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Mittwoch, 4. März 2015

Deutsche Ausgabe

Die monatlichen Beilagen erscheinen in verschiedenen Sprachen in führenden internationalen Tageszeitungen: The Daily Telegraph, Le Figaro, The New York Times.

Diese bezahlte Sonderveröffentlichung wird dem HANDELSBLATT beigelegt. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines (Russland) verantwortlich. Die Handelsblatt-Redaktion ist bei der Erstellung der bezahlten Sonderveröffentlichung nicht beteiligt.

Autobranche in der Krise: Vom Hoffnungsträger zum Sorgenkind UNSER THEMA DES MONATS

SEITEN 4-6 AP

Alexander Ausan, einer der bekanntesten Ökonomen Russlands, spricht im Exklusivinterview darüber, wie es mit der Wirtschaft des Landes weitergeht,

Vom Hofjuwelier zum Flüchtling welche Fehler der Staat vermeiden sollte und was das Land braucht, um vom Öl wegzukommen. SEITE 2

Die berühmten Eier aus der Hand des Juweliers Peter Carl Fabergé stehen heute in Russland für den Prunk vergangener Tage. Sein Erfolgsgeheimnis lag in der Verschmelzung russischer

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Die Lehren der Krise

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RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Ökonomie

Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

INTERVIEW ALEXANDER AUSAN

„Wir müssen das Steuer umlegen“ ALEXANDER AUSAN, EIN BEKANNTER RUSSISCHER ÖKONOM, SPRICHT IM INTERVIEW ÜBER MÖGLICHE WEGE AUS DER KRISE UND FEHLER, DIE ES JETZT Kürzlich hat die Agentur Standard & Poor’s Russlands Bonität auf spekulatives „Ramsch“-Niveau herabgestuft. Duma-Abgeordnete drohten daraufhin, den Ratingagenturen die Arbeit im Land zu verbieten, weil sie die Wirtschaft Russlands „absichtlich unterbewerten“ würden. Wie wahrscheinlich ist dieser Schritt und wozu kann er führen? Wenn die Leute anfangen, über Ratingagenturen zu diskutieren, vergessen sie häufig, dass Ratings auf bestimmte Interessen ausgerichtet und dazu da sind, dass Investoren sich orientieren können. Wenn sich also die Meinung durchsetzt, dass uns das Rating egal sei, so bedeutet das, dass wir uns nicht für Investitionen aus anderen Ländern interessieren. Wobei es im konkreten Fall nicht nur um jene Länder geht, zu denen der Zugang aufgrund der Sanktionen versperrt ist, sondern auch um jene, die keine Sanktionen gegen uns verhängt haben und die sich natürlich an den Ratings orientieren. Welche Finanzquellen verbleiben uns also? Eigentlich nur staatliche Investitionen. Das ist das, was ich als die „Mobilisierungsvariante light“ bezeichne, weil man mit Staatsmitteln versuchen kann, einen Weg aus der Krise zu finden und das Wirtschaftswachstum im Land anzukurbeln. Sie haben mit der Warnung vor einem Mobilisierungsszenario, bei dem es zu massiven staatlichen Einmischungen in die Wirtschaft kommt, für Diskussionen gesorgt. Eine Ausprägung des Szenarios können Kapitalkontrollen sein. Wie stark würde sich dies auf den En-

thusiasmus der Geschäftswelt und ausländischer Investoren auswirken? Bei Kapitalkontrollen handelt es sich um folgende Situation: Alle hereinlassen, aber niemanden herauslassen. Wer kommt schon gerne zu Besuch, wenn er nicht weiß, ob er das Haus wieder verlassen kann und unter welchen Bedingungen? Die gegenwärtige Regierung und die Zentralbank sind derzeit, so scheint es, nicht darauf eingestellt, solche Maßnahmen zu veranlassen. Sie wollen das nicht, weil sie verstehen, dass sie neben einer einfacheren Marktregulierung damit eine Art „Sodbrennen“, also negative Reaktionen, hervorrufen werden. Wird es Ihrer Meinung nach in den nächsten zwei bis drei Jahren zu Protesten kommen, sollte die Wirtschaftskrise sich verschärfen? Zu sozialen Spannungen kann es natürlich kommen, meines Erachtens sogar recht bald. Die Inflation und der Rückgang der Beschäftigung, der gegenwärtig zu beobachten ist und auch in den nächsten Monaten noch zu beobachten sein wird, wird ganz sicher – gelinde gesagt – den Unmut der Bevölkerung hervorrufen. Es stellt sich die Frage, wie darauf reagiert werden sollte. Eine Möglichkeit besteht darin, genau so zu reagieren wie in den Jahren 2008 bis 2009. Zum einen wurde die Situation damals „frei Hand“ geregelt: Dort, wo es am stärksten brannte, wurden besondere Maßnahmen ergriffen. Zum anderen hob man damals die Renten und die Löhne in den Staatsbetrieben an. Mittelfristig betrachtet war das sehr

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READ IN MARCH IN RUSSIA DIRECT QUARTERLY REPORT

PHOTOXPRESS

ZU VERMEIDEN GILT.

