Die ersten 10 Jahre

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Die ersten 10 Jahre



Festschrift

Die ersten 10 Jahre


Editorial

Editorial Stiftungen werden „auf Dauer“ oder „für ewig“ gegründet. Der Titel der Festschrift „Die ersten zehn Jahre“ trägt dieser stiftungsrechtlichen Tatsache Rechnung in der Hoffnung, dass viele er­ folgreiche Dekaden folgen mögen. Zehn Jahre muten im Rückblick auf einzelne Projekte und Akteure auch schon einmal wie „eine halbe Ewigkeit“ an. Eine Stiftung, die den Slogan „Familie hat Zukunft“ im Namen trägt und ihrem Zweck nach „Lust auf Familie“ machen soll, blickt auf die Koordinaten, die sich für Familien in dieser Zeit verändert ha­ ben. So konnten Eltern vor zehn Jahren noch keine wie im heutigen Maße finan­ ziell ausgestattete Elternzeit in Anspruch nehmen. Von deren Attraktivität für Väter ganz zu schweigen. Familien vor zehn Jahren sorgten sich, ob ihr Familien­ einkommen durch die anstehende Um­ stellung von der D-Mark auf den Euro unterm Strich nicht weniger würde. Die Kinder erlebten gerade den Durchbruch des Internets in die privaten vier Wände und einen Boom bei den Mobiltelefo­ nen. Die heute damit bespielten sozialen Netzwerke „Facebook“ und „Twitter“ waren noch Jahre entfernt. Die hier versammelten Artikel spannen den Bogen über die zehn Jahre anhand der Aktivitäten, mit denen die zentralen Stiftungszwecke „Aufwachsen von Kin­ dern“ und „Familie und Beruf“ umge­ setzt wurden. Ein herzliches Dankeschön gilt allen Autorinnen und Autoren, die aus ihrer Perspektive der Projektverant­ wortlichen einen Beitrag zur Festschrift verfasst haben. Vieles wurde von der hessenstiftung – familie hat zukunft im Sinne des Impulsgebers angestoßen und

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getestet, um dann auch Bewährtes wei­ tergeben zu können. Für den Bereich des sicheren und zu­ kunftsorientierten Aufwachsens von Kindern hat die Stiftung bewusst in der frühestmöglichen Phase angesetzt, wenn Eltern für ihr Baby eine Hebamme zu Rate ziehen. Das Angebot der „Frü­ hen Hilfen“, das unter dem auffordern­ den Motto „Keiner fällt durchs Netz“ steht, hat inzwischen bundesweit bei­ spielhaft den Weg vom Modell hin zum Regelangebot in ganzen Landkreisen ge­ nommen. Im Bereich der Förderung der Vereinbar­ keit von Familie und Beruf gab es in den zehn Jahren die Akzente „Familiengrün­ dung im Studium“, „Berufsrückkehr“ und „Väter in Familie und Beruf“. Das Modellprojekt „Studieren und Forschen mit Kind“, als Längsschnittstudie kon­ zipiert, brachte als Ergebnisse für den Standort Gießen Maßnahmen zur Um­ setzung, die inzwischen Prüfsteine für jede Hochschule sind, die sich mit dem Thema „Hochschule und Kind“ ausein­ andersetzt. In der Förderung zahlreicher Initiativen, die das Vatersein des Mannes stärken wollen oder Väter im Unterneh­ men sichtbar machen wollen, hat sich die Hessenstiftung eines scheinbaren Randphänomens angenommen und da­ rin ein Schlüsselthema für die Zukunft von Frau und Mann, Familie und Arbeit entdeckt. Dass der Anteil der Väter, die Elternzeit in Anspruch nehmen, in dieser Dekade von 3,5 auf 25 Prozent sprang, veranschaulicht nur die Brisanz. Die hessenstiftung – familie hat zukunft führt ihre Projekte in der Regel in Koope­ ration mit Partnern durch, denen zum


Editorial

großen Teil die Durchführung obliegt und die sich an der Finanzierung betei­ ligen. Den zahlreichen Partnern auf den verschiedenen Projektfeldern in diesen zehn Jahren gebührt Anerkennung und Dank. Ohne sie wären die Vorhaben der Hessenstiftung nicht in der vorliegenden Form durchzuführen gewesen. Familie hat Zukunft. Eine Familie wird auch „auf Dauer“ gegründet. Sie wird von Generation zu Generation weiter­ gegeben und gelebt. Feiern Sie den zehnten Geburtstag der hessenstiftung – familie hat zukunft, die auch in den künftigen Jahrzehnten für Familie in Hes­ sen da sein wird. Ulrich Kuther

Ulrich Kuther, (1963), Dr. phil., Theologe und Stiftungsmanager, ist Vater seit 2004 und verheiratet. Seit 2004 führt er im Auftrag der Karl Kübel Stiftung die Geschäfte der hessenstiftung – familie hat zukunft.

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Inhalt

Grußworte

Seite

• Eine Familienstiftung für das Land Hessen......................................................................... 6 Stefan Grüttner • Für eine moderne Familienpolitik....................................................................................... 12 Petra Müller-Klepper

Stiftungsverwaltung

• Geschäftsführung als kooperative Dienstleistung.......................................................... 19 Daniela Kobelt Neuhaus • Z uverlässige Vermögensverwaltung - Jahr für Jahr........................................................ 26 Barbara David / Michael J. Böhmer

Philosophie

• Familienpolitische Philosophie der Hessenstiftung......................................................... 29 Wassilios E. Fthenakis

Aufwachsen von Kindern

• Wenn es Erwachsenen gut geht, dann geht es auch Kindern gut? .......................... 39 Bernhard Meyer • Frühe Hilfen in der frühen Kindheit................................................................................... 46 Manfred Cierpka / Andreas Eickhorst • Vorlesen in Familien.............................................................................................................. 54 Bettina Twrsnick • kicken & lesen........................................................................................................................ 60 Christoph Dahl • Mein Papa liest vor!.............................................................................................................. 63 Sabine Uehlein / Christoph Schäfer

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Inhalt

Familie und Beruf

Seite

• Väternetzwerke in Unternehmen....................................................................................... 68 Harald Seehausen / Volker Baisch • Mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Männerleben ...................................... 76 Harald Seehausen • Plakatausstellung „Neue Väter“......................................................................................... 82 Ulrich Kuther • 10 Jahre FamilienAtlas.......................................................................................................... 88 Gerd Brünig / Marlis Butenschön / David Promies

Studien

• Die Kunst des Fragens.......................................................................................................... 90 Anja Beisenkamp / Sylke Hallmann • S tudieren und Forschen mit Kind ..................................................................................... 95 Uta Meier-Gräwe / Ines Müller •B erufsrückkehr und Wiedereinstieg von Müttern nach der Elternzeit.....................101 Wilhelm Haumann •A ls wäre der Ernährermotor angesprungen..................................................................108 Hans-Georg Nelles • E rfolgsfaktor Familienfreundlichkeit................................................................................115 Marcus Schmitz

Öffentlichkeitsarbeit

• Klappern gehört zum Handwerk.....................................................................................123 Jörg Bombach •D ie Hessenstiftung und das Web 2.0..............................................................................126 Christoph Lippok Publikationen...........................................................................................................................131 Impressum................................................................................................................................132

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Grußwort

Eine Familienstiftung für das Land Hessen Seit mehr als zwei Jahrzehnten be­ herrscht ein Thema die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Landschaft: der demografische Wandel. Das Gleich­ gewicht der Generationen hat sich in ein Ungleichgewicht verkehrt, die Zahl der Geburten sinkt, die älteren Menschen le­ ben länger und ihre Zahl nimmt ständig zu. Die Familienpolitik, bislang nicht eine der großen klassischen politischen Berei­ che, rückt zunehmend in den Fokus der Politik, auf Bundes-, Landes- und kom­ munaler Ebene. Sie betrifft den Men­ schen in jeder Lebensphase und in jedem Lebensalter, die Wirtschaftswelt genau­ so wie staatliche Institutionen. Überall wird über mangelnden Nachwuchs ge­ klagt, Facharbeiter werden Hände rin­

Malwettbewerb 2011 Eliana Weiß 10 Jahre

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gend gesucht. Droht Deutschland ein Kollaps, nur weil wir zu wenig Menschen haben, die dem Arbeitsmarkt zur Verfü­ gung stehen, oder weil wir zu viele alte Menschen im Ruhestand haben? Alterspyramide steht auf dem Kopf Man macht es sich zu leicht, wenn man dem älteren Menschen die Schuld für die aktuelle Situation anlastet. Wenn von der Vergreisung unserer Gesellschaft oder von einem Methusalem-Komplott spricht, ist das eine Diskreditierung der Menschen, die ein Leben lang gearbei­ tet, ihre Beiträge zur Rentenversicherung geleistet haben und in ein Alter gekom­ men sind, in dem der Broterwerb durch eine kapitalgedeckte Rente oder eine


Grußwort

Pension finanziert wird. Ältere Menschen werden zwar häufiger krank als junge, aber sie partizipieren an den enormen medizinischen Fortschritt und an den Errungenschaften der Natur- und Inge­ nieurwissenschaften, die mit hochmo­ dernen Geräten oder innovativen Me­ dikamenten Krankheiten beheben oder zumindest lindern können. Die Ursachen für die aktuelle demogra­ fische Situation liegen darin, dass in un­ serem Land zu wenige Kinder geboren werden. Obwohl rund 70 Prozent der jungen Menschen sagen, sie würden gerne eine Familie gründen und Kinder zur Welt bringen, steht die Alterspyrami­ de nahezu auf dem Kopf. Dies zu ändern, bedeutet für die Politik, alles auf den Prüfstand zu stellen und Maßnahmen zu installieren, um die demografische Ent­ wicklung positiv zu beeinflussen. Im Zentrum der Betrachtung steht pri­ mär die Entwicklung der Familie. Die Frage ist, wie und was hat sich in der Familie geändert, und welche Faktoren haben diese Veränderungen herbeige­ führt? Die Familie als ein solidarischer Verbund von jungen und älteren Men­ schen besteht in allen Zeitaltern der Menschheitsgeschichte. In der Agrar­ gesellschaft ernährten die arbeitsfähi­ gen Mitglieder einer Familie ihre Kinder und Greise. Die Familie in der darauf folgenden Industriegesellschaft bekam ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem aufkeimenden Kapitalismus alle Härten einer neuen Arbeitswelt zu spüren. Frau­ en- und Kinderarbeit bei zwölf Stunden täglicher Arbeitsleistung an sechs Tagen in der Woche waren die Regel, um für einen Hungerlohn das Überleben zu si­

chern. Umso bemerkenswerter ist, dass die Familie trotz dieser familienfeindli­ chen Rahmenbedingungen fortbestehen konnte. Die Industriegesellschaft über­ lebte zwei Weltkriege mit Millionen toter Menschen, vor allem von Männern, die in den Kriegen ihr Leben lassen musste. Umso bemerkenswerter ist, dass die De­ mografie der Nachkriegsjahre sich steil nach oben entwickelte. Die Jahre der Ba­ byboomer brachen an; die Frauen brach­ ten im Durchschnitt 2,36 Kinder zur Welt. Der Soziologe Helmut Schelsky beobach­ tet 1953 ein Phänomen in der Familie. Er erkennt in ihrer „Elastizität“ einen „zentralen Stabilitätsfaktor“ mit der die Familie auf unterschiedliche soziale Situ­ ationen reagiert. In Zeiten ökonomischer Krisen übernimmt sie Produktions- und Versorgungsfunktionen und in Zeiten re­ lativer Prosperität und sozialer Sicherheit erweist sie sich als der soziale Raum, in dem sich die Persönlichkeit jeden einzel­ nen Mitglieds voll entfalten kann. Jedes Familienmitglied trägt zu einer eigenen Familienkultur und -Identität bei. Hat Familie Zukunft? Verschiedene Faktoren dürften ausschlag­ gebend gewesen sein, die das Gleich­ gewicht der Generationen ins Wanken brachten: die Antibabypille, die familien­ feindlichen Angriffe der 68er Generati­ on, wirtschaftliche Schwierigkeiten oder der ansteigende Ausbildungsgrad der Frauen. Der Soziologe Franz-Xaver Kauf­ mann nennt als einen der Gründe „eine strukturelle Rücksichtslosigkeit“, die Staat und Wirtschaft gegenüber der Familie de­ monstrieren. Der wohl am häufigsten für diesen Zustand angeführte Beleg ist die

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Grußwort

Unvereinbarkeit von Familie und Beruf, die eine Familiengründung immer weniger at­ traktiv erscheinen lässt und ein Familienle­ ben, das allen Beteiligten gerecht wird, im Prinzip nicht erlaubt. In der Quintessenz bedeutet dies, dass in dem Maße, wie sich der einzelne Mensch den Anforderungen des Wirtschafts- und Erwerbssystems an­ passt, die Familie auf der Strecke bleibt. In dieser Beurteilung scheiden sich die Geister. Während Soziologen wie Ul­ rich Beck der Familie strukturell keine Beiratsmitglieder der hessenstiftung – familie hat zukunft (und deren ständigen Vertreter) Dagmar Bollin-Flade........................... 2002 bis heute Prof. Dr. Ludwig Georg Braun............ 2002 bis heute Werner D´Inka...................................... 2010 bis heute Prof. Dr. Dr. Dr. Wassilios E. Fthenakis... 2002 bis heute Stefan Grüttner................................... 2010 bis heute Dorothea Henzler................................2009 bis heute Ingmar Jung......................................... 2010 bis heute Eva Kühne-Hörmann...........................2009 bis heute Jutta Nothacker...................................2004 bis heute Dr. Thomas Schäfer............................. 2010 bis heute Dr. Barbara Watz................................. 2003 bis heute Ehemalige Jürgen Banzer........................................2008 bis 2010 Gerd Krämer.......................................... 2009 bis 2010 Karlheinz Weimar.................................. 2002 bis 2010 Dr. Hugo Müller-Vogg...........................2007 bis 2009 Silke Lautenschläger.............................2002 bis 2009 Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz.............2007 bis 2009 Udo Corts...............................................2003 bis 2008 Karin Wolff............................................2002 bis 2008 Prof. Dr. Joachim-Felix Leonhard.........2006 bis 2007 Dr. Thomas Bellut..................................2002 bis 2007 Margret Härtel.......................................2002 bis 2004 Ruth Wagner..........................................2002 bis 2003

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Zukunft mehr einräumen, weisen an­ dere wie zum Beispiel auch die aktuelle Shell-Studie darauf hin, dass junge Leute mehrheitlich ein Leben in der Familie für erstrebenswert halten, dass die Mehrheit der Ehen nicht geschieden werden und die weitaus meisten Kinder bei ihren El­ tern aufwachsen. Familie ohne Zukunft? Wohl kaum. Der historische Rückblick zeigt, dass sich an der Daseinsweise der Familie über die Jahrtausende hinweg wenig geändert hat, vor allen Dingen dann, wenn man die dramatischen Veränderungen und Umbrüche, die sich seit Beginn der In­ dustrialisierung auf der politischen, wirt­ schaftlichen und technologischen Ebene ergeben haben, berücksichtigt. Der schlagende Beweis für das Behar­ rungsvermögen der Familie gegenüber allen Formen sozialen und kulturellen Wandels ist die Tatsache, dass die Sozi­ alisierung eines Menschen und die Per­ sönlichkeitsentwicklung nach wie vor in der Familie stattfinden. Die PISA-Studien verweisen darauf, dass sich die Bezie­ hung von Eltern zu ihren Kindern nicht nur darin erschöpft, sie mit Nahrung zu versorgen und emotionale Geborgen­ heit zu vermitteln, sondern, dass es das Elternhaus ist, das einen entscheidenden Beitrag zum Beispiel zur Platzierung im Bildungssystem und damit auch zur Po­ sitionierung im engeren und weiteren sozialen Umfeld leistet. Stiftung soll Politik und Gesellschaft beraten Vor diesem Hintergrund muss die Poli­ tik Veränderungen und Verbesserungen herbeiführen. Sie muss Rahmenbedin­


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gungen schaffen, damit mehr junge Menschen das Lebensmodell Familie wa­ gen. Dabei muss ihr bewusst sein, dass sie mit ihrer Politik nicht jeden Menschen und jede Familie in ihrer jeweiligen Le­ benssituation und -phase zufriedenstel­ len kann. Es sind vielmehr die Grund­ strömungen innerhalb der Gesellschaft, die die Familienpolitik aufspüren und aufgreifen muss, damit Herausforderun­ gen wie dem demografischen Wandel begegnet werden kann. Wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum entscheidenden Kriterium für Familiengründung wird, ist es Aufgabe des Staates, dieser Entwicklung Rech­ nung zu tragen und Rahmenbedingun­ gen zu schaffen, die zum Beispiel durch eine Ausweitung des Kinderbetreuungs­ angebots Beruf und Familie besser ver­ einbaren lassen. Der Politik muss in der privaten Wirtschaft darauf hinwirken, durch flexible Arbeitszeitregelungen denjenigen entgegenzukommen, die Kinder zu versorgen haben. Gleiches muss auch für pflegende Angehörige gelten. Die Politik muss sich vor gravierenden und nachhaltigen Veränderungen und Verbesserungen des Sachverstandes von Experten aus Theorie und Praxis bedie­ nen. Ähnlich wie bei der Zulassung eines neuen Medikaments müssen Szenarien entwickelt und durchgespielt werden, um die Wirksamkeit zu überprüfen. Mit der Gründung der hessenstiftung – familie hat zukunft hat das Land Hessen eine Institution ins Leben gerufen, um die „Politik und Gesellschaft mit dem Ziel zu beraten, die derzeitige Lebenssituati­ on der Familien in Hessen zu verbessern.

Kleine Gründungsgeschichte der hessenstiftung – familie hat zukunft 19. Dezember 2000 Der Hessische Landtag verabschiedet das Haushaltsgesetz 2001. Aus dem Programm „Zukunftsoffensive Hessen“ erfolgt die finanzielle Grundausstattung der Hessenstiftung in Höhe von 10 Mio. DM (= 5,1 Mio. Euro) 6. November 2001 Die Hessische Landesregierung stimmt der Gründung der Stiftung zu. Aus Haushaltsmitteln im Rahmen der „Zukunftsoffensive Hessen“ sollen 10 Mio. DM das Anfangsvermögen der Stiftung bilden. 30. November 2001 Die hessenstiftung – familie hat zukunft wird mit dem sog. Stiftungsgeschäft und der Stiftungsverfassung vom Land Hessen, vertreten durch das Hessische Sozialministerium, als rechtsfähige Stiftung bürgerlichen Rechts errichtet. 30. November 2001 Das Regierungspräsidium Darmstadt als Stiftungsaufsicht genehmigt die hessenstiftung – familie hat zukunft nach § 80 BGB in Verbindung mit § 3 des Hessischen Stiftungsgesetzes. 10. Dezember 2001 Der Vorstand tritt zur konstituierenden Sitzung zusammen. 13. Dezember 2001 Der Hessische Landtag verabschiedet das Haushaltsgesetz 2002. Aus dem Programm „Zukunftsoffensive Hessen“ erfolgt die Aufstockung der finanziellen Grundausstattung der Hessenstiftung auf 10,2 Mio. Euro. 17. April 2002 Der Beirat tritt zur konstituierenden Sitzung zusammen.

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Grußwort

Sie unterstützt die Forschung in diesem Feld und befördert die Entwicklung neu­ er Ansätze, um bestehende Hindernisse auf dem Weg zu einer familiengerechten Gesellschaft zu überwinden. Insbeson­ dere will die Stiftung Entwürfe gesell­ schaftlicher Rahmenbedingungen auf­ zeigen, die die Lust auf Familie fördern und sowohl wirtschaftspolitische als auch sozialpolitische Möglichkeiten zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbinden. Die Stiftung fordert und fördert gleichzeitig für Kinder ein Lebensumfeld, das nicht nur die beson­ dere Geborgenheit und den Schutz der Familie vermittelt, sondern auch erfolg­ reich auf die Veränderungen der Zukunft vorbereitet.“ (Verfassung der Hessenstif­ tung, § 2 Nr. 1) Die hessenstiftung – familie hat zukunft ist mit einem Kapital von 10 Mil­ lionen Euro ausgestattet. Das Vermögen stammt aus dem Verkauf von Landes­ beteiligungen, deren Erlöse in die „Zu­ kunftsoffensive Hessen“ geflossen sind. Mit den jährlich erwirtschafteten Erträ­ gen werden Projekte im Sinne des Stif­ tungszwecks gefördert. Stiftung fördert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Die Hessische Landesregierung hat in den letzten Jahren große Anstrengun­ gen unternommen, damit junge Famili­ en Beruf und Familie besser vereinbaren können. Mittlerweile hat sich Hessen bei der Kinderbetreuung an die Spitze aller alten Bundesländer gesetzt. Unterstützt wurden wir von der hessenstiftung – familie hat zukunft, die gemeinsam mit dem Hessischen Sozialministerium und

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weiteren Partnern seit 2004 Kongresse veranstaltet, um den öffentlichen Dialog über Beruf und Familie zu forcieren und Maßnahmen zu erarbeiten, die, durch die Politik umgesetzt, zu einem attrakti­ ven Betreuungsangebot führen. Das Ziel dieser Kongressreihe ist, ge­ eignete Rahmenbedingungen für eine flexiblere, familiengerechte Arbeitsor­ ganisation und ein verbessertes Betreu­ ungsangebot zu schaffen, um vor al­ lem die Voraussetzungen für Kinder zu erleichtern und somit letztendlich die Geburtenrate zu steigern. Dabei sollten nicht nur hessische und bundesdeut­ sche Beispiele vorgestellt und diskutiert werden, sondern auch Anregungen aus dem europäischen Ausland einbezogen werden.


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Die Hessische Landesregierung optimiert seit Jahren die Startchancen für Kinder. Von der Sprachförderung im Kinder­ garten und in der Schule, über die Un­ terstützung von Kinderbetreuungsein­ richtungen, verbesserte Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher, Erhöhung der Qualitätsstandards, lassen sich viele Beispiele nennen, mit den Kindern und auch den Eltern geholfen wird, die Kin­ der optimal auf ihre Zukunft vorzuberei­ ten. Es sind Maßnahmen zu mehr Chan­ cengerechtigkeit. Stiftung fördert das sichere und geborgene Aufwachsen Die hessenstiftung – familie hat zukunft hat im Zusammenwirken mit der Univer­ sität Heidelberg einen weiterer Baustein entwickelt, um in Verbindung mit den Eltern die Zukunfts- und Bildungschan­ cen der Kinder zu verbessern. Dieser Baustein mit dem Namen „Keiner fällt durchs Netz“ enthält Präventions- und Unterstützungsangebote für junge Fami­ lien, die bereits in der Schwangerschaft bzw. am Beginn des Lebens einsetzen. Die Ergebnisse der Modellprojekte stim­ men optimistisch, dass uns mit „Keiner fällt durchs Netz“ ein wichtiger Schritt gelungen ist, Kinder so früh als möglich an die Eltern zu binden und dass sie in einem sicheren Umfeld in Geborgenheit gesund aufwachsen können. Nach dem Erfolg in zwei Landkreisen wird dieses Projekt in die Regelförderung übernom­ men. Die hessenstiftung – familie hat zukunft wird auch in Zukunft Konzepte entwi­ ckeln und präsentieren, die Mut zur Fa­ milie machen, die die Familien stärken

und damit Hürden aus dem Weg zu räu­ men, die die Menschen daran hindern, in einer Familie zu leben. Umfragen und wissenschaftliche Veröf­ fentlichungen der jüngsten Zeit lassen den Schluss zu, dass sich die Familie wieder im Aufwärtstrend bewegt. Der Mainzer Soziologe Stefan Hradil konsta­ tiert eine abnehmende Wertschätzung des Single-Daseins, sowohl in der Wahr­ nehmung der Öffentlichkeit wie in der Selbstwahrnehmung und eine stärkere Hinwendung zu Werten wie soziale Bin­ dung, Sicherheit und Geborgenheit. Dar­ aus folgt, dass die Autonomiebestrebun­ gen und Selbstverwirklichungsansprüche vor allem der jungen Generation in den 90er Jahren schon Realität geworden sind. Gleichzeitig setzte aber eine wirt­ schaftliche und soziale Krise ein, die bei den Menschen Zukunftsangst und Orien­ tierungslosigkeit auslöste. Als Reaktion auf diese Situation erlebten Werte wie soziale Sicherheit und Gemeinschaft eine Renaissance. Unsere Aufgabe ist es, die Sinnhaftigkeit und die Bedeutung dieser Werte durch eine moderne und aufge­ schlossene Familienpolitik zu unterlegen und damit den demografischen Wandel zu korrigieren. Stefan Grüttner Stefan Grüttner, (1956), Diplom-Volkswirt, verheiratet, Vater von zwei Söhnen, ist Hessischer Sozialminister und seit 2010 Beiratsvorsitzender der hessenstiftung – familie hat zukunft.

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Grußwort

Für eine moderne Familienpolitik Als Konrad Adenauer 1957 die gesetzli­ che Rentenversicherung auf ein Umlage­ verfahren umstellte und damit den Ge­ nerationenvertrag besiegelte, war dies ein Meilenstein in der Fortentwicklung des Sozialstaates. Das neu geschaffene Umlageverfahren basierte auf der An­ nahme, dass die arbeitende Generation die Alterssicherung der nicht mehr ar­ beitenden Generation übernimmt. Das Prinzip erklärte Adenauer mit der ihm eigenen Art, Politik zu erklären: „Kinder kriegen die Leute sowieso“. Ein Irrtum? Möglicherweise. 1957 lag die Geburten­ rate bei 2,36 Kindern pro Frau, heute sind es nur noch gut 1,3 Kinder. Um das Gleichgewicht zwischen den Generatio­ nen zu wahren, ist - so die Statistiker -

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eine Geburtenrate von 2,3 Kindern pro Frau erforderlich. Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Familie ab Wie ist es um das Wohl unseres Landes bestellt, das immer mehr kinderentwöhnt wird? In dem Kinderlosigkeit immer mehr zum Normalfall wird? Die Familie hat existentielle Bedeutung – nicht nur aus demographischer Sicht oder unter dem Aspekt der sozialen Sicherungssys­ teme. Familie hat mehr als nur die Funkti­ on, für den notwendigen Nachwuchs zu sorgen, damit die Renten gezahlt werden können. Sie ist als Keimzelle des sozialen Miteinanders und einer eigenverantwort­ lichen Persönlichkeitsentfaltung ein Wert


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an sich. Hier wird füreinander Generatio­ nen übergreifend Verantwortung getra­ gen, Solidarität gezeigt, Gemeinschaft gelebt und Toleranz eingeübt. Die niedrige Geburtenrate stellt den sozialen Zusammenhalt unserer Gesell­ schaft und deren volkswirtschaftliche Entwicklung vor eine gewaltige Zer­ reißprobe und immense Herausforde­ rungen. Die Entwicklung gibt nicht nur Anlass zur Sorge. Sie erfordert aus sozi­ aler Verpflichtung ein umfassendes po­ litisches Handeln auf allen Ebenen. Nur eine Politik, die den Lebensbedingungen der Familien höchste Priorität einräumt, ist nachhaltig. „Die Zukunft des Volkes hängt nicht von der Zahl der Kraftwagen ab, sondern von der Zahl der Kinderwa­ gen“, hat Kardinal Josef Frings treffend plastisch formuliert. Sicher: Die Entscheidung für Familie und für Kinder ist immer individuell und pri­ vat. Für das Funktionieren und die Wei­ terentwicklung einer Gesellschaft sind Kinder jedoch unerlässlich. Familie be­ deutet Zukunftssicherung, sie setzt inno­ vative, kreative Potenziale frei, sie entwi­ ckelt ihre eigene Kultur und Identität. Sie ist konstitutiv für unser Gemeinwesen. „Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Familie ab.“ Dieser Satz des Schweizer Theologen Alexandre Rodol­ phe Vinet (1797-1847) ist unvermindert aktuell. Denn der freiheitliche Staat gibt seine Zukunft in die Hand der Familien. Starke Eltern bedeuten starke Kinder – starke Familien bedeuten eine starke Ge­ sellschaft. Ein Blick auf die Statistik lässt den Schluss zu, dass die Familie deutlich an Stabilität verloren hat. Über ein Drittel der Haus­

halte in Hessen sind Single-Haushalte, in sechs von zehn Mehrpersonenhaushal­ ten leben keine Kinder, 30 Prozent der Frauen sind kinderlos, unter den Akade­ mikerinnen sind es sogar 42 Prozent. Anders als früher gilt die Familie mit Kindern heute nicht mehr als die selbst­ verständliche Form menschlichen Zu­ sammenlebens. Im Zuge der Ausdiffe­ renzierung und Pluralisierung unserer Gesellschaft ist sie eine Lebensform un­ ter verschiedenen anderen geworden, zwischen denen sich die Menschen ent­ scheiden können. Familie steht in Kon­ kurrenz zu anderen Entwürfen, die mehr Freiräume für Beruf und Privatleben bie­ ten und oft auch materiell attraktiver sind. Kinder sind nur noch eine Option unter vielen. Gleichzeitig nimmt der Druck auf Fa­ milien zu: Bildungsdruck, Zeitdruck, Er­ ziehungsdruck, Rechtfertigungsdruck sowie finanzieller und beruflicher Druck kennzeichnen die Situation, in der sich viele Familien befinden. Da verwundert es nicht, dass sich die Entscheidung für Kinder in den individuellen Biographien immer weiter nach hinten verschiebt. Die genannten Entwicklungen haben zu einer sinkenden Geburtenrate geführt, die – im Verbund mit der erfreulicher­ weise immer weiter steigenden Lebens­ erwartung – in den nächsten Jahrzehn­ ten einen tiefgreifenden demografischen Wandel nach sich ziehen wird. Die Familie als eine moralische und so­ ziale Idee scheint an Selbstbewusstsein verloren zu haben. Doch sie ist kein Aus­ lauf-, sondern Wunschmodell. Gerade in den Zeiten der Globalisierung und des soziodemographischen Wandels ist sie

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von zunehmender Bedeutung als Hort der Sicherheit und Anker bei Turbulenzen. Allen pessimistischen Szenarien zum Trotz hat Familie in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Menschen wollen in Familien leben. Familie wird hoch ge­ schätzt, ist für über 90 Prozent der wich­ tigste Bereich in ihrem Leben. Die ShellJugendstudie aus dem Jahr 2010 zeigt: Der Kinderwunsch bei Jugendlichen nimmt zu. 65 Prozent der jungen Männer und 73 Prozent der jungen Frauen geben an, später einmal Kinder haben zu wollen. Im Vergleich zur Vorgänger-Studie aus dem Jahr 2006 ist das bei den Männern ein Plus von 9, bei den Frauen ein Plus von 4 Prozentpunkten. Doch trotz dieses er­ freulichen Trends werden in Deutschland nach wie vor zu wenig Kinder geboren. Deutschland gehört mit Bulgarien und Italien zu den kinderärmsten Ländern in Europa. Es besteht eine große Kluft zwi­ schen Kinderwunsch und Wirklichkeit, zwischen Absicht und Umsetzung. Frauen und Männern wollen Lebensmodell frei wählen können Kernelement einer freiheitlichen Grund­ ordnung ist, dass Menschen ihre Fähigkei­ ten entfalten und ihr Leben entsprechend ihren Vorstellungen gestalten können. Vorstandsmitglieder der hessenstiftung – familie hat zukunft Jörg Bombach.....................................2001 bis heute Barbara David.....................................2001 bis heute Petra Müller-Klepper.........................2009 bis heute Gerd Krämer.......................................2003 bis 2009 Karl-Winfried Seif...............................2001 bis 2003

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Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbe­ dingungen zu schaffen, dass dieses indi­ viduelle Streben nach Sinnerfüllung und Glück in die Tat umgesetzt werden kann. Familie zu gründen und zu leben muss möglich sein. Es gilt, Brücken zu bauen, dass die Verwirklichung dieses Wunsches erleichtert wird – indem die Lebensbedin­ gungen für Familien verbessert werden und die unterstützenden, flankierenden Maßnahmen den gesellschaftlichen Ver­ änderungen Rechnung tragen. Es gilt, positive Rahmenbedingungen und Anrei­ ze zu schaffen, die es jungen Menschen erleichtern ihre Familienwünsche realisie­ ren zu können, ohne in einen Zwiespalt zu geraten, die ihnen als Familie Verläss­ lichkeit, Halt und Sicherheit geben. Hierzu bedarf es einer aktiven, zeitgemäßen Fa­ milienpolitik mit dem Ziel: „Mehr Kinder – starke Familien“. Nichts ist so beständig wie der Wandel. Dies gilt auch für die Familien. Familie und Erwerbsarbeit mit zwei streng von­ einander getrennten Sphären bei klaren geschlechtsspezifischen Verantwortlich­ keiten – das gehört der Vergangenheit an. Die tiefgreifenden Veränderungen sind sowohl ökonomischen Notwen­ digkeiten geschuldet als auch Ausdruck der Pluralisierung unserer Lebensformen und des veränderten Selbstverständnis­ ses von Mann und Frau. Familienpolitik gelingt nur, wenn sie diesen veränder­ ten Lebenswirklichkeiten und Bedürfnis­ sen der Menschen unvoreingenommen Rechnung trägt. Die Modelle des Familienlebens sind ver­ schieden, aber gleichwertig. Wahlfrei­ heit statt Ideologie muss die Devise sein. Frauen und Männer haben das Recht,


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Malwettbewerb 2011, Konrad Böcher 10 Jahre

sich gemeinsam für das Lebensmodell zu entscheiden, das ihren Vorstellungen und Möglichkeiten entspricht. Aufgabe von Politik und Gesellschaft ist es nicht, die eine oder andere Lebensform zu fa­ vorisieren, sondern Voraussetzungen für Wahlfreiheit zu schaffen und Planungssi­ cherheit zu geben. Es muss Schluss mit den überholten Kli­ schees sein wie der Diskreditierung von berufstätigen Müttern als Rabenmüttern sowie der Diffamierung von Frauen, die wegen der Erziehung ihrer Kinder zu Hause bleiben, als Heimchen am Herd. Statt einzelne Modelle gegeneinander auszuspielen und ihre Leistungen in ein schiefes Licht zu rücken, sind eine Auf­

wertung der Familienarbeit und eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Fa­ milie und Beruf erforderlich. Immer mehr junge Frauen und Männer wollen die Erziehung von Kindern mit Berufsausbil­ dung oder Erwerbstätigkeit verbinden. Wir brauchen eine noch breitere gesell­ schaftliche Akzeptanz, dass berufstätige Frauen gute Mütter und Väter in Eltern­ zeit engagierte Arbeitnehmer sind. Kinderbetreuung muss sich nach dem Bedarf richten Kind oder Beruf - viele mussten sich in der Vergangenheit für das eine oder an­ dere entscheiden, obwohl sie Kind und Beruf wollten. Viele haben einen hohen

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Preis bezahlt – den der Kinderlosigkeit. Wahlfreiheit als politisches Credo heißt, die Voraussetzungen für die Umsetzung der verschiedenen Lebensmodelle zu schaffen. Neben der familienfreundli­ chen Gestaltung der Arbeitsbedingun­ gen ist der Ausbau eines bedarfsgerech­ ten Kinderbetreuungsangebots für alle Altersstufen der Dreh- und Angelpunkt. Erforderlich sind flexible Betreuungsan­ gebote, die echte Wahlfreiheit ermögli­ chen: nicht nur zwischen Familien- und Erwerbsarbeit, sondern auch zwischen unterschiedlichen Formen der Betreu­ ung. Deshalb stehen in Hessen drei gleichwertige Betreuungsformen bereit, die alle vom Land gefördert werden: Ta­ gespflege, Krippen und Kitas. Ziel ist nicht die Rundum-Betreuung au­ ßerhalb des Elternhauses, sondern ein umfassendes Angebot, das den Eltern für ihren individuellen Fall eine bedarfs­ gerechte Kinderbetreuung ermöglicht. Sie muss verlässlich, bezahlbar, wohnortbzw. arbeitsplatznah verfügbar und im Zeitfenster mit dem Job kompatibel sein. Sonst wird das Management der Fami­ lie zu einem Drahtseilakt, der auf Dauer ans Herz geht. Gute Kinderbetreuung ist die Voraussetzung für zufriedene Kinder und zufriedene Eltern. Unabhängig davon, ob sich Eltern für eine Tagesbetreuung entscheiden oder die Betreuung selbst übernehmen: Eige­ ne Kinder zu haben, bedeutet Verant­ wortung. Die Erziehung nach gemein­ schaftlichen Werten ist vornehmlich Aufgabe der Eltern. Kindertagesstätten, Kindergärten, Tagesmütter und –väter, Horte und Schulen können hier nur flan­ kierend tätig sein. Umso wichtiger ist es,

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dass Eltern, die sich überfordert fühlen oder aus anderen Gründen Hilfe benö­ tigen, bei ihren Erziehungsaufgaben so weit wie möglich unterstützt werden. Deshalb fördert das Hessische Sozialmi­ nisterium beispielsweise die Fortbildung von Hebammen zu Familienhebammen, die schwangere Frauen, Mütter und ihre Kinder betreuen, sofern sie besonderen gesundheitlichen, medizinischsozialen oder psychosozialen Risiken ausgesetzt sind. Um Familien noch besser unterstüt­ zen zu können, haben sich zahlreiche Kindertagesstätten in Hessen auf den Weg gemacht, sich mit Unterstützung des Landes zu Familienzentren weiterzu­ entwickeln. Die Kindertageseinrichtungen in Hessen sollen aber nicht nur betreuen und Fa­ milien stärken, sondern auch Stätten der frühkindlichen Bildung sein, in denen Kinder individuell und optimal gefördert werden, spielerisch die Welt erfahren und das Lernen lernen. Frühe Förderung ist der Schlüssel für bestmögliche Start­ chancen und Entwicklungsbedingungen. Zudem können soziale Benachteiligun­ gen abgebaut werden. Dieses Engage­ ment, das in Hessen im Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren seinen Ausdruck findet, ist sozial­ politisch sinnvoll, weil es zur Chancenge­ rechtigkeit beiträgt. Jeder Euro, der hier zu einem frühen Zeitpunkt eingesetzt wird, bringt höchstmögliche Rendite, weil Folge- und Reparaturkosten vermie­ den werden.


Grußwort

Neue Netzwerke ergänzen Familie Eine moderne Familienpolitik darf sich nicht ausschließlich als eine Politik für tra­ ditionelle Familienstrukturen verstehen, sondern muss auch im Blick haben, dass eine wachsende Anzahl von Menschen in keinen Familienverband mehr eingebun­ den ist. Hier gilt es, Strukturen zu schaf­ fen und Maßnahmen zu ergreifen, die den Verlust an familiärem Rückhalt und verwandtschaftli­ cher Unterstützung so weit wie möglich auffan­ gen und ausgleichen. Bei allen Bemühungen um eine Stärkung der Fami­ lie darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es auch weiterhin vie­ le Menschen in unserer Gesellschaft geben wird, die keine Familie haben und auch kaum in nach­ barschaftliche Netzwer­ ke eingebunden sind. Um der Vereinsamung der Menschen ohne Fa­ milie entgegenwirken, werden neue Möglich­ keiten des Zusammenlebens auch außer­ halb der Familie gebraucht. Hierdurch entsteht ein Dialog zwischen den Generationen, der heute nicht mehr selbstverständlich ist. Er muss neu ent­ deckt, gefördert und etabliert werden, innerhalb und außerhalb der Familien – beispielsweise durch Patenschaften zwi­ schen Jung und Alt, eine gezielte, an den demografischen Herausforderungen ori­ entierte Weiterentwicklung von Stadttei­

len, die Gründung von Mehrgeneratio­ nenhäusern als Begegnungsstätten oder gemeinsame Mittagstische. Ein solches Miteinander trägt zu einer Kultur der Für­ sorge bei, die helfen kann, die demogra­ fischen Herausforderungen zu meistern – Fürsorge für den Nachbarn, Fürsorge für die ältere Generation, die in ihrem bisherigen Leben viel geleistet hat, und Für­ sorge für die jüngere Generation, damit sie die Anforderungen der Zukunft bewältigt. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung muss nicht nur der Verein­ barkeit von Pflege und Beruf, sondern auch der Schaffung von verbesserten Rah­ menbedingungen für ein möglichst langes selbständiges Leben mitten in der Gemein­ schaft ein höherer Stel­ lenwert zukommen. Ältere Menschen wol­ len aktiv bleiben, et­ was Sinnvolles tun und können durch ihre Aktivitäten auch dazu beitragen, dass sich die Menschen der verschie­ denen Altersgruppen untereinander besser verstehen. Das Bild vom älteren Menschen jenseits der Berufswelt ist immer noch geprägt vom Klischee der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit. Verkannt wird, dass eine wachsende Anzahl der jung gebliebenen Älteren über wertvol­ le Potenziale verfügt. Wer den Ruhe­

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Grußwort

stand genießt, muss noch lange nicht zum alten Eisen gehören. Entscheidung für Familie ist immer auch emotional und werteorientiert Beim Blick auf die Herausforderungen der Zukunft ist einem lange Zeit sträflich vernachlässigten Aspekt eine wesentlich höhere Aufmerksamkeit zu schenken. Erfolgreiches Wirken steht unter einer entscheidenden Prämisse: Es setzt ein geistiges, ein mentales Fundament vo­ raus. Familienpolitik darf sich nicht nur auf finanzielle Unterstützung, Maßnah­ men und Projekte beschränken. Alle Projekte, alle finanziellen Mittel werden keine nachhaltige Wirkung haben, wenn es innerhalb der Gesellschaft nicht zu ei­ nem Bewusstseinswandel kommt. Das Stichwort heißt: Werteorientierung. Was ein Leben mit Kindern bedeutet, lässt sich nicht nur in fiskalischen Berech­ nungen oder demographischen Progno­ sen darstellen. Es geht um ein grundle­ gendes Lebensgefühl. Eine Entscheidung für eine Familie ist eine grundsätzliche Entscheidung, die selten intellektuell oder ökonomisch, sondern eher emoti­ onal und werteorientiert begründet ist. Familien- und Kinderfreundlichkeit sind eine Grundhaltung, die im Kopf und Her­ zen beginnt, die auf Zukunft, Beziehung, Solidarität, Liebe, Bindung und Verbind­ lichkeit angelegt ist. In der Gesellschaft muss mehr Verständnis dafür geweckt werden, wie essentiell Familie und Kin­ der für unsere Zukunft sind. Moderne Familienpolitik erfordert Teil­ habe der gesamten Gesellschaft. Das ge­ lingt nur dann, wenn alle von ihrer Sinn­

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haftigkeit und Notwendigkeit überzeugt sind. Wir brauchen eine Offensive für ein höheres gesellschaftliches Ansehen von Familien mit Kindern – auch bei Kinderlo­ sen und Menschen, die ihre Familienpha­ se bereits hinter sich haben. Ziel muss es sein, ein breites öffentliches Bewusstsein für den Wert und die Bedürfnisse von Familien zu schaffen und gleichzeitig die Bereitschaft in der Bevölkerung zu erhö­ hen, Familien im Alltagsleben zu unter­ stützen. Familien sollen bei der Bewältigung ih­ rer unverzichtbaren Aufgaben nicht nur auf sich selbst und auf die unterstützen­ de Infrastruktur des Staates angewiesen sein. Wenn Familien von einer Mitver­ antwortung des Umfelds getragen wer­ den, wenn alle Akteure an einem Strang ziehen - Politik und Wirtschaft, Alte und Junge, Familien und Kinderlose, wird die Bereitschaft zur Familiengründung zunehmen sowie ein Klima der Wert­ schätzung und eine Kultur der Unter­ stützung entstehen. So verstanden und praktiziert stärkt moderne Familienpo­ litik nicht nur das Leben mit Kindern, sondern auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Petra Müller-Klepper

Petra Müller-Klepper, (1957), verheiratet, ein Kind, ist Staatssekretärin im Hessischen Sozialministerium und seit 2009 Vorstandsvorsitzende der hessenstiftung – familie hat zukunft.


