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Interview mit Harald Lesch ��������������������������������������������������������������� Seite

Zeit ist nicht verfügbar

Der Physiker, Philosoph und Wissenschaftsmoderator Harald Lesch hinterfragt in seinem aktuellen Buch unser Verständnis von Zeit, das letztlich zu all den Krisen führt, die wir momentan erleben. Interview von Barbara Breitsprecher

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Harald Lesch ist gerade mit seinen täglichen Yogaübungen beschäftigt, als zur vereinbarten Zeit sein Telefon klingelt. Dennoch ist er sofort für unser Gespräch bereit. „Bei Yoga muss man sich jederzeit stören lassen, natürlich“. lacht er entspannt. Der Astrophysiker, Naturphilosoph und Fernsehmoderator ist vielfacher Bestseller-Autor und seine Wissenssendungen sind längst Kult. Zusammen mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler und dem Zeit- und Organisationsberater Jonas Geißler hat er nun das Buch „Alles eine Frage der Zeit“ geschrieben (Oekom-Verlag, 20 Euro). Denn man kann sie nirgendwo einzahlen oder Zeitzinsen bekommen. Die Zeit ist eben nicht nur die Bedingung, überhaupt zu sein, sondern sie ist eben auch überhaupt nicht verfügbar. Wir versuchen zwar, sie dazu zu machen, in dem wir sie messen oder darstellen, aber in Wirklichkeit ist sie eine absolut unverfügbare Ressource. Und auch wenn wir sie zu Geld oder einer Handelsware machen, bleibt sie das große Rätsel des Universums. Das ist auch der Grund, warum insbesondere Physiker die Zeit hassen, weil sie sich einfach nicht so verhält, wie wir es gerne hätten.

Ich dachte immer, bei Yoga muss man sich versenken und die Welt ausblenden… Prof. Dr. Harald Lesch: (lacht herzlich) Ja, das übe ich auch immer wieder, aber so habe ich Yoga noch nie empfunden und auch noch nie praktiziert.

In Ihrem aktuellen Buch gehen Sie zunächst auf die verschiedenen Krisen ein, die wir momentan mehr oder weniger bewusst durchleben. In der Bilanz sehen sie bei alledem einen gemeinsamen Faktor, und das ist die Zeit. Sie sagen, die lässt sich nicht beherrschen – und doch versuchen wir es ja ständig? Lesch: Es gibt ja verschiedene Zeitkulturen. Es gibt Momente, da denken wir gar nicht an Zeit und wie sie vergeht. Wenn es uns beispielsweise sehr gut geht, wenn man mit Menschen zusammen ist, die einem richtig etwas bedeuten. Es gibt andere Momente, da haben wir das Gefühl, die Zeit bleibt förmlich stehen, bei Nachrichten, die uns erschüttern. Man muss also unterscheiden zwischen dem, was die Uhr anzeigt und der erlebten Zeit. So ökonomisiert, wie wir alle nun mal sind, versuchen wir möglichst effizient zu sein und Zeit zu sparen, was natürlich nie gelingt.

Nun hat man ja das Gefühl, wir leben in einer zunehmend schnelllebigen Zeit… Lesch: Wir tippen auf unser Smartphone, und zack – haben wir eine Hose bestellt. Aber die Entscheidungen in der Politik dauern manchmal monatelang, Koalitionsverhandlungen, Entscheidungen der Stiko zur Kinderimpfung, alles dauert Wochen und Monate – wieso können die sich eigentlich nicht genauso schnell entscheiden, wie ich mich für eine Hose? Wir haben unterschiedliche Wahrnehmungszeiten, unterschiedliche Reaktionszeiten. Und die Zeit-ist-Geld-Variante ist eiWir kaufen gentlich die allerschlimmste. Denn sie macht aus uns nur Wohnmobile + Wohnwagen noch ökonomische Objekte, 03944 / 36 160 dabei lassen wir unsere Würde fallen. www.wm-aw.de (Fa.) Sie selbst haben kein Smartphone und geben sich genau 60 Minuten pro Tag, um Ihre Mails zu checken, dabei haben Sie festgestellt, dass sie gegenüber ihren Kollegen einen Zeitgewinn von vier Stunden haben. Ist das denn nun nicht ein Widerspruch? Lesch: Zeitgewinn heißt, ich habe Zeit für Dinge, die ich allein entscheide. Ich organisiere nicht und kommuniziere nicht währenddessen. Ich bin nicht eingebunden in irgendwelche Prozesse, wo ich hinterher nicht weiß, was ich getan habe. Sondern ich kann genau das tun, was ich will. Vielfach wird ja beklagt, dass man keine Zeit mehr hat für Dinge, die einem wichtig sind. Die sogenannten Sachzwänge sind natürlich auch Zeitzwänge. Die entstehen stärker, je mehr man zugriffsfähig und verfügbar ist. Verfügbar sein heißt vor allen Dingen im Onlinebetrieb zu sein. Die Kommunikationsmöglichkeiten bedeuten viel Ablenkung von all den Dingen, auf die man sich eigentlich mehr konzentrieren möchte. Ich habe also mehr Konzentrationszeit zur Verfügung.