BIOGRAFIE BERUF: ÖKONOM ALTER: 60

Alexander Ausan wurde 1954 in Norilsk, in Nordsibirien, geboren. Absolvierte 1979 ein Studium an der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Staatlichen Universität (MGU). Erlang-

schlecht, weil der Wirtschaft eine Last aufgebürdet wurde, die sie nicht zu tragen vermochte. Heute, so denke ich, sollte eine Inflationsanpassung der Löhne im staatlichen Sektor erfolgen. Außerdem muss vor dem Hintergrund der Krise das Humankapital gerettet werden. Die Effektivität der Investitionen in das Humankapital muss sich durch eine Verbesserung der Bildung und des Gesundheitswesens erhöhen, aber die Finanzierung darf nicht gekürzt werden. In welche Bereiche der russischen Wirtschaft sollte jetzt, zu Zeiten der Krise und der Unsicherheit, am besten investiert werden? Was die Wirtschaftszweige betrifft, gibt es ein Mantra, das ich stets wiederhole: Wenn wir die Entwicklungsvarianten für Russland erörtern, verweisen wir immer wieder auf unsere Bodenschätze und vergessen vollkommen, dass in diesem Land Menschen wohnen, die über eine gewisse Kultur, Psychologie und Fähigkeiten verfügen. Aus soziokultureller Sicht können wir, wie wir es heutzutage sehen, sagen, dass Russland ein schlechter Ort für Massenproduktion und Großserienfertigung ist, wir dafür wesentlich besser Kleinserien einzigartiger Produkte fertigen können. Deshalb würde ich sagen, dass gegenwärtig, wie auch in anderen Perioden, vor diesem kulturellen Hintergrund Investitionen in Versuchsfertigungen, in kreative Industrien und in den Kleinserien-Maschinenbau sinnvoll wären. Kann denn Russland, wenn man berücksichtigt, dass die russische Regierung die Krise und Sanktionen ständig als Chance zur Mo-

te 1991 den Doktortitel und 1993 den Professorentitel an der MGU. Ist heute Dekan an der Wirtschaftsfakultät an seiner Heimatuniversität und Leiter des Instituts für Institutionelle Ökonomie. Zwischenzeitlich war Ausan in verschiedenen Gremien als Berater des Präsidenten der Russischen Föderation tätig.

dernisierung bezeichnet, die Krise tatsächlich nutzen und die Wirtschaft erneuern? Ich glaube, nein. Wenn von einer Innovationsoffensive die Rede ist, sollte nicht vergessen werden, dass es für umfangreiche Innovationen unzureichend ist, sich in einer schwierigen Situation zu befinden. Man muss über ein sehr gutes institutionelles Umfeld verfügen. Man kann nicht behaupten, dass wir nicht versucht hätten, dieses Umfeld zu errichten, aber wir können auch nicht behaupten, dass wir das geschafft haben. Deshalb gehe ich davon aus, dass es in der Wirtschaftsstruktur Russlands natürlich zu Veränderungen kommen wird. Sie werden durchaus positiv sein und es wird wahrscheinlich zu einer gewissen Diversifizierung kommen. Aber einen Innovationsschub wird es während der Krise nicht geben. Was kann in diesem Falle die negativen Auswirkungen der gegenwärtigen Krise verringern, wenn weder das institutionelle Umfeld noch die entsprechenden Bedingungen, Institutionen oder die geopolitische Situation geeignet sind? Wenn wir davon sprechen, welchen positiven Effekt ich von der Krise erwarte, so ist das eine Überdenkung der Perspektive für Russlands Zukunft. Welche Lehren hätten wir aus der Krise 2008/2009 ziehen sollen? Dass wir nicht zu dem bisherigen, auf Naturressourcen basierenden Wirtschaftsmodell zurückkehren dürfen. Nichtsdestoweniger hat die Regierung nach der Krise versucht, den Status quo wiederherzustellen. Das Ergebnis war der

Rückgang des Wachstums. Meiner Meinung nach müssen wir von der Wirtschaft der Rohstoffabhängigkeit wegkommen und übergehen zu einer Wirtschaft, die auf hochqualifiziertem Human-kapital basiert. Denn Russland verfügt über zwei Wettbewerbsvorteile. Alle wissen von unserem Reichtum an Naturressourcen, aber allen ist auch etwas anderes bekannt: Seitdem wir in Russland über eine sehr gute Bildung und Wissenschaft verfügen, beliefern wir mit unseren Köpfen die ganze Welt. Diese unsere Ressource ist produktiver als unser Erdöl. Aber andererseits haben wir es gegenwärtig mit einer Abwanderung von Fachkräften, der Krise in der Ukraine, wirtschaftlicher Instabilität und Unsicherheit zu tun, und die politische Realität verstärkt den Abfluss des geistigen Kapitals nur noch mehr. Wie sollte man damit umgehen? Wenn die Menschen auswandern, bedeutet das zunächst nicht, dass sie den Kontakt zum Land aufgeben. Sollte es jedoch zu einem Mobilisierungsszenario kommen, werden wir unsere Know-how-Träger verlieren. Wer möchte schon unter solchen Bedingungen arbeiten? Offensichtlich nur jene, die im militärisch-industriellen Bereich beschäftigt sind, aber eben mit jenen Einschränkungen, die mit dieser Arbeit für sie und ihre Familien verbunden sind. Insgesamt scheint mir, dass wir in der Wirtschaft das Steuer umlegen müssen weg von Ressourcen hin zum Humankapital. Wir müssen unsere Ziele umformulieren und andere, inklusive Institutionen aufbauen, die die Attraktivität des Landes erhöhen. Gegenwärtig sind unsere Institutionen vorwiegend extraktiv: Das führt dazu, dass wir aus unserem Land etwas herauspressen, was dann in einem anderen Land genutzt wird. Das Gespräch führte Pawel Koschkin. Die ungekürzte Fassung des Interviews erschien zuerst bei Russia Direct und ist in englischer Sprache unter › http://bit.ly/1zCmPsY verfügbar.