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Geschäftsführung als kooperative Dienstleistung Zum 15. Juni 2004 schlossen die hessenstiftung – familie hat zukunft und die Karl Kübel Stiftung einen Geschäftsbe­ sorgungsvertrag. Mit diesem übertrug der damalige Vorstand der Hessenstif­ tung deren Geschäftsführung an die Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie. Hintergrund der Übergabe war, dass die hessenstiftung – familie hat zukunft schon bald nach ihrer Gründung eine Vielzahl an Projekten zu steuern hatte. Außerdem sollten die Geschäfte einer selbstständigen Stiftung privaten Rechts nicht länger im Hessischen Sozialministe­ rium geführt werden. Daher suchte der ehrenamtlich tätige Vorstand nach einem Partner, in dessen treue und erfahrene Hände er die arbeitsintensive Aufgabe der Geschäftsführung legen konnte. Mit einer ausgelagerten Geschäftsführung sollte auch sichergestellt werden, dass die Hessenstiftung – unabhängig von der Vertretung durch den Vorstand nach au­ ßen – verlässlich wahrgenommen wurde. Gleichzeitig sollte neben der Entlastung der Vorstände vermieden werden, dass die hessenstiftung – familie hat zukunft einen umfangreichen eigenen Verwal­ tungsapparat aufbauen musste. Es wur­ de ein Partner gesucht, der über Exper­ tise zu den inhaltlichen Schwerpunkten der hessenstiftung – familie hat zukunft verfügt und die Umsetzung der Projekte sicherstellen wollte. Die Karl Kübel Stiftung für Kind und Fa­ milie überzeugte Vorstand und Beirat der hessenstiftung – familie hat zukunft als künftiger geschäftsführender Partner. Ihre bereits langjährige Kooperation mit dem Land Hessen im Bemühen um chan­ cengerechte Lebensbedingungen von

Familien spielte dabei eine Rolle. Immer­ hin konnte die Karl Kübel Stiftung zum Übergabezeitpunkt schon seit mehr als 30 Jahren über eine weltweite Expertise in der Stärkung von generationenüber­ greifendem Zusammenleben und in der Verbesserung von wirtschaftlichen, sozi­ alen und rechtlichen Rahmenbedingun­ gen für Familien und Kindern in unter­ schiedlichen Sozialräumen nachweisen und hatte bisher für das Land Hessen nicht nur Inland-, sondern auch Aus­ landsprojekte begleitet. Zwei Stiftungen – ein Ziel Beide Stiftungen, Karl Kübel Stiftung und hessenstiftung – familie hat zukunft richten sich inhaltlich an Familien bzw. an Eltern mit Kindern. Beide unterstützen Initiativen, die eine kind- und familien­ gerechte Gesellschaft wollen, bauen mit Partnern und Freunden Netzwerke auf und sensibilisieren die Öffentlichkeit für aktuelle familienpolitische Themen. Wie die Hessenstiftung will die Karl Kü­ bel Stiftung Lust auf Familie fördern und sowohl wirtschaftspolitische als auch sozialpolitische Möglichkeiten zur besse­ ren Vereinbarkeit von Familie und Beruf anregen. Beide Stiftungen fordern und fördern für Kinder ein Lebensumfeld, das nicht nur ein beschütztes Aufwach­ sen vermittelt, sondern auch erfolgreich auf die Veränderungen der Zukunft vorbereitet. So sind Themen wie WorkLife-Balance oder Familie und Beruf für Frauen und Männer immer wieder An­ lass zum gemeinsamen Denken und zum unterstützenden Handeln der beiden Stiftungen. Oft kommt es in der Zusam­ menarbeit auch zu Verschränkungen von

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Stiftungsverwaltung

Die Hessenstiftung arbeitet unter dem Dach der Karl Kübel Stiftung in Bensheim

Projekten, wie zum Beispiel bei „Keiner fällt durchs Netz“ der hessenstiftung – familie hat zukunft und „Das Baby ver­ stehen“, das über die Förderung durch die Karl Kübel Stiftung entstanden ist. Die Ähnlichkeit der Satzungsziele von hessenstiftung – familie hat zukunft und Karl Kübel Stiftung versprach für bei­ de Seiten organisatorisch und inhaltlich einen Gewinn. Mit dem Zuschlag der Geschäftsführung an die Karl Kübel Stif­ tung wurde erwartet, dass diese mit der gleichen hohen Qualität, in welcher sie bisher die Familientage in Hessen und andere Offensiven durchgeführt hatte, die Geschäfte der Hessenstiftung führen wird. Damit war der Grundstock gelegt

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für eine Kooperation, die bis heute Res­ sourcen und Kompetenzen bündelt, um in Hessen gemeinsam Ziele zu erreichen. Einerseits stehen die Erfahrungen und Beziehungen der Karl Kübel Stiftung bei der Planung von Projekten und Vorha­ ben zur Verfügung und werden durch die Kooperation mit der hessenstiftung – familie hat zukunft erweitert, ergänzt und vertieft. Zum anderen nutzt die Hessenstiftung die schon aufgebaute Verwaltungsstruktur der größeren Karl Kübel Stiftung. Diese sorgt dafür, dass durch geeignete Besetzung der Stellen im Haus das Tagesgeschäft, die Vermö­ gensanlage, die Buchhaltung und die steuerliche Abwicklung der Hessenstif­ tung erfolgreich durchgeführt werden. Sie sorgt für den Erhalt der Gemeinnüt­ zigkeit und genießt als Dienstleister das Vertrauen des Landes Hessen. Mit dem Übertrag der Geschäftsfüh­ rung an die Karl Kübel Stiftung wech­ selte der Sitz der hessenstiftung – familie hat zukunft von Wiesbaden nach Bensheim, dem Sitz der Karl Kübel Stiftung. Bis heute hat die Karl Kübel Stiftung nicht bereut, diese Aufgabe übernommen zu haben, gestaltet sich die Zusammenarbeit doch insgesamt als ergänzende und für die Zielgruppen gewinnbringende. Kooperation als Gewinn für alle? Kooperationen zwischen Stiftungen sind keine Seltenheit. Nach einer Studie im Auftrag des Bundesverbands Deutscher Stiftungen zum Thema „Stiftungskoope­ rationen in Deutschland“ kooperieren 16 Prozent der deutschen Stiftungen mit mindestens einer anderen Organisation,


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27 Prozent mit zwei bis fünf und neun Prozent sogar mit über fünf Einrichtun­ gen (Saxe/Theurl, 2009, S. 12). Die Au­ torinnen definieren Stiftungskooperation als „projektbezogene oder längerfris­ tige, freiwillige Zusammenarbeit einer Stiftung mit einer weiteren Stiftung oder einer anderen Organisation (Unterneh­ men, Nonprofit-Organisationen, staat­ liche Einrichtung) in einem bestimmten Bereich, während in anderen Bereichen unabhängig voneinander weitergearbei­ tet wird. Sie kann beendet werden und basiert auf mündlichen oder schriftlichen Vereinbarungen.“ (S. 5) So gesehen ist die Übernahme der Ge­ schäftsführung der hessenstiftung – familie hat zukunft durch die Karl Kübel Stiftung sowohl Kooperation als auch Dienstleistung, getragen vom Geiste Karl Kübels und dessen Lebensmotto „Womit kann ich dienen“. Die Begrenzung der Dienstleistung auf den Geschäftsfüh­ rungsbereich eröffnet der Hessenstiftung den Freiraum, den Stifterwillen, d.h. den Landeswillen wirksam umzusetzen und ihr eigenes Profil im gesicherten Rahmen auszubilden, was nach Saxe/Theurl (loc. cit.) ein wichtiges Kennzeichen von Ko­ operation ist. Grundsätze für gelingende Geschäftsführung Die Karl Kübel Stiftung für Kind und Fa­ milie orientiert sich in ihrer Geschäfts­ führungsaufgabe an den Grundsätzen guter Stiftungspraxis. (Bundesverband Deutscher Stiftungen, 2010) bzw. an den Leitlinien guter Stiftungsverwaltung (DSZ – Deutsches Stiftungszentrum, 2009) und setzt diese schrittweise um. Stich­

Bundesverband Deutscher Stiftungen Die hessenstiftung – familie hat zukunft ist seit 2006 Mitglied im Bundesverband Deutscher Stiftungen. Der Bundesverband Deutscher Stiftungen vertritt die Interessen der mehr als 18.100 Stiftungen in Deutschland gegenüber Öffentlichkeit und Politik mit dem Ziel einer dauerhaften Verbesserung der rechtlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen für Stiftungen. Mit fast 3.600 Mitgliedern ist er der größte und älteste Stiftungsverband in Europa. Der Verband unterstützt die Netzwerkbildung über die Adressen im Stiftungsindex, über Veranstaltungen wie den Deutschen StiftungsTag und bietet über die Deutsche Stiftungsakademie Weiterbildungen an. www.stiftungen.org

worte dazu sind Kompetenz, Unabhän­ gigkeit, Transparenz und Kontrolle. Kompetenz und Unabhängigkeit Wichtig ist, dass die Unabhängigkeit der hessenstiftung – familie hat zukunft er­ halten bleibt. Dies gelingt gut, weil die Karl Kübel Stiftung in ihrem Hause eine Person delegiert hat, die in Kooperation mit den Abteilungen der Stiftung und in Absprache mit dem Vorstand der Karl Kübel Stiftung die Geschäfte der Hes­ senstiftung führt. Dem bevollmächtig­ ten Geschäftsführer der Hessenstiftung steht eine eigene Sachbearbeiterin zur Seite, die wie der Geschäftsführer selber auch bei der Karl Kübel Stiftung ange­ stellt ist, jedoch den abgegrenzten Be­ reich Hessenstiftung bearbeitet. Es versteht sich von selbst, dass der be­ vollmächtigte Geschäftsführer die Hes­ senstiftung kompetent und loyal ver­ tritt. Geeignete Kompetenz gründet auf

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Stiftungsverwaltung

Know-how in effizienter Administration ebenso wie in Erfahrung in der Zwecker­ füllung der Stiftung, in der Planung und Umsetzung maßgeschneiderter Projekte und in der Entwicklung und Erhaltung geeigneter Netzwerke. Die Zusammen­ arbeit mit dem Vorstand der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie gestaltet sich auf Augenhöhe und in gegenseiti­ ger Wertschätzung. Allen steht offen, die vielen Möglichkeiten des Kompe­ tenztransfers im Hause der Karl Kübel Stiftung zu nutzen. Häufig kommt es vor, dass die beiden Stiftungen Themen ge­ meinsam, parallel oder aus unterschied­ lichen Blickwinkeln bearbeiten. So hat z. B. die Karl Kübel Stiftung mit dem Hes­ sischen Sozialministerium und dem Hes­ sischen Kindertagespflegebüro die Ent­ wicklung von Qualität, Kontinuität und sicheren Rahmenbedingungen für den Bildungsort Kindertagespflege begleitet. Es fügte sich hervorragend, dass die hessenstiftung – familie hat zukunft im Rah­ men des Projektes die Rolle der Väter als Geschäftsführung der hessenstiftung – familie hat zukunft Dr. Ulrich Kuther...................................... 2004 bis heute Daniela Kobelt Neuhaus........................ 2007 bis heute Ralf Tepel.................................................. 2006 bis 2007 Gabriele U. Herrmann............................. 2005 bis 2006 Dr. Claudia Warning................................ 2004 bis 2005 Liane Grewers.......................................... 2002 bis 2004 Assistentinnen der Geschäftsführung Gabi Degenhardt..................................... 2010 bis heute Nicole Bärenstrauch................................ 2008 bis 2009 Lilli Maleck................................................ 2005 bis 2007

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Tagespflegepersonen aufgegriffen und untersucht hat. So war es möglich, die­ se Gruppe von Adressaten als besonders förderungswürdige zu identifizieren. Im Gegensatz zu Treuhandstiftungen arbeiten selbständige Stiftungen, die kooperieren, unabhängig voneinander miteinander und gewinnen gerade durch Augenhöhe bei gleichzeitiger Distanz an Schlagkraft. Durch die Anstellung eines bevollmächtigten Geschäftsführers für die hessenstiftung – familie hat zukunft sichert die Karl Kübel Stiftung, dass die Geschäfte getrennt gesehen und trans­ parent wahrgenommen werden. Der bevollmächtigte Geschäftsführer und die Gremien der Karl Kübel Stiftung in­ formieren sich gegenseitig über die lau­ fenden Geschäfte und die inhaltlichen Vorhaben. Die vierzehntägigen Meetings und eine ungezwungene Kommunika­ tion zwischen Tür und Angel schaffen Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Der beauftragte Geschäftsführer bedient sich jedoch der eigenen Entscheidungs­ gremien der Hessenstiftung, wählt eine hessenstiftungsspezifische Vermögens­ verwaltungsstrategie und arbeitet un­ abhängig von der Finanzverwaltung der Karl Kübel Stiftung, kann sich aber an dieser orientieren. Transparenz und Kontrolle Stiftungen – so das Deutsche Stiftungs­ zentrum – sind rechtlich nicht zur Pu­ blizität verpflichtet. Erfolgreiche Stif­ tungsarbeit braucht sich jedoch nicht zu verstecken. Das gilt auch für die hessenstiftung – familie hat zukunft. So ist es selbstverständlich, dass die Hessenstif­


Stiftungsverwaltung

tung zu Händen ihrer Gremien jährlich einen Geschäftsbericht vorlegt. Und wie die Karl Kübel Stiftung lässt sie sich jähr­ lich durch Dritte prüfen. Der eigene Internetauftritt sowie zahl­ reiche unabhängige und herausragen­ de Publikationen bzw. Erwähnungen in unterschiedlichsten Medien zeichnen die hessenstiftung – familie hat zukunft aus. Von deren Glanz in den Medien profitiert die Karl Kübel Stiftung wie umgekehrt die Hessenstiftung durch die positive Berichterstattung über die Karl Kübel Stiftung und ihre Publikationen einen Gewinn zieht. Vielfach werden die beiden Stiftungen in einem Atem­ zug erwähnt, was die Präsenz in den Medien erhöht.

Literatur Bundesverband Deutscher Stiftungen: Grundsätze guter Stiftungspraxis. Sammlung aktueller Handlungsempfehlungen. Orientierungsrahmen für effektives Stiftungshandeln. Stand 2010. http://www.stiftungen.org/fileadmin/bvds/de/ News_und_Wissen/Grundsaetze_Guter_Stiftungspraxis/BvDS_Grundsaetze_Guter_Stiftungspraxis_ erw._Neuauflage_2010.pdf DSZ – Deutsches Stiftungszentrum: Grundsätze guter Stiftungsverwaltung. Internet: www.deutsches-stiftungszentrum.de Juli 2009 (letzter Zugriff am 28. August 2011) Saxe, Annegret; Theurl, Theresia: Stiftungskooperationen in Deutschland. Kurz­

Gewinne in der Leistungskette der beiden Stiftungen Im Laufe der Jahre hat sich die Ge­ schäftsbesorgung von einer Dienstleis­ tungsbeziehung zunehmend zu einer Kooperationsbeziehung auf Augenhöhe entwickelt. Auch wenn für die Hessen­ stiftung die erbrachte Dienstleistung „Geschäftsführung“ ein wichtiges Er­ gebnis ist, sind in der „Leistungskette“ (Saxe/Theurl, 2009) der Zusammenarbeit weitere Elemente von Bedeutung. Zum einen unterstützt der Austausch von Informationen beide Seiten. Die regel­ mäßigen jours fixes zwischen dem Vor­ stand der Karl Kübel Stiftung und dem bevollmächtigten Geschäftsführer der hessenstiftung – familie hat zukunft so­ wie zwischen der Abteilung Inland und Kommunikation der Karl Kübel Stiftung und der Hessenstiftung wirken anregend und führen zu zahlreichen Projektideen,

studie. 2009. Herausgegeben vom Bundesverband Deutscher Stiftungen. http://www.stiftungen.org/ fileadmin/bvds/de/Publikationen/Downloads/studie_Stiftungskooperationen.pdf

die der eine oder der andere Partner dann schwerpunktmäßig weiter verfolgt. Auf der Suche nach interessanten und bekannten weiteren öffentlichen und privaten Partnern für Veranstaltungen, Kongresse und Forschungsprojekte ist eine gegenseitige Anregung und Unter­ stützung ebenfalls hilfreich. Das gilt auch für die Unterstützung der Vorhaben der Karl Kübel Stiftung durch Daten aus den Projekten der Hessenstiftung oder um­ gekehrt durch die Einbindung dieser in die Vorhaben der Karl Kübel Stiftung, die in Hessen oder auch bundesweit stattfinden. Gute Beispiele dafür sind der Hessische Familientag, auf dem die

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Stiftungsverwaltung

Hessenstiftung regelmäßig wichtige Bei­ träge auf der Bühne beisteuert oder das Inklusionsbarometer, mit dem das Jah­ resthema 2012 der Karl Kübel Stiftung untermauert wird. Fazit Die Übertragung der Geschäftsführung der hessenstiftung – familie hat zukunft führte zwei rechtlich und wirtschaftlich selbständige Organisationen mit unglei­ chem Wirkungsfeld unter einem Dach zusammen. Im Gegensatz zur Karl Kü­ bel Stiftung, die ihr operatives Geschäft welt- und bundesweit ausübt, konzent­ riert sich die kleinere Hessenstiftung auf die Stärkung des gesellschaftlichen An­

sehens von und auf die stetige Verbesse­ rung wirtschaftlicher, sozialer und recht­ licher Rahmenbedingungen für Familien in Hessen. Beide Stiftungen sollten ihren eigenen Charakter behalten und gleich­ zeitig mit- und voneinander lernen. Ein solches Vorhaben umzusetzen bedarf einiger struktureller Überlegungen zum Aufbau der Zusammenarbeit, vor allem wenn die Partner Wert auf eine schlan­ ke und flexible Organisation legen und mit möglichst geringem Verwaltungs­ aufwand eine möglichst große Wirkung erzielen wollen. Die Karl Kübel Stiftung ist für ihre minimale Verwaltungsstruktur bekannt und darauf angewiesen, dass sich der neue Partner praktisch nahtlos

Das Team der Karl Kübel Stiftung mit seinem Stiftungsratsvorsitzenden, Landrat Matthias Wilkes, Staatssekretärin Petra Müller-Klepper und Ministerpräsident Volker Bouffier am Stand der Hessenstiftung beim 6. Hessischen Familientag in Eltville (v. l. n. r.)

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Stiftungsverwaltung

in die vorhandenen Strukturen einfädeln will und kann. Die Hessenstiftung nutzt die renommierte Adresse der Karl Kübel Stiftung und eine Infrastruktur, die vom Empfang über den Hausmeister bis zu den Diensten eines versierten und zu­ verlässigen Rechnungswesens reicht. Die gemeinsame Nutzung der PC-Program­ me, des Druckers und Kopierers und des Dienstautos der Karl Kübel Stiftung zeigt nur einige der Synergieeffekte, die eine solche Zusammenarbeit bringt. Gera­ de beim Teilen von Dingen und Werten haben die beiden Stiftungen gelernt, dass gegenseitige Unterstützung unterm Strich Kosten minimiert und die Errei­ chung des Stiftungsziels befördert. Jeder Erfolg der hessenstiftung – familie hat zukunft ist auch ein bisschen der Erfolg der Karl Kübel Stiftung. An dieser Stelle sei dem Land Hessen und der hessenstiftung – familie hat zukunft ein herzliches Dankeschön für die gute und stets konstruktive und vertrau­ ensvolle Zusammenarbeit sowie beste Wünsche für die nächsten 10 Jahre aus­ gesprochen. Daniela Kobelt Neuhaus

Daniela Kobelt Neuhaus, Vorstandsmitglied der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, ist verantwortlich für die Arbeit und die Projekte der Stiftung in Deutschland.

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Stiftungsverwaltung

Zuverlässige Vermögensverwaltung – Jahr für Jahr Vermögensverwaltung der Hessenstiftung Das Stiftungsvermögen der hessenstiftung – familie hat zukunft stammt aus dem Verkauf von Landesbeteiligungen, deren Erlöse in die „Zukunftsoffensive Hessen“ geflossen sind. Mit rund zehn Millionen Euro Vermögen hat die Stif­ tung ein solides finanzielles Fundament – und das will verwaltet werden. Da die Stiftung gemeinnützig ist, ver­ langt der Gesetzgeber bei der Verwal­ tung des Vermögens äußerste Sorgfalt. Grundsätzlich gilt es, sparsam und zu­ gleich wirtschaftlich erfolgreich zu haus­ halten: Das Kapital muss werterhaltend angelegt werden und nur die jährlichen Erträge aus dessen Anlage werden nach

Eingangstür zur Karl Kübel Stiftung

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Maßgabe des Stiftungszwecks in die Projektförderung eingeführt. Im Vorstand der Hessenstiftung ist Bar­ bara David von der Commerzbank für die Finanzen zuständig. Dr. Ulrich Kuther, Bevollmächtigter der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, kümmert sich in Absprache mit dem Vorstand um die geschäftsführenden Aufgaben bei der Vermögensverwaltung. Seit 2004 ist die Zusammenarbeit der beiden Stiftungen in einem Geschäftsbesorgungsvertrag geregelt. So greift die Hessenstiftung beispielsweise auch beim Controlling und bei der Buchhaltung auf die Experti­ se der Karl Kübel Stiftung zurück. Vermögensverwaltung in öffentlicher und privater Hand Das Grundkapital der Hessenstiftung wurde von Anfang an bei je einem öf­ fentlichen und einem privaten Bankhaus angelegt. Nach den Erfahrungen der Stiftung, erzeugt diese Zwei-BankenStrategie einen „fruchtbaren Wettstreit“ um die bessere Performance. Die beiden unterschiedlichen Anlagephilosophien sorgen dafür, dass die eine Bank inner­ halb der Aktienquote, die auf maximal 20 Prozent festgelegt ist, mehr in klas­ sische Einzeltitel investiert, die andere stärker in Fondslösungen. Die jährlichen Zielrenditen werden den beiden Anlagepartnern in einem Wirt­ schaftsplan vom Vorstand mitgeteilt. Im nächsten Schritt erfolgt die Wahl einer Anlagestrategie, die sowohl die strin­ genten Vorgaben der Stiftung als auch die erwarteten Renditen berücksichtigt. Hierfür erörtert der Stiftungsvorstand zum Beispiel die Anpassung der Anla­


Stiftungsverwaltung

gerichtlinien, die prozentuale Aufteilung des Stiftungsvermögens auf Anlageklas­ sen oder die Auswahl eines passenden Aktienportfolios. Jahr für Jahr wird das Mandat schließlich anhand der Ergebnis­ se auf den Prüfstand gestellt. Zusätzlich berichtet die Geschäftsführung quartals­ weise an den Stiftungsvorstand. Anlageausschuss prüft Performance Bei allen vermögensrelevanten Ent­ scheidungen steht dem Vorstand ein Anlageausschuss beratend zur Seite. Er überprüft beispielsweise, ob die beiden Vermögensverwalter tatsächlich ihre Ziele erreicht haben. Dem Ausschuss gehören der Finanzvorstand der Hes­ senstiftung, der Bevollmächtigte der Ge­ schäftsleitung, der Finanzvorstand der Karl Kübel Stiftung, Michael J. Böhmer, und als externer Berater der Düsseldor­ fer Anlagespezialist Holger Koch an. Alle sechs Monate kommt der Ausschuss mit Vertretern der beiden Geldhäuser zu­ sammen. Während der Sitzung nehmen die Ver­ mögensverwalter zum abgelaufenen Halbjahr Stellung und erläutern, wie sich die nächsten sechs Monate voraussicht­ lich entwickeln werden. Anschließend werden die Ergebnisse mit den beiden Vermögensverwaltern separat erörtert. Die Ergebnisse der Sitzung werden dem Vorstand der Hessenstiftung durch die Geschäftsführung mitgeteilt. Grundsätzlich werden Entscheidungen bezüglich des Stiftungsvermögens vom Vorstand gefällt. Etwa die konsequen­ te Einführung einer kapitalerhaltenden Rücklage. Ein Drittel der Erträge kann,

nach Abzug der Kosten, in eine Rückla­ ge eingestellt werden, um die Substanz des Stiftungsvermögens zu stärken. Im Jahr 2004 wurde damit ein erster Schritt in Richtung Inflationsschutz getan. 2009 folgte ein weiterer: die Einführung der Rücklage aus Vermögensumschichtun­ gen. In sie können außerordentliche Erträge, in der Regel Kursgewinne, komplett ein­ gestellt werden. Diese Rücklage dient auch dazu, mögliche Verluste, wie im Krisenjahr 2008, auszugleichen. Externe Prüfer bestätigen solide Vermögensverwaltung Die transparente und korrekte Verwal­ tung des Stiftungsvermögens wird kon­ tinuierlich geprüft. Eine unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft nimmt Buchführung, Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung der Hessenstiftung re­ gelmäßig unter die Lupe. Bestandteil dieser Prüfung ist beispielsweise die Fra­ ge, ob das Vermögen der Stiftung un­ angetastet geblieben ist und die Mittel im Sinne des Stiftungszwecks verwendet wurden. Bisher wurden alle Prüfungen mit einem „uneingeschränkten Bestäti­ gungsvermerk“ abgeschlossen. Die Zusammenarbeit der hessenstiftung – familie hat zukunft und der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie mit den bei­ den Vermögensverwaltern hat sich be­ währt. Seit vielen Jahren prägen Vertrau­ en und Partnerschaft die Kooperation, doch auch konstruktive Kritik und offene Worte haben ihren Platz. Schließlich geht es darum, das Stiftungskapital zu sichern und einen möglichst optimalen Ertrag zu erzielen. Und das gelingt dank einer

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Stiftungsverwaltung

Anlagestrategie mit Augenmaß Jahr für Jahr zuverlässig. Barbara David / Michael J. Böhmer

Barbara David, M.A. ist seit 1992 im Personal­ bereich der Commerzbank AG tätig und leitet den Bereich Diversity Management. Sie ist Mitglied des Hochschulrats der Fachhochschule Frankfurt am Main und seit 2001 Vorstandsmitglied der hessenstiftung - familie hat zukunft. Michael Johannes Böhmer, Vorstandsmitglied der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, ist verantwortlich für den Bereich Vermögensverwaltung und Finanzen der Stiftung.

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Philosophie

Familienpolitische Philosophie der Hessenstiftung Wandel im Familiensystem Das System Familie befindet sich gegen­ wärtig in einem tiefgreifenden Wandel, dessen Beschleunigung ein noch nie da gewesenes Ausmaß erreicht hat. Dieser umfasst neben strukturellen und quali­ tativen Veränderungen auch solche im Familienentwicklungsprozess. Während quantitative Veränderungen mehr Fa­ milienstrukturen und Familienformen betreffen, sind qualitative Veränderun­ gen von besonderer Bedeutung für die Zukunft des Familiensystems selbst: Die Verlängerung der durchschnittlichen Le­ benserwartung, die Entwicklung eines Familiensektors (Eltern mit Kindern) und eines Nicht-Familiensektors (Singles) zäh­ len zu den quantitativen Veränderungen wie auch das spätere Erstheiratsalter, die

sinkende Geburtenrate, die steigende Scheidungsrate, die Etablierung von zu­ sammengesetzten Familien (sog. Patch­ work-Familien), eine kompetente und vielfach ressourcenreiche Großeltern­ schaft sind einige weitere Indikatoren des quantitativen Wandels. Vor allem aber qualitative Veränderung gewinnen wäh­ rend der letzten Zeit an Bedeutung. Zum Beispiel die gewandelte Motivation zur Ehe und Familie: von einer früher recht­ lich legitimierten und begründeten Ehe (im Sinne der rechtlichen Absicherung und Weitergabe von Besitz von Genera­ tion zu Generation), veränderte sie sich bekanntlich im 19. Jahrhundert zu einer institutionellen. Man heiratete, um eine Familie zu gründen und die Familie hat­ te die Keimzelle der Gesellschaft zu sein.

Beirat und Vorstand zu Gast in der Karl Kübel Stiftung

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Philosophie

Rechtliche Vorschriften und soziale Kon­ trolle haben die Stabilität dieser beiden Ehemodelle gesichert. Und als im zwan­ zigsten Jahrhundert, nach dem Zweiten Weltkrieg, sich die Ehemotivation erneut veränderte, wandelte sich auch das Fami­ liensystem entsprechend. Denn diesem Familienmodell lag eine kindzentrierte Motivation zugrunde: man heiratete, um ein Kind zu bekommen. Das Kind als Freude, als Erfüllung mit Sinn stiftender Funktion für das Leben, für Mütter und Väter in gleicher Weise. Damit einher ging aber auch eine Instabilität in diesem Familienmodell. Die Scheidungsrate stieg und ihr folgten vielfach neue Familien­ formen. Seit geraumer Zeit vollzieht sich ein weiterer Wandel im Familiensystem: die Hauptmotivation, eine Beziehung einzugehen und evtl. zu heiraten, ist nicht mehr primär das Kind, sondern die Maximierung des individuellen Glücks in der Beziehung. Damit verändern sich die Koordinaten im Familiensystem: war in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr­ hunderts die Eltern-Kind-Beziehung die tragende Säule des Familiensystems, so ist es gegenwärtig die Qualität der Part­ nerschaft. Aus Daten, die aus diesem Subsystem gewonnen werden, kann eine zuverlässige Prognose über die sozi­ ale Entwicklung des Kindes, die Stabilität der Partnerschaft, das Auftreten famili­ aler Gewalt und über die Bereitschaft des Mannes, die Geburt eines weiteren Kindes zu befürworten, getroffen wer­ den. Diese Veränderung der Koordina­ ten fordert derzeit die Familienpolitik in besonderer Weise heraus. Wir sind, was die gesellschaftliche Entwicklung anbetrifft, an einem Punkt angelangt,

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der deutlich erkennen lässt, dass sozialer Zusammenhalt nicht mehr primär durch soziale Kontrolle, durch die Instrumente der Rechtsordnung oder durch soziale Konstruktionen (etwa von Partnerschaft und Elternschaft) reguliert werden kann. Vielmehr ist Partnerschaft und familiale Stabilität zur individuellen Herausforde­ rung geworden. Die vorhandenen poli­ tischen Konzepte erweisen sich hierfür dabei als wenig geeignet. Vielmehr wird man durch Stärkung der individuellen Kompetenzen (am besten früh, über reformierte Bildungspläne) diesen Pro­ zess der Partnerschaftsqualität begleiten und unterstützen wollen, weniger durch Maßnahmen von außen. Hier zeigt sich eindrucksvoll, wie Bildungspolitik und Familienpolitik auf das Engste verknüpft sind. Neue Rollenbilder zur Gleichstellung der Geschlechter Neben neuartigen Einstellungen betref­ fend Partnerschaft lassen sich weitere gesellschaftliche Veränderungen beob­ achten, die qualitative Auswirkungen auf das Familiensystem mit sich bringen. So hat sich die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft gewandelt. Auch wenn Gleichstellung noch nicht in allen Berei­ chen erreicht werden konnte, ist erfreuli­ cherweise dieser Trend nicht mehr rück­ gängig zu machen. Dennoch bedarf es weiterer Anstrengungen, um den Frauen faire Chancen bei der Gleichstellung der Geschlechter anbieten zu können. Auch die Rolle des Vaters mit Blick auf die kindliche Entwicklung wurde in den letzten Jahren neu bewertet. Nachdem die Väter selbst erkannten, wie wichtig


Philosophie

lebten Realität gebracht werden kann, was zur Belastungen der Familienmit­ glieder führt, eine stärkere symmetrische Partnerschaft erschwert und das Wohl­ befinden der Väter, die Wertschätzung ihrer Partnerin und die Zufriedenheit in der Partnerschaft beeinträchtigen kann. Schließlich richten biographische Wand­ lungsprozesse neue Herausforderungen an die Familienmitglieder und an die Politik in gleicher Weise. Die Vaterschaft hat sich weitgehend von der familialen Normalbiographie abgekoppelt. Die Zahl der Teenager-Fathers und der späten Vä­ ter nimmt zu, dazwischen wird vielfach Vaterschaft in unterschiedlichen Famili­ enformen gelebt – mit eigenen Kindern wie auch mit Kindern, die von einem an­ deren biologischen Vater stammen. VATER bei der Arbeit, © Michael Apitz

sie für die Entwicklung und Erziehung ihrer Kinder sind und die Forschungser­ gebnisse eine solche Position untermau­ ern, gilt es nach Wegen zu suchen, Väter stärker in die elterliche Verantwortung einzubinden und sie für eine stärke­ re partnerschaftliche Aufgabenteilung in der Familie zu gewinnen. Dass sie hierfür bereit sind, hat eine Studie des Bundesfamilienministeriums deutlich belegt, der zufolge 67 % der Männer und Väter in Deutschland sich primär als Erzieher und nicht als Brotverdiener definieren. In einer prospektiv angeleg­ ten Studie zur Entwicklung der Familie in Deutschland konnte zudem gezeigt werden, dass die von Vätern, Müttern und Kindern vorgenommene subjektive Konstruktion von Vaterschaft vielfach nicht in Übereinstimmung mit deren ge­

Neue Erwartungen an die Elternschaft Aber auch der Wert, den die Kinder für ihre Eltern repräsentieren, hat sich tief­ greifend gewandelt: Kinder sollen ihren Eltern Freude bereiten, sie haben eine sinnstiftende Funktion für die Eltern und diese sind heute mehr denn je bereit, fi­ nanziell und emotional viel für ihre Kin­ der zu investieren. Noch nie in der Ge­ schichte haben sich Mütter und Väter so sehr für eine qualitativ hochwertige Bil­ dung ihrer Kinder eingesetzt, wie in den letzten Jahrzehnten. Dieses Engagement findet auf der Grundlage eines qualita­ tiv veränderten Eltern-Kind-Verhältnisses statt: Die Eltern-Kind-Beziehung wird auf einer Ebene von Gleichberechtigung an­ stelle von Autoritätsbeziehung konzep­ tualisiert und junge Eltern haben dafür keine Vorbilder. Generell ist Elternschaft

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Philosophie

heute viel schwieriger geworden: Der Familie kommt gegenwärtig ein geringe­ rer Stellenwert als früher zu. Alternative Lebensformen, wie kinderlose Partner­ schaften, gewinnen an Bedeutung. Dies hat zur Folge, dass junge Eltern in zahl­ reichen Lebenskontexten, etwa im Beruf oder auf dem Wohnungsmarkt, verstärkt mit Personen konkurrieren müssen, die keine Verantwortung für Kinder tragen. Ferner sind die Anforderungen und Er­ wartungen an die Elternschaft gestie­ gen. Die Erziehungsarbeit ist heutzutage in hohem Maße kindzentriert und päda­ gogisiert. Von den Eltern wird erwartet, ständig für ihre Kinder verfügbar zu sein und ihnen optimale Startbedingungen zu

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PAPA FÄHRT

www.hessenstiftung.de

Plakatentwurf Kim Asendorf

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verschaffen. Diese Erwartungen finden ihre Entsprechung im Bemühen der Eltern um eine verantwortliche Elternschaft. Dieses Erziehungsideal überfordert nicht wenige Eltern, da es an Vorerfahrungen, Vorbildern und den notwendigen Wis­ sensbeständen fehlt. Nicht zuletzt sind es die heute gültigen Vorstellungen von den Geschlechtsrollen, die Elternschaft in mancher Hinsicht schwieriger gestal­ ten. Während früher die Aufgaben einer Mutter bzw. eines Vaters klar definiert und die Zuständigkeiten beider Elterntei­ le klar getrennt waren, ist das heute nicht mehr der Fall. Dies ist als Chance für die Eltern zu begreifen, ihre eigenen Vorstel­ lungen umzusetzen. Dort, wo nicht mehr normative Vorstellungen die Rollentei­ lung festlegen, sind jedoch in hohem Maße die Organisations-, Kommunika­ tions- und Problemlösefähigkeiten beider Partner gefragt, um ein für beide Partner befriedigendes Modell von Familie und Elternschaft auszuhandeln. Ob den El­ tern dies gelingt, hängt allerdings nicht nur von den Kompetenzen des Paares ab. Die äußeren Rahmenbedingungen set­ zen den Gestaltungsmöglichkeiten der Paare doch recht enge Grenzen. Veränderungen im Familienentwicklungsprozess Etwa 40 % aller Ehepaare in Deutschland lassen sich scheiden. Familien von heu­ te haben generell in ihrem Leben mehr Übergänge, mehr Brüche und Diskonti­ nuitäten, mehr Verluste und mehr Belas­ tungen zu bewältigen als in früheren Jah­ ren, worauf viele nicht vorbereitet sind. So stellt der Übergang zur Elternschaft für viele Paare eine Herausforderung dar,


Philosophie

denn die meisten Paare erkennen, dass die Geburt des Kindes und damit die Fa­ miliengründung mit tiefgreifenden, häu­ fig unerwarteten und nicht selten auch unerwünschten Veränderungen und mit Belastungen verbunden sind. Weitere Übergänge bereiten heute mehr denn je Schwierigkeiten: Trennung, Schei­ dung und Wiederheirat, aber auch eine plötzliche Arbeitslosigkeit, eine schwere Krankheit, der Verlust eines Familien­ mitglieds, oder der Auszug des jüngs­ ten Kindes, der Eintritt ins Rentenalter, all diese Ereignisse leiten Phasen im Fa­ milienentwicklungsprozess ein, die die einzelnen Familienmitglieder nicht selten überfordern. Veränderungen im Kontext bringen zusätzliche Belastungen und He­ rausforderungen für Familien mit sich: Migration, Armut, soziale Ausgrenzung, geographische Mobilität sind Ereignisse, die das Familienleben nicht selten beglei­ ten und erschweren. Die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf bleibt für viele Mütter und Väter ein nach wie vor ungelöstes Problem. Trotz des Ausbaus der Bildungsangebote für unter dreijährigen Kinder, ist für man­ che Eltern die Sicherstellung eines quali­ tativ hochwertigen Angebots für ihr Kind nicht immer erreichbar. Phänomene, wie familiale Gewalt, sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, Vernachlässi­ gung und nicht zuletzt Gefahren, die aus dem Missbrauch von Drogen und Alko­ hol resultieren, stellen weitere Problem­ bereiche dar, für die ein noch stärkeres soziales und gesamtgesellschaftliches Engagement erforderlich ist. Vor dem Hintergrund dieser hier ledig­ lich angedeuteten Veränderungen und

der damit zusammenhängenden Her­ ausforderungen erweist sich als hilfreich, nach Wegen zu suchen, wie die Familie gestützt und wie eine Politik entwickelt werden kann, die dieser veränderten Si­ tuation Rechnung trägt. Familien in ihrer Aufgabe und ihrer Verantwortung zu stärken, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Stiftungen, wie die hessenstiftung – familie hat zukunft betrachten es als ihre vornehmste Aufgabe, Beiträge zur Unterstützung des Familiensystems zu leisten. Die hessenstiftung – familie hat zukunft als konkretes politisches In­ strument und als Ausdruck politischer Verantwortung gegenüber Familien hat während der ersten zehn Jahre ihrer Ar­ beit ein Programm entwickelt, das auf folgenden Prinzipien aufbaut. Grundsätze der Stiftungsarbeit Die Stiftung fühlt sich bei ihren Aktivitä­ ten einer Konzeption von Familienpolitik verpflichtet, die folgenden Grundsätzen gerecht wird, wie sie der Beirat der hessenstiftung – familie hat zukunft 2002 beschlossen hat: 1. Förderung einer Familienpolitik, die von den Bedürfnissen der Familie ausgeht: Die Stiftung befürwortet eine (explizi­ te) Familienpolitik, die die Anliegen und Bedürfnisse von Familien in den Mittel­ punkt stellt und von der Situation von Familien ausgehend, Anforderungen an alle anderen Politikbereiche richtet. 2. Einladung zu Dialog und Partizipation: Familienpolitik, die Erfolg haben soll, muss Familien als Partner ansehen. Poli­

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Philosophie

tik soll mit Familien und nicht für Familien gemacht werden. Das gilt für die Eltern, in gleichem Maß aber auch für Kinder und Jugendliche. Deshalb wird eine Fa­ milienpolitik befürwortet, die vielfältige Beteiligungsformen in der Jugendhilfe wie im Bereich der Bildung fördert: Mit­ verantwortung statt Anspruchs- und Konsummentalität, Familie wird nicht als Objekt, sondern als mitgestaltendes Sub­ jekt von Politik betrachtet. 3. Verankerung einer präventiv orientierten Familienpolitik: Staatliche Hilfen und Angebote für Fami­ lien setzen bislang häufig erst dann ein, wenn bereits massive Probleme vorliegen. Die Stiftung befürwortet eine stärker prä­ ventiv orientierte Familienpolitik: Sie soll Familien bereits in den frühen Phasen ihrer Entwicklung unterstützen und Pro­ blemen vorbeugen helfen, statt sie später mit hohem Aufwand zu kurieren. 4. Förderung der Autonomie und Eigenverantwortung der Familie: Autonomie und Eigenverantwortung stel­ len unverhandelbare Kernstücke der Fami­ lienpolitik dar. Deshalb müssen alle Maß­ nahmen darauf hin hinterfragt werden, ob sie zur Stärkung der familiären Auto­ nomie und Eigenverantwortung beitra­ gen. Nicht die betreute Familie ist das Ziel, sondern die verantwortliche Elternschaft und die autonom handelnde Familie. 5. Achtung der Rechte des Kindes: Sowohl auf landes – wie auch auf kom­ munalpolitischer Ebene soll künftig der Perspektive des Kindes verstärkt Rech­ nung getragen werden. Kindliche Inte­

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Plakatentwurf Gangolf Möller

ressen, Bedürfnisse und Rechte müssen stärker in das Bewusstsein der Gesell­ schaft und der Eltern treten. Gewaltfreie Erziehung und Respekt vor der Persön­ lichkeit und der Autonomie des Kindes sollten das politische Handeln leiten. 6. Sicherstellung des Existenzminimums für die einzelnen Familienmitglieder: Alle Familienmitglieder, insbesondere die Kinder sind vor Armut und sozialer Not zu bewahren. Es sind Beiträge zur Ver­ besserung der Lebensbedingungen, der Entwicklung, der Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder und Jugend­ lichen zu leisten. Eine Unterstützung er­ folgt unabhängig von ihrem soziokultu­ rellen Hintergrund.


