprächen, für die man sich früher gar in abgetrennte Kabinen zurückgezogen hätte? Wir teilen privateste Dinge – am Telefon, in Messengern und auf den heiß geliebten Social-Media-Kanälen – und geben Konzernen intime Einblicke, für die wir nicht mehr sind als die Deppen, die ihr Zeug kaufen.

TEXT: PETRA KIRZENBERGER

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TEXT: TIM BRÜGMANN // ILLU: KATHARINA KONTE

BESUCH BEI EINER ALTEN DAME

180 Jahre alt und kein bisschen angestaubt. Im schönen Westend setzt der Lovelace-Mitbegründer Alexander Lutz einer Stadtvilla aus der Gründerzeit nun die Krone auf. „Maßgeschneidert und individuell, jung und trendy, temporär und komfortabel“, so lautet das Credo des Jugendstilbaus mitten im Westend, in bester Lage direkt oberhalb der Theresienwiese gelegen. Dabei ist das Hotel Krone nicht nur eine respektable, altgediente Dame unter den Münchner Hotelbetrieben, sondern seit dem 1. September 2018 gleichwohl Partylocation wie stilvoll kreativer Rückzugsort – trotz des berüchtigten Nachbarn, der Wiesn.


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Im Fokus des 2001 sanierten, geradezu eines Denkmalschutz würdigen Gebäudes stehen neben 3-Sterne-Exzellenz allem voran individuell designte Zimmer und Suiten. Rund 30 Doppelzimmer wurden eigens von Alexander Lutz und seiner Crew mit jeweils unterschiedlicher Handschrift versehen. So findet sich im „Ruhe“-Zimmer eben jener Wunschbegriff ausgelaugter Messe-Gäste in verschiedensten Tag-Stilen der Graffiti-Szene an den Wänden wieder. Weitere Zimmer huldigen beispielsweise dem Big Apple, andere warten mit einer vom Kolonialstil geprägten Optik auf. Manch ein Gast wird sogar ins Reich der untergehenden Sonne entführt. Und vielleicht verrät Hausherr Lutz, der sich bereits im Lehel ein kleines Reich (u. a. Hotel Opera, Bar Lehel und das Gandel) aufgebaut hat, sogar, wo es die extrem stylisch bestickten Kissen zu erwerben gibt. Höchst instagramable also überzeugt das Schmuckstück am Puls der Stadt mit eleganten Suiten und ausladenden Showrooms, deren Glasfassade die Isarmetropole zu Füßen liegt. Als nicht weniger einladend präsentiert sich auch die in dunklen Töne getauchte Hotelbar, die schon von Bands wie dem Monaco Blues Saw Massacre der ebenfalls im Westend beheimateten Temple Choppers für die Darbietung sündiger BlueNotes geentert wurde. Weitere Events von Burlesque bis Hip-Hop-Battle, aber auch Comedy bilden das veranstalterische Rückgrat der Krone. Trotz aller Gastgeber-Souveränität präsentiert Alexander Lutz im Hotel Krone jedoch keine Exzess-Zeugnisse, sondern versteht sich mit ganzem Herzen als Hotelier alter Schule. Dabei lassen sich immer wieder Details entdecken, die Hoteltradition wecken, keineswegs démodé sind und den Adelstitel der gelben Regentin trotz allem Experimentier-Willen stolz verteidigen. Denn was helfen die buntesten Zimmer, wenn der Service nicht stimmt? Selbstverständlich bietet auch das Personal der Krone höchsten Komfort. Was verrückt ist, darf gern auch professionell sein. Aber wie verhält es sich noch mal mit der Nachbarschaft? Ganz klar: Mit dem größten Volksfest der Welt arrangiert sich die gelbe Pracht in bester Westend-Lage einfach. Ab Anstich stehen nicht nur für Gäste aus aller Welt, sondern auch für neugierige Münchner die Türen offen. Zur After Wiesn verspricht die Königin ein wesentlich stilvolleres Ambiente als die Gute-Laune-Folter samt Botox-Fasching der hiesigen Clublandschaft. Im Krone sollen einem keine nackten Australier vom Tisch ins Glas springen, sondern ein lässig cooles Ambiente genossen werden. Wer Bussi-Bussi und Schickeria befürchtet, wird vom Querschnitt des Viertels und neugierigen Besuchern mit Faible für urbanen Flair überrascht werden. Doch damit wir uns richtig verstehen, die Krone kann weitaus mehr, als sich für zwei Wochen im Jahr chic zu machen. Leider hat alles auch ein Ende und so ist die 3-Sterne-Dame bzw. vielmehr ihr Konzept vorerst nur zu Besuch. Das Hotel Krone wird die Räumlichkeiten an der Theresienwiese lediglich für zweieinhalb bis drei Jahre beehren. Bis dahin will Alexander Lutz auch all den Münchnern, die ihr Heil nicht im Bierkrug suchen, einen Lieblingsort voller eindrucksvoller Zimmer, sympathischem Hotel-Service und unvergesslicher Events spendieren. Ausreichend Zeit, sich auf der Wall of Fame mit einem Gedicht oder einem kleinen Scribble zu verewigen, ist genug. curt war schon mal da und ihr vielleicht bald an einem der kommenden Events in der zeitlosen Dame, dem Hotel Krone. ► hotel-krone-muenchen.de