Konjunktur

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Sanktionen Die Bilanz nach einem Jahr fällt für die Wirtschaft düster aus nen jedoch nur Banken rechnen, die die Kreditvergabe an Unternehmen aus der Realwirtschaft ausbauen und strenge Vorgaben erfüllen.

Industrieproduktion stockt

Russlands Erdölriese Rosneft gehört zu den Leidtragenden der westlichen Sanktionen im Energiebereich.

Russland braucht Kapital und Technologien. Beides ist derzeit Mangelware. Zusätzlich drohen Maßnahmen zum Schutz der eigenen Hersteller, weiteren Schaden anzurichten. ALEXEJ LOSSAN RBTH

Westliche Sanktionen haben die Energieunternehmen und das Bankensystem Russlands empfindlich getroffen. Das belegt eine Studie der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst. Äußere Faktoren seien demnach verantwortlich für die Misere. Neben dem sinkenden Ölpreis sei die Einführung der Finanz- und Technologiesanktionen ausschlaggebend, heißt es in der Analyse. Habe man im Herbst noch von einer vorübergehenden Krise sprechen können, zeichne sich nun eine längerfristige Tendenz ab. Das Exportverbot für amerikanische und europäische Technologien im Energiebereich stellt beispielsweise die Förderung von Erdöl in schwer zugänglichen Regionen infrage. Das amerikanische Unternehmen ExxonMobil hat neun von zehn Projekten zur Förderung von

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Erdöl im Nordpolargebiet, in Westsibirien und im Schwarzmeer-Schelf eingestellt. Partner in diesen Vorhaben war das staatliche russische Erdölunternehmen Rosneft. Nach einer vorliegenden Einschätzung werden 25 Prozent des russischen Erdöls mithilfe von Fracking-Verfahren gefördert, wofür die Ausrüstung in erster Linie in den USA hergestellt wird. Nach Einschätzung Sergej Khestanows, Dozent an der Fakultät für Finanzen und Bankgeschäfte der Akademie, könne die gegenwärtige För-

derung nicht ohne Serviceleistungen durch westliche Unternehmen gehalten werden. In den nächsten fünf bis sieben Jahren könnte im schlimmsten Fall ein Viertel der Fördermenge verloren gehen. Auch die Internationale Energieagentur geht wegen der Sanktionen von einem Rückgang der Förderung um bis zu fünf Prozent aus. Dabei ist es gerade erst ein Jahr her, dass die Experten dieser Agentur ein Wachstum der russischen Erdölförderung um 200 000 Barrel pro Tag vorhergesagt haben.

Gewinne der Banken schrumpfen Nicht weniger betroffen ist auch der Bankensektor. Finanzinstitute sind nun von westlichen Kapitalmärkten ausgeschlossen. So schrumpfte etwa der Gewinn der Sberbank, Russlands größtem Finanzinstitut, zum Jahresende 2014 um 22,1 Prozent auf etwa 4,3 Milliarden Euro. Um die Banken zu unterstützen, beschloss die russische Regierung, ihnen eine Billion Rubel (14,2 Milliarden Euro) zukommen zu lassen. Mit den zusätzlichen Mitteln kön-

AP

Öl und Banken unter Druck

Das Ausbleiben erschwinglicher Kredite und die Beschränkungen beim Technologieimport aus den Sanktionsländern führte dazu, dass Großbetriebe Investitionsprogramme zurückfahren mussten. So wuchs nach Angaben der offiziellen Statistikbehörde Rosstat die Industrieproduktion in Russland im Januar 2015 um 0,9 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum, während sie im Dezember noch um 3,9 Prozent gestiegen war. Rechnet man den saisonalen Faktor heraus, so sank die Industrieproduktion im Januar zum Vormonat sogar um 1,8 Prozent, während sie zuvor noch gestiegen war. Am empfindlichsten erwiesen sich die Auswirkungen der Sanktionen für die russische Pharmaindustrie und die Produktion medizinischer Geräte. Nach Angaben von Rosstat ging die Produktion russischer medizinischer Erzeugnisse, inklusive chirurgischer und orthopädischer Waren, im Januar 2015 um die Hälfte zurück. Anfang Februar beschränkte die Regierung sogar den Einkauf von importierten medizinischen Geräten und Erzeugnissen seitens staatlicher und kommunaler Einrichtungen. Die Behörden begründeten den Schritt damit, die heimische Wirtschaft unterstützen zu wollen. Das Gesundheitsministerium machte sich jedoch gegen diese Reform stark: Im Ministerium befürchtet man, dass eine solche Art Unterstützung der russischen Hersteller möglicherweise zu einer Krise in der russischen Medizin führen werde.