Philosophie

7. Stärkung von Partnerschaftsqualität: Stärkung von Partnerschaftsqualität in eine übergeordnete, auf Entwicklung ausgerichtete familienpolitische Kon­ zeption einzubinden, stellt eine neue Herausforderung dar. Eine familienpoliti­ sche Konzeption sollte sich nicht auf den familienpolitischen Bereich im engeren Sinn beschränken. Sie ist ein wesentli­ cher Bestandteil der Bildungspolitik und anderer Politikbereiche. 8. Berücksichtigung prozessualer Aspekte der Familie: Bisherige familienpolitische Konzepte ha­ ben zu sehr auf Strukturen gesetzt und vorwiegend nach organisatorischstruk­ turellen Antworten gesucht. In der For­ schung wird jedoch zunehmend die Be­ deutung prozessualer Aspekte erkannt. Die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, die Qualität der Partnerschaft, die Art und Weise, wie man mit Belastungen um­ geht, wie man Brüche und Verluste be­ wältigt, wie man Kommunikation in der Familie pflegt, stellen wichtige Aspekte im familialen Geschehen dar. Wir haben solche Aspekte stärker als bisher auch in die Familienpolitik mit einzubeziehen. 9. Stärkung des Systems Familie: Zu einer Zeit, in der die Herausforderun­ gen an die Familie gewachsen sind und die von der Familie zu bewältigenden Probleme komplexer und schwieriger ge­ worden sind, gilt es, die Familie zu stär­ ken. Aufgabe der Familienpolitik ist es demnach, Maßnahmen zu fördern, die darauf abzielen, das System Familie ins­ gesamt zu stärken; dies gilt insbesondere für die Beziehungen zwischen den Fami­

lienmitgliedern und für die Beziehungen zwischen den Generationen. 10. Integration und Unterstützung von Familien mit behinderten Angehörigen: Maßnahmen zur Integration und Vermei­ dung von Benachteiligungen von Famili­ en mit behinderten Angehörigen werden unterstützt. Die besondere Interessenla­ ge wird bei der Planung und Ausgestal­ tung von familienpolitischen Konzepten und Aktivitäten berücksichtigt. 11. Integration von Risiko- und Multiproblemfamilien helfen: Es gilt Familien insbesondere zu helfen, die unter Risikobedingungen ihr Leben ge­ stalten müssen. Hier liegt zweifelsfrei ein Schwerpunkt von Familienpolitik, deren Profilierung in den kommenden Jahren stärker herausgearbeitet werden sollte. 12. Verknüpfung von Familien- mit Partnerschafts- und Bildungspolitik: Familienpolitik hat bislang nur einen Aus­ schnitt der familiären Aufgabenstellun­ gen berücksichtigt: Die Beziehung zwi­ schen Eltern und Kindern. Die Qualität der Partnerschaft der Eltern erweist sich jedoch als die tragende Säule der Familie. Es gilt demnach eine Politik zu vertreten, welche die ganze Familie umfasst. 13. Versöhnung des „Familiensektors“ und des „Nichtfamiliensektors“: Die bereits eingetretene Polarisierung unserer Gesellschaft in einen Famili­ en- und einen Nichtfamiliensektor stellt eine politische Herausforderung ersten Ranges dar. Da gegenwärtige Rahmen­ bedingungen den Nichtfamiliensektor

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Philosophie

begünstigen und den Familiensektor zunehmend unter Druck setzen, gilt es durch geeignete Maßnahmen den Druck auf die Familien abzubauen und die so­ ziale Ungerechtigkeit zwischen Singleund Familienhaushalten zu beseitigen. 14. Förderung einer umfassenden Sicht zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss nicht nur für Mütter, sondern auch für Väter gestellt werden. Weitgehend unbeachtet bleibt bislang bei dieser Frage die Perspektive der Kinder und Jugendlichen. Es wird deshalb ein Konzept von Vereinbarkeit befürwortet, das die Interessen aller Fa­ milienmitglieder berücksichtigt und ab­ wägt. 15. Weiterentwicklung der unterstützenden Angebote für Familien: Familien von heute müssen ihr Leben in einer Gesellschaft gestalten, die kul­ turell divers und sozial komplex gewor­ den ist. Sie müssen mit Diskontinuitäten und Brüchen in ihrem Leben umgehen lernen. Elterliche Kompetenz muss heu­ te in einem Rahmen von Unsicherheit verantwortet werden. Es gilt demnach den Familien Angebote zur Verfügung zu stellen, die sie befähigen, mit solchen Unsicherheiten und Belastungen kompe­ tent umzugehen. Die Angebote der Fa­ milienbildung, der Familienberatung und -begleitung sind dementsprechend aus­ zubauen und qualitativ zu verbessern. 16. Modernisierung und Vernetzung der Beratungs- und Hilfeangebote für Familien, Kinder und Jugendliche,

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Förderung der Kompetenz von Fachkräften in solchen Einrichtungen: Einrichtungen der Jugendhilfe, die Hilfen für Familien, Kinder und Jugendliche an­ bieten, sind in einem spezifischen histo­ rischen Kontext entstanden. Es gilt heu­ te, ihre Aufgabenstellung, ihre fachliche Fundierung und ihre Organisationsform zu hinterfragen. Es ist zu überprüfen, in­ wieweit sie den gewandelten Lebensbe­ dingungen von Familien, aber auch dem stark gewachsenen Wissenstand gerecht werden und ob und in welchem Umfang sie einer Stärkung der fachlichen Kompe­ tenz bedürfen. Eine Modernisierung des Angebotes, eine Stärkung der Fachlich­ keit der dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie eine stärkere Ver­ netzung stellen dringende Aufgaben dar, damit Familien heute effizient bei der Be­ wältigung ihrer vielfältigen Aufgaben be­ gleitet und unterstützt werden können. 17. Ausbau des Betreuungsangebots für Kinder unter drei Jahren und für Schulkinder, Neubestimmung des Bildungsauftrags von Tageseinrichtungen für Kinder: Veränderte Lebens- und Arbeitsbedin­ gungen für Mütter und Väter legen mehr denn je die Bereitstellung kindgerechter und qualitativ hochwertiger Betreuungsund Bildungsangebote für Kinder unter sechs Jahren und für Schulkinder nahe. Es werden von daher familienergänzende und -bereichernde Angebote in großem Umfang, vor allem für Kinder, deren El­ tern erwerbstätig sein wollen und/oder müssen. Zudem stellt die Neubestimmung des Bildungsauftrags für die Tageseinrich­ tungen für Kinder und für Bildungskon­


Philosophie

zepte, welche die kindliche Entwicklung stärken, eine bildungs- und familienpoliti­ sche Aufgabe erster Ordnung dar. 18. Modernisierung von Bildungskonzepten für Kinder unter sechs Jahren: In den letzten Jahren ist der Bildungs­ auftrag von Kindertageseinrichtungen in den Vordergrund getreten. Es gilt, in Übereinstimmung mit europäischen und internationalen Entwicklungen, dem Ele­ mentarbereich wieder die ihm gebüh­ rende Aufmerksamkeit zu widmen und seinen Auftrag neu zu bestimmen. 19. Neue Impulse für die kommunale Familienpolitik: Familienpolitik ist bürgernahe Politik. Sie vollzieht sich wesentlich im unmittelba­ ren Lebensraum der Familie, d. h. vor Ort in den Gemeinden. Deshalb gilt es, gemeinsam mit Familien Konzepte einer Kommunalpolitik zu entwickeln, die vor Ort umsetzbar sind. Dabei sind neue Technologien (wie z. B. das Internet) zu nutzen; es gilt neue Netze zu knüpfen und neue Allianzen einzugehen. Ziel soll­ te es sein, eine familienfreundliche Ge­ meinde zu schaffen und eine für Fami­ lien geeignete kommunale Infrastruktur bereit zu stellen. Auf diese Weise tragen wir auch zur Sicherung der Gemeinde als Wirtschaftsstandort bei. 20. Befürwortung einer familienfreundlichen Unternehmens- und Wirtschaftspolitik: Das Angebot familienfreundlicher Ar­ beitszeiten, die Förderung der Verein­ barkeit von Familie und Beruf, die ver­ stärkt auch Väter mit einbezieht und

Plakatentwurf Pascal Rudolph und Julian Knappe

die Beteiligung der Unternehmen an der Ausgestaltung eines umfassenden Bildungskonzeptes, die auch die Interes­ sen der Wirtschaft berücksichtigt, wird unterstützt. Eine Zusammenarbeit bzw. Vernetzung mit Unternehmens- und Wirtschaftsverbänden wird angestrebt. Aspekte effizienter Stiftungsarbeit Bei der Umsetzung des Stiftungspro­ gramms ist darauf zu achten, dass fol­ gende Aspekte berücksichtigt werden: a) Systemorientierung: Hilfen für Familien sollten grundsätz­ lich dem Systemcharakter von Familien gerecht werden. Sie sollten systemisch angelegt sein, d. h. konzeptuell alle Fa­

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Philosophie

milienmitglieder bei der Gestaltung von Interventionen berücksichtigen und möglichst auf verschiedenen Ebenen (Eltern, Kinder) und verschiedenen Pro­ blemfeldern (z. B. psychologische Hilfe, alltagspraktische Unterstützung) anset­ zen. b) Leichte Zugangswege, d. h. niedrigschwellige Angebote: Ein relativ großer Prozentsatz von Risi­ kofamilien kommt deshalb nicht in den Genuss geeigneter Hilfsangebote, weil der Zugang zu solchen Angeboten zu schwierig ist. Von entscheidender Be­ deutung sind deshalb Hilfeformen, die gemeindenah und in einer nicht stig­ matisierenden Form angeboten werden. Besonders geeignet scheinen in diesem Kontext Hilfen, die im Rahmen von re­ gulären Einrichtungen, wie Kindergärten und Schulen, angeboten werden. Nied­ rige Zugangsschwellen und direktes An­ sprechen der Familie sichern auch eine möglichst frühzeitige, präventiv orien­ tierte Hilfe.

d) Partnerschaftliche Orientierung – Anpassung an die Möglichkeiten der Familien: Um eine möglichst hohe Akzeptanz zu finden, sollten Hilfen für Risikofamilien partnerschaftlich und ressourcenorien­ tiert angelegt sein und sich auch, bezo­ gen auf den Aufwand für die betreffen­ den Familien, in gewissen Grenzen halten. e) Richtiges Timing: Ob und wie Hilfen von Familien ange­ nommen werden, hängt wesentlich vom richtigen Zeitpunkt der Angebote ab. Es gibt Phasen, in denen Familienmitglie­ der Unterstützung eher aufgeschlossen gegenüberstehen, weil es hier auch ein subjektives Hilfebedürfnis gibt. So ist z. B. bekannt, dass Familien speziell in akuten Krisensituationen von Hilfe besonders profitieren. Besonders aufgeschlossen sind Familien zudem vor allen in sog. „Übergangssituationen“ (z. B. Trennung der Eltern, Eintritt eines Kindes in den Kindergarten/die Schule). Wassilios E. Fthenakis

c) Kontinuität des Hilfegeschehens: Die Effektivität von Hilfen für Risikofami­ lien hängt stark von deren Kontinuität ab. Persönliche Kontinuität ist in vielen Fällen eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung einer Vertrauensbe­ ziehung zwischen Helfer und Klienten. Diese Vertrauensbeziehung ist speziell bei Risikofamilien von großer Bedeutung. Hilfs- und Interventionsangebote sollten dem grundsätzlich Rechnung tragen und lebensphasenorientiert, d. h. auch le­ bensphasenübergreifend, zur Verfügung stehen.

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Wassilios E. Fthenakis, (1937), Prof. Dr. Dr. Dr., Lehrtätigkeit an den Universitäten München, Münster, Berlin, Regensburg, Augsburg, Newcastle upon Tyne (UK) und Bozen (Italien) in den Fächern Pädagogik, Psychologie, Anthropologie, Kindheits- und Familienforschung. Seit 2002 ist er Beiratsmitglied der hessenstiftung – familie hat zukunft.


Aufwachsen von Kindern

Wenn es Erwachsenen gut geht, dann geht es auch Kindern gut? Subjektive Kinderbewertung und objektive Verhältnisse Erwachsene können nicht wie Kinder se­ hen und denken - wie Kinder ihre Stadt und ihre Umwelt wahrnehmen, wissen nur die Kinder selbst. Es ist besonders wichtig, herauszufinden, an welchen Orten Kinder am liebsten spielen, was ihnen unübersichtlich erscheint oder wo sie Gefahren wahrnehmen. So profitie­ ren örtliche Verwaltungen und politische Institutionen von den Aussagen der Kin­ der. Sie können mit den Ergebnissen so­ wohl Qualität erkennen und erhalten, als auch präventive Maßnahmen ergreifen, wo diese aus Sicht der Kinder nötig sind. Wenn Kinder ihre Stadt bewerten, hat das seine Gründe. Die positive oder ne­ gative Wertung hat objektive Gründe, meinen Erwachsene. Die kommunalen Rahmenbedingungen unterscheiden sich schließlich. In vier Aspekten wurden diese untersucht in Beziehung zu den Kindervoten: Verschuldung und kinder­ relevante Investitionen, Touristisches Investitionsklima und Beeinflussung der Ortsattraktivität, Unfallhäufigkeit und schließlich Größe der Gemeinde. Ab­ schließend wurde noch die alterspezifi­ sche Bewertung analysiert. Vorgeschichte Die hessenstiftung – familie hat zukunft startete 2005 eine Aktion “Kinder be­ werten ihre Stadt”. Es begann damit, dass der Fragebogen in Zusammenarbeit mit 250 Kindern entstanden ist. Von den 149 Gruppen aus 51 hessischen Städ­ ten und Stadtteilen, die sich beworben haben, schickten schließlich 135 ihre ausgefüllten Unterlagen zurück. Beteili­

gen konnten sich Städte mit mindestens 15.000 Einwohnern und deren Stadtteile mit mindestens 10.000 Einwohnern. 1.209 Mädchen und 1.203 Jungen ha­ ben ihre Stadt bewertet. Davon kamen 78,2 % aus Deutschland, 9,3 % sind ge­ bürtig aus einem anderen europäischen Land sowie 12,3 % aus anderen Ländern. Die Verteilung auf die Altersgruppen sieht so aus, dass 18,6 % sechs und sieben Jah­ re, 32,5 % acht und neun Jahre, 27,7 % zehn und elf Jahre und 21,2 % zwischen zwölf und vierzehn Jahre alt sind. Wie wurde ausgewertet? Zunächst wur­ den die Fragebogen nach Orten und dann nach Altersgruppen sortiert. Die Daten wurden erfasst und in fünf Grup­ pen zusammengefasst, die sich aus dem Fragebogen ergaben: Bewegung: Hier ging es um Fahrmög­ lichkeiten, die Wege zur Schule und zum Spielplatz, den Straßenverkehr sowie Bus und Bahn. Kinderorte: Es wurden Naturerfahrungen, Spielplätze, Spielstra­ ßen, Orte zum Treffen und der Schulhof begutachtet. Kommunikation: Erfahrun­ gen in Notfällen, Informationen für Kin­ der und die Leute im Rathaus standen hier im Mittelpunkt. Subjektives Empfin­ den: Auch zu Sauberkeit, Schönheit und Lautstärke haben die Kinder Stellung ge­ nommen. Angebote: Sportmöglichkei­ ten, Ferienangebote, und spezielle Ange­ bote für Kinder waren genauso wichtig, wie Geschäfte und das Schulangebot. Verschuldung und kinderrelevante Investitionen Kommunen, die hoch verschuldet sind, stehen unter enormen Einsparungs­ druck. Da viele kommunale Gelder ver­

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Aufwachsen von Kindern

Fragebogen

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Aufwachsen von Kindern

traglich gebunden sind, ist der freie kommunal­ politische Spielraum sehr eng. Dies führt zu hefti­ gen Diskussionen um Pri­ oritäten. Darauf basiert die erste Hypothese: Bei hoch verschuldeten Kommu­ nen sind kinderrelevante Investitionen die Verlierer bei den Auseinanderset­ zungen um Prioritäten. Es wurden dazu die hessischen Kommunen nach Ihrer Verschuldungssumme pro Einwohner in eine Reihenfolge gebracht und mit dem Ranking der Kommunen aufgrund der deutlich investitionsrele­ vanten Punkte verglichen. Von den beteiligten hessischen Kommu­ nen liegen in der Einwohnerverschul­ dung im oberen Drittel (3.099 – 1190 €): Hanau, Frankfurt, Gießen, Darmstadt, Offenbach, Wiesbaden, Dreieich, Mar­ burg, Kassel und Dietzenbach. Im unte­ ren Drittel (23 – 663€) liegen Heusen­ stamm, Bad Homburg, Groß-Zimmern, Bad Hersfeld, Griesheim, Seligenstadt, Neu-Isenburg, Dieburg, Viernheim und Hofheim. Als investitionsrelevante Punk­ te kamen in der Kinderbewertung vor: Fahrradwege, Schulwege, Spielplätze, Straßen, Gehwege, Fahrwege, Haltestel­ len, Spielstraßen, Treffpunkte, Angebo­ te, Kinderhaus, Bücherei, Schwimmbad, Sportangebote, Ferienspiele, Ferienfrei­ zeit. Ein Vergleich zeigt, dass hohe Verschul­ dung und schlechte Bewertung in die­ sen investitionsrelevanten Positionen nur bei Offenbach und Marburg zusam­ mentrifft. Die umgekehrte Relation von

niedriger Verschuldung und guter Bewertung trifft nur auf Griesheim zu. Die Gegenüberstellung führt dagegen bei fünf Kommu­ nen genau zum entgegen­ gesetzten Ergebnis. Fazit: Das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von kommunalen Mitteln ist nicht alleiniger Indika­ tor für eine positive oder negative Entwicklung. Die kommunalpo­ litische Entscheidung kann zu Bewertun­ gen in jeder Richtung führen. Investitionsklima Tourismus und Beeinflussung der Ortsattraktivität für Kinder Kommunen, für die der Tourismus ein wichtiger Faktor für die Arbeitsplatzent­ wicklung und das Gemeindeeinkommen ist, wie das zum Beispiel bei Kurorten der Fall ist, investieren im Hinblick auf die Entwicklung dieses Sektors. Dies kann durch Bereitstellung von Grünanlagen, von Infrastruktur auch für Kinder posi­ tive Auswirkungen haben. Es ist jedoch auch denkbar, dass gerade im Hinblick auf ein älteres Publikum eher restriktiv vorgegangen wird, um Lärmentwick­ lungen zum Beispiel von Spielplätzen einzudämmen. Darauf basiert die zweite Hypothese: Kommunen mit einem tou­ rismusrelevanten Sektor beeinflussen durch Investitionen, die auch für Kinder bedeutsam sind, positiv die Gesamtein­ schätzung. Da die tourismusrelevanten Investitionen in den Haushalten nicht separat ausgewiesen werden und vie­ le indirekte Investitionen (zum Beispiel

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Aufwachsen von Kindern

Straßenbau) erfolgen, wurde ermittelt, in welchem Verhältnis die Einwohnerzahl einerseits zum Bettenangebot steht und andererseits zu der Zahl der TouristenAnkünfte. Von 29 hessischen Kommunen liegen im oberen Drittel mit hohem Bettenangebot pro Einwohner (4,98 – 2,96) und vielen Ankünften pro Einwohner Bad Hersfeld, Bad Homburg, Frankfurt, Heppenheim, Langen, Mörfelden-Walldorf und NeuIsenburg. Im unteren Drittel (1,95 – 0,73) liegen Bad Vilbel, Dieburg, Dietzenbach, Dreieich, Gießen, Griesheim, Hanau, Heusenstamm und Lampertheim. In der Kinderbefragung interessieren in der Gruppe Kinderorte die Punkte Park, Wiesen, Bäume und Tiere. Außerdem werden die Bewertungen der Umwelt hinsichtlich Luft, Sauberkeit, Schönheit

und Lautstärke herangezogen. Außer­ dem wird das Gesamtranking berück­ sichtigt. Hier zeigt sich, dass entsprechend der Hypothese im oberen Drittel der touris­ tenattraktivsten Städte Bad Hersfeld und Bad Homburg positiv bewertet werden, und im unteren Drittel Lampertheim ne­ gativ abschneidet. Aber genau umge­ kehrt schneiden sieben Kommunen ab, die trotz geringer Touristenbesuche von den Kinder positiv bewertet wurden. Sie entsprechen also nicht der Annahme. Fazit: Das Vorhandensein oder Nicht-Vor­ handensein von einem Tourismusklima und damit der Beeinflussung der Ortsat­ traktivität ist nicht alleiniger Indikator für eine positive oder negative Bewertung. Diese kann in jeder Richtung akzentuie­ ren.

Die damalige Beiratsvorsitzende Ministerin Silke Lautenschläger mit teilnehmenden Kindern und Bürgermeistern bei der Urkundenverleihung 2006

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Aufwachsen von Kindern

Unfallhäufigkeit und Spiegelung in der Kinderbewertung Die Unfallhäufigkeit in einer Stadt ist beeinflussbar. Insofern kommen hier Prioritäten zum Ausdruck, die sich auch indirekt bei den Rahmenbedingungen auswirken. Auch die Kommunikation über Unfälle, die sich medial, aber auch familial vermittelt, beeinflusst möglicher­ weise die Kindererfahrungen. Darauf ba­ siert die dritte Hypothese: In Kommunen mit großer Unfallhäufigkeit werden die straßenrelevanten Aspekte von Kindern negativ bewertet. Die Anzahl der innerörtlichen Unfälle wurde in Bezug zur Einwohnerzahl ge­ setzt und in eine Rangfolge gebracht. Im oberen Drittel des Rankings (Häufig­ keit pro Einwohner 0,69 - 0,46 Unfäl­ le jährlich) liegen Offenbach, Gießen, Darmstadt, Kassel, Wetzlar, Wiesbaden, Hanau. Frankfurt und Bad Homburg, mit den meisten Unfällen pro Einwohner. Eine niedrige Unfallhäufigkeit (0,37-0,21) findet sich im unteren Drittel bei Bad Vil­ bel, Oberursel, Dieburg, Hofheim, Lam­ pertheim, Dietzenbach, Seligenstadt, Griesheim, Mörfelden-Walldorf, Heusen­ stamm und Groß-Zimmern. In der Kinderbefragung interessieren in der Gruppe Bewegung alle Punkte, die straßenbezogen sind: Fahrrad, Straße, Sicherheit des Schulweges und die Stra­ ßenverhältnisse auf dem Weg zum Spiel­ platz sowie der Fahrweg. Im oberen Drittel der Kinderbewertung entsprechen dem erwarteten Ergebnis Offenbach, Wetzlar, Wiesbaden, Frank­ furt und Bad Homburg. Allerdings kom­ men die Kinder in vier Gemeinden zur gegenteiligen Einschätzung. Im unteren

Drittel findet sich dasselbe Bild, denn Bad Vilbel, Dieburg, Dietzenbach, Seli­ genstadt und Griesheim werden positiv bewertet. Aber auch hier finden sich sechs Gemeinden, die der Ausgangsan­ nahme nicht entsprechen. Fazit: Die Unfallhäufigkeit schlägt sich nicht linear in der Bewertung nieder. Sie ist nicht alleiniger Indikator für eine positive oder negative Bewertung. Diese kann daraus nicht prognostiziert werden. Einfluss durch Größe der Gemeinde Es ist ein alter Wunsch nach Autonomie in den Gemeinden. Man will nicht einge­ meindet werden oder Stadtteile klagen ständig über die Benachteiligung gegen­ über anderen, vor allem der Innenstadt. Einerseits bietet die Größe der Gemeinde ein anderes Finanzvolumen, andererseits wachsen mit der Größe die Auseinan­ dersetzungen zwischen Zentrum und Peripherie. Darauf basiert die vierte Hy­ pothese: Die Größe der Gemeinde för­ dert Verteilungskämpfe, die zu Polarisie­ rungen führt, und damit Umgebung für Unzufriedenheit ist. Es wurden die inhaltlichen Gruppenwer­ te der Großstädte (Frankfurt, Darmstadt, Kassel, Offenbach, Wiesbaden, Hanau) addiert. Ebenso wurde bei den Städten ab 40.000 Einwohnern (Bad Homburg, Oberursel, Bensheim, Dreieich, Gie­ ßen, Marburg, Wetzlar) verfahren. Und schließlich wurde auch bei den übrigen beteiligten Gemeinden so vorgegangen. Die sich ergebenden Werte konnten wie­ derum auf einer Skala der Minimal- und Maximalergebnisse eingeordnet werden. Bei den Großstädten ab 100.000 Ein­

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Aufwachsen von Kindern

wohnern liegen diese ausgeglichen im oberen Drittel sowie im Mittelfeld. Die Mittelstädte zeigen ein anderes Bild hier liegen deutlich mehr im Mittelfeld als im oberen Drittel, während sich das Bild bei den Kleinstädten unter 40.000 Einwoh­ nern umkehrt. Hier sind erkennbar mehr im oberen Drittel zu finden als im Mit­ telfeld. Fazit: Hier ergibt sich kein vorhersag­ bares Bild, so dass auch die Größe der Gemeinde nicht zwingend das Ergebnis beeinflusst. Trotzdem gibt es eine deut­ liche Tendenz, dass in kleinere Gemein­ den eher ein positives Ergebnis zu finden ist als in größeren Gemeinden. Altersspezifische Bewertung Mit zunehmendem Alter wachsen die Vergleichbarkeit und damit auch die kri­ tischen Komponenten an. Entwicklungs­ psychologisch ist mit dem Beginn der Pu­ bertät die größte Widerspruchshaltung zu vermuten. Darauf basiert die sechste Hypothese: Je älter die Kinder, desto kri­ tischer wird die Bewertung der gemeind­ lichen Umgebung. Gruppenweise wurden die Hessenwer­ te altersspezifisch in den verschiedenen inhaltlichen Gruppen kumuliert und an­ schließend verglichen. Hessen

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Die Unterschiede in den Altersgruppen lassen deutlich werden, dass die 8-9 jäh­ rigen relativ am besten bewerten, wäh­ rend die 12-14 jährige sich am kritischs­ ten äußern. Die 8-9 jährigen reagieren positiv auf ein kommunales Bewegungs­ angebot, weil sie zunehmend autonom die Gemeinde erkunden können. Sie erleben ein auf Grundschulkinder aus­ gerichtetes Unterstützungsangebot. Ab 12 Jahren fehlen dann die altersspezifi­ schen Orte, weil der Kindheitsort “Spiel­ platz” für sie geschlossen ist, aber keine Alternative bereit steht. Entsprechend nehmen hier die positiven Voten ab. Fazit: Eine altersspezifische Betrachtung zeigt die Grundschulkinder der 1./2. Klasse und die Jugendlichen als die kri­ tischsten Gruppen auf. Hier kann in den gemeindlichen Querschnittsangeboten wenig Differenzierung vermutet werden, die auf die entwicklungspsychologische Situation unterschiedlicher Alterstufen nicht reagiert. Wer etwas will, findet Wege; wer nicht will, findet Gründe ... In der Aktion „Kinder bewerten ihre Stadt“ ist etwas Ungewöhnliches ge­ schehen: Kinder haben die Bewertungs­ punkte benannt, die aus ihrer Sicht

6-7 jährige

8-9 jährige

10-11 jährige

12-14 jährige

Bewegung

25,6

27,0

25,6

23,9

Spiel

26,8

26,6

24,6

21,7

Unterstützung

19,0

23,2

22,2

21,1

Umwelt

24,7

24,7

23,2

22,8

Angebote

25,7

28,6

26,6

25,2

Gesamt

24,36

26,02

24,44

22,94


Aufwachsen von Kindern

wichtig sind. Dieser konsequente Pers­ pektivenwechsel führt dazu, dass nach Erfahrungen gefragt wurde. Im Mittel­ punkt steht nicht nur das, was Geld kos­ tet. So geht es Kindern um Bewegung und um Orte, die für Kinder wichtig sind. Aber auch die Kommunikation mit ihnen wurde begutachtet. Das subjektive Emp­ finden, nämlich bei Sauberkeit, Schön­ heit und Lautstärke war ebenso Gegen­ stand wie die Angebote, die kommunal Kindern gemacht werden. Zunächst wurde sichtbar, dass es in Hes­ sen keine rundum vorbildliche, aber auch keine rundum zu kritisierende Gemeinde gibt. Es bestand für keine Gemeinde An­ lass, sich selbstzufrieden zurückzuleh­ nen, und zu meinen, alle Hausaufgaben in Sachen Kinderfreundlichkeit seien er­ ledigt. Schwarz-Weiß-Maler im positiven wie im negativen Sinne mussten sich dem differenzierten Kinderurteil stellen und ihre Meinung revidieren. Die weitere hier vorgestellte Untersu­ chung weist nach, dass es auf die Er­ wachsenen ankommt. Weder die Ver­ schuldung einer Gemeinde noch das Investitionsklima, das durch den Tou­ rismus gesteuert wird, noch die Un­ fallhäufigkeit lassen die Kindervoten prognostizierbar erscheinen. Trotz un­ terschiedlicher Rahmenbedingungen kommen positive wie auch negative Bewertungen zustande. Damit fällt der Blick auf die kommunalpolitische Steu­ erung. Das Eingehen auf altersspezifi­ sche Erfordernisse scheint in kleineren Gemeinden eher zu gelingen, wenn die Erwachsenen, oder plakativ benannt, der Bürgermeister und die Mehrheitsfraktio­ nen wollen.

Wir haben keine Zeit oder Geld, also das Mangelargument, erweist sich als Prioritätenbenennung. Deshalb ist die Aussage: “Wer etwas will, findet Wege; wer nicht will, findet Gründe” nachvoll­ ziehbar. Eine differenzierte Sicht auf die inhaltlichen Voten formuliert Aufgaben­ stellungen für die nächste Legislaturpe­ riode. Insgesamt eignet sich das Ergeb­ nis der Kinderbefragung nicht zu einem polarisierenden politischen Gerangel, sondern stellt Lernmaterial für Erwach­ sene zur Verfügung und formuliert (Rat) Hausaufgaben für die nächste Legislatur­ periode. Was alle, die genauer hinsehen, schon immer wussten, haben Kinder hier bestätigt: es ist nicht alles ganz schlimm, aber es gibt viel zu tun. Es lohnt sich, auf Kinder zu hören. Und dann kommt es auf die Entscheidungen Erwachsener an, nicht auf die Rahmenbedingungen, denn die lassen sich ändern. Bernhard Meyer

Prof. Bernhard Meyer (1946) ist Sozialarbeiter und Diplom-Pädagoge. Während seiner 65 Semester dauernden Lehrtätigkeit an der Evangelischen Hoch­ schule Darmstadt war die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen der Hauptschwerpunkt seiner Forschungsaktivitäten.

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Aufwachsen von Kindern

Frühe Hilfen in der frühen Kindheit Primäre Prävention mit „Keiner fällt durchs Netz“ Von Anfang an setzen sich Säuglinge mit ihrer Umgebung auseinander. Infol­ gedessen formen sich schon früh neuro­ physiologische und hirnstrukturelle Pa­ rameter, die wiederum das Fundament legen für die emotionale, kognitive und soziale Entwicklung des Menschen. Seine ersten Erfahrungen macht der Säugling im unmittel­ bar vorhandenen Bezie­ hungssystem, meistens Mutter und Vater. Nicht immer aber gewährleistet dieses primä­ re Beziehungssystem eine angemessene Reifung und Entwicklung des Kindes. Viele Einflüsse - beispielsweise die Er­ krankung eines Kindes oder der Eltern, konfliktbeladene Partnerschaften und schwierige familiäre, finanzielle oder so­ ziale Bedingungen – können die Wahr­ nehmung, das Einfühlungsvermögen und die Reaktionen der Eltern beein­ trächtigen und die Reifung und Entwick­ lung des Kindes negativ beeinflussen. Überforderte Eltern verfügen oft nicht über die Ressourcen, um sich primär dem Kind zu widmen – manchmal sind sie überwiegend mit sich selbst und ihren Problemen beschäftigt und derart an­ gespannt, dass Übersprungshandlungen drohen. Belastungen in der frühen Kind­ heit verursachen zu einer Zeit, in dem das angeborene Stressverarbeitungssys­ tem noch nicht hinreichend ausgereift ist, „biologische Narben“. Diese Narben bedingen eine anhaltende Dysfunkti­ on des Stressverarbeitungssystems und lassen die Betroffenen lebenslang über­ sensibel auf physische und psychosoziale Belastungen reagieren.

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Die frühe Kindheit lässt jedoch nicht nur den größten Spielraum für negative, sondern auch für positive Entwicklun­ gen. Trotz dieses Wissens werden Kinder und ihre Eltern in dieser außerordentlich wichtigen Phase noch immer am sel­ tensten unterstützt. Die aktuelle Präventionsfor­ schung fordert deshalb aufgrund zahlreicher psychologischer und neurowissenschaftlicher Studien, dass unterstüt­ zende Interventionen vor allem in der lebenskritischen Phase des Übergangs zu einer (erneuten) Elternschaft stattfinden sollten. Dies ist konkret der Zeitraum der Schwangerschaft, der Geburt des Kindes und seines ersten Lebensjahres in der Fa­ milie. Das Heidelberger Kompetenzzentrum Die Forderung nach einem solchen „Frü­ he Hilfen - System“ ist nicht erst seit den erschreckenden Fällen von Kindesver­ wahrlosung, -misshandlung und -tötung sowie der zunehmenden Gewaltbereit­ schaft von Jugendlichen in aller Munde. Es war, ist und bleibt die Aufgabe des Gemeinwesens, Gefahren möglichst früh aufzudecken und Bedürftigen Hilfe anzubieten, zumal sich die Investition in eine sichere psychosoziale Entwicklung der Kinder langfristig auszahlt: Jede In­ tervention, die später erfolgt, wird sich als kostspieliger und weniger wirksam erweisen; je früher eine psychosoziale Investition erfolgt, desto entschiedener können soziale Folgekosten gesenkt werden.


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Deshalb wurde ein niedrigschwelliges Modellprojekt zur primären und sekun­ dären Prävention entwickelt, welches in einer Zusammenarbeit des Landes Hes­ sen, der hessenstiftung – familie hat zukunft, den beteiligten Landkreisen sowie der Universität Heidelberg gestartet wur­ de. Das Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ ist nun ein aus der Präventionsforschung abgeleitetes Konzept zur flächendecken­ den Implementierung von Frühen Hil­ fen in gesamten Gebietsköperschaften (Landkreise, Städte), welches in Hessen im Jahr 2007 – in den Landkreisen Berg­ straße und Offenbach – seinen Anfang nahm. Durch die Finanzierung durch die Hessenstiftung in den Jahren 2007 bis 2010 konnte die Implementierung, Begleitung, Supervision sowie wissen­ schaftliche Evaluation und Begleitfor­

schung durch das Institut für Psychoso­ matische Kooperationsforschung und Familientherapie des Universitätsklini­ kums Heidelberg umgesetzt werden. Dies war der Start eines wachsenden Hilfsangebotes, das heute in zwölf Ge­ bietskörperschaften vertreten ist: in Hes­ sen neben den Kreisen Bergstraße und Offenbach noch im Werra-MeissnerKreis und in Wiesbaden, in Baden-Würt­ temberg in der Stadt Heidelberg und im Neckar-Odenwald-Kreis sowie in allen sechs Landkreisen des Saarlandes. Seit 2011 hat das Projekt von der Modell­ phase in die „Regelphase“ gewechselt, was bedeutet, dass die Universität ihre implementierende Begleitung zuneh­ mend zurückzieht und die Hilfen überdies in finanzieller und organisatorischer Ei­ genverantwortung der Landkreise liegen.

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Die Hessenstiftung finanziert jedoch weiterhin eine begleitende Evaluation sowie einen abschmelzenden Anteil der aufsuchenden Arbeit. Das inhaltliche Konzept von „Keiner fällt durchs Netz“ basiert auf den theoretischen Grundla­ gen und praktischen Erfahrungen der Frühförderung, wie sie die internationale wissenschaftliche Literatur bereitstellt. Darüber hinaus fließen Erfahrungen in der primären psychosozialen Prävention, die an der Universität Heidelberg be­ reits seit dem Jahr 2006 während einer Praktikabilitätsstudie im Zusammenhang mit dem Elternseminar „Das Baby ver­ stehen“ im Kreis Bergstraße gesammelt werden konnten. Hoch belastete Familien stärken „Keiner fällt durchs Netz“ zielt darauf ab, hoch belastete Familien – sogenann­ te Risikofamilien – frühzeitig zu identi­ fizieren, Zugang zu ihnen zu gewinnen und konkrete Hilfeleistungen anzubie­ ten. Als „hoch belastet“ gelten Familien, die gleichzeitig mehreren Stressfaktoren ausgesetzt sind. Vor allem folgende Ri­ sikofaktoren lassen sich im Hinblick auf nachfolgende gesundheitliche Langzeit­ folgen identifizieren: • Belastungen des Kindes, beispielswei­ se aufgrund einer Behinderung; • Belastungen der Eltern oder anderer Mitglieder der Familie, beispielsweise aufgrund psychischer Störungen; • Minderjährigkeit der Eltern; • Das Vorhandensein nur eines Elternteils • soziale Belastungen, beispielsweise ein dissoziales Umfeld; • materielle Belastungen, etwa durch Arbeitslosigkeit der Eltern.

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Gerade in Situationen, in denen die Belas­ tungen besonders groß und zahlreich sind, haben Eltern häufig nicht die Kraft, sich ei­ genständig an eine Institution zu wenden, die ihnen Hilfe bieten kann. Ein häufiges zentrales Problem potenzieller Risikofami­ lien ist zudem, dass ihr Lebensgefühl stark von Resignation und Passivität bestimmt ist: Oft haben Eltern jede Hoffnung dar­ auf verloren, dass sich ihre Situation jemals ändern könnte. Sie schotten sich deshalb vor äußeren Einflüssen ab, ziehen sich auf­ grund eigener Scham- und Schuldgefühle zunehmend zurück und isolieren sich von der Umwelt. Eine speziell ausgebildete Fa­ milienhebamme, die derart belasteten Fa­ milien bereits auf der Geburtsstation zur Seite gestellt wird, kann Kindern und ihren Eltern im Konzeptgefüge von „Keiner fällt durchs Netz“ helfen. Drei Schritte der Vermittlung und Betreuung Dabei wird in drei Schritten vorgegan­ gen, deren Ziele jeweils der Zugang zu den belasteten Familien, die Identifika­ tion der speziellen Risikofaktoren dieser Familie und die Vermittlung eines ange­ messenen Unterstützungsangebots sind. Der erste Schritt ist, dass die Teams belas­ teten Familien bereits auf den Geburts­ stationen über die Anlaufstelle „Frühe Hilfen“ eine Familienhebamme anbieten. Doch auch aus eigener Initiative können sich Eltern um die Unterstützung durch eine Hebamme bemühen. Grundsätzlich wird allen Eltern die Elternschule „Das Baby verstehen“ angeboten. In diesen El­ ternkursen lernen Mütter und Väter, die Signale ihres Babys besser zu verstehen, sodass sie fortan feinfühliger auf die Be­


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dürfnisse ihres Kindes reagieren können. Der Schritt zwei ist, dass die Familie von einer Familienhebamme über das ge­ samte erste Lebensjahr des neugebore­ nen Kindes hinweg regelmäßig zu Hause besucht wird. Da alle Familien im Rah­ men der Regelversorgung Unterstützung durch eine Hebamme bei der Pflege des Kindes und beim Stillen bekommen kön­ nen, werden diese Hausbesuche in der Regel nicht als diskriminierend empfun­ den. Die Hausbesuche ermöglichen es der Familienhebamme, Risiken bei Kind und Eltern frühzeitig und unmittelbar im häuslichen Umfeld zu erkennen. Sie kann darüber hinaus eine äußerst wichtige Motivationsarbeit leisten und Angst und Schamgefühle mindern, die Eltern mögli­

cherweise davon abhalten, weitere, drin­ gend erforderliche Unterstützungsange­ bote in Anspruch zu nehmen. Auf diese Weise werden Familienhebammen zu zentralen Bezugs- und Unterstützungs­ personen für beide Elternteile, wobei stets versucht wird, die Väter intensiv in die Fördermaßnahmen einzubeziehen. Denn deren Motivation und Engagement beeinflussen wesentlich die Situation der Familie. Schritt drei ist die konkrete Vermittlung von Einrichtungen, die belasteten Fami­ lien bei ihren Problemen helfen können. Für das Erkennen jeweils vorliegender Ri­ sikokonstellationen und einer zeitnahen Intervention können die Hebammen ein neues Screening-Instrument nutzen, die

Familienhebammen und Koordinatorinnen bei einem Treffen mit Prof. Dr. Manfred Cierpka und Dr. Andreas Eickhorst

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sogenannte Heidelberger Belastungs­ skala. Sie orientiert sich an den oben genannten Belastungsfaktoren und soll es ermöglichen, Hilfeeinrichtungen rasch und gezielt zu vermitteln. Diese Vermittlungsarbeit ist eine beson­ ders wichtige Schnittstelle, ein entschei­ dender Prozess, der nur mit sehr guten Kenntnissen über die Hilfe anbietenden Institutionen vor Ort gelingen kann. In allen Projektkreisen gewährleistet dies eine sozialpädagogische und/oder medi­ zinische Fachkraft, die als Koordinatorin tätig ist: Sie ist die Ansprechpartnerin in der Anlaufstelle „Frühe Hilfen“, sie arbei­ tet eng mit den Familienhebammen zu­ sammen und ist die zentrale Kontaktper­ son für alle Beteiligten des Netzwerks. Die Mitglieder aller an der Prävention und Intervention in der frühen Kindheit beteiligten Institutionen und Berufsgrup­ pen am Projektstandort sind im Netz­ werk „Frühe Hilfen“ zusammengefasst; in regelmäßigen Arbeitstreffen wird dort diskutiert, welche Präventions- und In­ terventionsmaßnahmen aufgrund der vorliegenden Risikokonstellationen er­ griffen werden müssen. Der Zugang zum Projekt ist bewusst niedrigschwellig gestaltet und kann über Fachkräfte und Institutionen oder aber auch durch die Familien selber erfolgen. Es findet kein Datenaustausch mit dem Jugendamt statt und das Angebot ist für die Familien kostenfrei. Die Familienheb­ ammen (zurzeit sechs im Kreis Bergstra­ ße und acht im Kreis Offenbach) werden von erfahrenen Fachkräften engmaschig begleitet und supervidiert.

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Fallbeispiel Das nachfolgende Fallbeispiel soll den praktischen Alltag der präventiven Arbeit in „Keiner fällt durchs Netz“ veranschau­ lichen: Die Kontaktaufnahme zur Familie W. kam über eine kinderkardiologische Praxisgemeinschaft zustande. Der An­ lass für deren Anfrage bei der Koordi­ nierungsstelle war, dass Frau W. in der medizinischen Betreuung ihres zwei Monate alten Sohnes Lukas, welcher ei­ nen angeborenen Herzfehler hat, wenig strukturiert schien; sie scheint die Ver­ abreichung lebensnotwendiger Medika­ mente oftmals zu vergessen und nimmt wichtige Arzttermine, in denen über eine eventuelle Herz-OP gesprochen werden soll, nicht wahr. Frau W. ist 40 Jahre alt und alleinerzie­ hend, der Vater verbüßt eine längere Haftstrafe. Sie hat noch einen weiteren, 14jährigen Sohn, bei welchem zurzeit ein sogenanntes „Clearing“-Verfahren mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamtes läuft. Nachdem die betreuende Kinderkardio­ login von Frau W. das Einverständnis zur Hinzuziehung des Koordinators von „Keiner fällt ins Netz“ eingeholt und diesen dann kontaktiert hatte, stellte der Koordinator einen Kontakt zwischen Frau W. und einer Familienhebamme her. Frau W. nimmt die ihr angebotene Hilfe gerne entgegen. Sie fühlt sich mit der medizinischen Betreuung ihres Babi­ es, den Sorgen um dessen Gesundheit sowie den Anforderungen, die ein All­ tag als Alleinerziehende mit sich bringt, sehr alleine und überfordert. Dies zeigt sich u. a. auch dadurch, dass sie oftmals


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dem 14jährigen Sohn die Betreuung des schwerkranken Lukas überlassen hat. Die Position der Familienhebamme ist am Anfang noch wenig klar definiert. Die vordergründige Aufgabe scheint zunächst zu sein, der Mutter zu helfen, sich besser strukturieren und den Me­ dikamentenplan von Lukas einhalten zu können. Die Familienhebamme sieht je­ doch rasch, dass die Mutter Schwierig­ keiten hat, sich sensitiv auf die Bedürf­ nisse und die trotz schwerer Erkrankung stattfindenden Kommunikationsangebo­ te ihres Babys einzulassen. Ihr Umgang mit Lukas ist recht grob. Zu ihrer eigenen Sicherheit und Unterstützung hätte die Familienhebamme gerne mehr Kontakt und Austausch mit der behandelnden Kardiologin, was sich jedoch zeitlich und organisatorisch schwierig gestaltet. In Organisations-Besprechungen zwi­ schen Familienhebamme, Jugendamtsund Gesundheitsamt-Koordinatorinnen wird deutlich, dass es zwischen allen im Helfersystem involvierten bzw. noch einzubindenden Parteien (Jugendamt, Familienhebamme, Kinderkardiologin, Mutter…) zu einer Helferkonferenz (un­ ter Regie des Bezirkssozialdienstes) kom­ men muss. Das Ergebnis dieser Helferkonferenz war: Eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) kommt als Hilfe zur Strukturierung des Familienalltags in die Familie. Hierzu gehören auch eine Unterstützung der Mutter in der medizinischen Versorgung ihres Babies nach dem durch die Kinder­ ärztin vorgegebenen Plan und eine regel­ mäßige Begleitung zu den Arztterminen. Der Arbeitsauftrag der Familienhebam­ me besteht nun in der Vermittlung von

„Das Baby verstehen“, um die Mutter besser für den Umgang mit ihrem Neu­ geborenen zu stärken und die Entste­ hung einer positiven Beziehungsqualität zu ermöglichen. Zusätzlich wird eine ver­ stärkte Begleitung durch das Jugendamt angestrebt, da der 14jährige Sohn nach wie vor fremduntergebracht werden soll. Desweiteren wird die Vorstellung bei ei­ ner Frühförderstelle angeraten, auch hier durch Begleitung der SPFH. Man sieht an diesem Fall unter ande­ rem, dass durch die Familienhebamme noch einmal zusätzliche Beobachtungen und Informationen ins Helfersystem ein­ gebracht werden konnten. Nach einer weiteren Auftragsklärung sind weitere Hilfen involviert; die Familienhebamme kann sich auf die Vermittlung von ba­ salen Elternkompetenzen konzentrieren und dabei weiterhin ein Auge auf die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung haben. An dem Beispiel wird sowohl die Funktion der Familienhebamme als „Tür­ öffner“ für weitere Hilfen deutlich als auch die wichtige Funktion eines guten Netzwerkes, in dem verschiedene Perso­ nen aus verschiedenen Helfersystemen sich koordinieren (Kardiologin, Koordi­ nator, Familienhebamme, ASD, SPFH, Frühförderstelle usw.) müssen. Ausgewählte Daten aus der Modellphase Mittlerweile konnte der Projektbericht über die ersten dreieinhalb Projektjahre (die aufsuchende Arbeit startete Mitte 2007) in den beiden hessischen Kreisen vorgelegt werden. Dort zeigt sich, dass das Engagement vor Ort sehr gut ange­ nommen wird.