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GLEICHTAKT HISTORISCHE TÄNZE HEUTE TEXT: SONJA PAWLOWA // FOTOS: JAN HETTLER

Tanzen ist eine Zeitsache. Ganz klar: Rhythmus und Takt, Einklang von Musik und Körper. Tatsächlich kann Tanz eine Art Wurmloch sein, das die Zeit anhält und wie ein Ausrufezeichen aus dem Alltag reißt. Die Auszeit von der Jetztzeit. Das ist jetzt so und war immer so. Zu jeder Zeit und allerorts haben Menschen sich in eine Trance gedreht oder stampfend Kontakt mit Regenwolken, Viehherden oder Fußballteams aufgenommen. Wichtig, da wie dort, ist die Loslösung vom Hier und Jetzt. Millionen träumen sich mit Science-Fiction-Filmen in die Zukunft oder beamen sich durch Romane in die ferne Vergangenheit und zurück. Aber immer nur passiv. Warum also nicht aktiv zeitreisen? Weil das nicht geht? Doch, es geht! Der Königsweg in die Vergangenheit ist der historische Tanz durch die Jahrhunderte.

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WAS IST HISTORISCHER TANZ? Der Begriff „Historischer Tanz“ ist erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden und umfasst verschiedene Stile aus mehreren Epochen. Damals kam ein neues Geschichtsbewusstsein in Mode. „Alte Musik“ wurde auf nachgebauten Instrumenten rekonstruiert und da lag die Erforschung der dazugehörigen Tänze nahe. Problem: Kein YouTube. Wie kann man wissen, wie ein Tanz aussieht, wenn keine Filme existieren? Tatsächlich ist dieses Problem ungelöst. Denn im Altertum und im Mittelalter wurden die Tänze von Tänzer zu Tänzer weitergegeben. Direkt und unmittelbar. Zwar gibt es Momentaufnahmen von Tanzenden auf Gemälden und oft werden Tänze in historischen Quellen dem Namen nach erwähnt. Aber der Ablauf eines Tanzes ist abhängig von der Musik, dauert eine gewisse Zeit und kann nicht in einem Standfoto festgehalten werden. Tanz ist etwas Flüchtiges. Die gute Nachricht: Es gibt Aufzeichnungen. Ab dem 15. Jahrhundert hielten Tanzmeister die Schritte und Figuren in Tanznotationen fest. Das Standardwerk überhaupt heißt John Playford „The English Dancing Master“ und wurde zwischen 1651 und 1728 vielfach aufgelegt und erweitert. ►


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WIE WIRD GETANZT? Playford-Tänze sind oft Gassentänze. Und zwar nicht, weil sie in Gassen und Straßen getanzt werden. Auf dem Kontinent nennt man diese Tanzform Contredanse, in England Country Dance. Typischer Fall von Fehlübersetzung, jedoch nicht falsch. Das „Gegeneinander-Getanze“ stammt ursprünglich aus England und erfreute sich großer Beliebtheit in Stadt und Land. Mit Abstand die beliebteste Formation ist der „Longway for as many as will“. Die Paare stellen sich hintereinander auf: Herren links, Damen rechts. Zwei Paare tanzen miteinander Figuren und rücken danach vor. So kommt es, dass alle mal mit allen zusammenkommen und zusätzlich sieht das Ganze schön aus. Von oben betrachtet fast wie ein Kaleidoskop. NICHT NUR EIN KLEIDERSTÄNDER SEIN Michael Lang pflegt ein teures Hobby, nämlich sein Alter Ego Carl Ludwig von Poellnitz. Seit 2005 tanzt, spricht, isst und kleidet er sich wie sein adliger Vorfahre. Er ist ein Reenacter. Was ist das? Beim Reenactment geht es darum, eine vergangene Epoche historisch so korrekt wie möglich darzustellen. In Michaels Fall ist die Zeit des Rokokos gemeint, das