CHRONIK

Russland-Sanktionen im Überblick März 2014 • Als Reaktion auf die Eingliederung der Krim üben die Europäische Union und die USA Druck auf Moskau aus. Brüssel untersagt 21 Einzelpersonen die Einreise und friert deren Konten und Vermögenswerte ein, die sich innerhalb der EU befinden. Auch die US-Regierung beschließt Einreiseverbote und Kontensperrungen gegen sieben russische Regierungsvertreter.

Zudem stehen vier ukrainische Politiker auf der Liste, darunter der ehemalige Präsident Viktor Janukowitsch. April 2014 • Die US-Regierung führt Sanktionen gegen das Gasunternehmen Tschernomorneftegas, mit Sitz auf der Krim, und gegen mehrere hochrangige Beamte von der Halbinsel ein.

August 2014 • EU-Wirtschaftssanktionen treffen fünf russische Staatsbanken: die Gazprombank, Wneschekonombank (VEB), Russian Agriculture Bank (Rosselkhozbank) und auch die in Deutschland vertretenen Sberbank und VTB. Sie dürfen in der EU keine neuen Aktien oder Anleihen mit einer Laufzeit von mehr als 90 Tagen verkaufen.

Februar 2015 • Trotz Waffenruhe und Friedensplan hält die EU an neuen Sanktionen gegen Russland fest. Die Reisebeschränkungen und Kontensperrungen gelten für 19 weitere Personen aus Russland und der Ukraine. Zudem dürfen Europäer keine Geschäftskontakte zu den prorussischen Kampfgruppen unterhalten.


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Thema des Monats

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

RUSSLANDS AUTOMARKT SO OPTIMISTISCH DIE HERSTELLER IN GUTEN JAHREN SIND, SO BITTER IST DIE STIMMUNG, WENN ES ZUR KRISE KOMMT. ZUM ZWEITEN MAL SEIT 2009 MÜSSEN SIE EINEN DRAMATISCHEN EINBRUCH VERKRAFTEN.

RUBELKRISE TRIFFT AUTOBRANCHE MIT VOLLER WUCHT

DPA/VOSTOCK-PHOTO

Standorte der russischen Automobilindustrie

Russlands Automarkt ist in Katerstimmung. Nach Panikkäufen im Dezember müssen Händler und Hersteller nun einen dramatischen Einbruch der Verkaufszahlen hinnehmen.

gleich zum Januar 2014 betrug der Rückgang immerhin 26 Prozent. Wie Analysten der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers erklären, liegt der Hauptgrund in der makroökonomischen Situati-

Stück zurückgegangen. Anders als bei der letzten großen Krise liegt der russische Markt nicht im globalen Trend. Schließlich konnten der japanische, europäische und amerikanische Absatzmarkt eine positive Entwicklung vorweisen.

hohen Schutzzöllen belegt, um einerseits den Lada-Hersteller Avtovas zu schützen und andererseits ausländische Automobilkonzerne anzulocken. Bereits Ende 2008 eröffnete in Moskau das Re-nault-

Für die russische Volkswirtschaft haben der Pkw-Markt und die Autoindustrie eine große Bedeutung.

Verzwickte Situation

Im Dezember kam es zu Panikkäufen. Viele Verbraucher versuchten, ihre Rubelersparnisse vor dem Verfall zu retten.

ALEXEJ LOSSAN FÜR RBTH

Für viele Manager der Branche ist es ein Déjà-vu. Bereits 2008 wurde Russland als neuer Star unter den Automärkten gehandelt. Dann kam die Vollbremsung 2009. Auch jetzt zieht der Absatz lange Bremsspuren hinter sich her, nachdem Russland zuvor wieder zum zweitwichtigsten Markt in Europa aufgestiegen war. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat sank der Pkw-Verkauf im Januar 2015 um 45 Prozent zum Vormonat. Im Ver-

on im Land und der Schwäche des Rubels. Auch das gesamte vergangene Jahr, mit Ausnahme des letzten Quartals, lief holprig. Im Ergebnis ist laut PwC der Verkauf von Neuwagen in Russland 2014 um 10,1 Prozent auf 2,3 Millionen

Für die russische Volkswirtschaft hat der Pkw-Markt und die Autoindustrie eine große Bedeutung. Die ersten Fabriken wurden noch in den Neunzigerjahren errichtet – damals eröffneten Daewoo, Ford und General Motors ihre Montagewerke. Der Durchbruch kam 2006, als in Russland der Einfuhrzoll auf Fahrzeugkomponenten für die Autoindustrie abgeschafft wurde. Gleichzeitig wurden gebrauchte und auch neue Autos mit