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Insgesamt konnten von Mitte 2007 bis Ende 2010 schon 277 Familien in 3405 Hausbesuchen von Familienhebammen betreut und unterstützt werden. Welche inhaltlichen Schwerpunkte die Familienhebammen bei diesen Besuchen in den Familien gesetzt haben, verdeut­ licht die nachstehende Abbildung. Diese Schwerpunkte orientieren sich an den Inhalten des Elternkurses „Das Baby ver­ stehen“ in der aufsuchenden Variante. Es wird deutlich, dass sich lediglich 25 % der angeführten Inhalte auf “Medizini­ sche Versorgung”, also eine originäre Aufgabe der nachsorgenden Hebamme, beziehen. Die verbleibenden 75 % um­ fassen hingegen Inhalte aus dem psy­ chosozialen Bereich, also dem Kern des Projektes „Keiner fällt durchs Netz“. Stellt man die soziodemographischen Da­ ten der am Projekt teilnehmenden Famili­ en den entsprechenden Vergleichszahlen aller Familien aus Hessen 2009 (Quelle: Hessisches Statistisches Landesamt) ge­ genüber, so fällt auf, dass der Anteil an

ausländischen Projektteilnehmern in bei­ den Landkreisen 14 % betrug und damit knapp über dem Landesdurchschnitt von Ausländern in Hessen (11,9 %) liegt. Der Anteil Alleinerziehender im Projekt betrug 8 % und liegt damit deutlich un­ ter dem hessischen Anteil von 21 % Al­ leinerziehender in Familien. Diese Diskre­ panz dürfte vor allem mit dem Zeitpunkt der Befragung zusammenhängen. Wäh­ rend in der Projektdokumentation nur die Familien als „getrennt“ auftauchten, die sich bereits während der Schwanger­ schaft oder unmittelbar nach der Geburt trennten, bezieht die landesweite Statis­ tik alle Familien mit ledigen Kindern ein. Da Trennungen im Verlauf des Heran­ wachsens der Kinder zunehmen, ist die Gesamtquote demnach auch deutlich höher. Im Projekt liegt die Erwerbslosigkeits­ quote (darunter fällt nicht die Elternzeit) von Müttern bei 32 % und von Vätern bei 19 %. Dies hebt sich deutlich von der durchschnittlichen Erwerbslosenquote in

Tätigkeitsschwerpunkte der Familienhebammen 2007 bis 2010 in den Kreisen Offenbach und Bergstraße; Dokumentiert wurden 3353 Hausbesuche, davon gingen 776 wegen fehlender Angaben nicht in die Auswertung ein.

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Hessen ab, die bei Frauen bei 2,8 % und bei Männern bei 3,7 % liegt. Dement­ sprechend ist auch das durchschnittliche Gesamteinkommen im Projekt niedriger. Während in Hessen lediglich 29 % aller Haushalte und 12 % aller Mehrperso­ nenhaushalte ein Haushaltsnettoeinkom­ men von bis zu 1500 € haben, sind es im Projekt 62 % aller Familien. Dies zeigt zusammenfassend, dass mit dem Projekt ein deutlicher Anteil an er­ werbslosen und finanziell schlechter ge­ stellten Familien erreicht wurden.

Manfred Cierpka, Prof. Dr. med., ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie im Psychosozialen Zentrum des Universitätsklinikums Heidelberg Andreas Eickhorst, Dr., ist Diplompsychologe am Institut für Psychosomatische Kooperationsfor-

Wirksame Hilfe Erste Ergebnisse einer begleitenden Wirksamkeitsforschung zeigen gute Ef­ fekte in der Wirksamkeit des aufsuchen­ den Angebotes bei den Eltern und Kin­ dern in den teilnehmenden Familien auf. Insbesondere die sozialen Kompetenzen der Säuglinge nehmen nach einem Jahr der Betreuung im Vergleich zu einer Kon­ trollgruppe außerhalb des Projektgebie­ tes deutlich zu. Weiterhin konnte wir den bisherigen Erfahrungen des klinischen Alltags ent­ nommen werden, dass es trotz stark belastender Konstellationen möglich ist, positive Entwicklungen in den Familien anzustoßen. Dies gelingt in erster Linie aufgrund der aktiven Arbeit der Famili­ enhebammen. www.keinerfaelltdurchsnetz.de

schung und Familientherapie im Psychosozialen Zentrum des Universitätsklinikums Heidelberg und koordiniert dort das Projekt „Keiner fällt durchs Netz“.

Manfred Cierpka / Andreas Eickhorst

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Vorlesen in Familien Ein sozialpräventives Projekt mit literaturtherapeutischem Ansatz Einführung „Nie zuvor hatte sie gewusst, dass auch Worte schön sein können, und nun er­ fuhr sie es und sie sanken ihr in die Seele wie Morgentau auf eine Sommerwiese.“ (Lindgren 2007, 59) Wenn in Malin die „wunderlieblichen Worte“: „Klingt meine Linde, singt mei­ ne Nachtigall?“ eine Sehnsucht erwe­ cken, die ihr und allen Armenhäuslern in Norka eine Vision von etwas Lebens-, Liebens- und Erstrebenswertem geben in all ihrem sozialen Elend – dann be­ schreibt dieses Märchen von Astrid Lind­ gren quasi programmatisch das, was die „literaturtherapeutische“ Ausrichtung des Projekts „Vorlesen in Familien“ be­ deutet. Doch was steckt hinter dieser waghal­ sigen, wenn nicht sogar fragwürdigen Idee der „Phantasten“ in Wetzlar, in Fa­ milien mit Vorlesen als Mittel zum Zweck therapeutisch zu arbeiten? Family Literacy Zurück ins deutsche PISA-Schicksals­ jahr 2001: Die Phantastische Bibliothek Wetzlar, mit über 200.000 Titeln die weltweit größte, öffentlich zugängliche Sammlung aller phantastischen Genres (von Märchen, über Fantasy, Utopien, Horror bis zur Science Fiction), gründet im Mai 2001 (also ein halbes Jahr vor der Veröffentlichung der PISA-Ergebnis­ se!) in Kooperation mit den Staatlichen Schulämtern der Region Mittelhessen das „Zentrum für Literatur“. Zustän­ dig seitdem für über 500 Schulen und ebensoviele Kitas, besteht dessen tägli­ che Aufgabe in der Literaturvermittlung, Lese- und Sprachförderung – und dies

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unabhängig vom Sammungsschwer­ punkt phantastische Literatur. Auf diese Weise befand sich die Bibliothek plötzlich mitten im Zentrum heftiger Diskussionen über die Sinnhaftigkeit vieler Konzepte, Projekte, Fördermaßnahmen, Scree­ nings, Evaluierungen u.ä., die alle einen Weg aus der PISA-Misere und dem defi­ zitären deutschen Bildungswesen weisen wollten. Offenkundig wurde dabei sehr schnell, dass allen Aspekten von Sprache und Kommunikation, Schreiben und Le­ sen ein grundsätzlicher und unüberseh­ bar wichtiger Stellenwert innerhalb der plötzlich zur Basis- bzw. Schlüsselkompe­ tenz avancierten Literacy-Kompetenz zu­ gewiesen werden musste – ein Befund, der vor allem Bibliothekare nicht sonder­ lich überraschen konnte. Dass Sprache sowohl Mittel als auch Inhalt darstellt, über die jegliche Kom­ munikation und jegliche Wissensver­ mittlung– also sowohl das Lehren als auch das Lernen– laufen muss und dass sprachliches Wissen schon sehr früh, also weit vor dem Eintritt des Kindes in Kindergarten und Schule, erworben werden muss: Diese Erkenntnisse zogen als Konsequenz nach sich, alle Lern- und Bildungsorte des Kindes in den Blick zu nehmen. Damit rückte die entscheidend wichtige Rolle des Elternhauses in der Bildungsentwicklung der Kinder in den Fokus- und das galt es nun, gleichwertig und gleichrangig neben den Bildungsin­ stitutionen Kita und Schule wahrzuneh­ men. „Bildung von Anfang an“ tönte es als­ bald als Antwort auf die vernichtenden PISA-Befunde, Bildungs- und Erziehungs­ pläne für Kinder sogar von 0 Jahren an


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wurden in vielen Bundesländern etabliert (vgl. Hessisches Sozialministerium/Hessi­ sches Kultusministerium 2007), Sprach­ förderprogramme und Literacy-Ratgeber eroberten ein neues Marktsegment auf dem Bildungs-Buchmarkt, das Vorlesen avancierte zur Chef-Sache, dessen sich sogar eine Kanzlergattin annehmen durfte, Ehrenamtliche wurden hierfür in Scharen um- und geworben... Doch was passierte in den fast 40 % der Eltern­ häuser, in denen Kindern nie vorgelesen wird? (vgl. Stiftung Lesen 2008) In denen Sprache und Schrift einen vernachlässig­ baren Stellenwert einnehmen? Was ist mit der erschreckend hohen Anzahl von Kindern, die mit signifikanten Sprachver­ zögerungen eingeschult werden, deren Eltern zu jener erschreckend hohen Dun­ kelziffer sog. funktionaler Analphabeten gehören, die auch zumeist nie auf einem Elternabend zu sehen sind? Die keine Vision haben, wie sie aus dem oft „ver­ erbten“ Teufelskreis von Armut, sozialer Deprivation und schulischem Scheitern ihrer Kinder herausfinden könnten? (vgl. Nickel 2005, 179) Jedes 6. Kind wächst im reichen Deutschland in Armut auf, wie der letzte UNICEF-Bericht (vgl. Bert­ ram / Kohl 2010, 13) nüchtern feststellt. Die Korrelation zwischen finanzieller Ar­ mut und Bildungsarmut, die in zahlrei­ chen Armutsberichten unterschiedlicher Provenienz immer wieder dokumentiert wird, lässt diese Zahl im „Land der Dich­ ter und Denker“ schlicht als Katastrophe erscheinen. (vgl. Genuneit, 1996,4f) „Ohne Eltern geht es nicht!“ (Laewen/ Andres/Hédervári 2006) „Wir können nicht gegen eine mangelnde Bildungs­ motivation im Elternhaus anerziehen

Literatur Bertram, Hans / Kohl, Steffen: Zur Lage der Kinder in Deutschland 2010: Kinder stärken für eine ungewisse Zukunft. – Köln: Deutsches Komitee für UNICEF. Fleth, Anna (2010): Vorlesen in Familien: Evaluation des Projekts. – Wetzlar: Leseförderung. Schriftenreihe des Zentrums für Literatur in der Phantastischen Bibliothek, Bd.9. Genuneit, Jürgen (1996): Analphabeten in Deutschland – ein Armutszeugnis. - In: DGB (Hrsg.): Gewerkschaftliche Bildungs­ politik 6-7. Heckman, James J. / Masterov, Dimitriy V. (2007): The Productivity Argument for Investing in Young Children. In: Review of Agricultural Economics, Vol. 29, 3. Hessisches Sozialministerium / Hessisches Kultusministerium (Hrsg.) (2007): Bildung von Anfang an: Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen. Laewen, Hans-Joachim / Andres, Beate / Hédervári, Eva (2006): Ohne Eltern geht es nicht. Berlin: Cornelsen Scriptor. Lindgren, Astrid (2007): Klingt meine Linde. – Hamburg : Oetinger. Nickel, Sven (2005): Literacy beginnt in der Familie. Family Literacy – eine Aufgabe für die Schule? In: Hoffmann, Bernhard / Ada Sasse (Hrsg.): Übergänge. – Berlin: DGLS. Stiftung Lesen, DIE ZEIT und Deutsche Bahn (Hrsg.) (2008): Vorlesen im Kinderalltag. Repräsentative Befragung von Kindern im Vorund Grundschulalter (4-11 Jahre). pdf: http://www.stiftunglesen.de

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und lehren“– so lautete der stete Klage­ gesang aller Lehrer und Erzieher, die sich Tag für Tag im „Zentrum für Literatur“ zu Fortbildungen, Foren und Diskussio­ nen einfanden. Die Geburtsstunde des Projekts „Vorlesen in Familien“ Was lag dann näher, als nach einem Weg zu suchen, der abseits aller „amtlichen“ Methodik direkt in diese „bildungsfer­ nen“ Familien führt und auf Eigeninitia­ tive und vor allem Eigenmotivation zielt? Und so wurde im Jahre zwei nach PISA die von dem anglo-amerikanischen Vor­ bild der „Family Literacy Workers“ ins­ pirierte Idee geboren, die vielen ehren­ amtlichen Vorlesepaten, die nach einer Einführung durch die Stiftung Lesen in

der Phantastischen Bibliothek nach Ein­ satzmöglichkeiten nachsuchten, just in diese „Problem-Familien“ zum Vorlesen zu schicken, um somit eine Brücke zwi­ schen den Bildungsinstitutionen und den Eltern zu bilden. Über Vermittlung der Lehrer und Erzieher wurde den Eltern dieses „Geschenk“ angeboten, was von diesen auch überraschend schnell und gerne angenommen wurde– versprach man sich doch davon eine Stunde Ruhe im Hause oder Hilfe bei den Hausaufga­ ben... Doch schon nach einem halben Jahr stellten sich massive Probleme ein, die dazu führten, dass das Projekt so­ fort abgebrochen wurde: Denn zunächst meldeten sich empört die Sozial- und Jugendämter, die argwöhnten, dass nun plötzlich Vorlese-Omas Sozialarbeiter

Angelika Nitschke von der Phantastischen Bibliothek mit Sozialminister Stefan Grüttner beim Hessischen Familientag

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spielen wollten– doch was noch gravie­ render zu Buche schlug, war die emoti­ onale Überforderung der Vorleser. Denn auf das, was sie an multiplen Problemen in diesen Familien erwartete, waren sie weder eingestellt, noch vorbereitet, noch konnten sie damit adäquat umgehen. Was nun folgte, war ein über zweijähriger steiniger und arbeitsreicher Weg in die Professionalisierung des Projekts– denn aufgeben wollte keiner dessen eigent­ lich überzeugende Idee. Nach den, wenn auch kurzen, doch sehr eindrücklichen Praxiserfahrungen war sehr klar gewor­ den, dass die „Brücke“, die die Vorleser bilden sollten, mit mehreren „Stützpfei­ lern“ versehen werden musste– und hier vor allem mit der inhaltlichen Professi­ onalisierung der Vorleser. Diese sollte durch eine einjährigen Ausbildung und deren familientherapeutischer Supervisi­ on gewährleistet werden, außerdem soll­ te eine hauptamtliche Projektbetreuung die Vorleser von organisatorischer Arbeit entlasten und sie sehr eng und persön­ lich während ihrer Einsätze begleiten. Zusätzlich musste das Projekt in ein eng­ maschiges Netzwerk aller familienun­ terstützenden Behörden, Einrichtungen und Institutionen eingebunden werden, um damit sehr klar zu dokumentieren, dass Vorleser zwar keine Sozialarbeiter sind, jedoch einen überaus wichtigen Baustein für den Zu- und Umgang mit den Betroffenen liefern können. Sozialprävention Das Projekt entwickelte dadurch ein ganz deutliches sozialpräventives Profil und hebt sich damit ebenso deutlich von den zahllosen anderen Vorleseprojekten

in Deutschland ab, die alle auf Lese- und Sprachförderung der Kinder fokussieren. Das Ergebnis war eine klare Zielformulie­ rung: Stärkung der Eltern, um damit deren bildungsmotivierte Unterstützung ihrer Kinder zu ermöglichen. Dadurch sollen die Kinder entlastet werden, damit die Fördermaßnahmen und -programme der Bildungsinstitutionen überhaupt sinnvoll an- und eingesetzt werden können. Mit dieser Zielvorgabe stellt nun das Vorlesen für Kinder in ihrem familiären Umfeld das Mittel dar, um folgenden Zweck zu erfül­ len: eine Anschlusskommunikation mit den Eltern, um in einem vertraulichen und zwanglosen Gespräch sowohl über Verantwortung, Ermutigung und Wert­ schätzung, kindlichem Imitationslernen, frühe Förderung, die Bedeutung von Sprache und deren Verschriftlichung u.ä. zu sprechen, aber auch Tipps, Adressen, Wege aufzuzeigen im Sinne von „Hilfe zur Selbsthilfe“. Dies jedoch immer wert­ schätzend und ressourcenorientiert, ge­ treu dem Motto: „Beginne dort, wo sie sind und baue auf das, was sie haben“ (Lao Tse), was ermöglicht wird über die „Gesprächs-Brücke“, die die Vorlesesitu­ ation mit ihren Geschichten, Bildern und den vielen gelungenen und beglücken­ den Momenten mit den Kindern bildet. Dass die Vorleser freiwillig und ehren­ amtlich in die Familie kommen, dass sie von keiner Behörde geschickt werden, sondern „nur“ von einer Bibliothek: die­ se „neutrale“ Basis sollte eine entschei­ dende Rolle in der Vertrauensbildung zwischen Familie und Vorleser darstellen. Dieses Gesamtkonzept überzeugte nun auch die notwendigen Sponsoren aus

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der Wirtschaft und so konnte nach ei­ nem professionellen Coaching, vermittelt durch das Bundesprojekt „startsocial“ und mit einer Startfinanzierung durch die PwC-Stiftung Jugend-Bildung-Kultur 2006 eine Projekt-Stelle geschaffen und der erste Ausbildungskurs für 27 Vorle­ ser durchgeführt werden. Im Folgejahr übernahm dann die Frankfurter Crespo Foundation die volle Finanzierung für drei Jahre. Damit wuchs dieses Pilot-Pro­ jekt und wuchs und wuchs und wurde so erfolgreich, dass auch die hessenstiftung – familie hat zukunft die Übernah­ me und Förderung des Projekts für das Gießener Umland plant. Und wenn sie nicht gestorben sind ... Nein, „märchen­ haft“ sind zwar die durchweg positiven Rückmeldungen aus den Familien, den Kitas, den Schulen über die deutlich wahrnehmbaren Veränderungen, die in 2010 in einer Evaluation der Universität Gießen (Fleth 2010) dokumentiert wur­ den, aber die Arbeit im Alltagsgeschäft des Projekts ist natürlich oft alles ande­ re als „märchenhaft“. Doch trotz aller Mühseligkeit, Rückschläge und Ausfäl­ le: nie verlieren sie ihre Fröhlichkeit, ihre Begeisterung, ihren Schwung und ihre Überzeugungskraft – die „Seelen“ des Projekts: Die Projektleiterin, eine Ethno­ login und ihre Assistentinnen, eine Erzie­ herin und eine Lehrerin. Sie haben nach eigenen Aussagen noch keinen Tag den Schritt aus ihrem bisherigen Arbeitsfeld ins neue Projekt „Vorlesen in Familien“ bereut – und das, obwohl sie inzwischen in der Betreuung von über 100 Vorle­ sern und ihren Einsätzen in Familien, aber auch in Kleinstgruppen in Nachbar­ schaftszentren, Jugend- und Frauenhäu­

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sern, zahllose unbezahlte Überstunden anhäufen. Doch die Erfolge dieser Arbeit überzeugen: Wenn z.B. Mütter aus Mi­ grantenfamilien der 3. und 4. Generati­ on sich freiwillig für einen Deutschkurs anmelden, weil sie es plötzlich für sich selber als sinnvoll erachten, wenn sich Väter nach einem Alphabetisierungskurs in der Volkshochschule erkundigen, weil sie es plötzlich als notwendig ansehen, den schwierigen Weg zur Schrift ihrer Kinder auch aktiv zu begleiten, wenn das Gespräch mit dem Lehrer nicht mehr mit Angst behaftet ist, wenn das Vorlesen als Kommunikationsmodell plötzlich ei­ nen festen Platz im Familienleben findet und in Migrantenfamilien engagierte in­ nerfamiliäre Übersetzungsaktionen von (deutschen) Bilderbüchern stattfinden, wenn Kinder plötzlich zuhören können oder wenn sie plötzlich Worte für ihre Gefühle finden und deshalb nicht mehr um sich schlagen müssen. Es sind diese kleinen, manchmal kaum bemerkbaren Veränderungen, die diese vergleichbar kleinen Investitionen zu den erstaun­ lich hohen „Renditen“ in einer Gesell­ schaft verhelfen, wie die amerikanische Heckman-Langzeitstudie sehr eindrück­ lich bewiesen hat. (Heckman/Masterov 2007, 446-493) Literaturtherapie Doch was hat es nun mit dem „litera­ turtherapeutischen Ansatz“ des Projekts auf sich? Dass der Auswahl der Bücher, die in den Familien zum Einsatz kommen sollten, eine ganz entscheidende Bedeutung zukommt, war von Beginn an klar. Auf keinen Fall sollte es sogenannte „in­


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tentionale“ Literatur sein, die Defizite und Probleme in den Fokus nimmt und benennt, sondern Bücher, die dafür ei­ nen Bildvorrat anbieten. Aber welche Bücher eignen sich für den ersten Kon­ takt mit den Kindern, als „Türöffner“ für eine Kommunikation innerhalb einer buch- und schriftfernen Familie? Wel­ che Bücher eignen sich für den Einsatz in Familien mit besonderen Problemla­ gen, mit wechselnden Betreuungsper­ sonen, mit Migrationshintergrund? Die Auswahl an schönen, pädagogisch und künstlerisch wertvollen Bilderbüchern ist ja in Deutschland anerkannt hoch, doch dies macht die Entscheidung in ei­ ner kleinen, feinen Runde von Experten aus ganz Deutschland nicht leichter, die unter Federführung der Phantastischen Bibliothek eine strenge Auswahl trifft. In der Weiterentwicklung des Konzepts der Bibliotherapie werden jedes Jahr die neu erschienenen Bilderbücher nicht nur auf ihre Kongruenz von Bild- und Textäs­ thetik hin untersucht, sondern zusätzlich im Hinblick auf ihre szenische Darstel­ lung. Denn wie auf einer „Bühne“ kön­ nen auch schwierige Gefühle wie Wut, Angst, Trauer oder Ohnmacht in der Projektion auf die Buch-Bilder ihren Aus­ druck finden und nur in einem gelunge­ nen Zusammenspiel zwischen Bild, Text und Szene kann das Bilderbuch dann schließlich seine gesamte Wirkmächtig­ keit entwickeln.

che Kommunen und die Präventionsräte der hessischen Polizeipräsidien ihr Inte­ resse an einer Übernahme des Projekts bekundet haben, wurde vom „Zentrum für Literatur“ ein Franchise-Konzept er­ arbeitet, das auf Nachfrage angefordert werden kann. Dies gilt auch für die Eva­ luierungsveröffentlichung und die Liste der empfohlenen Bilderbücher, die ge­ gen eine Unkostenpauschale zugesandt werden können. Bettina Twrsnick

Bettina Twrsnick, Diplom-Bibliothekarin, leitet seit 1989 zusammen mit Thomas Le Blanc die Phantastische Bibliothek Wetzlar mit den pädagogischen Abteilungen „Zentrum für Literatur“ und „Forum Sprache & Literacy“.

Übertragbarkeit des Projekts Das Projekt „Vorlesen in Familien“ ar­ beitet derzeit noch als Pilot-Projekt in Wetzlar, ist aber grundsätzlich auf jede Region übertragbar. Da inzwischen etli­

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kicken & lesen Denn Jungs lesen ander(e)s! Fußball und Lesen? Zwei Gegensätze, wie sie größer nicht sein könnten. Meint man. Doch genau das Gegenteil bewei­ sen die Baden-Württemberg Stiftung, die hessenstiftung – familie hat zukunft, der VfB Stuttgart und der FSV Frankfurt 1899 mit ihrem Projekt kicken&lesen. Ganz nach dem Motto „Fußball mit Köpfchen“ werden Jungen im Alter von 10 - 14 Jahren über ihre Liebe zum Ball auch für das Lesen motiviert. Denn Jun­ gen sind keine Lesemuffel. Sie brauchen aber spezielle Leseanreize und Bewe­ gung. Insbesondere Jungen aus „lese­ fernen“ oder sozial schwachen Familien sollen vom Projekt profitieren. Jungen orientieren sich an der Männerwelt Die Baden-Württemberg Stiftung und der VfB Stuttgart haben das Projekt, bei dem bisher über 700 Jungen teilgenom­ men haben, vor drei Jahren in BadenWürttemberg initiiert. In Hessen wird das Projekt dank der Hes­ senstiftung seit 2010 umgesetzt, mit der eine Kooperationsverein­ barung geschlos­ sen werden konnte. Die Part­ ner verfolgen mit kicken&lesen gemeinsam das Ziel der Förderung von Jungen. Sie zeigen mit dieser Initiative, wie Jungen durch die Begeisterung für Fußball an das Abenteuer Lesen her­ angeführt und für Texte, Literatur und Sprache sensibilisiert werden können. Denn mit dem Lesen ist es ähnlich wie mit dem Kicken: mangelndes Training führt zu mangelnden Leistungen. Kinder und Jugendliche, die gut und gerne le­

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sen haben jedoch bessere Chancen im Bildungssystem. Der Zugang zum Lesen und Schreiben wird in den ersten zehn Lebensjahren allerdings fast ausschließ­ lich durch Frauen – Mütter, Erzieherin­ nen oder Lehrerinnen vermittelt. Jungen beginnen aber gerade in diesem Alter, sich an der „Männerwelt“ zu orientie­ ren. Sie brauchen männliche Vorbilder und Identifikationsfiguren. Wenn Väter diese Rolle – aus welchen Gründen auch immer – nicht übernehmen können, dann sind andere „Helden“ gefragt – zum Beispiel Fußballer. Jugendliche zeigen sich begeistert von der Bildungsidee Auf Basis einer jährlichen Ausschreibung werden die Projekte ausgewählt, die mit innovativen Ideen die beiden Ele­ mente Kicken und Lesen auf sinnvolle methodisch-didaktische Weise kombi­ nieren und lokal umsetzen. Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl ist die Zusammenarbeit und Vernetzung mit lokalen Partnern. So schlie­ ßen sich beispielweise oft Schu­ len, Stadtbüchereien und Sportvereine zusammen und arbeiten aufgrund der guten Erfahrungen oftmals auch nach der Projektlaufzeit weiter zusam­ men. Die bisherigen Angebote reichen von spannenden Lesenächten am Lager­ feuer, einem Vater-Sohn-Stadtteilturnier, Schreiben von Kurzgeschichten und Ge­ dichten, dem Drehen eines Films, der Herstellung einer eigenen Zeitung bis hin zur Aufführung eines Theaterstücks, das sich an einer Spielerbiographie orien­ tierte. Besuche in örtlichen Stadtbüche­


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reien, Museen oder Redaktionen runden die Angebote ab. Gelesen wird dabei das, was Jungen in­ teressiert: Geschichten rund um den Fußball – aber auch in Sachbüchern, Roma­ nen, Fantasy-Geschich­ ten sowie Zeitungen und Zeitschriften wird mit großer Begeisterung geschmö­ kert. Neben dem Lesen geht es immer wieder raus auf den Platz zum Kicken, wo sich die Jungs austoben dürfen – ohne dabei die Regeln des Fair Plays zu missachten. Denn im Projekt wird nicht nur Wert auf die Verbesserung der Lesefähigkeit ge­

legt: die Stärkung der Sozial­ kompetenz, die Gewaltpräven­ tion und die Integration sind weitere wichtige Bestandteile des Projekts, das 2011 im Rah­ men der Initiative Deutschland – Land der Ideen als „Bildungs­ idee“ ausgezeichnet wurde. Zu den besonderen Höhepunkten und als Anerkennung für die erbrachten Leis­ tungen zählen beim Projekt in BadenWürttemberg die Urkundenverleihung in der Mercedes-Benz Arena und der Besuch eines VfB-Heimspiels, zu dem alle Projektteilnehmer eingeladen wer­ den, sowie Besuche des Fan-Beauftrag­

Minister Stefan Grüttner und Jens-Uwe Münker, Geschäftsführer FSV Frankfurt, bei der Verleihung der Teilnahme­ urkunden im Stadion

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ten und die Teilnahme am zweitägigen kicken&lesen-Camp, das eigens für das Projekt konzipiert wurde. In Hessen wur­ den ähnliche Angebote initiiert. Projekttransfer über Landesgrenzen ist erfolgreich Die Kooperation zweier Stiftungen über die Landesgrenzen hinweg zeigt, wie ein wichtiges gesellschaftliches Thema erfolgreich nach vorne gebracht wer­ den kann. Es zeigt auch, wie Stiftungen nachhaltig voneinander profitieren kön­ nen um gemeinsam mehr zu erreichen. Daher freuen wir uns sehr, mit der Hes­ senstiftung einen verlässlichen Partner gefunden zu haben, der unser gemein­ sames Anliegen weiter vorantreibt und dazu beiträgt, Kindern und Jugendlichen bessere Perspektiven für die Zukunft zu bieten. Zum Jubiläum wünschen wir der hessenstiftung – familie hat zukunft alles Gute. www.kickenundlesen.de www.bwstiftung.de Christoph Dahl

Christoph Dahl ist seit 2010 Geschäftsführer der Baden-Württemberg Stiftung.

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Mein Papa liest vor! Ein innovativer Vorlese-Service am Arbeitsplatz macht bundesweit Schule „Ich finde Vorlesen ungeheuer wichtig. Deshalb versuche ich immer wieder, meine Frau dazu zu motivieren“. Diese Aussage eines „gestandenen“ Papas von drei Töchtern und bekennenden NichtVorlesers im Rahmen einer VorleseStudie (Vorlese-Studie 2009) bringt das Rollen-Dilemma auf den Punkt, das die­ ser familiären Tätigkeit auch im 21. Jahr­ hundert noch anhaftet: Vorlesen wird von vielen Vätern durchaus als nützlich respektiert – aber nicht in ihrem Zustän­ digkeitsbereich gesehen. Väter, die regelmäßig ihren Kindern vor­ lesen, sind eine große Ausnahme: Nicht einmal jeder zehnte ist ein solcher Vor­ lese-Vater (Vorlese-Studie 2008). Wer selten oder gar nicht vorliest, formuliert seine Einstellung zum Vorlesen selten so pointiert wie der eingangs zitierte Papa: Immer wieder schimmert dessen Rollen­ verständnis jedoch in den Antworten anderer Väter durch, die ihren Kindern nicht vorlesen: Die Kinder seien es ge­ wöhnt, dass die Mutter vorliest – und das behalten wir so bei“, wird etwa be­ tont – und nicht wenige äußern die Ver­ mutung: „Meine Kinder wollen lieber von der Mutter vorgelesen bekommen“. Kinder brauchen jedoch Vorlese-Väter. Zum einen, weil eine lebendige familiäre Vorlesekultur auch auf ihr Engagement angewiesen ist: In 42 Prozent aller Fami­ lien mit kleinen Kindern wird nur selten oder gar nicht vorgelesen (Vorlese-Studie 2007). Zum anderen, weil vorlesende Vä­ ter in ganz besonderer Weise eine wich­ tige Leseförderungs-Zielgruppe anspre­ chen: die Jungen. Ein vorlesender Papa ist ein „Botschafter des Lesens“, der als zentrales männliches Rollen-Vorbild für

sie einen besonderen Motivationscha­ rakter besitzt. Jungen wiederum lesen tendenziell deutlich weniger gerne als Mädchen und sind somit weitaus stärker gefährdet, die Grundkompetenz Lesen nur rudimentär zu erwerben. Familienfreundliche Arbeitskultur und Leseförderung Wie kann man Väter als Vorleser gewin­ nen – ohne erhobenen pädagogischen Zeigefinger, sondern stattdessen mit einem handfesten, niederschwelligen Angebot? Eine erfolgreiche Antwort auf diese Frage stellt ein Projekt dar, das die hessenstiftung – familie hat zukunft ge­ meinsam mit der Stiftung Lesen im Mai 2010 auf den Weg gebracht hat – und Literatur Vorlese-Studie 2009: Warum Väter nicht vorlesen. Repräsentative Befragung von Vätern, die nur selten oder nie vorlesen. Eine Studie der Deutschen Bahn, der Zeit und der Stiftung Lesen. Vorlese-Studie 2008: Vorlesen im Kinderalltag 2008. Repräsentative Befragung von Kindern im Vor- und Grundschulalter. Vorlese-Studie 2007: Vorlesen in Deutschland 2007. Eine Forschungs­ initiative der Deutschen Bahn AG, der ZEIT und der Stiftung Lesen. Die Vorlesestudien der Stiftung Lesen in Kooperation mit der Deutschen Bahn AG und der Wochenzeitung DIE ZEIT liegen nicht in Printform vor; sie sind als pdf-Dokumente auf der Homepage Stiftung Lesen einseh- und downloadbar: www.StiftungLesen.de

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das auf außerordentlich große Resonanz stößt: „Mein Papa liest vor!“. Kernidee ist, einen Vorlese-Service am Arbeitsplatz zu bieten: Über das Intra­ net von Unternehmen werden gezielt männliche Arbeitnehmer wöchentlich mit einer neuen Vorlesegeschichte zum kostenlosen Download dazu angeregt, zu Hause ihren Kindern vorzulesen. Ziel ist es, das Kommunikationsfeld „Arbeits­ platz“ strategisch in Leseförderungspro­ jekte einzubinden und Vätern einen für sie leicht zu nutzenden Zugang zu at­ traktivem Vorlesestoff zu bieten. Neben­ bei bemerkt: Selbstverständlich können nicht nur Väter, sondern auch alle ande­ ren Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh­ mer des Unternehmens diesen Service nutzen.

Klaus Tiedt liest Kindern vor

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Mit diesem Projekt hat die hessenstiftung – familie hat zukunft, einen bildungsund gesellschaftspolitisch bedeutsamen Akzent gesetzt. „Mein Papa liest vor!“ besitzt bundesweit Modellcharakter und zählt gleich aus mehreren Gründen zu den programmatisch bedeutsamsten Initiativen, die von der Stiftung Lesen aktuell realisiert werden: Es wendet sich an eine essentiell wichtige Zielgruppe, es nutzt neue, elektronische Medienange­ bote für die Leseförderung – und es setzt Impulse für eine familienfreundliche Ar­ beitskultur. Tipps zum Vorlesen Wie sieht dieser Service in der Praxis konkret aus? Wenn sich ein Unterneh­ men beteiligen möchte, erhält es ein

Foto: Stiftung Lesen/bapfoto


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umfassendes Vorlese-Dossier mit Hin­ tergründen und Tipps zum Vorlesen als Download-Möglichkeit für das FirmenIntranet. Hier wird zielgruppengerecht über die herausragende Bedeutung von Vorlesen und Erzählen für die Ent­ wicklung von Kindern informiert. Viele Väter mögen verblüfft sein, wenn sie die umfassende Bedeutung des Vor­ lesens vor Augen geführt bekommen: Denn Vorlesen „versorgt“ Kinder nicht einfach mit Informationen, es fördert ganz umfassend die visuelle und auditi­ ve Wahrnehmung, wirkt sich positiv auf die Sprachentwicklung aus, trainiert die Konzentrationsfähigkeit und ist nicht zuletzt für die emotionale Entwicklung von großer Bedeutung. Denn Vorlesen ist keine „Einbahnstraße“: Gerade auch im familiären Umfeld kommen Klein und Groß miteinander ins Gespräch, thema­ tisieren Alltags-Erlebnisse, vertiefen die gegenseitige Vertrautheit miteinander. Und ganz besonders wichtig: Vorlesen macht einfach Spaß. Um diese Botschaft in der Praxis zu le­ ben – dafür ist das zweite Projektmodul gedacht: Wöchentlich neue Vorlese-Ge­ schichten, ebenfalls als Download-Mög­ lichkeit für das Intranet, sprechen die unterschiedlichen Interessen von Jungen und Mädchen an, berücksichtigen ver­ schiedene Altersgruppen und kulturelle Hintergründe. Zahlreiche Verlage ermög­ lichen dieses Angebot durch die Bereit­ stellung entsprechender Texte: der Ra­ vensburger Verlag, cbj, Beltz & Gelberg, Nord Süd, minedition und viele andere. Die Geschichten wiederum stammen von renommierten Autoren wie Ingo Siegner – aber auch viele junge Talen­

te sind vertreten. Dabei ist thematische Vielfalt Trumpf: von „einfach witzig“ bis „auch einmal nachdenklich“ reicht das Spektrum. Ihnen allen ist gemein: Sie sind qualitativ hochwertig und sowohl für das Vorlesepublikum als auch für den Vorleser selbst ein Vergnügen. Schauspieler unterstützt als Projektpate Das Projekt wird von der Hessischen Lan­ desregierung kommunikativ in beson­ derer Weise unterstützt: Petra MüllerKlepper, Staatssekretärin im Hessischen Sozialministerium, würdigte „Mein Papa liest vor!“ im Rahmen der Auftaktveran­ staltung als „innovativen Baustein“ im breiten und bedeutsamen Projektspekt­ rum der Hessenstiftung. Ein prominenter Unterstützer der Initia­ tive ist auch der Schauspieler Hans-Wer­ ner Meyer: „Vorlesen fördert Fantasie und Sprachkompetenz – und es schafft gemeinsame Erlebnisse, an die sich El­ tern und Kinder ihr Leben lang erinnern“, betont er. Er selbst hebt hervor, dass sich seine Frau und er beim Vorlesen für ihre

Projektpate Hans-Werner Meyer Foto: Morton Bjornhof

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Kinder abwechseln – und das aus einem einfachen Grund: „Es wäre unfair, wenn einer den ganzen Spaß alleine hätte.“ Die Resonanz der Unternehmen auf die zunächst lediglich hessenweit angeleg­ ten Initiative war von Anfang an ausge­ sprochen positiv – bereits jetzt wirken mehr als 50 hessische Unternehmen und Institutionen mit: Weltkonzerne wie die Fraport AG oder die Commerzbank AG sind ebenso mit dabei wie regionale Part­ ner mit wichtiger Signalwirkung: von der IHK Darmstadt über die Taunussparkasse bis hin zur Universität Kassel; von der B. Braun AG in Melsungen über das Uni­ versitätsklinikum Gießen bis hin zur TÜV Hessen GmbH. Was veranlasst ein Unter­ nehmen, sich im Rahmen der Initiative zu beteiligen? „Wir möchten auf diese Wei­ se einen sinnvollen familienfreundlichen

Staatssekretärin Petra Müller-Klepper und Dr. Jörg F. Maas

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Unternehmensbeitrag leisten“, erklärt etwa Janina Senger von der Hartmann Druckfarben GmbH in Niedernhausen. Über Hessens Grenzen hinaus Sehr schnell weitete sich das Projekt über das Land Hessen hinaus aus: Zu den rund 30 teilnehmenden Unternehmen und In­ stitutionen aus anderen Bundesländern zählen etwa die Boehringer Ingelheim GmbH und die INTERSEROH Dienstleis­ tungs GmbH – aber auch die Regierung von Niederbayern. Das Projekt steht In­ teressenten aller Größenordnungen und Branchen grundsätzlich offen: Regionale Bibliotheken sind ebenso beteiligt wie Familienzentren, Kulturämter und nicht zuletzt auch Schulen. Neben der sehr großen quantitativen Re­ sonanz auf das Projekt sind vor allem die

Foto: Stiftung Lesen/bapfoto


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Rückmeldungen der teilnehmenden Mit­ arbeiter eine große Bestätigung: „Zum Anregungen Holen ohne großen Auf­ wand wirklich gut“, lobt der Mitarbeiter eines Unternehmens aus Mittelhessen. Und eine Firma aus Nordhessen teilt mit: „Bei einer internen Feedbackabfrage ha­ ben wir nur positive Rückmeldungen zu verzeichnen“. Wie sehr nicht zuletzt die Kinder selbst im Rahmen von „Mein Papa liest vor!“ bei der Sache sind, das belegt die Rückmeldung eines Angestellten aus der Nähe von Frankfurt: „Ich nehme seit der ersten Geschichte teil. Meine Kin­ der sind immer schon ganz heiß auf die nächste Geschichte und freuen sich schon immer auf den Freitag. Dann werde ich schon beim Frühstück daran erinnert, bloß nicht das Ausdrucken zu vergessen.“ Umso erfreulicher ist es, dass die zunächst auf ein Jahr angelegte Initiative aufgrund des Engagements der hessenstiftung – familie hat zukunft verlängert werden kann und somit ein wirklich nachhaltiges Infrastruktur-Angebot im Bereich Lese­ förderung wird. Die Stiftung Lesen möch­ te sich für dieses herausragende Engage­ ment insbesondere des Geschäftsführers, Herrn Dr. Ulrich Kuther, herzlich bedan­ ken. Wir freuen uns sehr, dass unsere bei­ den Stiftungen mit diesem Projekt eine so enge und erfolgreiche Kooperation ein­ gegangen sind. Und verbunden mit ganz herzlichen Glückwünschen zum runden Jubiläum der Stiftung möchten wir versi­ chern: Wir freuen uns sehr auf die Fort­ setzung von „Mein Papa liest vor!“ – so­ wie vielleicht ja noch das ein oder andere weitere spannende gemeinsame Projekt.

Sabine Uehlein, M.A. (1969) ist Geschäftsführerin Programme und Projekte der Stiftung Lesen. Sabine Uehlein hat an den Universitäten Erlangen und Mainz Deutsche Philologie, Buchwissenschaft und Publizistik studiert. Nach dem Studienabschluss (Magister Artium) 1994 war sie als Projektmanagerin bei der Stiftung Lesen tätig. Nach Stationen als Referatsleiterin für die Projekte im Feld „Jugend und Schule“ der Stiftung Lesen sowie als Leiterin des gesamten Spektrums „Programme und Projekte“ wurde sie im Juli 2010 in die Geschäftsführung berufen. Sabine Uehlein hat im Themenbereich „Leseförderung und Medienpädagogik“ im In- und Ausland zahlreiche Vorträge gehalten sowie in einschlägigen Publikationen veröffentlicht. Christoph Schäfer (1966) ist Pressesprecher Bildung Politik Forschung der Stiftung Lesen. Christoph Schäfer hat an der Universität Mainz Deutsche Philologie und Katholische Theologie studiert. Nach dem Staatsexamen absolvierte er bei der Journalistenschule „Institut zur Förderung Publizistischen Nachwuchses“ ein Volontariat. Nach Stationen als Pressereferent beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Bundeszentrale für Politische Bildung ist er seit 1998 bei der Stiftung Lesen tätig.