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18. Jahrhundert. Ursprünglich wollte Michael mit seiner Frau Marion einfach tanzen gehen. Doch die Enttäuschung beim ersten Ballbesuch war groß: schlechte Tänzer in billiger Straßenkleidung. Auf der Suche nach einem festlicheren Event stieß Michael auf historische Bälle. Das erfüllte seinen Wunsch nach angemessener Ästhetik. Aber bei historischen Bällen wird historisch getanzt. Und nur rumstehen wollte das Ehepaar Lang nicht. Also lernen, üben, weitermachen. „Bei meinem ersten Ball sah ich aus wie eine Vogelscheuche“, erinnert sich Michael. Bessere Kleidung musste her. Michael nähte für seine Frau Schnürbrüste und Rokokogewänder, für sich selbst Röcke und Uniformen, sogar ein Zelt für die Jagd.

Momente, die eine andere Wirklichkeit heraufbeschwören: ein anderes Leben in einer anderen Zeit.

Anwendung findet das Equipment überall in Europa. Die Rokoko-Community trifft sich in angemieteten Schlössern, beispielsweise zum Diner. Da werden historisch akkurat die Speisen des Zeitalters gekocht, angerichtet und standesgemäß serviert. Hühner etwa wurden damals mit den Füßen gebraten. Für solch ein Fest braucht die Reenactment-Köchin ein ganzes Jahr an Vorbereitung. Auch die Gäste müssen sich vorbereiten, damit alles stimmt.

Der Hausherr reicht den Tee, verteilt die Suppe und tranchiert das Fleisch. Das will alles gekonnt sein. Später spielen die Musikanten zum Tanz. Parliert wird auch. Wortwahl und Themenfindung ist da von Bedeutung. Michael entschied sich früh für die Darstellung eines Adligen. „Ein Von und Zu, so einer war doch auch mein Großvater“, dachte er und nannte sich nach ihm Carl Ludwig von Poellnitz. Dass noch ein anderer Karl Ludwig von Poellnitz im 18. Jahrhundert existiert hatte, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Und dass jener Karl Ludwig einen reichen Schatz an Gesprächsstoff mit sich bringt, erfuhr er dann auch erst zufällig. Michael wunderte sich zunächst über die Anspielung „Einem galanten Sachsen kann ich das nicht verwehren“, denn er ist kein Sachse. Jedoch: „Das galante Sachsen“ hieß ein Bestseller, den Michaels Ahne von Poellnitz 1734 geschrieben hat. Es war nicht sein einziges Werk. Der alte Karl Ludwig war Krimiautor, Reiseschriftsteller und Klatschreporter in Personalunion. Und ewig pleite. Das ist eine satte Grundlage, wenn man eine Epoche darstellen will. Vorgaben und Futter in allen Bereichen. Wenn alles passt, dann ergibt sich ein historisch einwandfreies Gesamtbild. ►


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GEERBTE LEIDENSCHAFT ALS HINTERLASSENSCHAFT Mike Cresswell hat von seiner verstorbenen Frau Lilo nicht nur Ordner voller Fotos und Erinnerungen geerbt, sondern auch eine ganze Tanzgruppe. Lilos Geschichte ist die einer Frau aus München, die auszog, um eine Welt zu erobern. Die Geschichte einer Frau, die sich für Geschichte und Kunstgeschichte interessierte, als Reiseleiterin nach Griechenland fuhr und dort ihre englische Liebe traf. Die Geschichte eines Mädchens, das nicht ins Ballett durfte, weil sie keine höhere Tochter aus begütertem Hause war, und trotzdem tanzte. Schottisch, mit ihrem englischen Mann. Das war der erste Streich. Mit dem Scottish Country Dance, der Contredanse-Figuren beinhaltet, waren die Weichen gestellt. Ein historischer Tanzkurs bei den Landshuter Hofmusiktagen führte in die nächste Dimension. Die Fusion aus Tanz und Geschichte entfesselte eine ungeahnte Energie. So kam es zum nächsten Streich. In kürzester Zeit spann Lilo ein Netz um sich, organisierte eine Ballnacht im Schloss Nymphenburg, engagierte Musiker und Tanzlehrer, trat in Museen und beim Stadtgründungsfest auf. In dieser Zeit gründete sie die Tanzgruppe „Tanz durch die Jahrhunderte“. Das waren nicht nur sieben auf einen Streich, sondern viel, viel mehr.