Werk, in Sankt Petersburg ging Toyota an den Start, in Kaluga, 180 Kilometer südlich von Moskau, ließ Volkswagen Autos zusammenbauen. Letzten Endes wurden 2010 bereits circa 90 Prozent der gefragtesten Pkw-Mar-

ken direkt in Russland produziert. Gleichzeitig garantierte die Regierung den Herstellern nach dem Beitritt Russlands zur WTO im Jahr 2012 eine Kompensation der Verluste, die durch eine zukünftige Senkung des Einfuhrzolls auf Gebrauchtwagen entstehen würden. Doch auch ungeachtet des WTO-Beitritts und der künftigen Zollsenkungen hat etwa Daimler 2013 die Produktion seines Sprinter Classic bei GAZ, dem ehemaligen Wolga-Werk in Nischni Nowgorod, 420 Kilometer östlich von Moskau, aufgenommen. In den vergangenen Jahren wurde Russland immer wieder prophezeit, es werde zum größten Automobilmarkt aufsteigen. Doch bereits 2013 gerieten die Verkäufe ins Stocken. Die endgültige Wende


Thema des Monats

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kam im Herbst 2014, als der Rubelkurs gegenüber dem US-Dollar und dem Euro auf die Hälfte gefallen war. Das führte zu einer Verteuerung der Automobilkomponenten und zu einem Rückgang der Nachfrage. Am Ende wurde Mitte Februar dieses Jahres das Renault-Werk in Moskau für drei Wochen geschlossen, und die Fabrik von General Motors in Sankt Petersburg arbeitet seitdem nur noch in einer Schicht. Auch Ford warnte davor, seine Bänder kurzzeitig anhalten zu müssen. „Die Situation auf dem Pkw-Markt ist recht angespannt und in der nächsten Zeit kann damit gerechnet werden, dass eine Reihe Händler aufgeben wird“, sagt der Projektleiter von FinExpertisa Alexander Silberman. Ilja Balakirew, Analyst bei UFS IC, berichtet von Panikkäufen kurz vor Neujahr. Viele Käufer hätten so versucht, ihre Rubelersparnisse zu retten. Die Produzenten ihrerseits seien gezwungen gewesen, die Preise anzuheben, da der Einkaufspreis für Neuwagen von den Wechselkursen abhänge. „Unterm Strich hat sich auf dem Markt eine Art Schere gebildet: Auf der einen Seite befi nden sich die Verbraucher, die ihren Bedarf zum großen Teil bereits gedeckt haben, und auf der anderen die Hersteller, die

Russlands größte Autobauer 2014

gezwungen sind, Preise anzuheben“, erklärt der Experte.

Trübe Aussichten

(Autoproduktion in Tausend, 2014)

237

511

Hyundai Sankt Petersburg

Avtovas

150

Togliatti, Ischewsk

Renault Moskau

188

186

VW

Avtotor

Kaluga

Kaliningrad

AVTOVAS gehört mehrheitlich zu Renault-Nissan und produziert die russische Traditionsmarke Lada. HYUNDAI: Seit 2010 in Sankt Petersburg stiegen die Koreaner 2014 zum größten ausländischen Hersteller auf. VW: Volkswagen hat nach Avtovas den meisten Local Content. Der Polo

Stufenheck besteht zu 60 Prozent aus russischen Teilen. AVTOTOR: Der Auftragsfertiger montiert unter anderem BMW und Opel in Kaliningrad. RENAULT: Gehört zu den Veteranen der Autoindustrie und produziert seit 1999 in Moskau.

Nach einer Prognose von PwC ist für 2015 mit einem weiteren Preisanstieg zu rechnen, und im Zusammenhang mit dem Absatzrückgang könnte es zu einem Rückzug einer Reihe von Marken vom russischen Markt kommen. Das betrifft vor allem die Autoproduzenten mit einem relativ kleinen Marktanteil in Russland. „In einer weitaus besseren Lage befi nden sich in der aktuellen Situation die Autohersteller, die über einen sehr hohen Lokalisierungsgrad in Russland verfügen, vor allem die russischen Produzenten“, heißt es in einer PwC-Analyse. Nach Angaben des Unternehmens ist in erster Linie die Rede vom größten russischen Autohersteller, dem Konzern Avtovas, der die in Russland populärste Marke Lada herstellt. Aber selbst bei Avtovas steht bei Weitem nicht alles zum Besten: 2014 stieg der Reinverlust um das 3,7-Fache auf 25,4 Milliarden Rubel (338 Millionen Euro). Wie man im Unternehmen erläuterte, sei einer der Gründe für die Verluste eben jener Rubelverfall, da die Fahrzeuge, die der Konzern produziert, zu etwa 20 Prozent aus Import-Komponenten bestehen.