Sabine Uehlein / Christoph Schäfer

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Väternetzwerke in Unternehmen Neues Denken für Väter in Unternehmen Die Familienorientierung von Männern nimmt zu „Die Verantwortung für ein Kind zu über­ nehmen, und zwar jeden Tag, bedeutete eine Zäsur in meinem Leben“. „Ich war nicht mehr für mich selber da. Das Kind hat mein Leben sehr verändert. Der Sinn des Lebens bekam eine neue Priorität. Das, was ich bisher unter Glück verstan­ den habe, verschob sich total.“ Diese bei­ spielhaften Aussagen von Männern aus der Commerzbank dokumentieren ein verändertes modernes Selbstbild der Vä­ ter. Die Ergebnisse der unternehmensin­ ternen Studie (Seehausen/Sass 2007), insbesondere aber die neuen Studien zur Männerentwicklung in Deutschland zeigen: die Gesellschaft entdeckt die Männer (Wippermann/Calmbach/Wip­ permann 2009, Volz/Zulehner 2009). Männer im Spannungsfeld von Beruf und Familie Die Frage nach der Gleichstellung von Frauen und Männern fordert die Entwick­ lung von neuen Optionen der Lebens-, Partnerschafts- und Familiengestaltung. Unser Beitrag wirft einige Schlaglichter auf Veränderungsprozesse in familienbe­ wussten Unternehmen, wo Arbeitgeber ihre Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt deutlich steigern, wenn die Vereinbar­ keit von Beruf und Familie auch zu einem Thema für Männer wird (berufundfamilie gGmbH 2008). Die obigen Aussagen deuten an, welche neue Erfahrungs- und Erlebniswelt für eine stetig wachsende Gruppe von Män­ nern mit der Geburt des Kindes entsteht. Gleichzeitig schiebt sich frühzeitig die Zeit­ frage in den Vordergrund: Hierzu zwei bei­

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Ich bin gerne Vater! Eine Erfahrungswerkstatt für Väter, die eine gesunde Balance zwischen Job, Frau und Kindern suchen

Herausgeber „hessenstiftung – familie hat zukunft“ und Väterforum Offenbach e.V.

spielhafte Aussagen von Männern aus der Frankfurter Studie: „Die 24-Stunden-Prä­ senz war wohl das Einschneidendste für mich, das Kind diktiert meine Zeitabläu­ fe.“ Ein anderer Vater ergänzte: „Darunter leidet zwangsläufig die Partnerschaft. Wir haben zu wenig Zeit für gemeinsame Ge­ spräche und Unternehmungen.“ Familie und Kinder erhalten aus der Sicht von erwerbstätigen Vätern mit höheren Bildungsabschlüssen langsam eine gesell­ schaftliche Anerkennung. Das traditionel­ le Männerbild hat Risse bekommen und ist brüchig geworden. Männer leben heute in einem Spannungsfeld von wirtschaftli­ chen Zwängen und familiärem Struktur­ wandel sowie widersprüchlichen berufli­ chen und gesellschaftlichen Erwartungen. Damit verändern sich das Selbstbild und die individuellen Lebensentwürfe. Viele Männer erleben das „Vater- Sein“ heute als Bereicherung ihres Lebens. Gleichzei­ tig geht die identitätsstiftende Bedeutung


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der Erwerbstätigkeit zurück. 70 Prozent aller werdenden Väter bewerten heu­ te ihre Erzieher-Funktion für ihre Kinder höher als ihre Brotverdiener-Funktion für ihre Familie (Fthenakis/Minsel 2002). Es existieren bereits neue, vielfältige, männ­ liche Selbstbilder, bei deren Umsetzung Männer aber noch mit zahlreichen Hin­ dernissen zu kämpfen haben. Diese kön­ nen sowohl in eigener Unsicherheit als auch im Verhalten und Selbstverständnis der Partnerin sowie im beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld sowie den dar­ in gesetzten Rahmenbedingungen liegen. Immer mehr junge Väter nehmen Elternzeit in Anspruch Das neue Männerleitbild zeigt sich eben­ falls in der steigenden Inanspruchnahme der Elternzeit. Die Partnermonate treffen auf eine hohe Resonanz. Das im Januar 2007 eingeführte Elterngeld, das im ers­ ten Lebensjahr des Kindes eine Einkom­ mensersatzleistung von 67 Prozent des letzten Nettoeinkommens gewährleistet, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Seit der Einführung von Eltern­ geld und Partnermonaten ist der Anteil der Väter von 3,5 auf über 25 Prozent gestiegen. Das Elterngeld hat in der öf­ fentlichen Wahrnehmung und in den Unternehmen zahlreiche Veränderungen bewirkt. Familienbewusste Unternehmen bieten z.B. Teilzeit und Elternzeit für Män­ ner und Führungskräfte an. Es dominiert eine Vielfalt von individuellen Lösungen zur Gestaltung der Elternzeit für Väter, in Absprache mit den Frauen, aber auch mit den Beschäftigten am Arbeitsplatz. Neben den persönlichen emotionalen Er­ fahrungen führt die erhöhte Inanspruch­

nahme des Elterngeldes in den Betrieben zu neuen Chancen einer männerorien­ tierten Personalpolitik. Väter werden im Unternehmen endlich sichtbar. Personal­ abteilungen erhalten Möglichkeiten, Vä­ ter gezielt anzusprechen und über fami­ lienbezogene Angebote zu informieren. Widersprüche im Väteralltag – zwischen Wunsch und Wirklichkeit Die Verknüpfung von aktuellen ökono­ mischen Veränderungen am Arbeitsplatz mit individuellen und gesellschaftlichen Kosten der Männerkarriere eröffnet den Horizont für künftige Fragen der Ge­ schlechter- und Gesundheitspolitik. Väter fühlen sich hin- und hergerissen zwischen Ernährer- und Vaterrolle, wollen sich je­ doch stärker an den Familienangelegen­ heiten orientieren. Andererseits favori­ siert die Arbeitswelt in weiten Bereichen immer noch das einseitige Männerbild vom effizienten entscheidungsfreudigen Mitarbeiter, der im Job olympiareife Leis­ tungen vollbringen soll, sein Privatleben im Griff hat und die heimischen Proble­ me gefälligst für sich behält. Kritisch ist in diesem Kontext wahrzu­ nehmen, dass die Unsicherheit über die berufliche Zukunft einen großen Raum einnimmt. Gegenwärtige Umstruktu­ rierungen und Rationalisierung in der Finanzwirtschaft bewirken direkt oder indirekt, dass sich viele Männer nicht trauen, offensiv mit den familienfreundli­ chen Angeboten umzugehen. Den Bedarf sichtbar machen Eine männerorientierte Personalpolitik in Unternehmen verfolgt u.a. das Ziel, die Akzeptanz und Inanspruchnahme von

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Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Be­ ruf und Familie für Männer zu erhöhen. Die Erfahrungen und das Wissen zu den Erwartungen und dem Unterstützungs­ bedarf von familienbewussten Angebo­ ten sind nach wie vor gering. Betriebe betreten hier Neuland. „Männer zögern nicht zuletzt mit der Artikulierung ihrer Wünsche nach familienbewussten Maß­ nahmen, da sie Unverständnis und nega­ tive Reaktionen von Vorgesetzten und Kollegen befürchten.“ (berufundfamilie gGmbH 2008, S. 10). Fachleute sprechen hier von einem „versteckten Vereinbar­ keitsproblem“. Mitarbeiterbefragungen zur Work-Life-Balance von Männern, Workshops zur Bedarfserhebung und unternehmensinterne Studien dienen der Sensibilisierung für ein verändertes Männerleitbild und einer intensiven und

nachhaltigen Kommunikation am Ar­ beitsplatz. Aus der erwähnten Frankfurter Studie und der Hamburger IPEV-Studie (Innova­ tive Personalentwicklung für Väter), die 2008 von der Väter gGmbH in Koopera­ tion mit dem Hamburger Senat und Air­ bus Deutschland durchgeführt worden ist, wurden folgende Empfehlungen für den Arbeitgeber abgeleitet: • Notwendig ist mehr Wissen über spezifische Bedürfnisse von Vätern (empirische Basis erweitern). • Väter sollten bei der Entwicklung von Lösungen beteiligt werden. • Die individuelle Lebensplanung müsse das neue Denkmodell für die Gestaltung familienfreundlicher Arbeitszeit werden. • Führungskräfte sollten für familien-/ väterfreundliches Verhalten geschult werden. • Die gesamte Belegschaft sollte bei den Themen Arbeitszeitpolitik, Famili­ enfreundlichkeit etc. eingebunden werden (David/Seehausen 2011). Netzwerke für berufstätige Väter fördern Chancengleichheit Die Beteiligung von Männern bei der Planung und Ausgestaltung von betrieb­ lichen Angeboten hat zur Entwicklung von Mitarbeiternetzwerken geführt. So ist ein wichtiger Baustein für eine famili­ en- und väterfreundliche Unternehmens­ kultur bei der Commerzbank das Netz­ werk „Fokus Väter“. Bereits 2004 fanden sich hier Männer aus unterschiedlichen Bereichen der Bank zusammen, die zu­ gleich Vater und beruflich zufrieden sein wollten. Ähnlich war es 2008 beim Ham­

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burger Flugzeugbauer Airbus, bei dem sich nach der Studie auch ein Netzwerk aktiver Väter entwickelt hat. Die Mitglie­ der treffen sich, um innerbetrieblich die Chancengleichheit aus Sicht der Männer „voran zu treiben“. Das Netzwerk be­ treibt in eigener Sache unternehmensin­ tern eine gezielte Lobbyarbeit und trägt mit seinen Aktivitäten zu einer besseren Wahrnehmung und zur Normalisierung der Rolle in der Familie engagierter Väter im Unternehmen bei. Ihre Ziele lauten: • Beispiele aktiver Vaterschaft vorleben und auf unterschiedliche Lebens­ modelle aufmerksam machen, • ein positives Väterbild bankintern und nach außen vermitteln, • Väter ermutigen, neue Wege zu gehen, • eine Plattform zum regelmäßigen Austausch bieten, • Führungskräfte für das Thema sensibilisieren, • die Bedeutung von Familien­ kompetenzen etablieren. Was aber helfen Beispiele aus Großunter­ nehmen all den kleinen und mittelstän­ dischen Betriebe, in denen der Firmen­ chef sein eigener Personalleiter ist? Was macht er mit den 8 Vätern unter seinen 20 Mitarbeitern? Weil dieser Einwand gerade für Familienunternehmen berech­ tigt ist, unterstützt die hessenstiftung – familie hat zukunft den Aufbau eines Väternetzwerkes im Verbund mehrerer Unternehmen in Darmstadt. An dem Projekt, initiiert vom städtischen Frauen­ büro, wirkt neben der Merck AG, die be­ wusst eine Verbundlösung anstrebt und unterstützt, vor allem die IHK Darmstadt als Multiplikator in die Fläche mit. Die

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unternehmensübergreifende Verbund­ lösung setzt auf die Verbreitung eines leicht verständlichen „Werkzeugkoffers zur Väterförderung“ mit handhabbaren und kostenneutralen Maßnahmen der Väterfreundlichkeit. Im Ansatz ähnlich aufgebaut ist das Projekt „Väter in Fa­ milienunternehmen“, das von der Ursa­ chenstiftung Osnabrück gefördert wird. Dort ist die IHK Osnabrück-Emsland be­ teiligt. Nach der Findungsphase mit einer Umfrage unter 500 Mittelständlern steht das Projekt dort in der Pilotphase mit drei ausgewählten Unternehmen und will dann in die Verbreitungsphase gehen. Führungskräfte spielen eine wichtige Rolle Führungskräfte übernehmen eine wich­ tige Rolle, wenn es darum geht, eine väterfreundliche Unternehmenskultur einzuführen und zu etablieren. Doch die Verankerung einer vätergerechten Füh­ rung in der Kultur eines Unternehmens setzt zuerst eine klare und positive Hal­ tung der Unternehmensleitung voraus. Diese beinhaltet die Bereitschaft, dem Thema Raum zu geben und Führungs­ kräfte bei der Wahrnehmung ihrer Auf­ gabe zu unterstützen: Durch Impulse, Ressourcen, Tools und die Möglichkeit, in Workshops den eigenen Blickwinkel zu hinterfragen. Väterbewusste Personal­ politik spielt sich im Unternehmen und am Arbeitsplatz ab, in der Kooperation von Führungskräften und Mitarbeitern. Balanceorientierte Führungskräfte sehen mehr als die Arbeitskraft des Mitarbei­ ters. Sie bestärken den Mitarbeiter so­ wohl in seinen beruflichen Kompetenzen als auch in seinen Bedürfnissen nach der


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persönlichen Vereinbarkeit, um ihm so die optimale Leistungsentfaltung zu er­ möglichen. Ein Führungsstil, der – wo or­ ganisatorisch umsetzbar – auf Ergebnisse statt auf Anwesenheit setzt, ermöglicht Vätern, ihre Arbeit zu flexibilisieren und ihren familiären Aufgaben anzupassen. Sie sind bereit und in der Lage, den Zu­ wachs an Lebensqualität, den ein erfüll­ tes Familienleben schafft, in berufliche Leistungsfähigkeit umzuwandeln. In diesem Zusammenhang gewinnt das Thema der Entschleunigung an gesell­ schaftlicher Bedeutung. Die Verdichtung in der Arbeitswelt, der steigende Zeit­ druck und der Fluch ständiger Verfüg­ barkeit führen zunehmend zu psychi­ schen Erkrankungen der Arbeitnehmer. Aus betriebswirtschaftlichem Kalkül

gewinnen hier Ansätze zur Vereinbar­ keit von Beruf und Familie für Männer an größerer Bedeutung. Für Unterneh­ men bedeuten gestresste Mitarbeiter in vielen Fällen mehr Fehlzeiten, gerin­ gere Arbeitsleistung und Produktivität, höhere Fluktuation, mehr Unfälle und Kundenbeschwerden. Der betriebliche Nutzen der Unterstützung familienorien­ tierter Männer wird durch Maßnahmen der Work-Life-Balance erhöht. In diesem Zusammenhang wird sich der Wettbe­ werb um qualifizierte Arbeitskräfte in den kommenden Jahren erheblich ver­ schärfen. Die offene, kontinuierliche betriebliche Kommunikation über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Väter bildet für das Gelingen eine entscheidende

Mitarbeiter der Fraport AG stellten für die von der Hessenstiftung geförderte Broschüre „Wir leben den Rollenwandel“ ein persönliches Porträt zur Verfügung

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Voraussetzung dafür, dass das Thema Eingang in die Unternehmenskultur findet. Sowohl durch die Unterneh­ mensleitung, durch Führungskräfte als auch im Rahmen von betrieblichen Maßnahmen und Angeboten muss die unternehmensstrategische und ope­ rative Bedeutung des Themas immer wieder deutlich gemacht werden. Auf­ grund der nach innen und außen ent­ stehenden Eigendynamik wird eine nachhaltige väterbewusste Personalpo­ litik selbstverständlicher Bestandteil der Unternehmenskultur. Der Kulturwandel Literatur Berufundfamilie gGmbH. Eine Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung (Hrsg): Männer vereinbaren Beruf und Familie. Frankfurt 2008 David, Barbara/Seehausen, Harald: Wege aus dem Papa-Dilemma. Wie die Commerzbank aktive Vaterschaft ermöglicht. Manuskript. Frankfurt 2011 Fthenakis, Wassilios E./Minsel, Beate: Die Rolle des Vaters in der Familie. Stuttgart 2002 Seehausen, Harald/ Sass, Jürgen (im Auftrage der Commerzbank AG, Zentraler Stab Personal): Die Väterthematik im Unternehmen: Salonfähig aber nicht „betriebsfähig“. In: „Neue Wege für Väter“. Frankfurt 2007 Volz, Rainer/Paul.M. Zulehner: Männer in Bewegung. Zehn Jahre Männerentwicklung in Deutschland. (Hrsg.): BMFSFJ. Berlin 2009 Wippermann, Carsten/Calmbach Marc/Katja Wippermann: Männer: Rolle vorwärts, Rolle rückwärts? Opladen & Farmington Hills 2009

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wird innerhalb und außerhalb des Un­ ternehmens wahrgenommen. Im Rahmen der Führungskräfteentwick­ lung oder kleiner Workshops können den Vorgesetzten unterschiedliche Lebens­ konzepte von Vätern, moderne Rollen­ muster und der Umgang mit der Verein­ barkeit von Familie und Beruf vermittelt werden. So lernen sie auch einzuschät­ zen, welche Fähigkeiten mit aktiver Vater­ schaft verknüpft und für das Unterneh­ men nützliche Kompetenzen sein können. Gleichzeitig sind Führungskräfte wichtige Rollenvorbilder: wenn sie die Vereinbar­ keit von Beruf und Familie aktiv vorleben, wird das väterbewusste Engagement glaubwürdig. Ein wichtiger Aspekt eines Führungskräftetrainings ist aber auch der Umgang mit männlichen Mitarbeitern, die in Elternzeit gehen möchten. Neben konkreten Ablaufplänen, Checklisten für die Elternzeit, Leitfäden zum Kontakthal­ ten und Wiedereinstieg nach der Eltern­ zeit der Väter, wird den Führungskräf­ ten auch vermittelt, wie eine zwei- oder mehrmonatige Auszeit eines Mitarbeiters überbrückt werden kann. Die Väter gGmbH, eine gemeinnützige Unternehmensberatung aus Hamburg, hat sich speziell auf die Rolle der Vä­ ter in Unternehmen fokussiert, um genau dieses Umdenken zu erreichen. Anhand von Beratungen, Vorträgen, Workshops und Coachings zeigt die Unternehmensberatung, auf wie beide Seiten von väterfreundlichen Maßnah­ men profitieren können. Mithilfe indi­ vidueller Analysen der jeweiligen Lage werden Angebote geschaffen, die ge­ nau auf ein bestimmtes Unternehmen zugeschnitten sind.


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Neben diesen innovativen Projekten und Beratungseinrichtungen, braucht es aber auch „mutige“ Väter in den Unterneh­ men, die einen Schritt voraus gehen und in Eigeninitiative Väter-Netzwerke entwickeln, um eine väterfreundliche Unternehmenskultur auch langfristig in Unternehmen zu etablieren. Die hessenstiftung – familie hat zukunft hat den Rollenwandel im Unternehmen u.a. bei der Fraport AG fördernd begleitet. Eine Broschüre mit Einzelporträts zum Rollen­ wandel bietet dort die Möglichkeit, den Blick zu öffnen für veränderte Situatio­ nen und die Wechselwirkung zwischen Beruf und Familie für beide Lebensfelder nutzbar zu machen.

Harald Seehausen, (1945) Dr. phil., Industriekaufmann, Grundschullehrer, Dipl. Pädagoge. Vater von zwei Söhnen. 25 Jahre tätig als Sozialforscher beim Deutschen Jugendinstitut e.V. mit dem Schwerpunkt Kindertageseinrichtungen. Seit 1999 Inhaber der Frankfurter Agentur für Innovation und Forschung. Initiator zahlreicher Väter-Projekte, insbesondere des Aktionsforums „Männer & Leben – Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Volker Baisch, (1966), Diplom Sozialwirt, Geschäftsführender

Harald Seehausen / Volker Baisch

Gesellschafter der Väter gGmbH, verheiratet, Vater von zwei Töchtern. Seit 10 Jahren Unternehmensberater, Trainer und Coach zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus Vätersicht von Unternehmen, 2007 Wahl zum Social Entrepreneur von Ashoka Deutschland

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Mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Männerleben Das Aktionsforum „Männer & Leben“ in der Region Rhein-Main

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Männer plädieren für eine familienbe­ wusste Personalpolitik, die väterfreund­ liche Maßnahmen in den Unternehmen stärker berücksichtigt. Hier entstehen in Unternehmen Väter-Netzwerke. Kinderund Familienzentren in Kooperation mit Familienbildung setzen sich zunehmend mit Angeboten für junge Väter ausein­ ander. Junge Männer entscheiden sich mehr als früher für pädagogische und soziale Berufe. Das Thema „Männer in der Pflege“ gewinnt an Aktualität. Män­ ner schließen sich in Selbsthilfegruppen zusammen, um sich gegenseitig beim Verlernen traditioneller Rollenmuster zu ermutigen. Soziale Bewegungen wie Bürgerinitiativen entstehen zur Verän­ derung des Männerbildes in der Öffent­ lichkeit. Diese Entwicklungstendenzen gesellschaftlicher Bewegungen spiegeln sich in dem Aktionsforum „Männer & Leben – Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ wider.

gewöhnliche Projekte und organisieren Impulstagungen, Veranstaltungen und Vorträge. Sie schaffen öffentlichkeits­ wirksame Maßnahmen, stiften „Unru­ he“ in der Frauen- und Männerbewe­ gung und beginnen, Umdenkprozesse mit Blick auf den gleichberechtigten Zu­ gang von Männern und Frauen zu Fami­ lie und Beruf zu ermöglichen. Die Gründung der Initiative wurde von einer Reihe kommunalpolitischer und bundesweiter Entwicklungen in der Frankfurter Region beeinflusst. Der Zu­ sammenschluss von Männern zu ers­ ten Väter-Treffpunkten in Kindergärten (1988), die Bildung der Arbeitsgruppe „Väterförderung“ in Kooperation mit Unternehmen (1995), der Offene Brief an die Bundesministerin für Familie, Se­ nioren, Frauen und Jugend unter dem Motto „Geschlechterdemokratie! Für einen Neuanfang in der Geschlechterpo­ litik“ (1998) sowie die bundesweite Fach­ tagung „Mehr Leben ins Männerleben“ (2000) in Frankfurt bildeten wichtige Vorboten einer veränderten Sichtweise zur Rolle der Männer.

Die Akteure des Aktionsforums engagieren sich für eine partnerschaftliche Aufgabenteilung Engagierte Frauen und Männer aus Unternehmen, Institutionen, Bürger­ initiativen und Medien, kommunalen Einrichtungen und Kirchen, Stadtver­ waltung, Vereinen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, Industrie- und Handelskammer, Familienberatung und Forschung gründen 2003 das Aktionsfo­ rum. Die Akteure entwerfen gemeinsam Visionen und neue Ideen, planen un­

Impulse brauchen Visionen für die Familienorientierung von Männern Die Mitglieder des Aktionsforums er­ arbeiten zur Klärung ihres Selbstver­ ständnisses und der Weiterentwicklung ihrer regionalen Aktivitäten vier Visio­ nen: Neues Männerleitbild: Vater-Sein; Gleichberechtigte Elternschaft in part­ nerschaftlichen Familien; Gleichberechti­ gung von Männern und Frauen im sozia­ len Umfeld; Zeitliche Flexibilität im Beruf und Kinderbetreuung. Hierzu einige kur­ ze Erläuterungen:


Familie und Beruf

Vision „Vater-Sein im neuen Männer­ leitbild“: Aktive Vaterschaft wird als ein selbstverständlicher und verbindender Bestandteil der Lebens- und Karrierepla­ nung von Männern und Frauen verstan­ den. Das traditionelle Männerbild des Fa­ milienernährers wird abgelöst von einer Vielfalt neuer Selbstbilder von Männlich­ keit . Vision „Gleichberechtigte Elternschaft in partnerschaftlichen Familien“: Junge Frauen und Männer gehen von einem ge­ schlechterdemokratischen partnerschaft­ lichen Lebenskonzept des Teilens von Beruf und Familie, von Kindererziehung und Erwerbsarbeit aus. Männer teilen mit Frauen in der Familie die Verantwortung für die Erziehung der Kinder und die All­ tagsaufgaben der Haushaltsarbeit. Vision „ Gleichberechtigte Männer und Frauen im sozialen Umfeld“: Kinder wachsen in allen Lebensbereichen mit männlichen und weiblichen Bezugs­ personen auf. Die Erziehungs- und Bil­ dungstätigkeit in Kindertagesstätten und Grundschulen sowie das bürger­ schaftliche Engagement in der Nachbar­ schaft werden von Männern als attraktiv wahrgenommen und gesellschaftlich als wertvoll anerkannt. Vision „Zeitliche Flexibilität im Beruf und in der Kinderbetreuung“: Die „RushHour“ in der Mitte des Lebens wird abgelöst durch eine Reihe väter- und fa­ milienpolitischer Maßnahmen und führt zur einer besseren Balance zwischen Familienleben, Zeitplanung und beruf­ lichen Aufgaben Familienkompetenzen werden als Teil einer familienbewussten Personalpolitik von Unternehmen positiv bewertet.

Öffentlichkeit zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer Das öffentliche Engagement des Akti­ onsforums ist aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln zu sehen: Auf der einen Seite versteht sich die Bürgerinitiative als dynamische Plattform und Impulsgebe­ rin für neuartige Ideen, Initiativen und Kooperationen zur Unterstützung famili­ enorientierter Männer. Andererseits ver­ folgt das Aktionsbündnis aktuelle The­ men, die sich aus den Forschungstrends der Geschlechtergerechtigkeit und zu­ kunftsweisenden Projekten ablesen las­ sen. Die Herstellung von Öffentlichkeit konzentriert sich auf verschiedene Hand­ lungsfelder wie „Familienfreundliche Arbeitswelt; Familienergänzende und – beratende Einrichtungen; Männer in be­ sonderen Lebenslagen; Väter in Medien und Netzwerken“. Für vier Impulstagungen wurden folgen­ de Themen ausgewählt: • „Väter – ein Gewinn für Unternehmen?!“ (2003) • „Kinder machen Väter – Männer zwischen Karriere und Kind“ (2006) • „Arbeitszeit, Elternzeit, Lebenszeit – Männerkarriere(n) in Beruf und Familie“ (2008) • „Vielfalt – mehr Leben ins Männer­ leben. Neue Männerentwicklung in Deutschland (2011) Die hessenstiftung – familie hat zukunft hat diese Impulstagungen und zahlrei­ che Projekte des Aktionsbündnisses von der Gründung bis heute unterstützt und gefördert. Damit konnten kreative Ideen in der Praxis verwirklicht und bewusst­ seinsbildende Prozesse in den Kommu­ nen angestoßen werden.

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Familie und Beruf

Die Erfahrungen und Potenziale der Akteure und Projekte stehen im Mittelpunkt Die Strukturen und Arbeitsformen der Impulsveranstaltungen orientieren sich im Wesentlichen an den Potenzialen der Akteure des Aktionsforums. Ein kurzer Impulsbeitrag aus den eigenen Reihen führt in das Tagungsthema ein, nicht sel­ ten provokant und zum Streitgespräch auffordernd. Der folgende „Dialog zum Einstieg“ zwischen Mitgliedern aus un­ terschiedlichen Handlungsfeldern bildet eine Form der öffentlichen geschlech­ terpolitischen Kommunikation und des Dialogs zwischen Frauen und Männern. Dieser Diskurs führt Personen u.a. aus Unternehmen, Stiftungen, Gewerkschaf­ ten, der psychologischen Beratung, den Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, Kommunalpolitik, Väter-Netzwerken und Forschung mit ihren verschiedenen Erfahrungen zusammen, gleich verteilt auf Frauen und Männer. Die Präsenta­ tion und Diskussion von beispielhaften Initiativen und Projekten des Aktionsfo­ rums in Arbeitsgruppen schließt sich an. Zukunftsweisende Projekte und Ideen werden in Perspektivgruppen entworfen und konkretisiert. In dieser Ideenwerk­ statt an wird die Vielfalt von Ressour­ cen und Wissen für die Entwürfe von zukunftsweisender Projekte genutzt. Diese Projektideen werden nicht selten später über einen Finanzierungsmix der beteiligten Gruppen gefördert. In der „Abschlussrunde“ werden Ergebnisse aus dieser Ideenwerkstatt zur Diskussion gestellt, um veränderte Perspektiven und Aktionsmöglichkeiten vor Ort zu formu­ lieren. Einen hohen Stellenwert nimmt

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von Anfang an die Informationsbörse des Aktionsforums ein, die den Initiati­ ven und Projekten, den Organisationen und Institutionen viel Zeit und Raum für Präsentation und Erfahrungsaustausch bietet, begleitet von künstlerischen und inspirierenden Beiträgen zum Motto der Veranstaltung. Anregungen aus der 1. Impulstagung 2003 Die erste Impulstagung des Aktionsfo­ rums fand im Haus der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main statt. Thema und Veranstaltungsort weckten bei zahlreichen Personen Neugierde, weil die Verknüpfung von aktuellen öko­ nomischen Veränderungen am Arbeits­ platz mit den individuellen und gesell­ schaftlichen Kosten der Männerkarriere den Horizont für künftige Fragen zur Geschlechterpolitik öffnete. Der thema­ tische Schwerpunkt lautete: Väter füh­ len sich hin- und hergerissen zwischen Ernährer- und Vaterrolle, wollen sich je­ doch stärker an den Familienangelegen­ heiten orientieren. Andererseits favori­ siert die Arbeitswelt in weiten Bereichen immer noch das einseitige Männerbild vom effizienten entscheidungsfreudi­ gen Mitarbeiter, der im Job olympiareife Leistungen vollbringen soll, sein Privat­ leben im Griff hat und die heimischen Probleme gefälligst für sich behält. Es wird auf die zunehmende betriebswirt­ schaftliche Bedeutung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Unternehmen hingewiesen. Die Themen der Work­ shops zur Entwicklung zukunftsweisen­ der Projekte wie u.a. „Führungskräfte schaffen ein positives Klima für Väter“,


Familie und Beruf

„Unternehmen fördern ehrenamtliches Engagement“, „Kommunikationszentren Familie & Beruf aufbauen – wozu und wie?“, „Väter-Netzwerke und Zeitpionie­ re – Nutzen für Kommunen und Unter­ nehmen“ plädieren für neue Wege der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer. Impulse aus der 2. Impulstagung 2006 Diese Impulstagung fand in den Räumen des Hessischen Rundfunks statt. Somit war auch ein breites Netz von Presseund Öffentlichkeitsarbeit gewährleistet. Die Kooperation mit dem Frauenreferat der Stadt Frankfurt am Main war der außergewöhnliche Versuch des Akti­ onsforums, eine Brücke zwischen der individuellen und gesellschaftlichen Rol­ lenvielfalt von Männern und Frauen und unterschiedlichen Positionen von Gleich­ berechtigung zu bauen. Die Qualität der Vater-Kind-Beziehung im Kontext der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stand im Mittelpunkt der Diskussion. Die große Herausforderung besteht da­ rin, gegenüber den Arbeitgebern und öffentlichen Bildungs- und Betreuungs­ einrichtungen die Erwartungen einer ak­ tiven Minderheit von Vätern mit Blick auf mehr Spielräume bei der Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit zu formu­ lieren und neue Wege aufzuzeigen. Die Diskussion zum Thema „Kinder machen Väter – Männer zwischen Karriere und Kind“ hat den schwierigen Fortschritt mit den „Neuen Vätern“ aufgezeigt. Der Versuch, das partnerschaftliche Arrange­ ment von Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, schränkt offensichtlich

die persönlichen und gemeinsamen Freiräume für Männer und Frauen ein, eröffnet gleichzeitig aber die Chance, das Aufwachsen der Kinder intensiver zu erleben. Ergebnisse aus der 3. Impulstagung 2008 Die Impulstagung fand im Haus am Dom in Frankfurt am Main statt. Das Aktionsforum präsentierte beispielhaf­ te Initiativen und Projekte, die seit der 2003 erfolgten Gründung zahlreiche Innovationen und Ideen verwirklichten. Die Veranstaltung griff auf der einen Seite die aktuelle Diskussion um die Fol­ gen der erweiterten Elternzeitregelung für den Lebenslauf der Männer und Frauen auf und thematisierte gleichzei­ tig die Wirkungen auf die Sozialisati­ onsentwicklung der Kinder. Das Spekt­ rum der innovativen Projekte reicht von „Väter-Tag – Väter im Aufbruch“ im Hessischen Rundfunk, „Väter in flexib­ len Kindertageseinrichtungen: am Bei­ spiel des betriebsnahen Kinderhauses Kiwi, Kassel“, „ Netzwerk Väter-Jun­ gen-Männerarbeit im Bistum Limburg“, „Jugendliche und Männer betreuen Kinder im Sportverein“ bis zu „Männli­ che Erzieher in der Kita einer ländlichen Gemeinde“, „ Männer im Frauenberuf – die Motivation von Männern in Kitas“ sowie beispielhaften Väter-Netzwerken in Unternehmen bei der Commerzbank AG und der Fraport AG. Das im Januar 2007 eingeführte Elterngeld eröffnet neue Perspektiven und Wege für die Geschlechtergerechtigkeit, aber auch für die Männer selbst.

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Familie und Beruf

Gleichstellungspolitik muss beide Geschlechter in den Blick nehmen Die Frauenbewegung hat entscheidend zu einem breiten Bewusstseins- und Wertewandel der jüngeren Frauen- und Männergeneration beigetragen. Frauenund Gleichstellungspolitik haben bislang aber nur wenig an der männlichen Rol­ lenfestlegung verändert. Die Heraus­ forderung an die Gleichstellungspolitik liegt in der Förderung einer Vielfalt von zeitgemäßen Männer- und Vaterrollen in der Gesellschaft und der Herstellung entsprechender Rahmenbedingungen für Männer und Frauen. Das Aktionsfo­ rum „Männer & Leben“ hat im RheinMain-Gebiet wesentliche politische und innovative Beiträge Richtung Gleichbe­ rechtigung geleistet. Es sind vielfältige Handlungsmöglichkeiten für die Eman­

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zipation der Geschlechter im Alltag er­ öffnet worden, insbesondere auch zur Veränderung persönlicher Rollenerwar­ tungen. Der betriebliche Nutzen der Unterstüt­ zung familienorientierter Männer setzt sich mit dem ökonomischen Nutzen der Gestaltung einer familiengerechten Ge­ sellschaft auseinander. Wenn damit die alten Gleichgewichte immer mehr aus den Fugen geraten, dann wird der Dis­ kurs zu Fragen von Gleichstellung und Chancengleichheit sich künftig mehr als bisher auf die wirtschaftliche Bedeutung weicher Beziehungswerte konzentrieren. Es liegt in der Verantwortung von Füh­ rungskräften und Vorgesetzen in Unter­ nehmen, Männern neue Wege für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu eröffnen. Die wachsende gesellschaftli­ che Diskussion über „Familienfreundlich­ keit als Standort- und Wirtschaftsfaktor“ verknüpft familiäre und ökonomische Interessen miteinander und bezieht die Gleichstellung beider Geschlechter mit ein. In diesem Zusammenhang werden zusehends „Lokale Bündnisse für Fami­ lie“ die wichtige Vernetzung regionaler Initiativen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf übernehmen. In diesem Kon­ text werden Schlüsselkompetenzen aus der Familientätigkeit in einer familienbe­ wussten Personalpolitik an Bedeutung gewinnen. Das Selbstbild und die individuellen Lebensentwürfe von Männern haben sich verändert. Eine größer werdende Gruppe von Männern erlebt das „Va­ ter sein“ als Bereicherung ihres Lebens. Gleichzeitig geht die identitätsstiftende Bedeutung der Erwerbstätigkeit zurück.


Familie und Beruf

Es existieren bereits neue und vielfältige männliche Selbstbilder, bei deren prakti­ scher Umsetzung Männer aber noch mit zahlreichen Hindernissen zu kämpfen haben. Diese können sowohl in eigener Unsicherheit liegen als auch im Verhal­ ten und Selbstverständnis der Partnerin sowie im privaten, beruflichen und ge­ sellschaftlichen Umfeld und den darin gesetzten Rahmenbedingungen. Es liegt in der Verantwortung von Ein­ richtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Kinder- und Familienzentren und Vereinen Voraussetzungen zu schaffen, wo aktive Vaterschaft gezielt unterstützt wird. Wenn Familie nicht nur von Eltern und Kindern handelt, sondern auch von Vätern und Müttern, dann sollte die Fa­ milienbildungsstätte die Begleitung von Väter-Kind-Treffpunkten übernehmen und mit Elternvertretern gestalten. Män­ ner brauchen neue Foren des Gedanken­ austausches und einen Ort des Lernens neuer männlicher Rollenanforderungen. Die Entwicklung und Propagierung eines neuen männlichen Leitbildes setzt da­ mit gleichzeitig eine Entidealisierung der Mutterschaft voraus. Familienbildungs­ einrichtungen sollten gemeinsam mit Frauenbeauftragten und der engagier­ ten Minderheit von Männern bewusst­ seinsbildende und öffentlichkeitswirksa­ me und damit provokative Formen der Auseinandersetzung zum Wandel männ­ licher Rollenvorstellungen und Lebens­ entwürfe veranstalten. Das Aktionsforum baut Brücken zwi­ schen Familienwelt, Lebenswelt und Arbeitswelt. Dieses regionale Bündnis leistet einen wichtigen Beitrag zur Ent­ wicklung einer neuen sozialen Architek­

tur wie auch einer anderen Sozialkultur, in der es gelingen kann, die persönlichen und beruflichen Lebensverläufe neu zu gestalten. Harald Seehausen

Harald Seehausen, (1945) Dr. phil., Industriekaufmann, Grundschullehrer, Dipl. Pädagoge. Vater von zwei Söhnen. 25 Jahre tätig als Sozialforscher beim Deutschen Jugendinstitut e.V. mit dem Schwerpunkt Kindertageseinrichtungen. Seit 1999 Inhaber der Frankfurter Agentur für Innovation und Forschung. Initiator zahlreicher Väter-Projekte, insbesondere des Aktionsforums „Männer & Leben – Vereinbarkeit von Familie und Beruf“.

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Familie und Beruf

Plakatausstellung „Neue Väter“ Immer mehr Väter stellen sich die Fra­ ge, wie sie ihre beruflichen Ambitionen und ihr Familienleben besser in Einklang bringen können. Lediglich ein Viertel der Männer sagt, dass ihre berufliche Situa­ tion es ihnen erlaubt, den eigenen An­ sprüchen an die Vaterrolle voll gerecht zu werden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beschäftigt also längst nicht mehr nur Frauen. Gerade junge Männer haben den Wunsch, die Entwicklung ihrer Kinder enger zu begleiten. Männer wol­ len nicht nur „Ernährer“ ihrer Kinder sein, sondern diese auch erleben und erziehen. Auf dem Weg vom Wunsch zur Verwirk­ lichung liegen noch zahlreiche Hindernis­ se. Doch der Trend spricht für „aktive“ oder „neue“ Väter: Inzwischen beantragt fast jeder vierte Vater in Deutschland El­ terngeld im Rahmen der Elternzeit. Bilder zum neuen Rollenbild Seit 2003 fördert die hessenstiftung – familie hat zukunft Projekte im Bereich „Väter in Familie und Beruf“. Damit trägt sie zu einem Wandel im männlichen Rol­ lenverständnis bei. Sie unterstützt eine moderne betriebliche Personalpolitik, die beim Stichwort „Familienfreundlichkeit“ nicht nur an Frauen denkt, und sie be­ stärkt Eltern, die das Bedürfnis ihrer Kin­ der nach gemeinsamer Zeit mit beiden Bezugspersonen erfüllen wollen. Nach Jahren, in denen das Thema vor allem diskursiv und argumentativ auf Ta­ gungen erörtert und in Einzelprojekten umgesetzt wurde, fiel die Entscheidung, über eine Kommunikationsmaßnahme humorvoll und plakativ für ein erwei­ tertes männliches Rollenbild zu werben. Engagierte Vaterschaft und Elternzeit

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Plakatentwurf Anja Adamski

für Väter waren als Megathemen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nur fehlte weithin das Bild(material) zum neuen Rollenbild. Bilder die ins Auge ste­ chen und im Kopf hängen bleiben. Die Idee war es, plakative Bilder im Wort­ sinn zu schaffen, die dann auch gezeigt, plakatiert und auf vielfältige Weise ge­ nutzt werden sollten. Die Kommunika­ tionsmaßnahme wurde in drei Phasen konzipiert mit den Schwerpunkten Ent­ wurfswettbewerb, Wanderausstellung und internetbasierter Verbreitung. Phase 1 (2009): Entwurfswettbewerb • Ausschreibung zum Entwurfswettbe­ werb


Familie und Beruf

• Auswahl der Top Ten für eine Plakatausstellung • Plakatierung des Siegerentwurfes • Fotowettbewerb parallel zur Plakatierung • Kostenreduzierung durch Einbindung von Kooperationspartnern Der geplante Plakatwettbewerb sollte der hessenstiftung – familie hat zukunft bei ihrer Aufgabe helfen, Politik und Ge­ sellschaft zu beraten, wie Familie in Zu­ kunft gelingen kann. Dazu zählt sie die Rollenerweiterung für Männer im Sinne einer engagierten Vaterschaft. Sie wird von vielen jungen Männern gewünscht, in der Familienbeziehung dann aber nicht unbedingt eingelöst. Hemmende Fakto­ ren sind u. a. die verbesserungsfähige Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Deutschland, das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen und die vorherr­ schende Unternehmenskultur. Deshalb sollten sowohl Männer wie auch Unter­ nehmen zum Thema weiter informiert und sensibilisiert werden. Anfang 2009 wurde ein Entwurfswett­ bewerb ausgeschrieben. Für die Plaka­ tentwürfe hat sich die hessenstiftung – familie hat zukunft bewusst nicht an professionelle Agenturen gewandt, son­ dern Nachwuchsgrafiker angesprochen und mit der Frage der Ausgestaltung der Rolle in Familie, Beruf und Wohnungs­ planung konfrontiert. Der Wettbewerb richtete sich an Studierende der hessi­ schen Universitäten und Fachhochschu­ len, aber auch Schülerinnen und Schüler an der Berufsschule, Fachrichtung Me­ diengestalter, und nicht zuletzt dieje­ nigen, die in Sekundarstufe II Kunst als Leistungskurs gewählt haben. Ihre Auf­

gabenstellung war es, ein pfiffiges Plakat mit einem griffigen Slogan zu gestalten. Plakate mit Bildern von engagierten Vä­ tern, von Männern in ungewohnten Rol­ len, die untypische Aufgaben meistern, sollen in der Öffentlichkeit erneut Auf­ merksamkeit erregen und vom Personal­ chef bis hin zum werdenden Elternpaar das Gespräch anregen. Bis zum 20. Mai 2009 waren 30 Arbeiten in der Geschäftsstelle eingegangen. Von den eingereichten Arbeiten kamen bis­ her 4 aus dem Bereich Ausbildung in ei­ ner Werbeagentur. 13 Arbeiten stamm­ ten von Schülern eines Gymnasiums, 10 Arbeiten von Schülern einer Berufsschu­ le, 2 Arbeiten wurden von freien Teilneh­ mern und 1 Arbeit von einer Realschule eingereicht. Die zehn besten Plakate des Entwurfs­ wettbewerbs, ausgewählt von einer fünfköpfigen Jury, wurden von der Stif­ tung in einer Ausstellung zusammenge­ fasst. Die Wanderausstellung zum The­ ma „Neue Väter“ wurde im Juni 2009 beim 5. Hessischen Familientag in Kor­ bach eröffnet. Für die Ausstellung wurde ein Ausstellungssystem von der Fa. Gar­ reis, Geisenheim/Rheingau erworben. Mangels Platz- und Personalkapazität wurde auch der Lager-, Transport- und Aufbauservice von der Agentur einge­ kauft. Sponsor der Ausstellung in den Filialen hessischer Sparkassen war die Landesbausparkasse Hessen-Thüringen. Die Wanderausstellung wurde bis No­ vember 2009 in 11 Städten gezeigt: Kor­ bach, Eschwege, Fulda, Bad Hersfeld, Villmar, Friedberg, Langen, Griesheim, Offenbach, Heppenheim und Höchst. Die jeweilige Eröffnung bot Anlass für

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Familie und Beruf

eine lokale Pressebegleitung, die den Aufmerksamkeitswert weiter erhöhte. Plakatierung auf Litfaßsäule und Fotowettbewerb Innerhalb der zehn besten Plakatentwür­ fe wurde ein Siegerplakat gekürt. Die Jury befand, dass es der Gymnasiastin Katharina Elert aus Fulda mit ihrem Pla­ kat „Traumjob“ hervorragend gelungen sei, humorvoll ein typisches Männerbild aufzugreifen und zu verfremden. Mit dem Slogan „Traumjob – Nimm Dir die Vaterzeit!“ wirbt das Plakat auf sympa­ thische Weise dafür, sich mehr Zeit für Kinder zu nehmen. Das Siegerplakat wurde im September an ausgewählte Litfaßsäulen in ganz Hessen geklebt. Für

Plakatentwurf Katharina Elert

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die Plakatierung kooperierte die Stiftung mit der Ströer DSM GmbH, die auf die Bezahlung des Mediawertes verzichtete. Für eine Dekade wurde das Siegerplakat an Litfaßsäulen in 215 hessischen Ge­ meinden geklebt. Aufgrund der Ende 2009 krisenbedingten geringen Nachfra­ ge nach Werbeflächen blieben die Plaka­ te weit über diese Dekade von Septem­ ber bis Dezember hängen. Parallel zur Plakatierung wurde ein Fo­ towettbewerb als Such- und Gewinn­ spiel für den Zeitraum vom 1. bis 17. September 2009 ausgeschrieben. Der Slogan „Suchen – Knipsen – Gewinnen“ beschrieb die Aufgabe, in der eigenen Stadt auf Suche nach dem Plakat „Traum­ job“ zu gehen und es zu fotografieren. Gleichzeitig sollte als Kommentar zum Plakat der Satz ergänzt werden: „Va­ tersein ist Traumjob, weil …“ Unter den Einsendern wurden attraktive Preise aus­ gelost, die von namhaften Unternehmen akquiriert worden waren. Bis zum 20. September waren 31 Fotos mit Text ein­ gesandt worden, unter denen die zehn Gewinne verlost wurden. Mit den Fotos war zugleich eine kleine Dokumentation der zeitlich befristeten Klebung auf den Litfaßsäulen entstanden. Phase 2 (2010): Wanderausstellung • Dauerhafte Wanderausstellung mit Aus­leihmöglichkeit • Events zur jeweiligen Ausstellungseröffnung • Druck der Plakatmotive als Kalender • Kostenreduzierung durch Landeszuwendung • Umlage der laufenden Kosten auf Ausleihgebühr