EIN INTENSIVES LEBEN „Es war ein intensives und anstrengendes Leben, Jahre ohne freies Wochenende“, erzählt Mike Cresswell. Als Lilo 2010 starb, war das wie eine Vollbremsung. Die Mitglieder von „Tanz durch die Jahrhunderte“ wollten unbedingt weitermachen. Aber wie? Lilo hinterließ auch als Tanzleiterin ein Loch. Monatelang erbarmte sich Aileen Klarmann, Gründungsmitglied bei TddJ und selbst Tanzlehrerin. Sie führte die Gruppe tänzerisch durch diese Krise. Dann übersiedelte eine großartige Dozentin für historischen Tanz, die Holländerin Nicolle Klinkeberg, nach München. Nicolle übernahm die künstlerische Leitung und unterrichtet jetzt trimesterweise Tänze aus der Renaissance, dem Barock und dem 19. Jahrhundert. Wie einst Lilo kümmert sich Mike Cresswell um die Verwaltung, organisiert die Auftritte und macht sie bisweilen auch selbst in Gewandung als Tanzmeister mit. Respekt.

SCHÖNHEIT VON MUSIK UND BEWEGUNG Bei Nicolle Klinkeberg geht es um den Tanz. Per se. Und professionell. „Der Tanz zeigt die Epoche, selbst wenn der Tänzer Jogginghosen trägt“, findet sie. „Historischer Tanz lebt von der Imagination.“ Die Schönheit des Tanzes rührt von der Dynamik her, die sichtbar wird. Das ist nicht auf einen bestimmten Tanzstil beschränkt. Nicolle, die auch Volkstanz unterrichtet, erlebte das hautnah mit, als sie in Bulgarien vier abgearbeiteten alten Bäuerinnen zusah, die voller Stolz die Tänze ihres Dorfes präsentierten. Obwohl die Damen schon kaum mehr die Füße heben konnten, tanzten ihre Körper in einer perfekten Spannung und Schönheit. „Es wirken die Menschen, nicht die Äußerlichkeiten.“ Nicolle stammt aus dem Süden der Niederlande. Ihr Großvater war von Haus aus Stuckateur. Veränderungen der Wirtschaftslage zwangen ihn irgendwann in den Bergbau, damit er seine Familie ernähren konnte. Harte Zeiten. Trotzdem war immer Musik im Haus. Eine wichtige Erfahrung, aus der ein Standpunkt erwuchs. Nicolles Eltern fanden: „Lieber etwas studieren, was dich wirklich interessiert. Vielleicht kommt es hart nach, aber dieses Studium nimmt dir niemand mehr weg.“


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Alle ihre Kinder erhielten Klavierunterricht und Nicolle studierte Musikwissenschaften in Utrecht. Beim Binge-Listening – die gesamte Musikgeschichte vom Mittelalter bis heute im Schnellverfahren – entdeckte sie ihre Liebe zum Barock. „Partys haben mich nicht interessiert,“ sagt Nicolle. „Small Talk hab ich bis heute nicht gelernt.“ Aber der Tanz war neben der Musik ihr Ding und so war der Schritt zum historischen Tanz nicht groß. Die große Liebe – und nicht nur die zu Musik und Tanz – hat sie dann nach München gelockt. Ein glücklicher Zufall, denn die Welt des historischen Tanzes ist klein. Auch in München. Historischen Tanz findet man üblicherweise in Gegenden mit großer Schlossdichte. Die Anwohner spielen dort gern ihre lokale Geschichte nach und locken mit Tanzaufführungen in edler Gewandung die Touristen an. Braucht München nicht. Die Touristen kommen sowieso. Die Kenntnis historischer Tänze bezieht der gemeine Münchner aus JaneAusten-Filmen. Sieht im Kino elegant und schön aus, aber kann man das auch lernen? Eltern schicken ihre Kinder ins klassische Ballett, Teenager und Erwachsene lernen Standards, Salsa oder Tango und Moves auf den Dancefloors.