Bisher rechnen die Marktteilnehmer mit einer Unterstützung durch den Staat. So hat die russische Regierung eine Art Abwrackprämie initiiert: Gebrauchtwagen werden beim Kauf eines Neuwagens in Zahlung genommen und der Käufer erhält einen saftigen Rabatt. Wie der russische Finanzminister Anton Siluanow am 18. Februar verkündete, seien alleine für das erste Quartal 2015 zehn Milliarden Rubel (150 Millionen Euro) für dieses Programm bereitgestellt worden. „Wenn der Staat den Markt im ausreichenden Maße unterstützt, wird der Verkauf von Personenkraftwagen in Russland zum Jahresende wahrscheinlich um 20 bis 25 Prozent zurückgehen, andernfalls könnten es bis zu 35 Prozent werden“, sagt der Leiter der Pkw-Abteilung bei PwC in Russland Sergej Litwinenko. Auch Ilja Balakirew meint, dass der Markt mit einem deutlichen Einbruch rechnen müsse. Wie lange dieser andauern werde, hänge von der allgemeinen Wirtschaftslage, der Kreditvergabepolitik und weiteren Preisnachlässen seitens der Autohersteller ab. Andernfalls werde die Nachfrage sich endgültig auf den Gebrauchtwagenmarkt umorientieren – dort macht der Preisanstieg sich bisher nicht ganz so stark bemerkbar.

Luxusautos: In guten wie in schlechten Zeiten MICHAIL BOLOTIN FÜR RBTH

Thomas Sterzel ist wohl selten so herumgekommen in Russland wie im vergangenen Jahr. Perm, Jekaterinburg, Rostow am Don, Kasan – bei der Eröffnung der neuen Autohäuser in Russland wollte der Chef von Porsche Russland persönlich dabei sein. „Es war ein sehr produktives Jahr, in dem wir unsere Präsenz auf dem russischen Markt gestärkt haben“, erklärt der Manager. Die Zahlen geben Sterzel recht. Mehr als 4 700 Fahrzeuge konnte die Zuffenhausener Automobilschmiede in Russland verkaufen, das ist ein Plus von fast 25 Prozent. Werte, von denen die meisten Hersteller auf dem kriselnden russischen Markt nur träumen können. Doch Porsche schwimmt längst nicht allein gegen den Trend. Auch andere Luxushersteller haben ein erfolgreiches Jahr hingelegt. Mercedes-Benz erzielte im vergangenen Jahr ein Plus von elf Prozent und steigerte seinen Absatz auf 50 000 verkaufte Autos. In seinem Jahresbericht sprach der Konzern gar von einem MercedesJahr in Russland. Die hauseigene Sport-Marke AMG konnte sogar um 50 Prozent auf 2 000 verkaufte Exemplare zulegen. Auch andere Luxusmarken wie Landrover, Infiniti oder Lexus schnitten überdurchschnittlich gut ab. Wie aussagekräftig diese Zahlen derzeit sind, lässt sich allerdings schwer beurteilen. Schließlich hat

der Dezember mit seinem rapiden Rubelverfall und einer regelrechten Kaufpanik die Verkaufsstatistiken durcheinandergewirbelt. Russland landete in einem regelrechten Preisvakuum, weil die Hersteller mit den Preiserhöhungen nicht hinterherkamen. „Nirgendwo auf der Welt gab es so günstige Preise für Luxusautos“, bemerkt Dmitri Baranow, Chef des Autohändlers Sportcar Center. Die Menschen erwarteten deutlich höhere Preise und rissen sich um vermeintlich günstige Autos.

Alte Liebe zu Luxuskarossen Dass Russen, zumindest jene, die es sich leisten können, ein Faible für teure Wagen aus Deutschland oder Japan haben, ist kein Geheimnis. In den 1990er-Jahren hatte

Premium-Marken sind in Krisenzeiten meistens weniger betroffen. Den Schaden haben zunächst Mittelklasse-Hersteller. sich die S-Klasse von Mercedes in der Top-Variante S600 einen Ruf als das Gefährt für neureiche Russen schlechthin erarbeitet. Nach einem Bericht des deutschen Nachrichtenmagazins Focus sollen in Moskau bis Mai 1993 angeblich mehr S-Klasse-Limousinen verkauft worden sein als 1992 in ganz Westeuropa. Die Marke BMW, im Jargon „Boomer“ genannt, erfreute sich dagegen großer Beliebtheit bei den schweren Jungs im Dunstkreis der S-Klasse-Besitzer. Nach der Jahrtausendwende stieg der Wohlstand. 2007 erreichte der Verkauf des Stuttgarter Top-Mo-

AP

Russen lieben teure Autos. Daran ändert die Krise vorerst nur wenig – zunächst muss die Mittelklasse Federn lassen. Wie lange die Luxushersteller allerdings verschont bleiben, weiß niemand.