Familie und Beruf

Nachdem die Ausstellung mit Hilfe des Kooperationspartners, der Landesbau­ sparkasse durch elf Sparkassen getourt war, musste der Fortgang der Wan­ derausstellung auf neue Beine gestellt werden. Seit November 2009 bietet die Hessenstiftung darum die Ausstellung „Neue Väter“ in zwei Versionen zur Aus­ leihe an. Die Ausleihgebühren decken die laufenden Kosten. Bei der Basisversion erhält die ausleihende Institution die in Aluklapprahmen gefassten Plakate in ei­ nem Transportkoffer und sorgt selbst für die Anbringung. Bei der Premiumversion handelt es sich um einen Komplettser­ vice durch die Promotion-Agentur Garr­ eis aus Geisenheim, die Anlieferung und Aufbau sowie Abbau und Rücktransport des repräsentativen Standsystems aus einer Hand erledigt. Zur Bewerbung der Ausleihe wurde ein Flyer mit allen Mo­ tiven der Ausstellung gedruckt und ein Aufsteller für Standauftritte der Hessen­ stiftung produziert. Verstärkt sollten nun Personaler und Per­ sonalentwickler gewonnen werden, die die Ausstellung für ihr Unternehmen aus­ leihen und für die Themen „Work-LifeBalance“, „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, „Chancengleichheit“ oder „Di­ versity“ nutzen wollen. Weiterhin sollte mit der Ausstellung auch die breite Öf­ fentlichkeit angesprochen werden. Dafür werden Rathäuser, soziale Einrichtungen, Kirchen, Gleichstellungsbeauftragte etc. angesprochen. Die Ausstellung war das ganze Jahr 2010 ausgebucht. Unternehmen wie Boehrin­ ger Ingelheim zählten genauso zu den Ausleihern wie der Playmobil Funpark oder die Jahrestagung der Deutschen

Liga für das Kind in München. Dank wei­ terer Drittmittel wie auch Zuwendungen des Landes Hessen konnte die Hessen­ stiftung mit attraktiven Eröffnungsver­ anstaltungen oder Rahmenprogrammen aufwarten. Im Rahmenprogramm zur Ausstellung in Eltville im Dezember 2009 wurde sowohl das A-Capella-Quartett „Die Schmachtigallen“ mit seinem ak­ tuellen Programm „Väter“ zu Gehör gebracht als auch eine Autorenlesung des Schauspielers Hans-Werner Mey­ er über seine Elternzeit („Durchs wilde Kindistan“) platziert. Ein weiterer Höhe­ punkt war die Ausstellung rund um den Internationalen Tag der Familie am 15. Mai 2010 im Hessischen Landtag. Die Vorstandsvorsitzende, Staatssekretärin Müller-Klepper gab in der Mittagspause der Plenarsitzung den anwesenden Ab­ geordneten eine Einführung in die Aus­ stellung und Motive. Aufgrund der guten Resonanz auf die Bildmotive sollten diese auch in anderer Form Interessierten zugänglich gemacht werden. Als ersten Schritt auf diesem Weg erhielten die Kooperationspartner der Hessenstiftung in Politik, Gremien und Projekten einen Wandkalender 2010 mit den Motiven der Plakatausstellung. Der Kalender wurde Ende 2009 mit der Weihnachtpost an ca. 250 Partner der Hessenstiftung verschickt. Phase 3 (2010 und 2011): internetbasierte Verbreitung • Druck der Plakatmotive als Postkartenkalender • Weitergabe der Motive an Dritte • Verbreitung der Motive im Internet und über social media

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• Angebot der Motive als E-Card (digitale Grußkarte) • Kostenbeteiligung durch Verkauf Die Plakatmotive wurden für die He­ rausgabe eines Postkartenkalenders 2011 verwendet, der in einer Auflage von 1.000 Stück gedruckt wurde. Der Kalender wurde zu einem Drittel ausge­ wählten Stiftungspartnern in die Weih­ nachtspost 2010 gegeben. Ein weiteres Drittel konnte kostendeckend an Inter­ essenten verkauft werden. Mit dem Ka­ lender konnten die Nutzer das Anliegen der Ausstellung aufgreifen und bekannt machen, indem sie Postkarten des Ka­ lenders heraustrennen und an Freunde verschicken konnten. Immer wieder wurden Anfragen von Dritten an die Geschäftsstelle herange­ tragen, das eine oder andere Bildmotiv für Bücher, Flyer, Newsletter verwenden zu dürfen. Nach Rücksprache mit den jeweiligen Grafikerinnen wegen eines in diesem Falle fälligen Honorars wurde dem Wunsch im einen oder anderen Fall entsprochen. Beispielhaft sei das Religi­ onsbuch für die 8. Klasse an Gymnasien Buch „Ortwechsel – Standpunkt(e)“ ge­ nannt (München, Claudius Verlag 2010), das auf S. 83 das Plakatmotiv „Traumjob in der Gegenüberstellung zu einem Wer­ bebild mit Familie aus den 1950er Jahren verwendet. Bereits seit 2010 ist die Plakatausstellung auch online auf der Website der Hessen­ stiftung zu sehen(http://bit.ly/3Wc30o ). Im Zuge des wachsenden Engagement der Stiftung in den sozialen Netzwerken wurden die Motive seit 2009 auf Twit­ ter gezeigt und im Jahr 2011 auch auf Facebook (http://on.fb.me/pVKyYn ). Die

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Plakatentwurf Angela Kress

Plakatausstellung war der erste Bereich, den die Stiftung twitterte, sei es zum Entwurfswettbewerb, zum Fotowettbe­ werb oder zu den einzelnen Motiven. Derzeit ist eine Erweiterung des onlineAngebots um eine digitale Grußkarte (eCard) in Arbeit. Ergebnis in Kennzahlen Die Plakatausstellung wurde in 2009 von Juni bis November gemeinsam mit der Landesbausparkasse Hessen-Thüringen jeweils für 14 Tage an 11 Standorten gezeigt. Danach konnte die Ausstellung ausgeliehen werden. Ab Dezember 2009 und in 2010 machten 15 Institutionen und Unternehmen für jeweils 4 Wochen davon Gebrauch. 2011 wurde die Aus­


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stellung bis Ende August von 8 Institutio­ nen und Unternehmen für jeweils 4 Wo­ chen ausgeliehen. Besucherzahlen liegen uns keine vor. Diese sind für eine Aus­ stellung, die sich z.T. in Sparkassen- oder Rathausfoyers an Laufpublikum richtete, schwierig zu erheben. Das Ziel, eine breite Öffentlichkeit für den männlichen Rollenwandel zu inte­ ressieren, wurde auch durch eine gute Resonanz in den Medien erreicht. Die Berichterstattungen machten sich in der Regel an einer Ausstellungseröffnung fest. Für 2009 zählen wir 21 Artikel, für 2010 wieder 21 Artikel und für 2011(wie­ der bis Ende August) 10 Artikel in der Ta­ gespresse. Die Plakatausstellung „Neue Väter“ wurde im Oktober 2011 für den „KOM­ PASS“, den Kommunikationspreis des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, nominiert. Ulrich Kuther

Ulrich Kuther, (1963), Dr. phil., Theologe und Stiftungsmanager, ist Vater seit 2004 und verheiratet. Seit 2004 führt er im Auftrag der Karl Kübel Stiftung die Geschäfte der hessenstiftung – familie hat zukunft.

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10 Jahre FamilienAtlas Das große Informations- und Service-Angebot für Familien in Hessen „Der FamilienAtlas“, so erklärt es der Hessische Sozialminister Stefan Grüttner, „ist als aktuelles Informationsmedium für Familien in Hessen nicht mehr wegzuden­ ken. Es gibt gerade bei jungen Familien ein hohes Bedürfnis nach zuverlässigen Informationen und das wird von der Hes­ sischen Landesregierung mit dem Fami­ lienAtlas auch in Zukunft weiter erfüllt.“ Es war eine bundesweite Premiere, die im März 2001 der interessierten Öffentlich­ keit im Hessischen Landtag präsentiert wurde. Erstmals ging ein Informationsund Serviceangebot an den Start, das alle familienbezogenen Einrichtungen, Pro­ gramme und Dienstleistungen eines Bun­ deslandes zusammenführt und im Internet zugänglich macht – der FamilienAtlas. Das moderne Nachschlagewerk entstand im Rahmen der Familienpolitischen Offensive der Landesregierung als weiterer Schritt auf dem Weg zu einem familienfreundli­ chen Hessen. Technische Plattform für das Portal ist bis heute das Sozialnetz Hessen. Unterstützung durch die Hessenstiftung Schon zwei Jahre später, 2003, fand der FamilienAtlas mit der hessenstiftung – familie hat zukunft einen Partner, der den weiteren Ausbau des Angebots tat­ kräftig unterstützte. Die Stiftung führte eine Nutzerbefragung durch, um den Auftritt noch näher an die Bedürfnisse der hessischen Familien heranzuführen und sein Profil zu schärfen. Dabei kam heraus, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer des FamilienAtlas vor allem drei Dinge wünschen: fundierte Informatio­ nen, die Möglichkeit zur aktiven Teilnah­ me im Dialog sowie verlässliche Service­

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Die Homepage vor 10 Jahren

Der FamilienAtlas heute

adressen und Veranstaltungshinweise. Diese Ergebnisse bildeten die Grundlage für einen umfassenden ‚Relaunch‘ des Portals. Im Jahr 2005 bekam der Familie­ nAtlas das Gesicht, das auch heute noch aktuell ist. Durch die kontinuierliche Unterstützung der Hessenstiftung konnte das Angebot seither deutlich ausgebaut werden. Mitt­ lerweile enthält der FamilienAtlas in seinen neun Themenbereichen über 220 Artikel, die sich an alle Generationen wenden und alle Lebenslagen berücksichtigen. Bei den Nutzern besonders gefragt sind Informa­ tionen zum Elterngeld. Dies zeigen nicht zuletzt die zahlreichen E-Mails, die bei der FamilienAtlas-Redaktion eintreffen.


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Die wichtigsten Fragen und Antworten zu diesem Thema hat die Redaktion auf einer eigenen Seite im Portal zusammen­ gestellt, die laufend aktualisiert wird. Einblicke ins Familienleben Ergänzt werden diese Basisinformationen durch aktuelle Meldungen und Veranstal­ tungshinweise im FamilienMagazin. Mehr als 1.000 Veranstaltungen sind von den Nutzern und der Redaktion im Laufe der vergangenen zehn Jahre veröffentlicht worden – vom Flohmarkt bis zum Famili­ entag. Das FamilienMagazin blickt jedoch auch immer wieder über die Tagesaktu­ alität hinaus: Im „Thema des Monats“ erscheinen regelmäßig Hintergrundarti­ kel der FamilienAtlas-Redaktion, die zur Diskussion anregen sollen. Persönliche Einblicke in das Leben hessischer Familien bietet die Rubrik „Familien im Porträt“. Hier kommen Väter in Teilzeit, alleiner­ ziehende Mütter oder Patchworkfamilien zu Wort und erzählen aus ihrem Alltag – weitere Beiträge sind erwünscht! Adressbuch auf Wachstumskurs Kernstück des Serviceangebots ist und bleibt das Adressbuch. Auf rund 8.000 Adressen ist der Bestand inzwischen an­ gewachsen. Ämter, Beratungsstellen und vor allem Kinderbetreuungseinrichtungen lassen sich per Postleitzahl wohnortnah heraussuchen. Demnächst wird der Fa­ milienAtlas von einer technischen Erwei­ terung des Sozialnetzes profitieren – die Einbindung einer Hessenkarte mit GoogleMaps-Funktionalität soll die Adresssuche noch einfacher und komfortabler machen. Präsent ist der FamilienAtlas übrigens nicht nur im Netz, sondern regelmäßig auch auf

großen Veranstaltungen in Hessen. Wer in den vergangenen Jahren den Hessischen Familientag oder den Hessentag besucht hat, wird dort vielleicht schon einmal dem FamilienAtlas-Stand begegnet sein. Was der FamilienAtlas nicht ist Viele E-Mails schreiben unsere Nutzer, und manchmal müssen wir sie enttäu­ schen. Man kann den FamilienAtlas nicht kaufen, nicht herunterladen, nicht auf Papier lesen, er hat nichts mit der gleichnamigen Studie zu tun, die die Familienfreundlichkeit deutscher Städte untersucht, und er ist auch kein Instru­ ment zur Erforschung der persönlichen Familienhistorie. Der FamilienAtlas ist und bleibt das große Informations- und Service-Angebot für Familien in Hessen. Gerd Brünig / Marlis Butenschön /  David Promies

Gerd Brünig, ist geschäftsführender Gesellschafter der VorSicht GmbH – Atelier für Kommunikation Marlis Butenschön, Referentin in der Abteilung Familie des Hessischen Sozialministeriums. David Promies, Multimedia-Entwickler und Online-Redakteur (u.a. für den FamilienAtlas)

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Studien

Die Kunst des Fragens Kinderbarometer Hessen Wenn Kinder in Hessen an den Schalt­ stellen der Macht säßen, würden sie sich um Umwelt- und Naturschutz, Armut und Bildungspolitik kümmern. Im Jahr 2007 darüber hinaus insbesondere um den Klimaschutz und G8 (Verkürzung der Gymnasialzeit auf 8 Jahre). Bei sol­ chen Antworten von Kindern im Alter zwischen 9 und 14 Jahren kann nicht mehr von Kindheit als Raum der behüte­ ten Entfaltung gesprochen werden, wie sie in der Romantik gesehen wurde (vgl. Behnken/Zinnecker 2001). Selbst wenig romantisch denkende Menschen werden hier aufhorchen und weitere Fragen stel­ len. Genau dies führt PROKIDS mit Hilfe des Kinderbarometers Hessen seit 2004 durch. Seitdem werden regelmäßig Kin­ der repräsentativ für das Land Hessen im Auftrag der hessenstiftung – familie hat zukunft befragt. Über 2000 Schülerinnen und Schüler der 4. bis 7. Schulklassen ge­ ben zu allen wichtigen Lebensbereichen Auskunft, mit dem Ziel die kindliche Per­

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spektive als gleichberechtigte Perspekti­ ve in die gesellschaftliche Diskussion ein­ zubringen. Als konsequente Umsetzung des Paradigmenwechsels, das Kinder als vollwertige Mitglieder einer Gesellschaft begriffen werden, die in einer Lebens­ phase leben, die sich eindeutig vom Erwachsensein, der Jugend und dem Alter abhebt und in der sie die eigent­ lichen Expertinnen und Experten sind, werden diese selbst befragt. Sie werden als Menschen begriffen, die eine eigene Lebensphase mit eigenen Regeln und Bedürfnissen durchschreiten, in der auch neue Regeln entstehen (vgl. KränzelNagel & Wilk, 2002). Sie werden nicht als Werdende (Erwachsene), sondern als Seiende betrachtet. Oftmals wird ver­ gessen, dass die eigene Kindheit bereits einige Jahrzehnte zurück liegt und sich die Umwelt seitdem drastisch verändert hat. War es vor hundert Jahren die Erfin­ dung des Automobils, so ist es nunmehr das Internet, das eine ganz neue Art der Auseinandersetzung mit der Umwelt fordert. Nahezu alle befragten Kinder in Hessen haben mittlerweile Zugriff auf einen Computer oder eine Spielkonsole. Der Handybesitz steigt von 43 % in der vierten Klasse auf 92 % in der siebten Klasse an. Diese Ergebnisse allein ma­ chen schon deutlich, dass die Rahmen­ bedingungen von Kindheit sich komplett verändert haben und dass Kinder nun als Kulturschaffende agieren müssen, da es zu diesen Rahmenbedingungen keine Vorbilder gibt. So wird der Computer hauptsächlich zum Spielen, Surfen und Musik hören genutzt, wobei mit zuneh­ mendem Alter Chatten vermehrt durch­ geführt wird. Entgegen landläufiger Vor­


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urteile sind die Eltern in der Regel über die Inhalte der Nutzung informiert und damit einverstanden. Nur zur Dauer der Nutzung gibt es in den Familien Konflikt­ potential und dies bei den Jungen mehr als bei den Mädchen, Jungen nutzten aber auch häufiger diese Technik (Kin­ derbarometer Hessen, 2008). Das Wohlbefinden der Kinder erfassen Ein wichtiges Anliegen des Kinderbaro­ meters ist es, Kindermeinung zu sam­ meln, zu bündeln und in die politischen Gremien, in die Schulen sowie in die Familien zu tragen, als eines der umfas­ sendsten Beteiligungsprojekte in Hessen. Darüber hinaus ist es ein wichtiges Ziel, das aktuelle Wohlbefinden der Kinder zu erfassen, über die Jahre Veränderungen auszumachen und Aspekte aus dem Le­ ben der Kinder zu generieren, die dieses Wohlbefinden positiv und auch negativ beeinflussen und somit dem Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention (vgl. Ar­ tikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention) Rechnung zu tragen, in dem international vereinbart ist, dass bei allen Maßnahmen, die das Kind betreffen, das Kindeswohl im Mittelpunkt stehen muss. Denn wer kann besser darüber Auskunft geben, was ihm oder ihr gut tut, als die jeweils Betroffenen selbst? In diesem Sinne wird nicht mangelnde Nützlichkeit oder die Be­ drohung gesellschaftlicher Ordnung als Maßstab für die Qualität des kindlichen Wohlbefindens genutzt (vgl. Bühler-Nie­ derberger, 2011), sondern die subjektive Beurteilung der Kinder selbst (s. Abb. 1). So mag es manchen verblüffen zu le­ sen, dass ein Handybesitz allein keinen

Zusammenhang zum Wohlbefinden der Kinder zeigt, ebenso wenig wie die Höhe des Taschengeldes. Allerdings be­ richten Kinder, die mit der Höhe ihres Taschengeldes nicht einverstanden sind, von einem schlechteren Wohlbefinden (Kinderbarometer Hessen, 2008). Dies spricht für die Wichtigkeit des Dialogs mit Kindern. Genauso wie das Ergebnis, dass sich die Berufstätigkeit der Eltern an sich nicht auf das Wohlbefinden der Kin­ der auswirkt. Dagegen wirkt es sich aber durchweg positiv auf die gemeinsame Kommunikation aus, wenn berufstätige Eltern mit ihren Kindern über ihre Arbeit sprechen. Folglich wünschen sich nur sehr wenige Kinder, dass die Eltern we­ niger arbeiten gehen (Kinderbarometer Hessen, 2005).

Abbildung 1: D as Instrument zur Erfassung des Wohlbefindens

Ob Kinder aus Freude lernen? Insgesamt gesehen fühlen sich die meis­ ten Kinder in Hessen wohl. Fast zwei Drittel der Kinder haben ein „gutes“ oder „sehr gutes“ allgemeine Wohl­ befinden; allerdings gibt es auch einen (wenn auch geringen) Anteil an Kindern, die ihr Wohlbefinden im negativen Be­ reich einschätzen. Erschreckend an die­ sem Ergebnis ist allein die Tatsache, dass der Anteil der Kinder, die sich im Allge­ meinen oder aber in den einzelnen Le­ bensbereichen nicht wohl fühlen, über die Erhebungszeiträume (2004 bis 2008) gleich hoch bleibt. So bleibt auch der Anteil an Kindern, die sich in der Schu­

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le nicht wohl fühlen, mit 12 % über alle Erhebungsjahre ähnlich hoch und steigt mit zunehmendem Alter noch an. Einen großen Einfluss auf das schulische Wohl­ befinden, das bei den Mädchen positiver ausgeprägt ist als bei den Jungen, hat die Lernfreude. Dabei stimmen der Aussage, zu lernen, weil es Freude macht, nur 26 % der befragten Schülerinnen und Schüler zu und dabei vermehrt Kinder mit Mig­ rationshintergrund. Mit zunehmendem Alter nimmt Lernfreude als Lernmotiv ab und Pflichterfüllung zu. Den höchs­ ten Zustimmungsgrad erhält der As­ pekt, dass Lernen wichtig ist, gefolgt von der Motivation, den Unterrichtsstoff verstehen zu wollen. Allerdings wissen gleichzeitig 7 % der hessischen Kinder eigentlich nicht, wofür sie lernen, dabei überwiegt die Zahl der Jungen (s. Abb. 2). Kommt hier noch hinzu, dass es ihnen

persönlich nicht wichtig ist und sie nur lernen, weil es von ihnen verlangt wird, so zeigt sich ein negativer Zusammen­ hang zum schulischen, familialen und allgemeinen Wohlbefinden. So ergeht es auch Kindern, die nicht gerne ein Buch oder gar nicht lesen, dabei hat sich der Trend zu lesen über die Jahre erhöht. Fast 10 % mehr Kinder als im Jahr 2006 lesen 2007 gerne ein Buch. Das Lesen der Tageszeitung hat sich fast verdoppelt (Kinderbarometer Hessen, 2008). Dabei sind die übrigen bevorzugten Freizeitinteressen der hessischen Kinder überaus erwartungsgemäß. Sich treffen, ins Schwimmbad gehen und Musik hö­ ren sind die liebsten Freizeitaktivitäten. Während Mädchen Lesen oder Kasset­ te hören, sehen die Jungen lieber Fern und spielen lieber am Computer. Mit zunehmendem Alter verschieben sich

Abb. 2: L ernmotive der Kinder (Zustimmung und Ablehnung in Prozent)

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die liebsten Freizeitaktivitäten, so stei­ gen beispielsweise der Fernseher und der Computer in der Beliebtheitsskala, während die Spielplatznutzung und Le­ sen unattraktiver werden. Skaten und im Garten spielen ist bei den Kindern aus den Dörfern beliebter als bei Großstadt­ kindern. Dabei kann die Mehrzahl aller befragten Kinder gut draußen spielen und der Anteil an Natur in der Wohn­ umgebung wird relativ hoch eingestuft. Nichts desto Trotz haben nicht einmal drei Viertel aller Kinder regelmäßige Er­ lebnisse in der Natur, unabhängig von der Wohnortgröße. Dabei sind die Orte, an denen Kinder Natur erleben können, nach eigenen Angaben, vielfältig: Wäl­ der, Wiesen und Felder sowie der eigene Garten stehen mehr als drei Viertel der Kinder zur Verfügung. Dennoch haben ein Viertel der hessischen Kinder den Wunsch, häufiger in der Natur zu sein. Interessanterweise sind das eher die Kin­ der, die sowieso schon häufiger Erlebnis­ se dort haben. Naturerleben scheint also ein positiver Verstärker zu sein (Kinder­ barometer Hessen, 2008). Wenn ich König von Deutschland wär‘ 7 % der Kinder nennen den Klimaschutz als erste Maßnahme, die sie angehen würden, wenn sie Politiker oder Politike­ rin wären. Abgesehen von der Tatsache, dass die Klimaschutzdiskussion bereits im Jahr 2007 – ein vom allgemeinen Natur- und Umweltschutz durchaus als separat zu betrachtender Aspekt – die Kinderzimmertüren passiert hat, löst sie bei den Kindern ein schlechtes Ge­ wissen und Angst aus. Die Angst bleibt

mit zunehmendem Alter konstant, ver­ schlimmert sich aber, je mehr die Kin­ der die Diskussion um den Klimawandel verstehen, dabei verstehen knapp 30 % aller Kinder nicht, worum es bei der Dis­ Literatur Behnken, Imbke / Zinnecker, Jürgen (2001): ie Lebensgeschichte der Kinder und die Kindheit in der Lebensgeschichte. In: Behnken, Imbke & Zinnecker, Jürgen (Hrsg.): Kinder Kindheit Lebensgeschichte. Ein Handbuch. Seelze-Velber. Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung GmbH. (2001) Bühler-Niederberger, Doris (2011): Gute Kindheiten – Gute Kindheitsforschung. In: Wittmann, Svendy, Rauschenbach, Thomas, Leu, Hans Rudolf (Hrsg.): Kinder in Deutschland. Eine Bilanz empirischer Studien. Weinheim/ München. Juventa Verlag (2011) Hallmann Sylke / Beisenkamp, Anja /  Klöckner, Christian A. / Preißner, Claudia (2008): Kinderbarometer Hessen. Bensheim: hessenstiftung – familie hat zukunft Klöckner, Christian A. / Beisenkamp, Anja /  Oganowski, Theresa. (2005): Kinderbarometer Hessen. Bensheim: hessenstiftung – familie hat zukunft Klöckner, Christian A. / Beisenkamp, Anja / Hallmann, Sylke (2006): Kinderbarometer Hessen. Bensheim: hessenstiftung – familie hat zukunft Kränzel-Nagl, Renate / Wilk, Liselotte (2000): Möglichkeiten und Grenzen standardisierter Befragungen unter besonderer Berücksichtigung der Faktoren sozialer und personaler Wünschbarkeit. In: Heinzel, Friederike (Hrsg.): Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Band 18. Weinheim/München. Juventa Verlag(2000)

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kussion um den Klimawandel eigentlich geht. Je mehr die Kinder von der Diskus­ sion zum Klimawandel verstehen, umso größer ist außerdem ihr schlechtes Ge­ wissen. Wer jetzt dem Impuls nachge­ ben möchte Kinder von dieser Diskussion fern halten zu wollen, damit diese weder Angst noch ein schlechtes Gewissen be­ kommen, sei daran erinnert, dass in na­ hezu jedem Kinderzimmer ein Fernseher steht und 93 % der Kinder in der vierten Klasse den Zugriff auf einen Computer haben, so dass das Fernhalten eher eine Illusion ist. Vielmehr geht es darum, die Kinder mit diesen Themen nicht alleine zu lassen und sie zu begleiten. Diese Beispiele sollen deutlich machen, dass es nicht nur internationales Recht von Kindern ist, gehört zu werden, wenn es um ihre Belange geht (vgl. Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention), son­ dern, dass es auch ein spannendes Un­ terfangen ist, da viele Antworten uns doch mehr verblüffen als wir dachten. Anja Beisenkamp / Sylke Hallmann

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Anja Beisenkamp, Dipl-Psych., ist Leiterin des PROSOZ Institutes für Sozialforschung und arbeitet seit 1997 im Bereich der angewandten Kindheitsforschung auch bekannt unter PROKIDS. Weitere Tätigkeitsfelder: Organisationsentwicklungsforschung und Bildungsforschung. Sylke Hallmann, (1970), Dipl.-Psych., Studium der Psychologie in Münster und Bochum. Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim PROSOZ Institut für Sozialforschung. Tätigkeitsschwerpunkte: Kindheits- und Jugendforschung, Inklusion, Evaluation www.prosoz.de


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Studieren und Forschen mit Kind Ein Modellprojekt zur frühen Familiengründung Die Entzerrung der Rush Hour im Lebensverlauf Frauen und Männer mit einer akade­ mischen Ausbildung beginnen heute in Deutschland im Alter von ca. 28 Jahren mit der Suche nach einem erfolgreichen Berufseinstieg. Diese Phase hat sich un­ ter der andauernden schwierigen Ar­ beitsmarktlage zu einem eigenständigen Lebensabschnitt entwickelt, der immer öfter durch befristete Arbeitsverträge, Zeiten der Arbeitslosigkeit und hohe Anforderungen an berufliche Mobilität und Einsatzbereitschaft gekennzeichnet ist. Eine verlässliche ökonomische Ba­ sis ist jedoch für viele junge Paare eine wichtige Voraussetzung für die Grün­ dung einer Familie. Hinzu kommen tra­ dierte Kultur- und Rollenmuster: Kinder zu haben galt in Westdeutschland über mehrere Jahrzehnte als Privatsache, die „gute Mutter“ hatte sich der RundumBetreuung für ihr Kind zu verschreiben oder allenfalls “nebenbei” in Teilzeit zu arbeiten. Erst seit wenigen Jahren wird in Deutschland ein familienpolitischer Para­ digmenwechsel vollzogen, denn akade­ misch ausgebildete Frauen sind immer weniger bereit, diesem Bild zu entspre­ chen und möchten ihren Wunsch nach einem Leben mit Kindern mit einer an­ spruchsvollen Berufstätigkeit verbinden (Meier-Gräwe 2007). Vor diesem Hintergrund werden aller­ dings vorhandene Kinderwünsche tem­ porär aufgeschoben und das biogra­ phische Zeitfenster für eine Elternschaft verengt sich rapide. Im Zusammen­ spiel dieser Faktoren und Bedingungen kommt es zu einer „rush hour of life“ zwischen 30 und 35: eine berufliche

Konsolidierung und Weichenstellung für eine Karriere soll erreicht, gleichzei­ tig der Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft und die damit verbunde­ nen Erfordernisse des täglichen Zeitma­ nagements zwischen Beruf und Familie bewältigt werden – ein Balanceakt, den sich insbesondere Frauen mit einer aka­ demischen Ausbildung immer weniger zutrauen. Aber auch ihre Partner sind in dieser Frage zunehmend zögerlich. Damit bleiben paradoxerweise gerade diejenigen Bildungsgruppen immer häu­ figer zeitlebens ohne Kinder, die von ih­ ren Bildungsvoraussetzungen und ihren Berufsperspektiven ihren (potentiellen) Kindern gedeihliche Bedingungen des Aufwachsens bieten könnten. Unter geeigneten Rahmenbedingungen könnte eine Familiengründung in der Studienzeit das Dilemma der Statuspas­ sage Studium – Berufseintritt und Fami­ liengründung entschärfen. Eine Entzer­ rung des Lebensverlaufs wäre, so lautet eine zentrale These des 7. Familienbe­ richts der Bundesregierung, durch die gezielte Verbesserung der Bedingungen zur Vereinbarkeit von Studium, postgra­ dualen Ausbildungsphasen und Familien­ gründung möglich (BMFSFJ 2006). Studieren und Forschen mit Kind als Option Die hessenstiftung – familie hat zukunft hat diese Thematik mit der Förderung des vierjährigen Modellprojekts „Studie­ ren und Forschen mit Kind“ (2004-2008) am Lehrstuhl für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft der Universität Gießen aufgegriffen. Le­ diglich rund 7 Prozent der Studierenden

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und nur gut ein Viertel des wissenschaft­ lichen Mittelbaus haben Kinder, obwohl sich an Hochschulen fast ausschließlich Studierende und Promovierende zwi­ schen 20 und 40 Jahren aufhalten. Die kleine Gruppe der studierenden und pro­ movierenden Eltern bleibt weitgehend unsichtbar und versucht, die Vereinbar­ keit von Studium, Promotion, Kind (und Job) individuell zu bewältigen. Das Ziel des Projekts war es, Ansätze zu beschreiben, die eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Studium bzw. Promotion und Familie ermöglichen, diese in konkre­ ten Maßnahmen zu erproben und damit Anreize für eine Öffnung des biographi­ schen Zeitfensters für die Familiengrün­ dung zu schaffen (Hessenstiftung 2008). Im Rahmen einer Längsschnittstudie wurden die offensichtlichen Belastungen und Benachteiligungen derjenigen, die sich in ihrer akademischen Ausbildung

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(Studium/postgraduale Qualifizierung) für Kinder entschieden haben, in unter­ schiedlichen Handlungsfeldern mittels leitfadengestützter qualitativer Expertin­ nen- und Elterninterviews an den in Gie­ ßen ansässigen Hochschulen (Universität und Fachhochschule) ermittelt. Insge­ samt 20 studierende und promovierende Eltern wurden zu zwei Zeitpunkten zu den Umständen der Familiengründung, ihrer aktuellen Alltagsorganisation und ihren Zukunftsplänen befragt. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse konnten passgerechte und koordinierte Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Stu­ dium bzw. Promotion und Kind imple­ mentiert und evaluiert werden. Bei der Durchführung des Modellprojekts erwies es sich als außerordentlich zielfüh­ rend, von Anfang an eine intensive Koope­ rations- und Vernetzungsarbeit zwischen hochschulbezogenen Projekten und kommunalen Akteuren zu initiieren. So erfolgte paral­ lel zur Arbeit im Modellpro­ jekt eine Mitarbeit im „Gie­ ßener Bündnis für Familie“, aber auch die Begleitung des Auditierungsverfahrens „Familiengerechte Hoch­ schule“ der Justus-LiebigUniversität und eine konti­ nuierliche Zusammenarbeit mit dem Studentenwerk und dessen Netzwerk „Studieren mit Kind“ (Hessenstiftung 2008). Die Gespräche mit Exper­ tinnen und Experten unter­ schiedlicher Einrichtungen haben die These, dass es


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nicht „die“ studierenden und promovie­ renden Eltern mit Kind gibt, eindrucks­ voll bestätigt. Auch die Tiefeninterviews mit den betroffenen Eltern verweisen auf teilweise gravierende Unterschiede innerhalb und zwischen den Lebensla­ gen studierender und forschender Eltern. Dabei wurden insbesondere der Einfluss der Partnerschaftssituation und der Art des Studiengangs angesprochen, aber auch die familiäre Unterstützung, Alter und Studienfortschritt der Eltern und nicht zuletzt die individuellen Einstellun­ gen und Fähigkeiten zur individuellen Le­ bensplanung und Gestaltung des famili­ ären Zusammenlebens (ebd.). Bei der Organisation der einzelnen Se­ mester stehen studentische und pro­ movierende Eltern vor gänzlich anderen Problemen als der „rundum verfügba­ re Normalstudierende“. Das Leben mit kleinen Kindern ist wenig vorhersehbar: Krankheit der Kinder, Ausfall der Betreu­ ung durch Schließtage im Kindergarten und Schulferien können das ohnehin eher fragile Betreuungsarrangement sehr schnell zum Einsturz bringen und z.B. den Besuch einer Lehrveranstaltung durch Überschreitung von Fehlterminen zunichtemachen. Als Erleichterung der Vereinbarkeit von Studium und Eltern­ schaft können daher Studienordnungen angesehen werden, die den Studieren­ den die Möglichkeit bieten, für das je­ weilige Semester ihre Studienbelastung ihren Bedürfnissen entsprechend wählen zu können. Dieses setzt eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der Reihenfolge und des Umfangs der zu absolvierenden Inhalte voraus. Als erschwert kann die Vereinbarkeit also in denjenigen Studi­

engängen betrachtet werden, in denen vorgegebene Stundenpläne strikt ein­ gehalten werden müssen. Eine Reduzie­ rung der Studienintensität mit dem Ziel, Ausbildung und die Sorgearbeit für den eigenen Nachwuchs miteinander zu ver­ binden, wird hier deutlich erschwert, u. a. weil teilweise die Zeiträume, in denen bestimmte Studienleistungen absolviert werden müssen, unverrückbar festgelegt sind. Auch die zeitliche Lage der einzel­ nen Veranstaltungen fällt ins Gewicht. So ist es für studierende Eltern selbst dann, wenn sie für ihre Kinder auf eine Ganztagsbetreuung zurückgreifen kön­ nen schwierig, Veranstaltungen zu bele­ gen, die nach 16 Uhr enden (ebd.). Als höchst unbefriedigend ist die finan­ zielle Situation von Studierenden mit Kind(ern) einzuschätzen und dies gilt in besonderem Maße für Alleinerziehende. Von der familienpolitischen Maßnahme des einkommensbezogenen Elterngel­ des profitieren studierende Eltern in der Regel nicht. Vielmehr erhalten nichter­ werbstätige Eltern seit dem 1. 1. 2007 lediglich 12 Monate lang den Mindest­ betrag von monatlich 300 Euro an staat­ licher Unterstützung zuzüglich Kinder­ geldes, während vor Inkrafttreten dieser familienpolitischen Maßnahme dieser Betrag 24 Monate lang gezahlt wurde. Wenn Studierende mit Kind kein BaföG erhalten, dann sind sie in dieser Lebens­ situation größtenteils auf die Unterstüt­ zung durch ihre Eltern angewiesen. So entsteht eine kaum zu bewältigende Dreifachbelastung durch Studium, Kind und Erwerbstätigkeit oder aber die not­ wendige Kombination aus verschiede­ nen staatlichen Transferleistungen (z. B.

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BaföG, Sozialgeld für das Kind, Wohn­ geld, Unterhalt), die einzeln bei ver­ schiedenen Ämtern beantragt werden müssen. Die dadurch gebundene Zeit für Antragstellung, Behördengänge und Schriftverkehr erschwert eine Konzentra­ tion auf das Studium. Außerdem haben studierende Eltern immer wieder davon berichtet, sich vor Behörden für ihre Si­ tuation rechtfertigen zu müssen. Eini­ ge wurden sogar zum Studienabbruch aufgefordert oder aber man unterstell­ te ihnen indirekt ein Verschweigen von Einkünften und verweigerte die Geneh­ migung bestimmter Leistungen unter Hinweis darauf, dass ihre Einnahmen zu gering seien (Müller 2007: 110). Die Ergebnisse der qualitativen Inter­ views haben gezeigt, dass eine verläss­ liche, qualitativ hochwertige und zeitlich flexible Kinderbetreuung – auch für un­ ter Dreijährige und Schulkinder – eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für eine gelingende Vereinbarkeit von Familiengründung und Studium darstellt. Sie wird von allen Befragten einstimmig als das wichtigste Problem- und Hand­ lungsfeld genannt. Um den unterschiedlichen zeitlichen Anforderungen von studierenden Eltern gerecht zu werden, wurde im Sommer 2006 in Kooperation der hessenstiftung – familie hat zukunft mit dem Studenten­ werk Gießen und Eltern helfen Eltern e.V. ein Tagesmütternetzwerk implementiert, welches im Anschluss an das Modellpro­ jekt und nach Auslaufen der Anschubfi­ nanzierung der hessenstiftung – familie hat zukunft von den beiden Gießener Partnern erfolgreich weitergeführt wird. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass

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dadurch dem Anliegen entsprochen werden konnte, Erkenntnisse und Anlie­ gen von Modellprojekten strukturell zu verstetigen. Das Tagesmütternetzwerk bietet eine gezielte Vermittlung indivi­ dueller und passgenauer Lösungen bei gesicherter Betreuungsqualität. Darüber hinaus erfolgte in der Maßnah­ menphase die exemplarische Einrichtung von drei Eltern-Kind-Zimmern sowie die Aufstockung der Platzangebote der Kinderbetreuung in zwei Gießener Kin­ dertagesstätten für Kinder von studie­ renden und promovierenden Eltern (Hes­ senstiftung 2008). Die gezielte Verbesserung der Rahmenbedingungen ist nötiger denn je Die Ergebnisse der im Rahmen des Mo­ dellprojekts “Studieren und Forschen mit Kind” durchgeführten Studie zei­ gen deutlich auf, wie unterschiedlich die Alltagssituationen der Zielgruppe im Einzelnen sind. Dennoch lassen sich für alle Familien zwei Kernprobleme benen­ nen, die die Vereinbarkeit von Studium bzw. Promotion und Familie ausmachen: die ausreichende und kontinuierliche Si­ cherung des Lebensunterhalts sowie die Zeitorganisation im Spannungsfeld zwi­ schen Hochschule, Kinderbetreuung und familiären Bedürfnissen. Die Diskussion um eine strukturelle Ver­ besserung der Vereinbarkeit von Familie und akademischer Qualifikation wird in der Hochschulpolitik und an den Hoch­ schulen selbst erst seit wenigen Jahren geführt. Sie fällt in eine Zeit, in der sich das deutsche Hochschulsystem in einem grundlegenden Wandlungsprozess be­


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findet, dessen Ergebnis sich unter ande­ rem in einer tiefgreifenden Veränderung der Studienbedingungen niederschlägt. Die Neustrukturierung des Studiums im Rahmen des Bologna-Prozesses hin zu modularisierten Studiengängen und gestuften Abschlüssen orientiert sich allerdings nach wie vor am ungebunde­ nen, in Vollzeit studierenden „Normal­ studenten“. Abweichungen davon, wie sie in den bisherigen Studienmodellen − wenn auch nicht problemlos − immerhin möglich waren, werden nunmehr durch eine stärkere Strukturierung und Forma­ lisierung erschwert. Dieses zeigt sich in unflexiblen Studienverlaufsplänen, er­ höhter Anwesenheitspflicht und einem Stundenplan, in dem Lehrveranstaltun­ gen bis in die Abendstunden hinein kei­ ne Seltenheit sind. Aufgrund dieser Ver­ änderungen in der Studienstruktur sind die studierenden Eltern mehr als bisher darauf angewiesen, dass ihre Interes­ sen in institutionalisierter Form berück­ sichtigt werden. Die institutionalisierte Herausforderung für Universitäten und Hochschulen besteht folglich darin, die Studiengänge ausreichend flexibel zu gestalten, so dass für jedes einzelne Se­ mester die Studienbedingungen den fa­ miliären Bedürfnissen angepasst werden können und damit ein Studium ohne all­ zu große zeitliche Verzögerungen absol­ viert werden kann. Der sinkende Anteil studierender El­ tern – von 7 auf 5 Prozent zwischen 2006 und 2009 (BMBF 2010) kann als ein Hinweis gedeutet werden, dass der Bologna-Prozess die in den vergange­ nen Jahren verstärkten Bemühungen der Hochschulen um eine Verbesserung der

Literatur (BMBF) Bundesministerium für Bildung und Forschung (2010): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland. 19. Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks, Berlin (BMFSFJ) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2006): 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, Drucksache 16/360, Berlin hessenstiftung – familie hat zukunft (Hrsg.) (2008): Modellprojekt „Studieren und Forschen mit Kind“ - Abschlussbericht. http://www.hessenstiftung.de/ index.php?article_id=33 Meier-Gräwe, Uta (2007): Kinderlosigkeit, „die gute Mutter“ und die Notwendigkeit eines nicht nur familienpolitischen Kurswechsels. In: Baer, S./ Lepperhoff, J. (Hrsg.): Gleichberechtigte Familien? Wissenschaftliche Diagnosen und politische Perspektiven. Beiträge aus dem GenderKompetenzZentrum der Humboldt-Universität Berlin, Band 3, Bielefeld, S. 69-89 Müller, Ines. (2007): Studieren mit Kind in Gießen – Situation und Ansätze zur Verbesserung der Vereinbarkeit. In: Cornelißen, W. /Fox, K. (Hrsg.): Studieren mit Kind. Die Vereinbarkeit von Studium und Elternschaft: Lebenssituationen, Maßnahmen und Handlungsperspektiven. Schriften des DJI: Gender, Wiesbaden, S. 107-115

Vereinbarkeit von Studium und wissen­ schaftlicher Tätigkeit mit Familienaufga­ ben gewissermaßen konterkariert. Um die Familiengründung während einer wissenschaftlichen Ausbildung zu einer echten Option werden zu lassen, bedarf es daher mehr denn je einer gezielten Verbesserung der Rahmenbedingun­

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gen für studierende Eltern im gesamten Hochschulsystem, aber auch der Inten­ sivierung von Kooperationsbeziehungen mit anderen kommunalen Akteuren. Nur dann werden sich Studierende als künf­ tige Mitglieder der Funktions- und Leis­ tungseliten häufiger für eine Familien­ gründung in der Ausbildung entscheiden (können).

Ines Müller, Dipl. oec. troph., 1997-2004 Studium der Ökotrophologie mit dem Schwerpunkt Haushaltwissenschaften an der Justus-LiebigUniversität Gießen, 2004-2009 Projektmitarbeiterin im Modellprojekt “Studieren und Forschen mit Kind” und Lehrtätigkeit an der

Uta Meier-Gräwe / Ines Müller

Professur für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft, 2007 Recherche und Redaktion des Praxisleitfa-

Uta Meier-Gräwe,

dens „Standortvorteil: familiengerechte Hochschu-

Prof. Dr., Lehrstuhl für

le“ im Auftrag der berufundfamilie gGmbH

Wirtschaftslehre des

seit 2009 Koordinatorin für die Weiterentwicklung

Privathaushalts und Fa-

der Kindertagesstätten zu Familienzentren im

milienwissenschaft Justus-

Jugendamt der Universitätsstadt Gießen.