Den historischen Tanz kennt keiner, denn es fehlt an einer „Infrastruktur“. Er gehört an Tanzschulen selten zum regulären Angebot, es gibt keine Ausbildung zum historischen Tanzreferenten, man kann ihn kaum auf professionellem Niveau auf der Bühne sehen. Wer historischen Tanz in seinen verschiedenen Stilen kennenlernen und sich ein Bild von den Bewegungen und den Formen machen will, ein Bild, das über das Kostüm hinausgeht, für den bleiben nur eine Handvoll Kurse, Workshops und Seminare. Zum Glück gibt es den Early Dance Calendar, der listet, was europaweit angeboten wird. Für Nicolle bedeutet es, dass nicht nur sie oft eine Reise antritt, sondern auch die Teilnehmer an ihren Kursen manchmal von weit her kommen. „Gut, dass ich solche Dinge vorher nicht immer mitkriege. Da würde ich mich noch mehr unter Druck setzen.“ Druck macht sie sich sowieso. Sie ist eine Perfektionistin. Perfekt wären die perfekten Bewegungen, die perfekte Symmetrie in perfekter Harmonie. So geht schön. ▪

► club-rocaille.de ► tanzdurchdiejahrhunderte.de ► earlydance.org


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ENDZEIT


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TEXT: LEA HERMANN // ILLUS: YAEL CURI

Leben wir wirklich in so friedlichen Zeiten? Naturkatastrophen nehmen immer mehr zu, Kometeneinschlag oder ein neuer Krieg ist längst überfällig: Aber wie übersteht man solche „Worst Case“-Szenarien? Und wie sicher ist es in München? Zeit, sich für den Ernstfall zu wappnen. Die Hochbunker sind kaum noch wiederzuerkennen. Mit neuer Fassade und großer Fensterfront sind die Bunker, die in der NS-Zeit gebaut wurden, in der Untergiesinger Claude-Lorraine-Straße und in der Schwabinger Ungererstraße mittlerweile zu hyperstylishen Wohnhäusern umgebaut worden. Kein Wunder, sollen doch laut dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe bestehende Schutzräume „rückabgewickelt“ werden. 30 Jahre nach dem Kalten Krieg und fast 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg scheint den Behörden trotz Machtgebaren der Herren Trump, Putin und Kim Jong-un eine große nukleare Bedrohung wohl kaum noch möglich. In München ist die Branddirektion für den Zivilschutz zuständig und somit auch für die 22 Schutzanlagen, die es noch im Stadtgebiet gibt. Unter anderem ein Hochbunker in der Blumenstraße, in den sich Münchner im Notfall flüchten könnten. Könnten – denn der soll bald in ein Museum umgewandelt werden. Das flächendeckende Sirenennetz gehört ebenfalls längst der Vergangenheit an, dafür gibt es jetzt die Warn-App „NINA“ (Notfall-Informations- und Nachrichten-App), die auf Hochwasser, Unfälle mit giftigen Substanzen, aber auch auf Raketenangriffe hinweisen soll. Nur kennt die kaum jemand. Genauso wie wohl die wenigsten von uns den Rat der Bundesregierung befolgt haben, Lebensmittel für zehn Tage zu horten. Doch die Sicherheit, in der wir uns wähnen, ist trügerisch. Es muss ja nicht gleich die Zombie-Apokalypse sein. Nur eine kleine Abweichung des Gewohnten könnte schon alles zum Umfallen bringen. „Gerade in Zeiten von Just-in-Time-Lieferungen sind wir doch sehr auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen. Da sind die Regale der Supermärkte ohne den täglichen Nachschub in wenigen Tagen leer“, erklärt ein Münchner Prepper, der seinen Namen hier lieber nicht lesen möchte. Prepper (vom englischen „to be prepared“) bereiten sich mit eigenen Maßnahmen auf Katastrophenfälle jeglicher Art vor. Lebensmittelvorräte, Wasserfilter und Batterien sind da nur die Standardausrüstung. Anders als es noch bei unseren Großeltern üblich war, hat kaum jemand von uns eine gut gefüllte Speisekammer. Kein Wunder, in einer kleinen Stadt-Wohnung ist dafür einfach kein Platz. Auch handwerkliches Geschick ist kaum mehr gefragt. Geschweige denn weiß der Durchschnitts-Münchner, wie man Gemüse zieht. Und das könnte fatale Folgen haben. ►