Luxushersteller schwammen 2014 in Russland gegen den Trend: Im Land der Luxus-Liebhaber konnten sie ihren Absatz weiter steigern.

dells etwa 12 000 Stück pro Jahr. Wer herausstechen wollte, musste schon zur Luxusmarke Maybach greifen. Etwa 130 Stück gab es in Moskau vor der Weltwirtschaftskrise 2008, so viele wie nirgendwo sonst. Auch der Bestand von Bentleys konnte sich mit etwa 700 sehen lassen. Dabei sei die Kundenstruktur der Luxusmarken völlig anders als in Westeuropa gewesen, berichteten Händler westlicher Autokonzerne. Beispielsweise habe das durchschnittliche Alter mit 25 bis 45 Jahren deutlich niedriger als das der europäischen Kunden gelegen. Heute dominieren die günstigen Modelle von Lada oder Hyundai die Zulassungsstatistiken. Doch der Blick auf die Umsätze zeigt, dass Luxushersteller noch immer viel Geld verdienen. Mit etwa 4,1 Milliarden Euro landet Mercedes auf Platz zwei hinter Toyota. Gleichzeitig offenbart sich auch das Problem der Konzerne. Weil die Autos

in Euro gerechnet billiger werden, sinken bei allen Herstellern die Umsätze. Doch auch hier kommt die Oberklasse glimpflich davon. Während der Umsatz von Opel und Volkswagen etwa um ein Viertel zurückgegangen ist, blieb das Minus bei Land Rover, Porsche oder Lexus im einstelligen Prozentbereich.

Die Provinz liebt Lamborghini Fast alle Experten sind überzeugt, dass sich das Premiumsegment auch weiterhin stabiler entwickeln wird als der übrige Markt. Die Hauptlast der Krise trügen die Mittelklasse-Hersteller, meint Wladimir Mozhenkov vom Branchenverband der russischen Autohändler ROAD. Demnach stiegen nur die wenigsten Käufer von Oberklassewagen auf billigere Marken um, während dies im unteren Mittelklasse-Segment gang und gäbe sei. Dahinter steckt eine einfache Lo-

gik: Wer 90 000 Euro für ein Auto ausgibt – so viel betrug laut Autostat der durchschnittliche Kaufpreis eines Mercedes in Russland –, der kann meistens auch noch etwas tiefer in die Tasche greifen. Ähnlich sieht das auch Wjatscheslaw Subarew, Chef des Vertragshändlers von Porsche in Kasan, Hauptstadt der Teilrepublik Tatarstan. „Derzeit ist die Nachfrage höher als das Angebot. Darüber hinaus leidet das Premiumsegment in Krisenzeiten am wenigsten. Die Nachfrage nach luxuriösen Fahrzeugen entwickelt sich dynamisch“, sagte er bei der Eröffnung des neuen Autohauses in Kasan Ende Oktober. Im vergangenen Jahr hat Subarews Unternehmen auch das erste BMW-Autohaus in Kasan eröffnet. Denn Luxusautos sind längst nicht mehr nur in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg beliebt. Zwar liegt die Hauptstadt Moskau nach wie vor beim Marktanteil des Premiumsegments von 25 Prozent ganz vorne. Doch insbesondere Provinzhauptstädte im Fernen Osten liegen dank hohen Gehältern nur knapp dahinter. Auch der Urlaubsort Sotschi sowie Krasnojarsk in Sibirien und Kaliningrad liegen relativ weit vorn. Erst kürzlich schwärmte der Chef von Lamborghini Moskau über die breite Geografie seiner Verkäufe. „Wir verzeichnen viele Verkäufe in den Regionen, weil es dort Menschen gibt, die Wert darauf legen, ein Auto zu haben, das es nur ein Mal in der Stadt gibt“, erklärte Sergej Mordwin. Im vergangenen Jahr habe man jedenfalls die Russland-Quote bei Lamborghini schon vor dem großen Rubelsturz im Dezember ausgeschöpft.


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Produktion

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

Deutsche Mittelständler sehen Russlands Autoindustrie trotz Krise als strategischen Zukunftsmarkt

Russlands Automarkt befindet sich im freien Fall. Deutsche Firmen denken dennoch schon an die Zeit danach. Wer lokal fertigt, könnte sich mehr denn je einen Vorteil verschaffen. MICHAIL BOLOTIN FÜR RBTH

Sergei Volkov reckt stolz einen goldglänzenden Riesenschlüssel in die Höhe. Zuvor hatte der Werksleiter der neuen Schaeffler-Fabrik in Uljanowsk zusammen mit der Bürgermeisterin der Stadt und dem Gouverneur der Region Sergej Morozov ein symbolisches Band zerschnitten. Auch der Europachef von Schaeffler Dietmar Heinrich und der Leiter der Automobilabteilung Norbert Indlekofer haben sich auf den Weg ins neue Industriegebiet Zawolschje am Ostufer der Wolga gemacht. Noch immer ist es ein Großereignis, wenn ausländische Automobilfirmen in Russland an den Start gehen. Auch wenn die Investitionen von etwa 40 Millionen Euro und die 300 geschaffenen Arbeitsplätze auf den ersten Blick nicht beeindrucken. Vor knapp zehn Jahren hatte Russlands Regierung mit dem in Branchenkreisen berühmten „Dekret 166“ die Autoindustrie zu einem der wichtigsten Objekte ihrer Wirtschaftspolitik gemacht. Seitdem haben fast alle großen internationalen Hersteller eigene Produktionsstandorte in Russland eröffnet, vor allem um die hohen Zölle zu umgehen, die Russland aufgestellt hat. Einen festen Stand hat die Branche allerdings noch lange nicht. Der Mangel an inländischen Zulieferern lässt den Automobilbau auch weiterhin am Importtropf hängen. Die Einfuhr von Autokomponenten allein aus Deutschland hat sich zwischen 2008 und 2014 auf über 1,5 Milliarden Euro verdoppelt – während die Einfuhr von deutschen Pkw im gleichen Zeitraum, nach einem zwischenzeitlichen Anstieg, beinahe um ein Fünftel auf 2,2 Milliarden Euro zurückgegangen ist.