Liebig-Universität Gießen, 2003-2005: Mitglied der Sachverständigenkommission zur Erstellung des 7. Familienberichts der Bundesregierung; seit Dez. 2002: 1. Vizepräsidentin der Deutschen Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft, seit Juli 2003: Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Jugendinstituts in München e.V., 2006-2009 Mitglied der Agendagruppe des Kompetenzzentrums „Familienbezogene Leistungen“ bei Familienministerin Dr. Ursula von der Leyen, 2008-2011 Mitglied der Sachverständigenkommission zur Erstellung des 1. Gleichstellungsberichts der Bundesregierung, seit 2010 Mitglied der Expertenkommission Familie der Bertelsmann-Stiftung, Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Familien-, Haushalts- und Geschlechtersoziologie, Nachhaltiges Haushalten, Armuts- und Zeitforschung.

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Berufsrückkehr und Wiedereinstieg von Müttern nach der Elternzeit Wie aus einer anderen Welt muten heu­ te die Ergebnisse einer Umfrage aus dem Jahr 1967 an, bei der nichtberufstätige Frauen gefragt wurden, ob sie vielleicht eine Berufstätigkeit aufnehmen oder in ihren früheren Beruf zurückkehren woll­ ten. Gerade einmal jede Sechste der jün­ geren Hausfrauen in Westdeutschland war damals an einer Berufstätigkeit in­ nerhalb der nächsten fünf Jahre interes­ siert; jede Zweite hatte sich darüber noch nie Gedanken gemacht (Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 2030, Juli 1967). Seither haben sich die Einstellungen der Bevölkerung wie auch die Erwerbsver­ hältnisse grundlegend verändert. Mit dem stetigen Anwachsen der Erwerbs­ tätigkeit von jüngeren Müttern, die im zurückliegenden Jahrzehnt noch einmal signifikant zunahm, hat sich auch in Westdeutschland ein neues Muster etab­ liert. Nachdem hier die Mutterrolle vor ei­ nem halben Jahrhundert noch meist mit dem Verzicht auf den Beruf verbunden war, sind heute die allermeisten Mütter bis zur Geburt eines Kindes berufstätig und unterbrechen ihre Berufstätigkeit dann für eine Weile zur Kinderbetreu­ ung. Dabei macht die Mehrzahl von den gesetzlichen Regelungen der Elternzeit Gebrauch, die das Aufrechterhalten des Arbeitsverhältnisses und eine beitrags­ freie Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung für eine Dauer von bis zu drei Jahren gewährleisten. Diese Vorgaben werden von den Müt­ tern zwar ganz unterschiedlich genutzt. Gemeinsam ist den meisten jedoch die Rückkehr in den Beruf. Wenn das jüngs­ te Kind erst einmal das Kindergarten­ alter erreicht hat, sind heute über zwei

Drittel der Mütter in Deutschland wie­ der berufstätig. Nur eine kleine Gruppe entscheidet sich noch dauerhaft für die Rolle der Hausfrau. Die Rückkehr in die Berufstätigkeit wird nicht allein aus materiellem Erwerbs­ interesse oder wegen der Bindung an den eigenen Beruf unternommen. Meist beeinflussen auch Wünsche nach (finan­ zieller) Unabhängigkeit, Selbstentfal­ tung, Kontakten und Bestätigung diese Entscheidung. Bedeutsam sind dabei zudem Wertvorstellungen und Rolleni­ deale, die Betreuungsmöglichkeiten, die besonderen Verhältnisse in der Familie, der bisherige Berufsverlauf und auch die im Umfeld erlebten Verhaltensmuster. Innerhalb dieses weiten Feldes mögli­ cher Motive und Einflussfaktoren stehen Mütter heute früher oder später vor der Frage, ob sie sich für eine kürzere oder eine längere Elternzeit entscheiden und wie sie ihren Wiedereinstieg gestalten. Allerdings hat dieser Angelpunkt der Berufsbiographie bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit jenseits von be­ rufsstatistischen Untersuchungen erfah­ ren. Gerade die Frage nach den Erfahrun­ gen der Mütter bei der Berufsrückkehr blieb unbeantwortet. Um hier mit em­ pirischen Informationen Bedürfnisse und mögliche Schwellenprobleme zu ermit­ teln, beauftragte die hessenstiftung – familie hat zukunft das Institut für Demos­ kopie Allensbach mit zwei Befragungen, bei denen der Wiedereinstieg sowohl aus der Sichtweise von Rückkehrerinnen wie auch aus der Perspektive von Unterneh­ mensverantwortlichen näher untersucht wurde. Im September 2007 befragte das Allensbacher Institut dazu mündlich-

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persönlich eine repräsentative Stichpro­ be von 571 Wiedereinsteigerinnen, die innerhalb der zurückliegenden drei Jahre nach einer Familienphase in eine Berufs­ tätigkeit zurückgekehrt waren. Im Früh­ jahr 2008 schloss sich eine telefonische Befragung unter 308 Personal- und Un­ ternehmensverantwortlichen in kleinen und mittleren Unternehmen (mit bis zu 250 Beschäftigten) an. Beide Umfragen wurden bundesweit durchgeführt; dabei unterschieden sich die erkennbaren Er­ gebnisse für das Bundesland Hessen nur geringfügig von den Ergebnissen in den übrigen westdeutschen Bundesländern. Die Abschlussberichte zu beiden Unter­ suchungen wurden durch die Hessenstif­ tung veröffentlicht und stehen im Inter­ netangebot der Stiftung zum Download bereit (http://www.hessenstiftung.de/ index.php?article_id=144). Die Hälfte war nach spätestens zwei Jahren zurückgekehrt – Meist Zufriedenheit mit dem Wiedereinstieg Insgesamt hatte etwa ein Viertel aller Rückkehrerinnen ihre Auszeit bereits ein Jahr nach der Geburt des Kindes beendet. Nach dem zweiten Jahr war schon etwa die Hälfte der Rückkehrerinnen wieder am Arbeitsplatz gewesen (49 Prozent). Am Ende der Drei-Jahres-Frist hatten gut zwei Drittel der Rückkehrerinnen wieder begonnen (68 Prozent). Über die Dauer der Arbeitsplatzgarantie hinaus war nur ein Drittel der späteren Rückkehrerinnen ohne Erwerbsarbeit geblieben, über sechs Jahre nur ein Sechstel. Die mittlere Dauer der Elternzeiten (Median) betrug 2 Jahre. Dabei zeigten sich ganz unterschiedliche

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Muster in West- und Ostdeutschland. Während im Westen nur etwa ein Viertel innerhalb eines Jahres zurückkehrte, wa­ ren in Ostdeutschland bereits 40 Prozent nach einem Jahr und fast drei Viertel nach zwei Jahren wieder zurück im Be­ trieb. Die mittlere Auszeit betrug hier 1,4 Jahre, in Westdeutschland dagegen 2,3 Jahre: Möglich ist diese Beibehaltung des seit den DDR-Zeiten üblichen Musters durch die in Ostdeutschland vergleichs­ weise gut ausgebauten Betreuungsein­ richtungen für Kinder unter 3 Jahren. Spürbar wirkte sich die Dauer der Auszeit auf das Gelingen des Wiedereinstiegs aus: Insgesamt 69 Prozent der Wiederein­ steigerinnen bewerteten ihre Berufsrück­ kehr alles in allem als gelungen; 26 Pro­ zent fällten ein negatives Gesamturteil. Rückkehrerinnen mit Auszeiten von mehr als drei Jahren bewerteten ihren Neustart jedoch weitaus häufiger als schlecht als jene, die schon früher in den Beruf zu­ rückgefunden hatten (Schaubild 1). Die sprunghafte Zunahme der Unzufrie­ denheit mit dem Wiedereinstieg nach einer Elternzeit von mehr als drei Jah­ ren entsteht, weil sich die Mütter nach Auslaufen der gesetzlichen Schutzfrist zu beträchtlichem Anteil einen neuen Arbeitsplatz suchen müssen (zwei Drittel der Langfrist-Aussteigerinnen). Dahinter steckt allerdings nur bei einem relativ ge­ ringen Teil der Befragten eine Kündigung durch den Arbeitgeber. Meist beenden die Langfrist-Aussteigerinnen selbst das Arbeitsverhältnis, weil sie nach drei Jah­ ren noch nicht wieder zurückkehren wol­ len, weil sie umgezogen sind usw. Die erneute Arbeitsplatzsuche ist dann oft schwierig und langwierig.


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Schaubild 1

Umentscheidungen und Informationsdefizite Ein ähnlich bedeutsamer Befund der Um­ frage ist, dass 42 Prozent der späteren Rückkehrerinnen sich eine etwas längere (28 Prozent) oder kürzere (24 Prozent) Auszeit gewünscht hätten, als sie dann verwirklicht wurde. Tatsächlich hatte jede Vierte die zunächst mit dem Arbeit­ geber ausgemachte Elternzeit nachträg­ lich verändert, wobei Verlängerungen etwas häufiger vorkamen als Verkürzun­ gen. Solche Verlängerungen auf Wunsch der Mütter (hier nicht eingeschlossen die Verlängerungen nach der Geburt weite­ rer Kinder) ergaben sich meist durch den Wunsch, mehr Zeit mit dem Kind zu ver­ bringen. Nachträgliche Veränderungen der zu­ nächst geplanten Elternzeiten sind also keineswegs seltene Ausnahmen. Da der­

artige Veränderungen der Elternzeit nur mit Zustimmung des Arbeitgebers mög­ lich sind, spiegelte die vergleichsweise große Zahl der zustande gekommenen Umentscheidungen das auch in der Un­ ternehmensumfrage erkennbare ernst­ hafte Bemühen vieler Unternehmen, den Bedürfnissen der jungen Mütter so weit wie möglich gerecht zu werden. Aller­ dings stellt sich angesichts der verbreite­ ten Wünsche nach etwas längeren oder kürzeren Elternzeiten zugleich die Frage, ob es nicht möglich wäre, die bereits jetzt erkennbare Flexibilität in diesem Be­ reich noch weiter zu vergrößern. Die Umentscheidungen zeigten aber auch Defizite an Planung vor der Eltern­ zeit. Nicht wenige der in der Umfrage geschilderten Probleme beim Wiederein­ stieg wären durch eine frühzeitige Klä­ rung mit dem Arbeitgeber zu vermeiden

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gewesen. Gerade die nicht ganz seltene Unzufriedenheit mit Arbeitszeiten und Wochenstundenzahlen in den ersten Wochen und Monaten nach der Rück­ kehr hätte sich durch die frühzeitige Planung eines schrittweisen Wiederein­ stiegs für manche der Befragten vermei­ den lassen. Solche Defizite an Planung hingen meist auch mit einem Defizit an Informationen zusammen. Häufiges Muster: Von Vollzeit zu Teilzeit - Oft Rückkehr zum früheren Arbeitgeber Bei vielen war der Wiedereinstieg mit einer Verkürzung der Arbeitszeiten ver­ bunden: Insgesamt hatten etwa zwei Drittel ihre Arbeitszeiten nach dem Wie­ dereinstieg verringert, knapp die Hälfte sogar beträchtlich. Nur 33 Prozent ar­ beiteten mit den gleichen Arbeitszeiten

wie vor der Unterbrechung oder sogar länger. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz bedeutete für den Großteil der Mütter den Wechsel von einer Vollzeit- auf eine Teilzeitstelle, wobei die halben und Vier­ telstellen deutlich häufiger waren als die Dreiviertelstellen. Generell verkürzten Mütter, die den Ar­ beitgeber gewechselt hatten, ihre Ar­ beitszeiten zu deutlich größerem Anteil als jene, die zum früheren Arbeitgeber zurückgekehrt waren. Dabei wirkte sich aus, dass viele Mütter eher einen Wech­ sel des Arbeitgebers akzeptieren als Ar­ beitsbedingungen und insbesondere Ar­ beitszeiten, die sich für sie nicht gut mit der Familie vereinbaren ließen. Lediglich in den neuen Bundesländern arbeiteten zum Umfragezeitpunkt 42 Prozent der Rückkehrerinnen in Vollzeit; im Durchschnitt betrug die Wochenar­

Schaubild 2

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beitszeit der Rückkehrerinnen dort 32 Stunden, in den alten Bundesländern 23 Stunden. Dabei berichteten die Mütter in den östlichen Bundesländern nicht häu­ figer als die Mütter in Westdeutschland über Probleme beim Wiedereinstieg. Fast zwei Drittel der Mütter (62 Prozent) waren zum früheren Arbeitgeber zurück­ gekehrt. Besonders häufig hatten Fach­ kräfte mit höheren Bildungsabschlüssen in den Betrieb zurückgefunden, in dem sie auch schon vor ihrer Elternschaft arbeiteten. 18 Prozent der Rückkehre­ rinnen insgesamt wurden nach dieser Rückkehr auf einen anderen Arbeitsplatz versetzt, 6 Prozent hatten beim früheren Arbeitgeber auch ohne eine Versetzung neue Arbeitsschwerpunkte erhalten (Schaubild 2). Wenigstens ein schwerwiegendes Problem bei der Rückkehr Wenn immerhin 30 Prozent der Rück­ kehrerinnen dachten, dass ihre Eltern­ zeit ihnen beruflich geschadet hätte, so stand dahinter oft die Wahrnehmung, im Beruf nicht mehr recht voranzukommen. Vorwiegend Teilzeitbeschäftigte hatten diesen Eindruck, insbesondere jene, die sich nach längerer Elternzeit einen neuen Arbeitgeber suchen mussten und dann eher weniger berufliche Verantwortung trugen, als sie es zuvor gewohnt waren. Solche Wahrnehmungen fanden sich je­ denfalls deutlich häufiger als die eher sel­ tene Unzufriedenheit von Versetzten mit dem neuen Arbeitsplatz. Beim Wiedereinstieg und in der ersten Phase danach ergeben sich für viele der Mütter aber auch unabhängig von der Frage nach den beruflichen Entwick­

lungsmöglichkeiten konkrete Probleme. Allerdings entstehen die Probleme an vielen unterschiedlichen Stellen: Unfle­ xible Arbeitszeiten und auch zu viele Wochenstunden in der Rückkehrphase hatten 41 Prozent der Rückkehrerinnen zu schaffen gemacht. Die hohen An­ forderungen der Arbeit sowie die neue Doppelbelastung durch Familie und Be­ ruf waren 37 Prozent schwergefallen, die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle 28 Prozent. 19 Prozent hatten zunächst keine geeigneten Betreuungsmöglich­ keiten für ihre Kinder finden können. 16 Prozent berichteten über Probleme mit Vorgesetzten oder Kollegen. Ins­ gesamt mussten über zwei Drittel der Rückkehrerinnen, 69 Prozent, bei ihrem Wiedereinstieg wenigstens eines dieser schwerwiegenden Probleme meistern. Hilfe durch Weiterbildung – Hohe Bedeutung der Betreuungsangebote Hilfe hatten sie dabei vor allem vom Part­ ner erhalten oder auch von befreunde­ ten Kolleginnen und Kollegen. Als hilf­ reich wurden jedoch auch die von den Unternehmen und Arbeitsämtern initi­ ierten Weiterbildungsangebote wahrge­ nommen, die immerhin 34 Prozent der Rückkehrerinnen genutzt hatten und die noch weitaus mehr Rückkehrerinnen gern genutzt hätten (weitere 41 Prozent). Die große Mehrheit der Teilnehmerinnen (63 Prozent) bewertete solche Weiterbil­ dungen als hilfreich für ihren Wiederein­ stieg (Schaubild 3). An vielen Stellen der Umfrage wurde sichtbar, dass die Betreuung der Kinder eine der zentralen Voraussetzungen für

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den Wiedereinstieg ist. Rund 90 Prozent der Rückkehrerinnen gaben an, dass ihre Kinder entweder eine Betreuungs­ einrichtung oder eine Schule besuchen. Zusätzlich konnten die allermeisten zur Kinderbetreuung auf die Hilfe von An­ gehörigen und auch Bekannten zu­ rückgreifen. Eine Betreuung der Kinder allein durch die Eltern kam in den Fa­ milien der Berufsrückkehrerinnen prak­ tisch nicht vor. Dieser Zusammenhang von Kinderbetreuung und Berufstätigkeit der Mütter war den Befragten durchaus bewusst. Auf die Schlussfrage, welche Veränderungen heute für eine bessere Berufsrückkehr von Frauen am dring­ lichsten seien, wurde weitaus am häu­ figsten eine Verbesserung der Betreu­ ungsangebote genannt (von 42 Prozent). Erst an zweiter Stelle stand den Befrag­ ten die Flexibilisierung der Arbeitszeiten vor Augen (21 Prozent).

Wertvolle Mitarbeiterinnen – Zuweilen nicht leicht einzusetzen Die Befragung der Unternehmensverant­ wortlichen in kleinen und mittleren Un­ ternehmen bestätigte die Aussagen der Rückkehrerinnen. Ebenso wie diese hat­ ten auch die meisten Arbeitgeber und Personalverantwortlichen den Eindruck, dass die Berufsrückkehrerinnen nach ih­ rer Rückkehr in der Regel effizienter und besser organisiert sind als zuvor (68 Pro­ zent). Auch deshalb gelten die Rückkeh­ rerinnen in den Unternehmen als wert­ volle Mitarbeiterinnen. Allerdings ist es in den Unternehmen oft nicht möglich, die Aufgaben der Mütter in Elternzeit ganz auf deren Kollegen zu verteilen und den Arbeitsplatz damit „freizuhalten“. In 70 Prozent der Unter­ nehmen mit Elternzeit-Erfahrungen wa­ ren schon Ersatzkräfte für die Mütter in Elternzeit eingestellt worden. Gerade für

Schaubild 3

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kleine Unternehmen ergeben sich durch Elternzeiten von Beschäftigten – gemes­ sen am sonstigen Verwaltungs- und Or­ ganisationsaufwand – oft beträchtliche Belastungen. Kleinunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten diese Er­ fahrung jedoch vergleichsweise selten: In gerade einmal jedem zehnten dieser Betriebe war zum Umfragezeitpunkt je­ mand in Elternzeit. Erschwert wird der Einsatz der Rück­ kehrerinnen im Betrieb dann vor allem durch deren häufige Wünsche nach ei­ ner Teilzeitbeschäftigung. Das gilt auch für die Ausrichtung auf eine Tätigkeit am Vormittag und die nicht seltene Not­ wendigkeit zu flexiblen Arbeitszeiten, etwa wenn ein Kind erkrankt. Allerdings berichtete die große Mehrheit der Ver­ antwortlichen (76 Prozent), dass es in ihrem Unternehmen in der Regel ge­ linge, die Vorstellungen der Mütter mit den betrieblichen Notwendigkeiten zu vereinbaren. Größere Kollisionen zwi­ schen betrieblichen Anforderungen und Ansprüchen der Mitarbeiter standen da­ gegen 20 Prozent der Unternehmensver­ antwortlichen vor Augen. Wachsendes Interesse an besserer Vereinbarkeit svon Familie und Beruf Bei den Hilfen für den Wiedereinstieg gehen viele der kleinen und mittleren Unternehmen bereits jetzt deutlich über die vorgeschriebenen Möglichkeiten, wie z.B. durch das Angebot von Teil­ zeitarbeitarbeitsplätzen, hinaus. In 77 Prozent der Unternehmen können die Rückkehrerinnen und Rückkehrer bei ei­ ner kürzeren Elternzeit an den früheren

Arbeitsplatz zurückkehren, in 71 Prozent der Unternehmen können sie flexible Ar­ beitszeiten nutzen. Weiterbildungen bie­ ten 38 Prozent an, eine zumindest zeit­ weilige „Telearbeit“ (Arbeit von zuhause) 25 Prozent. Dabei zeigten sich die be­ fragten Unternehmensverantwortlichen nicht selten an weiteren Verbesserungen interessiert. Zwar besaß das Thema einer guten Ver­ einbarkeit von Familie und Beruf zum Umfragezeitpunkt erst für 42 Prozent der Vorgesetzten in kleinen und mittle­ ren Unternehmen eine hohe Bedeutung. Besonders interessiert waren die Verant­ wortlichen von Betrieben mit überdurch­ schnittlichem Frauenanteil an der Beleg­ schaft. Allerdings waren zugleich mehr als 70 Prozent der befragten Unterneh­ mensleiter überzeugt, dass die Verein­ barkeit von Familie und Beruf auch für ihr Unternehmen schon in näherer Zukunft zusätzliche Bedeutung gewinnen würde. Angesichts der demographischen Verän­ derungen und des drohenden Fachkräf­ temangels werde es ihrer Meinung nach in Zukunft unabdingbar sein, sich inten­ siv mit Fragen wie dem Wiedereinstieg nach der Elternzeit zu beschäftigen. Wilhelm Haumann

Wilhelm Haumann, Dr., Sozialforscher, ist Projektleiter im Institut für Demoskopie Allensbach.

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Als wäre der Ernährermotor angesprungen Die Bedeutung der Väter beim beruflichen Wiedereinstieg ihrer Partnerin Die Notwendigkeit, sich intensiv mit dem Thema des beruflichen Wiedereinstiegs von Müttern nach einer Familienphase zu befassen, ist vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des in vielen Branchen schon auftretenden Fachkräftemangels augenscheinlich. Die hessenstiftung – familie hat zukunft hat bereits im Jahr 2007 die Untersuchung ‚Berufsrückkehrerinnen’ vorgelegt. Dort äußern 50 % der Wiedereinsteigerinnen, die sich mehr Unterstützung durch den Partner wünschen gleichzeitig auch den Wunsch nach einer längeren ‚Auszeit’ (Hessenstiftung 2007). In der ein Jahr später vorgelegten Unternehmensbe­ fragung zur Rückkehr aus der Elternzeit nehmen 53 % der Vorgesetzten teilwei­ se größere Probleme bei der Vereinbar­ keit von Familie und Beruf wahr (Hessen­ stiftung 2008). ‚Wenn der Partner nicht mitspielt, wird der Wiedereinstieg schwer’ Diese Über­ schrift eines Beitrags auf der Website ‚Perspektive Wiedereinstieg’ des Bun­ desfamilienministeriums und der Bun­ desagentur für Arbeit verweist auf einen inzwischen zwar benannten, aber den­ noch weithin vernachlässigten Aspekt hin: Das (familiäre) Engagement und die Haltung bzw. Einstellung von Vätern ha­ ben wesentlichen Einfluss auf den Zeit­ punkt und das Gelingen des beruflichen Wiedereinstiegs der Partnerin. Berufsrückkehrerinnen stehen vor einem Hindernislauf Was kann also dazu beitragen, dass ein Mann den beruflichen Wiedereinstieg seiner Partnerin als Bereicherung des ei­ genen Lebens und der Partnerschaft und

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nicht als Einschnitt in die eigene ‚Kom­ fortzone’ erlebt, dem er notgedrungen zustimmt, wenn sie die übrigen Aufga­ ben im Haushalt und der Familie weiter­ hin so erledigt wie bislang. Die bisherigen Studien zu dem Thema geben dazu kaum Antworten, zeigen aber den Handlungsbedarf an dieser Stelle auf. So beschreibt die 2008 von Sinus Sociovision vorgelegte Studie ‚Be­ ruflicher Wiedereinstieg nach der Fa­ miliengründung’ (BMFSFJ 2008) den beruflichen Einstieg der Mutter nach der Elternzeit als Umbruchphase für das gesamte System Familie, hebt dann aber den ‚Hindernislauf der Frau’ hervor. Die Hürden seitens des Partners wer­ den zwar kurz benannt ‚beruflich stark eingespannt’ und ‚wenig oder kein Ver­ ständnis für die Wiedereinstiegsbemü­ hungen’ (BMFSFJ 2008, S.14), die Erklä­ rungen bleiben aber im Allgemeinen und heben auf die befürchteten beruflichen Nachteile bei eigener Arbeitszeitreduzie­ rung und einem Unverständnis für die Aufgaben in Familie und Haushalt ab. (BMFSFJ 2008, S.16) Bereits 2009 äußern immerhin 56 % der ebenfalls von Sinus befragten Männer ihre Bereitschaft, im Fall des beruflichen Wiedereinstiegs ihre Arbeitszeit reduzieren zu wollen. (BMFS­ FJ 2009, S.32) Auf der einen Seite gibt es also die ‚the­ oretisch’ geäußerte Bereitschaft der Männer zur Unterstützung des Wieder­ einstiegs bis hin zu einer Reduzierung der eigenen Arbeitszeiten, auf der an­ deren der geäußerte Wunsch eben diese Hilfestellung auch tatsächlich zu erfahren. Gleichzeitig zeichnen sich Pro­ bleme beim Wiedereinstieg ab, wenn


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die Unterstützung durch den Partner ausbleibt. Es geht als um die Frage, wie das Mat­ ching dieser, vielfach nicht ausgespro­ chenen Erwartungen, gelingen kann. Oder ganz konkret, ‚Wer macht was, wann und wie?’ (Maiwald 2007, S.36) Was helfen die Vätermonate den Partnerinnen? Die seit fast 5 Jahren bestehenden, und von Vätern zunehmend genutzten Part­ nermonate im Rahmen des Bundesel­ terngeld und Elternzeit Gesetzes haben gezeigt, dass durch passende politische und gesellschaftliche Rahmenbedingun­ gen eine Annäherung der von Männern schon lange geäußerten Wünsche, mehr Zeit in Familie verbringen zu wollen, Wirklichkeit werden können. Die Partner­ monate entfalten in Beziehungen eine Interaktions- und Entscheidungsdynamik in der Frage, wer wann zuhause bleibt und wer in welchem Umfang wann wie­ der erwerbstätig werden kann. Wenn es gelingt, diese Dynamiken auch in den Partnerschaften in Gang zu set­ zen, die Entscheidungen über Erwerbstä­ tigkeit (des Mannes) und Familienphase (der Frau) schon vor 12, 15 oder mehr Jahren gefällt haben, könnte der berufli­ che Wiedereinstieg besser gelingen. An dieser Stelle setzt die von der Hes­ senstiftung und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Pilotstudie ‚Väter und Wie­ dereinstieg der Partnerin’ an. Sie war als ‚Tiefenbohrung’ konzipiert, um Ressour­ cen und Möglichkeiten ans Tageslicht zu bringen, vor allem aber auch um die Hebel und Stellschrauben sichtbar zu

Plakatentwurf Alexander Scheinert

machen, die aus der in den zahlreichen quantitativen Befragungen geäußerten Bereitschaft der Männer, den Wiederein­ stieg unterstützen zu wollen, auch tat­ sächliches Verhalten werden lässt. Die Leitfaden gestützten Interviews setz­ ten an den eigenen Erfahrungen der Väter mit beruflichen ‚Auszeiten’ und Berufsrückkehr an. Dadurch sollten res­ sourcenorientiert Faktoren und Ansatz­ punkte, die Einstellungen und Verhalten der Väter im Hinblick auf die Berufsrück­ kehr der Partnerin beeinflussen, iden­ tifiziert werden. Durch diesen Ansatz konnte auch das Engagement der Väter in Familie und Haushalt thematisiert wer­ den ohne diese in eine Verteidigungshal­ tung zu bringen.

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Mit der Pilotstudie wurden folgende Zie­ le verfolgt • die Wirkungen der unterschiedlichen Elternzeiterfahrungen von Vätern zu benennen • die Konsequenzen dieser Erfahrungen auf Einstellungen zu Haushalts- und Familienarbeiten zu analysieren • förderliche und hinderliche Rahmen­ bedingungen für ein stärkeres Enga­ gement von Vätern in Haushalt und Familie zu identifizieren • Ansatzpunkte herauszuarbeiten, die väterliches Engagement und eine partnerschaftliche Aufgabenteilung ermöglichen bzw. erleichtern • Vorschläge für politische Maßnahmen zu entwickeln, die aus der ideellen auch eine tatsächliche Unterstützung des Wiedereinstiegs durch den Partner ermöglichen • Handlungsempfehlungen zu benen­ nen, die es Männern und Unterneh­ men ermöglichen, aktive Vaterschaft zu leben bzw. diese zu erleichtern und dadurch auch die rechtzeitige und gelingende Berufsrückkehr der Partne­ rinnen zu unterstützen • konkrete Checklisten zu formulieren, die (angehende) Väter und Mütter da­bei unterstützen, die familiäre Aufgabentei­ lung rechtzeitig und partnerschaftlich zu thematisieren und umzusetzen Unterstützung durch die Männer muss rechtzeitig abgerufen werden Der Wiedereinstieg der Partnerin be­ deutet, insbesondere wenn die Familien­ phase längere Zeit angedauert hat, eine deutliche Veränderung im Familiensys­ tem und der bislang praktizierten Auf­

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gabenteilung. Die befragten Väter sind nicht nur bereit, diese Veränderungen mitzutragen, sondern auch, den Wieder­ einstieg praktisch zu unterstützen und dafür gegebenenfalls auch ihre eigene Arbeitszeit zu reduzieren. Diese Bereitschaft muss allerdings recht­ zeitig ‚abgerufen’ werden. Die Väter er­ warten eine frühzeitige Ansprache und möchten dabei auch offen und ehrlich über die mit dem Wiedereinstieg verbun­ denen Erwartungen und Konsequenzen sprechen. Ein wesentlicher Aspekt ist für sie dabei auch der geäußerte Wunsch der Partnerin, wieder arbeiten zu wollen. Damit einher gehen die Erwartungen an höhere Zufriedenheit ihrer Partnerin und eine gestiegene Partnerschaftsqualität. Aus der ursprünglichen Absicht, sich die familiären Pflichten aufzuteilen, ist viel­ fach eine klassische Aufgabenteilung er­ wachsen. Die Männer sehen sich in ihrer Verantwortung für das Finanzielle und beteiligen sich an den übrigen Arbeiten, die Frauen sind zuhause für Haushalt und Kinder zuständig. Dies widerspricht vielfach dem Gewollten und hat Span­ nungen und Unzufriedenheiten zur Fol­ ge. Es hat sich aber so ‚eingespielt’ und im Alltag hat der ‚Autopilot’ bzw. die ‚-pilotin’ die Steuerung übernommen. Anerkennung und positives Feedback er­ halten die Männer vornehmlich im Beruf. Zuhause erleben sie, dass ihre Partnerin die anfallenden Aufgaben besser und schneller erledigen kann. B.M., Prokurist ohne eigene Elternzeit, skizziert eine Schlüsselszene dieser Ent­ wicklung: „Die Herstellung oder der Wechsel hin zum klassischen Rollenbild, würde ich


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jetzt mal sagen. Es war für meine Frau ganz klar. Letztendlich mit der Entschei­ dung für eine geringfügige Beschäfti­ gung. Damit hat sie gesagt, ich möchte quasi Hausfrau sein. Ich möchte für die Kinder da sein. Nebenbei zwar auch ein bisschen was anderes mitbekommen, aber dafür reicht es mir, wenn ich ein bis zwei Tage in der Woche draußen bin. So hat sich das dann entwickelt, dass meine Frau überwiegend tagsüber die „häus­ lichen“ Pflichten wahrnimmt und ich dann eben, wenn ich dazu komme, mich mit den Kindern beschäftige.“ Ein Wiedereinstieg bedeutet eine Ver­ änderung dieser ‚Regeln’. Vätern fällt die Entscheidung, eigene Arbeitszeit zu reduzieren umso leichter, je eher die Partnerin ausdrücklich einen Teil der Ver­ antwortung für das Familieneinkommen übernimmt. Das machen insbesondere die Erfahrungen der Väter wie bei dem Psychologen S.M. deutlich, der sich auch die Elternzeit schon mit seiner Partnerin geteilt hat: „Ich hätte da ehrlich gesagt wenige Pro­ bleme. Ich finde es eigentlich sehr schön, dass Leben ein wenig ausgewogen zu gestalten und nicht nur zu arbeiten, son­ dern auch Zeit zu Hause mit dem Kind zu verbringen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, meine Stelle zu reduzieren. Das liegt auch daran, dass meine Part­ nerin mehr als ich verdient, so dass das auch wirtschaftlich die bessere Variante wäre.“ Vor diesem Hintergrund ist ein Wieder­ einstieg auf Probe oder mit einer ge­ ringen Stundenzahl zwar ‚leichter’ und ohne (größere) Veränderungen im Sys­ tem zu handhaben, aber kein Signal der

Verantwortungsübernahme an die Väter. Es ist daher von großer Bedeutung, Vä­ tern und Müttern im Vorfeld eines Wie­ dereinstiegs, die Bedeutung der anste­ henden Aushandlungsprozesse deutlich zu machen. Dabei kann auf positive Ef­ fekte, wie Entlastung im jeweiligen Auf­ gaben- bzw. Arbeitsbereich, eine höhe­ re Partnerschaftszufriedenheit und der Möglichkeit, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen, zurückgegriffen werden. B.M., der sieben Monate Elternzeit ge­ nommen hat, möchte allen anderen Vätern Mut machen, dies ebenfalls zu machen: „Ich fände es total wichtig, dass alle Männer Elternzeit machen. Allein um zu wissen, was es heißt den ganzen Tag mit dem Kind zu Gange zu sein, was es heißt auf dem Spielplatz zu sitzen. Das hört sich so leicht an, aber das macht man in erster Linie für die sozialen Kontakte des Kindes und nicht weil es nett ist, dort Kaffee zu trinken. Die ganzen Sachen die anfallen, ich fände es total wichtig, dass Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Beruflicher Wiedereinstieg nach der Familiengründung. Bedürfnisse, Erfahrungen, Barrieren. Berlin 2008 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Perspektive Wiedereinstieg. Ziele Motive und Erfahrungen von Frauen vor, während und nach dem beruflichen Wiedereinstieg. Berlin 2009 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Zeit für Wiedereinstieg – Potenziale und Perspektiven. Berlin 2011

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alle Männer es machen, weil ich glaube, dass es für Männer hilfreich ist zu sehen, was das für eine Arbeit insgesamt ist, die die Frauen leisten. Das hat mich bestärkt, jedem Mann Mut zu machen, dass er El­ ternzeit nimmt und zwar nicht nur zwei Monate sondern auch länger.“ Diese Gespräche müssen aber lange vor dem geplanten Wiedereinstiegstermin stattfinden, da eine Reduzierung von Ar­ beitszeiten einen Vorlauf in der Abspra­ che der Väter in ihrem Unternehmen und der tatsächlichen Umsetzung benötigt. Potenzial für partnerschaftliche Rollenaufteilung ist vorhanden Die Fülle der Antworten und die von allen Vätern bekundete Bereitschaft, den Wiedereinstieg auch durch die vo­

odell das neue Mn Extras le ie v it m

Plakatentwurf Uda Albrecht

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rübergehende Reduzierung der eigenen Arbeitszeit zu unterstützen ist ein Poten­ zial, mit dem bei der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen ‚gewuchert’ wer­ den kann. Aus den Interviews kann auch abgeleitet werden, dass für einen großen Teil der interviewten Väter in ihren Le­ benskonzepten Erfolg in der Familie mit der beruflichen Entwicklung verknüpft wird und die Zufriedenheit der Partnerin mit ihrer beruflichen Situation ein wich­ tiges Element der Partnerschaftsqua­ lität ausmacht. Dazu kommt noch der Wunsch der Väter, frühzeitig eine tiefe Bindung zu ihren Kindern aufbauen und auch weiter pflegen zu können. Bei allen genannten Aspekten spielen neben den individuellen Konzepten auch gesellschaftlich vermittelte Bilder und Muster eine wichtige Rolle. Die Frage, ob es ‚normal’ ist, dass Väter Verant­ wortung und Fürsorge für kleine Kinder übernehmen und welche Anerkennung und Wertschätzung es für Männer au­ ßerhalb der beruflichen Sphäre gibt ist (mit­) entscheidend dafür, dass es auch zu einer nachhaltigen Veränderung der bislang überwiegend praktizierten tra­ ditionellen Rollenmuster und ­modelle kommt. Es geht dabei keineswegs darum, ob Männer die besseren Mütter sind oder ob sie frauenspezifische Dinge auch gut erledigen können. Es geht um eine Er­ weiterung der eigenen Möglichkeiten. Wenn es selbstverständlich ist, sowohl in den Unternehmenskulturen, als auch in der gesellschaftlichen Beurteilung des Alltagshandelns, dass Männer fürsorg­ lich auch mit kleinen Kindern umgehen und zeitliche Verantwortung überneh­


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men, fällt ihnen die Entscheidung Ar­ beitszeit auch tatsächlich zu reduzieren in jedem Fall (noch) leichter (Feldmeier 2010, S.159ff). Die Regelungen der Elternzeit werden, wie die Beispiele der Väter mit länge­ ren ‚Vätermonaten’ zeigen, vielfach bereits zur Unterstützung des Wieder­ einstiegs genutzt. Diese Nutzung, aber gerade auch die kontinuierlich anstei­ gende Inanspruchnahme der gesetzlich ‚vorgesehenen’ 2 Monate führen in der Gesellschaft, insbesondere aber auch in den Unternehmen zu einer wachsenden Akzeptanz und vor allem für eine zuneh­ mende Anzahl von Rollenmodellen. In der parallel zu dieser Studie durch­ geführten Untersuchung ‚Zeit für Wie­ dereinstieg’ verweisen die Verfasser auf einen weiteren wichtigen Aspekt: Demnach haben ein Viertel der befrag­ ten Frauen den Wunsch, sich durch den eigenen beruflichen Wiedereinstieg vom traditionellen Ernährermodell lösen zu können und die ursprüngliche Vision ei­ ner geteilten Verantwortung in Familie und Beruf jetzt umzusetzen. (BMFSFJ 2011, S. 27) Diese Wünsche entsprechen den in den Interviews vielfach geäußerten Vorstel­ lungen der Männer. Die Verfasser der Studie formulieren am Ende dieser Be­ trachtung Vorschläge für politische Maß­ nahmen. Von alleine tut sich nicht viel: „Mit Bezug auf die Möglichkeiten der Männer zeigt sich, dass eine neue fami­ liäre Aufgabenteilung sich offensichtlich nicht von selbst einstellt – und auch bei grundsätzlicher Bereitschaft der Partner, mehr Aufgaben in Familie und Haushalt zu übernehmen, meist nicht von allein

Literatur Feldmeier, Erich: Sonntags reden, Montags Meeting. Wie Innovationen dennoch gelingen. Berlin 2010 hessenstiftung – familie hat zukunft: Berufsrückkehrerinnen, Umfrage unter Müttern, die nach der Familienpause in den Beruf zurückgekehrt sind. Bensheim 2007 hessenstiftung – familie hat zukunft: Rückkehr aus der Elternzeit in kleine und mittlere Unternehmen, Ergebnisse einer Unternehmensbefragung. Bensheim 2008 Maiwald, Kai-Olaf: Freiheit gegen Hausarbeit. Ungleichheitsstrukturen in modernen Paarbeziehungen. In: WestEnd, Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 4 Jg. Heft 2 (2007) S.35ff Perspektive Wiedereinstieg: Wenn der Partner nicht mitspielt, wird der Wiedereinstieg schwer, http://www.perspektivewiedereinstieg.de/lang_de/nn_7372/Inhalte/ DE/Rubrik_3A_20nach_20dem_20WE/ Neue_20Wege_20f_C3_BCr_20neue_20M_ C3_A4nner/Introtext_3A_20M_C3_ A4nner_20erwarten_20nicht_20t_C3_A4glich_20 eine_20warme_20Mahlzeit.html, 28.7.2011 Scharmer, C.Otto: Theorie U. Von der Zukunft her führen. Heidelberg 2009

realisiert wird. Offenbar bedarf es wei­ terer Anreize und Strukturen.“ (BMFSFJ 2011, S. 29) Dies steht außer Frage. Es müssen aber keinesfalls (nur) monetäre Anreize sein. Die Schaffung von Bedingungen, die es Vätern und Müttern erlaubt, ihre offen­ sichtlich vielfach geteilten Lebenskon­ zepte offen zu kommunizieren und auch tatsächlich zu leben, die Darstellung von

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gelingenden und erstrebenswerten Mo­ dellen sowie die Wertschätzung der von vielen Vätern bereits jetzt geleisteten Ar­ beit für die Familie kann einen qualita­ tiven Sprung hin zu mehr Partnerschaft bringen. Wie Ergebnisse aus der Orga­ nisationsforschung zeigen, lohnt es sich, aus der Perspektive der gewollten, erst entstehenden Zukunft zu denken und alte Denkweisen loszulassen (Scharmer 2009). Hans-Georg Nelles

Hans-Georg Nelles, Vater von 3 erwachsenen Kindern berät seit 15 Jahren Unternehmen, Kommunen und Politik in Fragen familien- und väterbewusster Personalpolitik und der Entwicklung einer entsprechenden Unternehmenskultur. In seinem Blog dokumentiert er alle Fragen und Entwicklungen rund um das Thema Väter. www. vaeterblog.de

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Erfolgsfaktor Familienfreundlichkeit Menschen streben – stärker als dies in vo­ rangegangen Generationen der Fall war – nach einer Balance zwischen Beruf und Familienleben. Einerseits verändern sich diesbezüglich die Menschen. Neue Ver­ haltensmuster werden ausgetestet und eine Auseinandersetzung mit dem eige­ nen Werteverständnis findet statt. Auf der anderen Seite müssen sich aber auch berufliche Rahmenbedingungen verän­ dern. Doch warum sollte dies passieren? Familienfreundlichkeit ist für Unterneh­ men im Hinblick auf den Fachkräfteman­ gel und die demografische Entwicklung einer der zentralen Erfolgsfaktoren. Die Unternehmen, die sich durch eine fa­ milienorientierte Personalpolitik darauf vorbereiten, dass Personal zum Engpass werden wird – und teilweise bereits schon ist –, werden zu den Gewinnern gehören. Diejenigen, die den Wertewan­ del der Beschäftigten hin zu einer Ba­ lance zwischen Beruf und Familie igno­ rieren, wird es in Zukunft schwer fallen, gute Leute als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu rekrutieren. Dieses Themenfeld wird idealer Weise durch unterschiedliche Beteiligte an die Unternehmen herangetragen. Zum ei­ nen durch eine Stiftung wie die hessenstiftung – familie hat zukunft. Zum ande­ ren wird die Arbeit umso erfolgreicher, je stärker auch Unternehmensvertretun­ gen in die Arbeit eingebunden sind. Hier zeigt sich in Hessen, dass gerade die VhU – Vereinigung der hessischen Unterneh­ merverbände ein sehr aktiver und enga­ gierter Partner ist. Darüber hinaus bedarf es der Konzeption, Durchführung, Aus­ wertung und Publikation des Themas. Hier durfte die IGS Organisationsbera­

tung GmbH ein Partner der beiden Betei­ ligten sein. Umfragen, die wir seit 2007 regelmäßig unter Führungskräften, Per­ sonalern und Beschäftigten durchführen, haben neue und interessante Erkenntnis­ se gebracht. Familienfreundlichkeit von Unternehmen ist ein Erfolgsfaktor Familienfreundlichkeit ist ein Thema, dass durch Instrumente wie zum Beispiel der flexiblen Arbeitszeit oder der Telearbeit in vielen Organisationen umgesetzt ist. Allerdings haben die Beschäftigten oft­ mals nicht das Gefühl, dass das eigene Unternehmen familienfreundlich aufge­ stellt ist. Woran hakt es also? Diese Frage haben wir in unserem ersten gemeinsa­ men Projekt im Jahre 2007 114 Führungs­ kräften aus über 60 Unternehmen in per­ sönlichen Interviews gestellt. Folgende Haupterkenntnisse (Auszüge) konnten wir aus dieser Befragung generieren: Mitarbeiter sind für die Führungskräfte schwer ersetzbar Expertenwissen, Investitionen in die Mit­ arbeiter (Einarbeitungszeiten), soziale Kompetenzen und Berufserfahrung/Pro­ zesskenntnisse führen dazu, dass Füh­ rungskräfte zu 91 % ihre Mitarbeiter für nicht leicht ersetzbar halten. Bedarf an Familienfreundlichkeit wird gesehen Führungskräfte sehen zu über 90 % ei­ nen Bedarf an familienfreundlichen Re­ gelungen in der Wirtschaft, in Unterneh­ men und anderen Organisationen.