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Denn die moderne Zeit hat uns zu hirnlosen, technikabhängigen Konsum-Liebhabern werden lassen, die sich im Notfall nicht selbst versorgen können und ohne Google aufgeschmissen sind. Daher steckt in den Befürchtungen der Prepper, die Zivilisation könnte zusammenbrechen, eine reale Bedrohung – und das muss nicht mal ein Krieg in Europa sein: „Das Wahrscheinlichste, was passieren könnte, ist eine Naturkatastrophe oder ein Stromausfall. Aber auch eine Pandemie könnte dafür sorgen, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war.“ Bücher, Online-Shops mit Survivals Kits und der YouTube-Kanal von „Survival-Mentor“ Reini Rossmann bereiten schon mal auf den Notfall vor. Und München? Wie sicher ist es bei uns? Wahrscheinlich genauso unsicher wie in allen anderen Großstädten auch. Dort ist in der Endzeit die Gefahr von Plünderungen besonders groß. Klar, wohnen hier doch viel Menschen dicht an dicht. Auf dem Land hat man es da schon leichter zu überleben, mit weniger potenziellen Futter-Neidern. Aber egal ob in der Maxvorstadt oder in der Provinz – kommt es hart auf hart, muss jeder selbst schauen, wo er bleibt. Selbst der Prepper ist sich nicht sicher, ob er die Endzeit überleben würde. Für eine längere Zeit ohne Supermarkt wäre er gerüstet. Bei einem Sonnensturm, Krieg oder Meteoriten-Einschlag kommt es drauf an, wie viel zerstört wird. Da sich nicht jeder von uns einen eigenen Bunker mit meterdicken Betonwänden graben kann, schadet es nicht, zumindest einen Vorrat zu haben. Der Prepper empfiehlt dazu die Broschüre zur „Vorsorge für den Katastrophenfall“ der Bundesregierung. Denn zwei Fakten sind unumstößlich: Nichts ist sicher. Und: Die Menschheit neigt zu Dummheiten. ▪

Broschüre zur „Vorsorge für den Katastrophenfall“: ►bbk.bund.de

VORRÄTE-LISTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR 10 TAGE: 20 Liter Wasser, 3,5 kg Vollkornprodukte, 4 kg eingelegtes Gemüse und Hülsenfrüchte, 2,5 kg Obst und Nüsse, 1,5 kg Fisch, Fleisch und Volleipulver, Zucker, Gemüsebrühe, Jodsalz und Fertigprodukte nach Belieben


Die letzten Boazn Münchens aus 8 Stadtteilen zusammengefasst in einem Kartenspiel.

PRÄSENTIERT VON

Für 8,90 Euro (inkl. MwSt. und Versandkosten) online bestellbar auf boazn-quartett.de