Im Zusammenhang mit dem Umkippen des Klimas beschreiben Sie auch den Peak und nennen das Jahr 2006. War das eine universale Jahreszahl, an der alles gekippt und nun irreversibel ist? Lesch: Wir sehen ja seit längerem, dass sehr viele Ressourcen zur Neige gehen. Das heißt nicht, dass sie jetzt gleich verschwinden. Sondern das heißt, es sind keine neuen Lagerstätten mehr entdeckt worden. Wir müssen uns also überlegen, wie wir mit Produktentwicklung, technologischer Entwicklung und Rohstoffen innerhalb von Recyclingkreisläufen umgehen, damit wir nichts mehr verlieren, sondern wichtige Ressourcen bei uns behalten. Ich will ein einfaches Beispiel nennen: Brandenburg ist ein sehr trockenes Bundesland. Und dieses Bundesland exportiert Wasser. Wasser wird dort aus dem Boden gepumpt und in die Flüsse geleitet, die es in die Nordsee bringen. Das ist keine gute Idee für ein Land wie Brandenburg, das sollte kein Wasserexportland sein. Eigentlich müsste dort alles dazu beigetragen werden, dass sämtliche Abflüsse, beispielsweise aus dem Braunkohlebau, in Brandenburg bleibt. Es sollte also ein Rücklaufsystem geben, so dass kein Wasser verschwindet.

ren und desto unangreifbarer ist es, beispielsweise das Ökosystem. Aber inwieweit trifft das auch auf die Zeit zu? Lesch: (Lacht) Nehmen wir mal an, Sie wären – entschuldigen Sie den Ausdruck – eine Korinthenkackerin. Sie möchten, dass alle in Ihrer Umgebung die Zeit immer in gleicher Form und gleicher Geschwindigkeit nutzen. Ob es um den Schlaf geht, ob es Ihnen gut oder schlecht geht, ob man isst oder trinkt. Für alles gilt ein klarer Tagesablauf, 22 Minuten fürs Mittagessen, 21 Minuten fürs Frühstück, 23 Minuten fürs Abendessen, vier Minuten für den ersten Toilettenbesuch, sechs Minuten für den zweiten, und so weiter. Das wäre eine totale monomanische, technische Zeit. Nur eine einzige Zeitform. Sie können sich vorstellen, dass Sie damit im sozialen Verband ziemliche Probleme bekämen. Weil sich andere Menschen nämlich ganz andere Zeiten nehmen für Essen, Trinken und was auch immer. Mit der monomanischen Zeit, der Monokultur, kommt man also nicht weit. Ökonomie fordert von uns eine Art von Monokultur, in dem sie vor allem in Zeiträumen der Fristen uns immer wieder unter Druck setzt. Wenn Sie aber Zeiten am Tag haben, an denen Sie einfach mal Zeit verplempern, gedanklich schlendern, herumschauen und gar nix machen, ohne Zeitmessgerät, dann haben sie vielfältige Zeiten am Tag, mal müssen Sie schnell sein, mal können Sie langsam sein. Dann sind Sie viel widerstandsfähiger gegenüber äußerem Druck.