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An Instrumenten fehlt es nicht Über 94 % der Führungskräfte geben an, dass in ihren Unternehmen Instrumen­ te zur Familienfreundlichkeit existieren (hauptsächlich Instrumente zur zeitlichen und örtlichen Flexibilisierung, teilweise Angebote zur Kinderbetreuung). Die Unternehmenskultur lässt meist nur eine eingeschränkte Nutzung – vor allem für Männer – zu Die Möglichkeiten, die die Instrumente bieten, werden nach Ansicht von über

90 % der Führungskräfte, von den Mit­ arbeitern genutzt. Allerdings geben ebenfalls über 90 % der Führungskräfte an, dass die Nutzung hauptsächlich von Frauen erfolgt. Grund für die Unterschie­ de in der Nutzung wird überwiegend im Fortbestehen eines klassischen Rollenbil­ des gesehen. Während Frauen sich eher geplant familienfreundlich im berufli­ chen Umfeld verhalten, nehmen Männer eher ungeplant, informell (ohne, dass es auffällt) und in Notsituationen Möglich­ keiten in Anspruch. Die Reaktionen, wenn Frauen Maßnah­ men zur Vereinbarkeit ergreifen, fallen

Projektteam „Erfolgsfaktor Familienfreundlichkeit“ v.l.: Ulrich Kuther (Hessenstiftung), Judith Kohn (IGS Organisationsberatung), Charlotte Venema (Hessen Metall), Marcus Schmitz (IGS Organisationsberatung) und Nora Hummel (Hessen Chemie).

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überwiegend verständnisvoll aus. Bei Männern dominieren negative Reaktio­ nen, wenn Führungskräfte überhaupt mit Forderungen konfrontiert werden. Mit der Inanspruchnahme von familienfreund­ lichen Regelungen ist für Männer ein überwiegend negatives Image („Weich­ ei“, „keine Lust zu arbeiten“) verbunden. Diskussion über Familienfreundlichkeit kommt in den Unternehmen zu kurz Während einerseits die Instrumente als überwiegend vorhanden empfunden werden, kommt andererseits die Dis­ kussion über Familienfreundlichkeit den meisten Führungskräften im Unterneh­ men zu kurz. In nahezu der Hälfte der Unternehmen gibt es zu Familienfreund­ lichkeit nach Ansicht der Führungskräfte keine offizielle Diskussion. Gibt es eine Diskussion, wird hauptsächlich die „Ver­ einbarkeit von Beruf und Kind(ern)“ the­ matisiert. Nahezu 30 % der Führungs­ kräfte können überhaupt keine Aussagen der Unternehmensleitung zum Thema Familienfreundlichkeit ausmachen. Über 50 % der Führungskräfte nehmen nach eigenen Angaben Regelungen zur Familienfreundlichkeit in Anspruch. Dabei sind dies hauptsächlich Maßnahmen zu zeitlichen Flexibilität. Geschlechtsspezifi­ sche Muster (s.o.) zeigen sich auch hier. Männer nutzen Möglichkeiten, die nicht auffallen, wohingegen Frauen Teilzeit- und Telearbeitsmöglichkeiten wahrnehmen. Die Umsetzung ist abhängig vom eigenen Werteverständnis der Führungskraft. Es gibt meistens keine systemische Umsetzung von Familienfreundlichkeit.

Familienfreundlichkeit wirkt nach Ansicht der Führungskräfte positiv auf den Unternehmenserfolg (siehe auch: Schmitz/Kohn, 2007) Im Nachgang zu diesem Projekt, bei dem die Führungskräfte im Fokus standen, ha­ ben wir in gleicher Kooperationsgemein­ schaft weitere Umfragen durchgeführt. So befragten wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Studie „Firma und Familie“, die wir in Medienpartnerschaft mit der Frankfurter Rundschau und der Wirtschaftszeitung Aktiv durchführten. Knapp 900 Antworten haben wir auf unsere Fragen erhalten. Folgende Haup­ terkenntnisse konnten wir generieren: Wie wichtig ist das Thema Familienfreundlichkeit für Arbeitnehmer? Über ein Drittel der Umfrageteilnehmer sind männlich. Dies macht deutlich, dass Familienfreundlichkeit auch für männli­ che Arbeitnehmer eine große Rolle spielt. Nur 6 % der Befragten pflegen Angehö­ rige. Sowohl im potenziellen Teilnehmer­ kreis als auch in Unternehmen wird die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege noch nicht als Familienfreundlichkeitsthema erkannt. Von der Umfrage fühlten sich vorrangig Arbeitnehmer/innen ohne Führungsverantwortung angesprochen. Für 96 % der Teilnehmer/innen ist das Thema Familienfreundlichkeit persönlich relevant. Die Vereinbarung beruflicher und familiärer Anforderungen gestaltet sich noch immer als schwierig: weniger als ein Viertel der Teilnehmer (22 %) erle­ ben hierbei keinen Konflikt.

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Arbeitnehmer reagieren auf die schwie­ rige Vereinbarkeit mit Anpassungen im beruflichen Kontext. 63 % der Befragten haben ihre berufliche Situation schon einmal zugunsten einer besseren Verein­ barkeit von Familie und Beruf verändert.

Sofern Unternehmen familienfreundli­ cher geworden sind, führen die Befrag­ ten dies zum größten Teil darauf zurück, dass soziales Engagement signalisiert und Mitarbeiter langfristig im Unterneh­ men gehalten werden sollen.

Welche Rolle spielt Familienfreundlichkeit in Unternehmen? (aus Sicht der befragten Arbeitnehmer/innen)

Was hat sich verändert? 61 % der Befragten beobachten keine Ver­ änderungen des familienfreundlichen Ver­ haltens ihres/r Vorgesetzten. Der Großteil der Unternehmen, in denen die Befragten tätig sind (85 %), bietet Instrumente zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie an. In den letzten 2 bis 3 Jahren sind vor allem Instrumente zur zeitlichen und örtlichen Flexibilisierung sowie im Bereich der Kin­ derbetreuung ausgeweitet worden. Die Nutzung familienfreundlicher Maß­ nahmen wird inzwischen stärker akzep­

Familienfreundlichkeit rückt zunehmend in den Fokus von Unternehmen: Zwei Drittel der Teilnehmer/innen geben an, dass sich ihr Arbeitgeber mit Familien­ freundlichkeit auseinandersetzt. Der Stand der Familienfreundlichkeit in den Unternehmen wird unterschiedlich er­ lebt: Die meisten Befragten (64 %) be­ urteilen die Familienfreundlichkeit ihres Arbeitgebers zumindest teilweise positiv. Etwas mehr als ein Drit­ tel hält ihren Arbeitgeber für überhaupt nicht oder nur geringfügig familien­ freundlich. Die Gruppe, die im Er­ leben der Teilnehmer/ innen das geringste In­ teresse daran zeigt, das Thema Familienfreund­ lichkeit zu treiben, ist die der direkten Vorge­ setzten. Nur 13  % der Führungskräfte thema­ tisieren Familienfreund­ lichkeit inzwischen häu­ figer, nicht einmal die Hälfte (41  %) hat klar Ulrich Kuther überreicht 2008 der damaligen Familienministerin zum Thema Stellung be­ Ursula von der Leyen das Buch „Erfolgsfaktor Familienfreundlichkeit“ im Beisein des Beiratsmitglieds Ludwig Georg Braun. zogen.

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tiert. Die engagierte Bearbeitung des Themas zahlt sich aus. Mehr als ein Drit­ tel der Arbeitnehmer (35 %) gibt an, dass in ihrem Unternehmen in den letzten 2 bis 3 Jahren die Familienfreundlichkeit zugenommen hat. Allerdings stellt sich die Situation in über der Hälfte der Fäl­ le unverändert dar – es besteht weiterer Handlungsbedarf. Arbeitnehmer/innen verfügen über ein gestiegenes Selbstbewusstsein bezogen auf Familienfreundlichkeit. Sie fordern familienfreundliche Maßnahmen ver­ stärkt ein (46 %). Insgesamt war es unser Ziel, ein umfas­ sendes Bild aus verschiedenen Perspek­ tiven aufzubauen, weshalb wir neben Führungskräften und Beschäftigten auch Personaler und Betriebsräte befragt ha­ ben. Die unterschiedlichen Blickwinkel konnten wir gemeinsam im Jahre 2009 in einer umfangreichen Publikation „Ba­ rometer Familienfreundlichkeit“ (hessenstiftung – familie hat zukunft/IGS Orga­ nisationsberatung GmbH/ Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e.V., 2010) zusammenfassen. In kurzen Worten kam dabei zum Vorschein, dass die Führungskräfte den Personalern die Verantwortung für das Treiben des The­ mas zuschieben. Die Personaler halten die Führungskräfte für verantwortlich. Die Geschäftsleitung sieht es als wichti­ ges Thema an und meint (offensichtlich), dass die Personaler und die Führungs­ kräfte es schon umsetzen werden. So bleibt es dabei, dass die Beschäftigten die Probleme haben und über gestei­ gertes Selbstvertrauen nun beginnen, eigene Lösungsmöglichkeiten zu ent­ wickeln und umzusetzen. Gleichsam

einer „Revolution von unten“ finden die Veränderungen im Bereich der Fa­ milienfreundlichkeit von Organisationen statt. Familienfreundlichkeit ist nicht gleich Väterfreundlichkeit Bei allen Umfragen war uns der Blick auf die Väter wichtig. Wenngleich Fami­ lienfreundlichkeit in vielen Fällen immer noch mit der Vereinbarkeitsfrage von Frauen assoziiert wird, stellt sich zu­ nehmend heraus, dass gerade auch bei Männern umfangreiche Veränderungen hinsichtlich eigener Ansprüche und dem eigenen Werteverständnis stattfinden. In einem gesonderten Umfrageprojekt konnten wir im Jahre 2008 die Anfor­ derungen von Vätern an einen familien­ freundlichen Arbeitgeber untersuchen. Die Ergebnisse wurden in der Broschüre „Zeit für Väter“ im Jahre 2008 (Schmitz/ Kohn, 2008) veröffentlicht. Auszugsweise die Kernbotschaften, die wir gerade auch für die Unternehmen zusammengefasst haben: • Auch Väter erleben einen Vereinbar­ keitskonflikt zwischen den Anforde­ rungen von Familie und Beruf. • Veränderte gesellschaftliche Rah­ menbedingungen, Rollenbilder und Anforderungen der Arbeitswelt stellen Mütter wie Väter vor neue Herausfor­ derungen. • Viele Väter lösen den Konflikt zuguns­ ten der Familie und auf Kosten des Berufs. • Unternehmen profitieren von einer väterfreundlichen Kultur. • Väter räumen gelebter Familienfreund­ lichkeit einen hohen Stellenwert ein.

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• Familienfreundliche Unternehmen sichern sich Wettbewerbsvorteile. • An Instrumenten fehlt es meist nicht. • Existierende Angebote gehen häufig an den Bedürfnissen von Vätern vorbei. • Familienfreundlichkeit ist eine Frage der Kultur. • Väter wünschen sich mehr Verständnis und die Akzeptanz ihrer familiären Bedürfnisse. • In den meisten Unternehmen domi­ niert ein überholtes Rollenbild. • Väter werden ihrem eigenen Anspruch oft nicht gerecht, weil geeignete Rahmenbedingungen in Unternehmen fehlen. • Väterfreundlichkeit ist auch bei ver­ meintlich familienfreundlichen Unter­ nehmen selten. • In Bezug auf die Nutzung familien­ freundlicher Maßnahmen sind Männer benachteiligt.

Zeit für Väter Ergebnisse der Online-Befragung „Anforderungen von Vätern an einen familienfreundlichen Arbeitgeber“

Herausgeber „hessenstiftung – familie hat zukunft“ Durchführung IGS Organisationsberatung GmbH, Köln

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• Väter präferieren die Möglichkeit, zeitweise von zu Hause aus arbeiten zu können. Als Haupterkenntnisse haben wir etwas ausführlicher Folgendes formuliert: Aktuelle Situation der Väter im Unternehmen Die größte Gruppe der teilnehmenden Väter (40,6 %) beurteilt ihren derzeiti­ gen Arbeitgeber als familienfreundlich. Dennoch sprechen etwa ein Drittel der Befragten (32,6 %) ihrem Unternehmen Familienfreundlichkeit ab. In den meis­ ten Unternehmen (59,1 %) findet keine offizielle Diskussion zum Thema Famili­ enfreundlichkeit statt. In 90 % der Un­ ternehmen existieren familienfreundliche Instrumente. Die Väterfreundlichkeit des derzeitigen Arbeitgebers wird insgesamt schlechter beurteilt als dessen Familienfreundlich­ keit: Die größte Gruppe der Befragten (40,1 %) hält den eigenen Arbeitgeber nicht für väterfreundlich, 26,1 % der Teil­ nehmer urteilen dagegen positiv. Nur eine Minderheit der Befragten (14,2 %) gibt an, dass die Inanspruchnah­ me familienfreundlicher Angeobte durch Väter im Unternehmen als selbstver­ ständlich gilt. In 44,5 % der Fälle ist dies nicht, in 41,3 % nur teilweise der Fall. Die überwiegende Mehrheit der Väter (71,4 %) befürchtet negative Konsequen­ zen durch die Nutzung familienfreundli­ cher Angebote. Dabei dominiert die Angst vor nachteiligen Auswirkungen auf die Karriere (Karriereknick: 54,3 %). Fehlendes Verständnis von Vorgesetzten und Kollegen werden in gleichem Aus­


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maß erwartet (ca. 39 %). Die Gefahr des Arbeitsplatzverlustes sehen nur 6,6  % der Befragten. Knapp 30 % der Teilnehmer beobachten, dass Vätern, die ihre Familie stark gegen­ über dem Beruf gewichten, ein negatives Image anhaftet. Entsprechend haben die meisten Befrag­ ten (71,3 %) geringe bis große Bedenken, sich an ihren Vorgesetzten zu wenden, wenn sie familienfreundliche Angebote nutzen wollen. Bedürfnisse der Väter am Arbeitsplatz Über die Hälfte der Befragten würden folgende Instrumente in Anspruch neh­ men, wenn sie frei und ohne Angst vor Konsequenzen wählen könnten: • Home Office: 66 % (im Schnitt 2 Tage pro Woche) • Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit: 58,9 % (im Schnitt um 28 %) • Gleitzeit/Vertrauensarbeitszeit: 53,1 % • Elternzeit: 52,9  % (im Schnitt 16 Monate) Anforderungen an einen familienfreundlichen Arbeitgeber Die drei meist genannten Erwartungen an familienfreundliche Arbeitgeber sind: • Flexibilität in der Arbeitszeitgestaltung: 94,2 % • Familienbewusstes Verhalten der FK: 90,6 % • Entwicklungs- und Karrieremöglich­ keiten: 77,8 % Eine familienfreundliche Führungskraft zeichnet sich nach Ansicht der Befragten

besonders durch die folgenden Eigen­ schaften und Verhaltensweisen aus: • Vertrauen in die Mitarbeiter • Verständnis • Flexibilität Umfragen leisten einen hohen Beitrag zur Sensibilisierung und zur Erkennung von Handlungsfeldern Über die Umfragen, deren Ergebnisse und Erkenntnisse konnte bei allen Ziel­ gruppen das Thema platziert werden. Sensibilisierung hat stattgefunden und somit konnte ein Beitrag zur weiteren Entwicklung und zum Fortschritt des Themas gesetzt werden. Handlungsfel­ der haben wir definiert und durch zahl­ reiche Presseberichte, die über die Um­ fragen und deren Ergebnisse entstanden Literatur hessenstiftung – familie hat zukunft, IGS Organisationsberatung GmbH, Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e.V.: Barometer Familienfreundlichkeit – Verantwortung und Engagement in Unternehmen, Frankfurt, 2010 Schmitz, Marcus / Kohn, Judith: Erfolgsfaktor Familienfreundlichkeit; Nutzen, Strategie, Umsetzung; Leitfäden für Unternehmer, Personaler, Führungskräfte und Mitarbeiter (Herausgeber: Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände, Hessen Metall, HessenChemie, hessenstiftung – familie hat zukunft), Frankfurter Allgemeine Buch, 2007 Schmitz, Marcus / Kohn, Judith: Zeit für Väter – Ergebnisse der Online-Befragung „Anforderungen von Vätern an einen familienfreundlichen Arbeitgeber“ (Herausgeber: hessenstiftung – familie hat zukunft); Bensheim, 2008

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sind, Familien- und Väterfreundlichkeit in die Öffentlichkeit getragen. Somit ist der Beitrag, den die Umfragen zur Ent­ wicklung des Themas geleistet haben, aus unserer Sicht in einem hohen Maße als wertvoll zu beurteilen. Letztlich zählt dabei natürlich auch das Ergebnis. Sowohl bei Familienfreundlichkeit als auch bei Väterfreundlichkeit gibt es Fortschritte Über die Umfragen hinweg, die Wieder­ aufnahme einzelner Fragestellungen im zeitlichen Ablauf und die Bearbeitung unterschiedlicher Zielgruppen können wir beobachten, dass sich in den Feldern Familienfreundlichkeit und Väterfreund­ lichkeit etwas bewegt. Dieses wird si­ cherlich nochmals eine andere Dynamik im Zusammenhang mit dem Fachkräfte­ bedarf und der Verschärfung desselben durch die demografischen Herausforde­ rungen für die Unternehmen erleben. Insofern besteht weiterhin Handlungsbe­ darf. Dabei sollten unterschiedliche Blick­ winkel eingenommen werden, um auch Unternehmen auf neuen und anderen Wegen auf das Thema aufmerksam zu machen. Diesen Aspekt haben wir in einer Um­ frage aus dem Jahre 2010/2011 aufge­ nommen und explizit nach den Werte­ vorstellungen von Vätern bezogen auf die Kindererziehung gefragt. Interes­ sante Erkenntnisse haben sich auch hie­ raus ergeben. Die Veröffentlichung der Ergebnisse, der durchgeführten Exper­ tenrunde und auch einzelner Fachbeiträ­ ge erfolgt separat. So viel sei allerdings schon verraten: Auch auf diese Art und Weise konnte Sensibilisierung stattfin­

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den. Interessante Diskussionen werden sicherlich ebenfalls folgen. Danksagung Als Abschluss sei von Seiten der IGS Or­ ganisationsberatung GmbH ein großes Dankeschön für die Unterstützung durch die hessenstiftung – familie hat zukunft ausgesprochen. Die nicht nur fruchtbare sondern auch sehr angenehme, partner­ schaftliche und stets in höchstem Maße faire Zusammenarbeit – vor allem von un­ serer Seite mit Herrn Dr. Kuther – hat dazu geführt, dass wir viele erkenntnisreiche Projekte realisieren konnten. Damit haben wir gemeinsam auch mit der VhU einen Beitrag zur Diskussion des Themas leisten können. Wir freuen uns, wenn sich die hessenstiftung – familie hat zukunft auch in den nächsten Jahren der Themen an­ nimmt und wir weiterhin auf die gewohnt positive Weise zusammen die gesellschaft­ liche Entwicklung begleiten, untersuchen und in der Öffentlichkeit darauf aufmerk­ sam machen können: zur Verbesserung von Familien- und Väterfreundlichkeit! Marcus Schmitz

Marcus Schmitz, DiplomKaufmann, Geschäftsführer IGS Organisationsberatung GmbH, Köln, Unternehmensberater, Autor von Fachpublikationen und Initiator zahlreicher Studien, Arbeitsschwerpunkt: Demografiemanagement in Unternehmen (z.B. Familien-/Väterfreundlichkeit, Diversity, Chancengleichheit, Gesundheitsmanagement)


Öffentlichkeitsarbeit

Klappern gehört zum Handwerk Überlegungen zur Öffentlichkeitsarbeit von Stiftungen Klappern gehört zum Handwerk“, wer wollte da schon widersprechen? Klap­ pern als Nebeneffekt, wenn gearbeitet wird – das ist einfach so, ein Fakt! Erst recht, wenn man die buchstäbliche Her­ kunft dieser Redensart im Mittelalter imaginiert. Die mittelalterlichen Handwerker mach­ ten nämlich durchaus bewusst und zielgerichtet Krach – und damit waren mitnichten die Nebengeräusche ihrer jeweiligen Tätigkeit gemeint, mit einer Klapper aus Holz machten sie auf sich aufmerksam; frühe „Werber“ in eigener Sache also! Gutes stiften und darüber reden Muss aber das Klappern als Begleitmusik – gerade bei gemeinnützigen Aktivitäten – wirklich sein, gehört es konstituierend dazu? Oder handelt es sich dabei nicht eigentlich auch nur um schnöde „Rekla­ me“, wenngleich für den guten Zweck? Gibt es nicht sogar in der Bibel, bei Mat­ thäus 6, 1-4, eine uralte Handlungsan­ weisung, die zusammengefasst lauten könnte: Tue Gutes und sprich NICHT darüber!? Und wurde der heute so ge­ läufige Spruch „Tue Gutes und sprich darüber!“ nicht erst im 20. Jahrhundert vom hessischen Landtagsabgeordneten und späteren Bundespolitiker Walter Fisch (1910-1966) geprägt, ist also eine diskussionswürdige Idee der Moderne? In jedem Fall gehört „Klappern“ seit frü­ hesten Zeiten der menschlichen Kultur­ geschichte zum Handwerk dazu, ja mehr noch: Es wird als eigenes Handwerk ver­ standen – und das aus gutem Grund. Die „Public Relations“ in ihrer Gesamtheit, die „öffentlichen Beziehungen“ und ihre

Kommunikationswege sind aus unserer kulturellen Verfasstheit nicht mehr weg­ zudenken, sie konstituieren viele Berei­ che des gesellschaftlichen Lebens nach­ gerade. Dennoch sei die Frage gestellt, ob eine Stiftung, die Gutes tut, auch unbedingt darüber reden muss. Die Antwort ist ein klares „Jein“! Oder besser: Ja, aber! Und zwar: Ja nur, wenn erstens PR statt Werbung betrieben wird – und zweitens die Zielrichtung stimmt! Es darf bei einer Stiftung nicht ums „Ver­ kaufen“ gehen, wohl aber ums „SichVerkaufen“ – und zwar positiv! Das geschieht nicht, indem eigene Leistun­ gen zweckdienlich „modifiziert“ einer nicht näher bestimmten Öffentlichkeit penetrant unter die Nase gerieben wer­ den, sondern indem man schlicht dafür sorgt, bei (und auch mit) anderen „im Gespräch zu bleiben“. Nicht unbedingt immer „Talk of the town“, wohl aber vielleicht ein „Talkabout“. Wie will die Stiftung gesehen werden? Auch die besten Projekte verlieren an Bedeutung, wenn niemand Notiz davon nimmt! Auch bei ehrenamtlichem Enga­ gement wollen Förderer aufmerksam ge­ macht, Teilnehmer motiviert oder mög­ liche Nachahmer angesprochen werden. Dabei gilt: die Stiftung bestimmt, wie Sie gesehen werden will! Umso erstaunlicher ist es eigentlich, dass noch vor gar nicht allzu langer Zeit eine Pilotstudie der Georg-August-Universi­ tät Göttingen zur Öffentlichkeitsarbeit deutscher Stiftungen zu einem Ergebnis kommt, das die Autoren in den folgen­

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Öffentlichkeitsarbeit

den dürren Worten zusammen fassen: „Die ersten Ergebnisse zeigen, dass Pu­ blic Relations primär als Information über Stiftungstätigkeit und –ziele verstanden und eingesetzt werden. Weiterhin liegen in den meisten Stiftungen keine ausge­ arbeiteten PR-Konzeptionen vor. Ferner dominieren Maßnahmen der klassischen Pressearbeit. Eine wesentliche Restrik­ tion für die Maßnahmengestaltung der Öffentlichkeitsarbeit stellt zudem das häufig knapp bemessene PR-Budget dar. Auch eine konsequente und regelmäßige Erfolgskontrolle der PR-Arbeit kommt in einem Großteil der betrachteten Stiftun­ gen nicht zur Anwendung. Diese und andere Ergebnisse führen zu der Erkennt­ nis, dass auch die (großen) Stiftungen die Möglichkeit einer aktiven und professio­ nellen Kommunikationsarbeit noch längst

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nicht ausgeschöpft haben“ (Marquardt, J./Blank, M., Öffentlichkeitsarbeit deut­ sche Stiftungen. Göttingen 1999, S. 1.) Der Bundesverband Deutscher Stiftun­ gen hat diese Lücke erkannt und ein Forum „Stiftungskommunikation“ als Serviceleistung errichtet. Zudem wer­ den seit 2006 mit dem jährlichen Preis „KOMPASS“ Beispiele richtungsweisen­ der Kommunikation von Stiftungen aus­ gezeichnet. Zu ihrem zehnjährigen Ju­ biläum hat sich auch die hessenstiftung – familie hat zukunft in einer Kategorie um den Preis beworben und ist nomi­ niert worden. Professionalisierung hat ihre Kosten und Grenzen Allen Stiftungstagen und Vernetzungs­ versuchen zum Trotz bleibt die Frage: Ist


Öffentlichkeitsarbeit

es die Angst davor, doch Werbung zu betreiben und so in die Eigenlob-Falle zu tappen? Oder ist es, viel schlimmer noch, schlicht das Unwissen oder eine krasse Fehleinschätzung der Wichtigkeit von PR/Öffentlichkeitsarbeit, die viele Stif­ tungen davon abhält, genau hier zu in­ vestieren (denn ohne Investitionen, mo­ netärer und/oder personeller Art geht es nicht!) und vorhandene Potentiale auszu­ schöpfen? Diese Frage stellt sich immerhin in ei­ ner Zeit, in der selbst kleinere Kommu­ nen ihre eigene Corporate Identitiy (CI) professionell erarbeitet haben und auch pflegen, in der die meisten Kirchenge­ meinden Ausschüsse für Öffentlichkeits­ arbeit haben, und in der es sogar bei Vereinen einen Etat für Marketing- und PR gibt – einer Zeit also, in der das Be­ wusstsein für den Stellenwert von PR und Öffentlichkeitsarbeit längst bei den Aktiven in der Mitte der Gesellschaft an­ gekommen ist. Dass ein richtiges und gelingendes „Klappern“ dabei natürlich kein Kin­ derspiel ist und die entsprechenden An­ strengungen, Ressourcen und – ja, auch - Liebe erfordert, kann man als MedienMitarbeiter tagtäglich erfahren. Und das nicht nur, weil die ständigen Anrufe von hartnäckigen PR-Mitarbeitern nerven, die noch einmal nachfragen wollen, ob man nicht doch einen Beitrag zum neuen Buch über das Heilen mit Stimmgabeln mache könnte oder weil eine nachdrück­ liche E-Mail in zigfacher Ausfertigung zum Benefiz-Konzert der Nachwuchs­ heavymetalband „Bembel of Death“ in Nidderau-Heldenberger das Postfach verstopft. Sondern auch, weil auch ein

Medienunternehmen oder eine öffent­ lich-rechtliche Rundfunkanstalt nicht um­ hin kommen, jeden Tag aufs Neue eine professionelle, erfolgreiche PR-Arbeit zu machen. Und dieses Klappern fällt auch Medien- und Kommunikationsprofis, die eigentlich ihr Handwerk beherrschen, nicht immer ganz leicht! Aber sagen Sie’s bitte nicht weiter – das wäre ja sonst negative PR… Jörg Bombach

Jörg Bombach, Hörfunkund Fernsehmoderator, ist hr3-Programmchef beim Hessischen Rundfunk. Seit 2001 ist er Vorstandsmitglied der hessenstiftung – familie hat zukunft.

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Öffentlichkeitsarbeit

Die Hessenstiftung und das Web 2.0 Auch wenn Skeptiker immer noch an­ deres behaupten: Öffentlichkeitsarbeit via Twitter und andere Web 2.0-Kanäle wirkt. Tatsächlich mangelt es noch an empirischen Untersuchung, die für eine eindeutige Beweisführung herangezo­ gen werden könnten. Noch sind es in der Regel einschlägige Agenturen und Mar­ keting-Experten, die die Wirksamkeit und Bedeutung von Social Media im Öf­ fentlichkeitsarbeits- und Marketing-Mix anhand eigener Praxisbeispiele – und oft nicht zuletzt auch aus Eigennutz – be­ legen. In jedem Fall lohnt sich aber der Blick auf den Einzelfall. Und dabei wird dann doch deutlich, dass Web 2.0-Tools eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Verbreitung von Informationen ha­ ben. Erstkontakt über Twitter Twitter und die hessenstiftung – familie hat zukunft: Auch hier wirkt die Öffent­ lichkeitsarbeit via Kurznachrichtendienst bzw. Microblogging. Auch mein erster ernsthafter Kontakt zur Hessenstiftung erfolgte via Twitter. Ich wusste zwar, dass die Karl Kübel Stiftung ebenso wie die Hessenstiftung in Bensheim ihren Sitz hat. Wirklich auseinandergesetzt habe ich mich mit den Zielen, Inhalten und Aktivitäten der beiden südhessischen Stiftungen bis dato nicht. Hessenstiftung-Geschäftsführer Dr. Ul­ rich Kuther hat für den Plakat-Wettbwerb „Neue Väter” einen Twitter-Account ein­ gerichtet und mein Erstkontakt erfolgte genau darüber. Kurz vor dieser virtuellen und noch losen Kontaktaufnahme hat­ te ich meinen Vater-Blog Passionpapa. de gestartet. Ich war und bin dafür im­

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Hessenstiftung auf Twitter

mer auf der Suche nach interessanten Projekten und Themen, die zu meinem ganz persönlichen Thema “Vatersein, und zwar mit Spaß” passen. Ich suche als Blogger neben meinen Berichten aus dem Familienalltag auch Anlässe für eine Berichterstattung. Social Media nutze ich zur Verbreitung von Inhalten und für die Recherche gleichermaßen. Die Schwelle ist für beide Aktivitäten niedrig. @plakate hieß damals noch der TwitterAccount der Hessenstiftung, mit dessen Hilfe auf den Plakatwettbewerb “Neue Väter” und die zugehörige Ausstellung hingewiesen wurde. Heute erkennt man wieder ganz genau wer sich hinter dem Account efindet: Der Hessenstiftung-Ac­ count heißt heute @hessenstiftung. Der Name des Twitter-Accounts oder der Fa­ cebook-Seite ist in der Web 2.0-Welt fast genauso wertvoll wie die Webadresse. Ich habe in meinem Blog über den Pla­ katwettbewerb, die Ausstellung und den Kalender berichtet. Mein Angebot ist spitz auf die Gruppe der Väter (erweitert die Familie) zugeschnitten – und erreicht diese Zielgruppe auch. Über den Erst­ kontakt via Twitter kam es auch zu einer


Öffentlichkeitsarbeit

realen Begegnung mit Herrn Dr. Kuther. Bei aller Faszination für das Virtuelle geht es schließlich auch im Zusammenhang mit Social Media um Menschen, Organi­ sationen und echte und nutzbringende Kontakte. Nur war eine Vernetzung frü­ her nicht so einfach möglich. Der Vorteil heute: Von einer losen Verbindung bis hin zu einer engen Beziehung ist im Web 2.0 alles denkbar. Man kann die Stärke der Verbindung leicht dosieren – und es lassen sich unterschiedliche Netzwerke miteinander verbinden. Das zeigt sich gerade eindrucksvoll in dem Erfolg von Google+. Dieses soziale Netzwerk des US-Internet-Giganten Google basiert auf der Zusammenstellung von Kreisen. Ein Kreis ist eine Gruppe von Anwendern, die durch eine oder mehrere Eigen­ schaften charakterisiert sind. Als Teil des Netzwerks kann der Anwender andere Nutzer in seine selbst definierten Kreise aufnehmen. Wird nun eine Information verbreitet (geteilt), dann kann man be­ stimmen für welchen Kreis diese interes­ sant sein könnte. Damit wird die Infor­ mationsverbreitung zielgerichteter. Mit der Nutzung von Kreisen kommt es zu einer Vernetzung von Netzwerken, die für den einzelnen von großer Bedeutung sein können. Vor allem aber können Un­ ternehmen und Organisationen davon profitieren. Damit haben auch Stiftun­ gen wieder einen schönen Hebel. Noch vor wenigen Monaten hätte man nicht geglaubt, dass es tatsächlich ein soziales Netzwerk geben könnte, das Facebook Konkurrenz machen könnte. In Expertenkreisen wird ihm nun gute Chancen eingeräumt, dass es sich etab­ lieren kann.

Das steht beispielhaft für den rasanten Wandel des Internet und dessen disrup­ tiven Charakter. Zehn Jahre sind eine lange Zeit – wenn man die analoge Zeit zugrunde legt. In der digitalen Welt sind zehn Jahre eine Ewigkeit. Eine Organi­ sation wie die Hessenstiftung hat nach zehn Jahren – angelehnt an die Lebens­ zeit des Menschen – bekanntermaßen noch nicht einmal die Pubertät erreicht. Was ist Social Media? Social Media haben das Zeug dazu, die (Massen-)Kommunikation zu revolutio­ nieren. Während klassische Medien dem Sender-Empfänger-Prinzip folgen, geht es im Web 2.0 darum, dass jeder Emp­ fänger und Sender zugleich ist. Dialog statt Monolog, Diskussion statt Vortrag. Diese Entwicklung birgt gleichermaßen Chance und Risiken. Die Social Media-Klaviatur ist umfang­ reich. Um die Vielfalt deutlich zu ma­ chen, hat sich die Darstellung der ein­ zelnen Werkzeuge in dem Social Media Prisma etabliert (http://www.ethority.de/ weblog/social-media-prisma/). Das Soci­ al Media Prisma ist ein Gemeinschafts­ werk der Webnutzer und steht unter Creative Common-Lizenz. Damit kann es jeder unter Nennung der Quelle verwen­ den und weiterentwickeln helfen. In der “bunten Blume” sind die Social Media Tools in verschiedene Kategorien zusam­ mengefasst dargestellt. Dazu gehören soziale Netzwerke wie Facebook und Google+. Auch die Blog-Plattformen wie Wordpress und Tumblr haben dort ein ei­ genes „Tortenstück“. Dazu kommen Vi­ deoplattformen (unter anderem Youtube und Vimeo), Plattformen zum Teilen von

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Öffentlichkeitsarbeit

Dokumenten (wie Scribd, Slideshare und Issuu) und Micromedia- beziehungswei­ se Microblogging-Dienste wie Twitter und Yammer. Mit dieser rudimentären Aufzählung ist gerade einmal ein kleiner Bruchteil der Möglichkeiten erwähnt. Wer sich für irgendein Werkzeug aus der Welt des Web 2.0 entscheidet, muss sich im Vorfeld mit den Konsequenzen be­ schäftigen. Wer im Web 2.0 den Dialog will, bekommt ihn nämlich in der Regel auch. Im Bereich der Unternehmens­ kommunikation beispielsweise wird stets darauf hingewiesen, dass man eine klare Strategie entwickeln muss. Das gilt sicher auch, wenn sich Stiftungen intensiv mit dem Einsatz von Social Media-Werkzeu­ gen beschäftigen. In jedem Fall müssen Ressourcen vorhanden sein, damit man sich zeitnah und offen mit dem Feedback der Nutzerschaft auseinandersetzen und darauf reagieren kann. Zu den strategischen Überlegungen vor dem Start in die Öffentlichkeitsarbeit mit Social Media gehört die Frage nach der Art der Beteiligung am und im Web 2.0. Es gibt nämlich unterschiedliche Ebenen

Hessenstiftung auf Facebook

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der Beteiligung am sozialen Web. Die erste Stufe ist die passive Anteilnahme, die Beobachtung. Die Organisation be­ ziehungsweise das Unternehmen startet beispielsweise einen Twitter-Account und liest bei anderen mit und beobach­ tet, ob und was über die eigene Organi­ sation geschrieben wird. In einer zweiten Stufe wird die Beteiligung reaktiv. Man reagiert auf die Inhalte, die die Orga­ nisation oder das Unternehmen selbst betreffen. Hierbei kann es sich natürlich um positive wie negative Aspekte han­ deln. In beiden Fällen ist das Reagieren empfehlenswert. Die dritte Stufe der Nutzung ist proaktiv. Es werden ganz bewusst Themen gesetzt, Informatio­ nen in das soziale Web hineingetragen, Netzwerke für die eigenen Interessen aktiviert. Dazu kann auch gehören, nicht nur die Kanäle zu bespielen, die einem selbst gehören. So ist es beispielsweise möglich, Beiträge auf anderen Blogs zu kommentieren oder Forumsbeiträge zu verfassen. Auch das Verbreiten eigener Inhalte auf den Facebook-Seiten anderer Nutzer und Organisationen ist eine Mög­ lichkeit, um zielgruppengenau Themen zu setzen und auf sich und seine Arbeit aufmerksam zu machen. Wer es sich leisten kann, so tief in das Thema einzusteigen, der wird auch die Erfolge messen können und wollen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich auch mit dem Thema Social Media Monitoring auseinanderzusetzen. Wer nicht gleich Agenturen damit beauftra­ gen oder teure Software dafür einsetzen möchte, kann das Ganze in einem ers­ ten Schritt mit Bordmitteln bestreiten. So bietet Facebook Seitenbetreibern mit


Öffentlichkeitsarbeit

seinen „Insights“ standardmäßig ein kleines Statistik-Werkzeug an, mit des­ sen Hilfe man einen groben Überblick über seine Nutzerschaft erhalten kann. Auf Twitter ist die Zahl und Qualität der Follower ein wesentlicher Aspekt. So bie­ ten alle Plattformen die Möglichkeit, in irgendeiner Form den Erfolg der Öffent­ lichkeitsarbeitsbemühungen zu messen. Gerade Einrichtungen, Organisationen und Institutionen im nicht-kommerziellen Bereich ist die Social Media-MonitoringPlattform Pluragraph (www.pluragraph. de) interessant. Anhand der Followerund Fan-Zahlen auf Twitter, Facebook und Google+ wird ein Wert ermittelt, der eine Aussage über die Relevanz einer Organisation im Social Web macht. Auch die Hessenstiftung hat sich dort einge­ tragen und liegt im Ranking der bislang rund 2700 eigetragenen nicht-kommer­ ziellen Institutionen solide im Mittelfeld. Von anderen Bereichen lernen: Crowdfunding Das Mitmach-Internet, wie das Web 2.0 auch gern genannt wird, bietet Organi­ sationen wie Stiftungen jenseits der Öf­ fentlichkeitsarbeit noch weitere Möglich­ keiten. So ist es im Kulturbereich bereits üblich, sich finanzielle Mittel von vielen über das Internet zu beschaffen. Das Stichwort: Crowdfunding. Viele einzelne spenden wenig, womit wiederum eine erkleckliche Summe zusammen kommen kann. Auch Stiftungen bietet sich hier die Gelegenheit, beispielsweise für bestimm­ te Projekte Mittel der User zu generieren oder gar Zustiftungen zu realisieren. In der Regel werden beispielsweise im Kul­ turbereich die Mittel über einschlägige

Hessenstiftung auf YouTube

Plattformen wie kickstarter.com und ro­ ckethub.com oder im deutschsprachigen Bereich startnext.de gesammelt. Aber auch eigene Initiativen sind denkbar. Ausblick Die hessenstiftung – familie hat zukunft ist im Web 2.0 angekommen. TwitterAccount und Facebook-Seite werden aktiv bespielt. Allgemeine Informationen und Verweise zu den für die Hessenstif­ tung relevanten Themen werden geteilt. Die eigenen Projekte werden über die Kanäle adressiert und bekannt gemacht. Auch die intensive Bearbeitung des You­ tube-Kanals steht auf der Agenda. Wenn diese Festschrift erschienen ist, dann wird auch der eigene Youtube-Kanal wesentlich für die Öffentlichkeitsarbeit der Hessenstiftung genutzt. Gerade für die Ziele, die die Hessenstiftung verfolgt ist das interaktive und proaktive Internet hervorragend geeignet. In Zukunft wird es darauf ankommen, die Ansätze konti­ nuierlich auszubauen. Die Social-MediaKlaviatur hat viel zu bieten. Aber Virtuo­ sität erfordert Anstrengungen, Disziplin

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Öffentlichkeitsarbeit

und eine intensive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Marketings sozialer Netzwerke. Die Hessenstiftung ist auf die Wahrnehmung in der Öffent­ lichkeit angewiesen. Zahlreiche Stiftun­ gen haben – wie die Hessenstiftung – das Potenzial von Social Media erkannt. Eine Vielzahl dieser Einrichtungen verfü­ gen beispielsweise über eine FacebookSeite. Die Stiftungen sind untereinander gut vernetzt. Der Anker ist der Bundes­ verband der Deutschen Stiftungen, der aktiv in den einschlägigen Kanälen un­ terwegs ist. Stiftungen haben mit ihrem gesellschaftlich relevanten Engagement inhaltlich viel zu bieten, was gerade über Web 2.0-Kanäle gut zu vermitteln ist. Dazu kommt, dass die richtigen Leute angesprochen und erreicht werden kön­ nen. Die nächsten zehn Internet-Jahre werden sicher genauso spannend wie die vergangenen zehn Jahre. Und das ist sicher eine Aussage, die auch auf die Hessenstiftung zutrifft - auch jenseits al­ ler Social Media-Aktivitäten übrigens. Christoph Lippok

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Christoph Lippok, (1970), lebt und arbeitet an der Bergstraße und im Rhein-Main-Gebiet. Nach dem Studium der Publizistik, Soziologie und Psychologie in Mainz und Wien hat er bei einer großen südhessischen Regionalzeitung volontiert. Schon während des Studiums Mitte der 90er Jahre hat er sich intensiv mit dem Internet als Medium beschäftigt. Er hat in mehreren Online-Redaktionen als Nachrichtenredakteur gearbeitet. Der Journalist und Blogger (u.a. www.passionpapa.de) arbeitet als PR-Redakteur für eine Bank. Christoph Lippok ist verheiratet und hat drei Kinder.


Publikationen

Publikationen 2004 Kinderbarometer Hessen 2004 Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern in Hessen. Ergebnisse der Erhe­ bung im Schuljahr 2003/2004. Instituts­ bericht zum ersten Erhebungsjahr. 2004.

Kinderbarometer Hessen 2008 Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern in Hessen. Ergebnisse der Er­ hebung im Schuljahr 2007/2008. Insti­ tutsbericht zum vierten Erhebungsjahr. 2008.

2006 Kinderbarometer Hessen 2005 Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern in Hessen. Ergebnisse der Er­ hebung im Schuljahr 2004/2005. Insti­ tutsbericht zum zweiten Erhebungsjahr. 2006.

Zeit für Väter Ergebnisse der Online-Befragung „An­ forderungen von Vätern an einen famili­ enfreundlichen Arbeitgeber“. 2008.

Ich bin gerne Vater! Eine Erfahrungswerkstatt für Väter, die eine gesunde Balance zwischen Job, Frau und Kindern suchen. 2006. 2007 Erfolgsfaktor Familienfreundlichkeit Nutzen, Strategie, Umsetzung. Leitfäden für Unternehmer, Personaler, Führungs­ kräfte und Mitarbeiter. 2007.

2009 LBS-Kinderbarometer Deutschland 2009 – Länderbericht Hessen Stimmungen, Meinungen, Trends von den Kindern und Jugendlichen in Hes­ sen. 2010. 2010 Barometer Familienfreundlichkeit Verantwortung und Engagement in Un­ ternehmen. 2010.

Kinderbarometer Hessen 2006 Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern in Hessen. Ergebnisse der Erhe­ bung im Schuljahr 2005/2006. Instituts­ bericht zum dritten Erhebungsjahr. 2007. 2008 LBS-Kinderbarometer Deutschland 2007 – Länderbericht Hessen Stimmungen, Meinungen, Trends von den Kindern und Jugendlichen in Hes­ sen. 2008.

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Impressum

Impressum Herausgeber: hessenstiftung – familie hat zukunft Dr. Ulrich Kuther Darmstädter Str. 100 64625 Bensheim E-Mail: u.kuther@hessenstiftung.de Homepage: www.hessenstiftung.de © hessenstiftung – familie hat zukunft, Bensheim, 2011. Bilder: Die hessenstiftung – familie hat zukunft dankt den Projektpartnern, deren Initiativen und Projekte in diesem Band vorgestellt wurden, für die Bereitstellung von Bildmaterial. Die Einzelnachweise finden sich jeweils direkt unter dem Bild. Konzept und Redaktion: Dr. Ulrich Kuther Die hessenstiftung – familie hat zukunft dankt den Autorinnen und Autoren für die Mitwirkung in dieser Veröffentlichung. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers wieder. Wenn Sie aus dieser Publikation zitieren wollen, dann bitte mit genauer Angabe des Herausgebers und des Titels. Bitte senden Sie zusätzlich ein Belegexemplar an den Herausgeber. Satz und Gestaltung: WR design, Sandra Liebig www.wr-design-online.de

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