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ILLU: CHLOÉ DONZÉ


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ZEIT IST GELD. NICHT BEI UNS. UNSERE STUNDEN AUF DER UHR, DIE DIESE AUSGABE MÖGLICH GEMACHT HABEN 12,5 Stunden investierte Lea Hermann für diese Ausgabe und musste dafür Abstriche bei ihrer Netflix-Sucht machen. Ca. 30 Stunden arbeitete Yael Curi an Artikel und Illus; dafür vernachlässte sie ihr Hobby Schlagzeugspielen. 59 Stunden brauchte Sonja Pawlowa, um sich für curt auf eine 500 Jahre währende Zeitreise zu begeben. Anstatt sich mit Erkältung ins Bett zu legen, erstellte Simone Reitmeier 16,5 Stunden lang Grafiken. Sonst wäre es langweilig gewesen, sagt sie. Rund 24 Stunden steckte Petra Kirzenberger in die Magazin-Arbeit, statt Yoga zu üben, an der Isar spazieren zu gehen oder mit einer Freundin eine Flasche Wein zu leeren, anstatt vernunftshalber ins Bett zu gehen. In den 37 Stunden Arbeit für das Magazin konnte David Eisert seiner Lullirock-Sammlung weniger Aufmerksamkeit entgegenbringen. Ungefähr 26 Stunden seiner Freizeit gab Tim Brügmann für seine Artikel samt Recherche her – was hätte er auch sonst machen sollen!? 9 Stunden vergingen bei Christian Gretz für diese Ausgabe – Zeit, die er sonst zum Reisen oder Schlafen genutzt hätte. 10 Stunden gingen bei Chloé Donzé für ihre Illustrationen drauf. Unzählige Stunden und Tage verflogen in Nullkommanix bei Mirjam Karasek beim Redigieren, Korrekturlesen, Feilen und Glätten der Ausgabe. Ihr Fazit: einfach eine schöne Zeit! Rund 12 Stunden konnte Stephie Scherr nicht ihrer Lieblingsbeschäftigung „fluchend beim Yoga im nach unten schauenden Hund verharren“ nachgehen. 16 Stunden standen bei Lara Freiburger auf der Uhr, von denen sie gerne ein paar einfach mal frei gehabt hätte. Abartig viele unzählbare Stunden schenkte Mel Castilllo dieser Ausgabe und hat damit mal wieder eine abartig gute Zeit mit ihrem Lieblingshobby verbracht. Zeit ist curt.

ÜBER UNS

CURT MAGAZIN MÜNCHEN

curt München erscheint 2 x im Jahr als

CvD: Melanie Castillo

monothematisches Magazin in einer Auflage von

Widenmayerstr. 38, 80538 München

6.000–10.000 Stück (je nach Finanzierungs-

Fax: 089 520 306 15 | muenchen@curt.de

lage) und liegt kostenlos in der Stadt aus.

CURT MAGAZIN NÜRNBERG

Das ehreamtliche Projekt ist der idealistischen

Chefredaktion: Reinhard Lamprecht

Zusammenarbeit vieler kreativer Köpfe zu ver-

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danken – Redakteure, Fotografen, Illustratoren,

Tel.: 0911 940 58 33 | info@curt.de

Grafiker und Künstler toben sich auf der unkonventionellen Plattform aus. 100 % DIY. Non-profit.

CURT MEDIA GMBH

Romantik pur!

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Der Druck der Ausgabe wird durch Anzeigen finanziert. Danke an alle, die uns unterstützen!

ART DIREKTION & KOORDINATION Melanie Castillo ► mel@curt.de

Wir fahren die Ausgaben in der Stadt selber aus – falls also mal unser Magazin-Aufsteller leer sein

SCHLUSSREDAKTION & LEKTORAT

sollte, freuen wir uns über eine kurze Ansage,

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dann bemühen wir uns um Nachschlag. Das jeweils aktuelle Magazin könnt ihr auch nach Hause be-

LITHO & FINAL COUNTDOWN

stellen. ► curt.de/muenchen/curt-bestellen

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Glockenbachwerkstatt, Valentin Stüberl, Münchner Kammerspiele, Südstadt, deinkiosk.de, Literatur Moths ... und wo wir sonst noch so auf unserer Tour vorbeikommen. Schreibt uns gerne, wenn ihr curt bei euch auslegen wollt ► muenchen@curt.de

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# 92 ERSCHEINT IM HERBST 2019 Auf curt.de/muenchen empfehlen wir euch Konzerte, Alben, Filme, Theater und Pipapo. Und verlosen massenhaft Freikarten.

ALLE MITARBEITER*INNEN DIESER AUSGABE: Mirjam Karasek, Melanie Castillo, Tim Brügmann, David Eisert, Lara Freiburger, Carina Neumann, Petra Kirzenberger, Yael Curi, Christian Gretz,

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Simone Reitmeier, Stephie Scherr, Sonja Pawlowa, Carina Neumann, Lea Hermann, Lisa Lindhuber, Heike Fröhlich, Andy Weixler, Katharina Konte,

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Genehmigung gestattet. Sonst: Beule!


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DIESE AUSGABE WIDMEN WIR UNSEREM REDAKTEUR UND LIEBLINGS-GRANTLER SEBASTIAN KLUG. GUTE REISE, „MEI LIABA!” SCHEE, DASS D’ DA WARST. DEINE CURTIES


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