Da unsere Gesellschaft aber spätestens seit der Industrialisierung relativ monoman tickt, mit fest geregelten Arbeitszeiten, sind wir dadurch angreifbarer geworden? Lesch: Aber klar, natürlich. Vor allem wenn sich die Bedingungen ändern, dann sind genau diese Zeit-Monokulturen diejenigen, die zuerst zusammenbrechen. Das sind dann die Menschen, die zuallererst die großen Probleme damit haben, wenn sie aus diesen Zeitkulturen herausgerissen werden. Das haben wir ja bei der Coronapandemie erlebt. Diejenigen, die immer schon flexibel gearbeitet haben, für die Homeoffice normal war, die konnten sich doch relativ gut anpassen. Alle anderen hatten ein riesiges Problem, denn sie waren eine bestimmte Zeitkultur gewöhnt. In der Flexibilität von Zeit sieht man in der heutigen Resilienzforschung einen unglaublichen Vorteil. Wann immer Sie die Möglichkeit haben, optional zu reagieren, etwas auszuprobieren, was einem am besten etwas nutzt, umso besser sind Sie in der Reaktion auf und bei der Anpassung an veränderte Bedingungen. Alle diejenigen, mit nur einer einzige Zeitkultur, haben die allergrößten Schwierigkeiten damit. Und das könnte im übrigen auch der Grund für Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft sein. Die Vielfalt der komplexen Moderne löst bei vielen Menschen Ängste aus, die eigentlich am liebsten in einer ganz klar geordneten Welt leben, wo es nur eine Zeitkultur gibt. Und dies führt zu einer Tendenz, sich zu radikalisieren. Wenn wir als Gesellschaft tatsächlich wieder besser aufeinander zugehen wollen, dann brauchen wir mehr Zeit, um miteinander zu reden, um anderes wahrzunehmen. Und aktuell lässt uns die Beschleunigung, die unter anderem durch die digitalen Medien sowie die sozialen und asozialen Plattformen entsteht, gar keine Zeit mehr. Da müssen wir sofort eine Meinung haben, wir müssen sofort wissen, was richtig und was falsch ist. Wir müssen uns sofort entscheiden, entweder du bist vegan oder du bist böse, entweder du bist Vegetarier oder du bist ganz böse. Was, du isst noch Fleisch und rauchst? Um Gottes Willen, da müssen wir dich gleich hängen. Das Merkwürdige ist ja, wir machen Urlaub dort, wo die Zeit anders läuft, als bei uns. Das ist doch irre! Und wenn man sich zurück erinnert, wann waren denn die tollen Zeiten, dann war das doch, wenn man über die eigene Zeit verfügen konnte. Meine These ist, dass sehr viel mehr Menschen freie Zeiträume zur Verfügung haben, als sie sich selbst nehmen. Im Grunde gibt es sehr viele verschiedene Möglichkeiten, sich mit Zeit zu verhalten, auch da, wo alle immer sagen, das geht ja gar nicht. Doch, das geht, natürlich. Gerade wenn man die gefühlte Zeit mal außer Acht lässt und die objektive Zeitverwertung anschaut, dann sieht man, wir haben richtig viel Zeit, wir hatten noch nie so viel Zeit wie heute.

Aber geht es hierbei nicht auch um Rhythmus und Takt? Der Rhythmus der Natur und der vom Menschen vorgegebene Takt? Lesch: Na klar, genau. Wenn wir rhythmisch leben, dann passt es und hat Luft. Es wiederholen sich Dinge periodisch, aber es gibt immer Spielräume. Mal kommt man etwas später, mal etwas früher, mal geht man etwas schneller, mal langsamer. Aber wenn Ihnen eine Uhr ganz genau sagt, dass Sie heute erst 9800 Schritte gegangen sind, und Sie sich nur wohlfühlen und in Ruhe zu Bett gehen können, wenn Sie 10.000 Schritte gegangen sind und Sie sich dann tatsächlich noch aufmachen und noch 200 Schritte gehen, nur weil Ihnen dieses blöde Armband so etwas sagt, dann sehen Sie, in was für Zeiten wir leben. Bleiben Sie großzügig, bleiben Sie wohlwollend – dies sind Eigenschaften, die dafür sprechen, sich Zeit zu lassen. In unserem Buch gibt es den Teil von Jonas Geißler, wo er Aufzeichnungen von todkranken Menschen wiedergibt, die befragt wurden, was sie denn anders machen würden. Das Buch heißt The Regret of the Dying (von der Palliativbetreuerin Bronnie Ware; Anm.d.Red.) und sollte ein Bestseller sein. An der Stelle musste ich echt heulen: ‚Wenn ich mir mehr Zeit für die Liebe genommen hätte, ich hätte nicht so viel arbeiten sollen, ich wünschte, ich hätte mir erlaubt glücklicher zu sein‘. Da merkt man, es geht um etwas ganz, ganz anderes. Das sollten wir uns klar machen.: Wir stehen mitten im Leben, das so schnell zu Ende sein kann. Und wie wichtig es ist, Dinge zu machen, die einem selbst wichtig sind.

Prof. Dr. Harald Lesch

Bild: Nils Schwarz

Das ausführliche komplette Interview können Sie unter www.barbarabreitsprecher.com lesen.

HARALD LESCH

Der Physiker, Philosophieprofessor und Wissenschaftsmoderator Harald Lesch erklärt zusammen mit dem Zeitexperten Karlheinz A. Geißler und dem Zeitberater Jonas Geißler in dem neuen Buch „Alles eine Frage der Zeit“ (Oekom-Verlag, 20 Euro) in einzelnen Essays unterhaltsam, was Zeit eigentlich ist, wie sich unser Zeitverständnis im Laufe der Jahrhunderte geändert hat und warum wir so oft das Gefühl haben, dass uns Zeit fehlt – sowie was wir dagegen tun können. Harald Lesch sieht dabei einen klaren Zusammenhang zwischen Klimakrise, Artensterben und psychischem Burn-out. Harald Lesch ist Professor für Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Lehrbeauftragter für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Mit seinen Wissenschaftssendungen der Sendungen „Leschs Kosmos“, „Frag den Lesch“ sowie „Faszination Universum“ hat er so etwas wie Kultstatus.