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Für Schaeffler wird der symbolische Schlüssel der neuen Fabrik ohne Zweifel auch das Tor zum russischen Zulieferermarkt öffnen. Die Nachfrage ist groß und gute Zulieferer in Russland sind schwer zu finden. Dabei bestehen etwa die russischen VolkswagenModelle wie der Polo-Stufenheck zu drei Vierteln aus eingekauften Komponenten. Zunächst sollen in Uljanowsk Kupplungen und Getriebeteile für den russischen Markt produziert werden. Auch in Zeiten der Abschwächung bleibe Russland einer der größten Automobilmärkte Europas, ist man sich bei Schaeffler sicher. „Die Hersteller werden den Druck auf Lieferanten erhöhen, um Komponenten ‚made in Russia‘ zu bekommen“, rechnet man sich in der Konzernzentrale in Herzogenaurauch aus. Einer der Gründe, der die Lokalisierung in Russland derzeit begünstigt, ist der extrem schwache Rubel. „Autoproduzenten sind gut

Die Krise könnte mehr Lokalisierung begünstigen, wenn die Autohersteller in Russland bleiben. beraten, mehr Kosten in den Rubelbereich zu verlagern“, sagt Eduard Cherkin, Automobilexperte der Beratungsgesellschaft Roland Berger. Bisher haben Konzerne vor allem arbeitsintensive Produktionsschritte und die Fertigung von großen Bauteilen wie Karosserien oder Autositzen nach Russland verlagert. Der Großteil im Hightech-Bereich musste importiert werden.

Fortschritt zu langsam Obwohl Russland seit Jahrzehnten über eine eigene Automobilindustrie verfügt, hat es nie ein dichtes Netz von mittelständischen Zulieferern gegeben. Vielmehr haben die Hersteller von Lada, Wolga und Co die Produktion weit-

GETTY IMAGES/FOTOBANK

Auto-Zulieferer rechnen mit Nachfrage nach „Made in Russia“

Russland ist einer der größten Automobilmärkte – was fehlt, sind qualifizierte Zulieferer und Produzenten.

gehend selbst in die Hand genommen. „Deshalb fehlt es Russland an spezialisierten Betrieben, etwa im Bereich des Präzisionsgusses“, erklärt Cherkin. Gleichzeitig waren die Volumen der Produktion ausländischer Hersteller in Russland vielerorts noch zu gering, um eine rentable Produktion von hochwertigen Teilen zu rechtfertigen und genügend Investoren im Zuliefererbereich anzulocken. Bereits im vergangenen Sommer klagte Frank Haase, Einkaufsmanager von Volkswagen Russland, es sei schwierig, lokale Zulieferer zu finden, die den Qualitätsstandards genügten. Zumal das Unternehmen sich mehr Unabhängigkeit von den Währungskursen wünscht. „Wir kommen voran, aber wir kommen nicht schnell genug voran“, sagte der Manager. Erst kürzlich hat die Testphase im neuen VW-Motorenwerk in Kaluga begonnen. Viele Projekte befinden sich noch in der Umsetzung. So baut der japanische Zulieferer Unipres ein Werk für Karosserieteile in Sankt Petersburg. Nemak aus Mexiko zieht nur wenige Meter neben dem Schaeffler-Werk eine Fabrik für Motorteile hoch. Im laufenden Jahr will Bosch in Samara einen zweiten Standort für die Produktion von Autokomponenten in Betrieb nehmen und mit der Fertigung von ABS-Systemen, Generatoren und Startern loslegen. Klar ist, dass die Vollbremsung auf dem Automobilmarkt auch die

Pkw-Herstellung in Russland trifft. Im Januar sank die Produktion im Vergleich zum Vorjahresmonat um ein Viertel auf 85 000 Fahrzeuge. Im Gesamtjahr 2014 fiel die Produktion mit 1,7 Millionen Autos um zehn Prozent geringer aus als im Jahr zuvor. „Die Situation ist für die Zulieferer sehr zwiespältig“, erklärt Eduard Cherkin, weil einerseits Auf-

Autohersteller und Zulieferer suchen händeringend nach lokalen Produzenten. Die Auswahl ist gering. träge wegfallen, andererseits eine lokale Produktion gegenüber Importen nun deutlich größere Preisvorteile bietet. Welcher von beiden Effekten überwiegt, lasse sich noch nicht sagen. Vieles werde davon abhängen, welche Strategie die Hersteller wählen. „Jemand, der viel Geld hier investiert hat, wie etwa Hyundai oder Ford, der wird die Krise aussitzen und Möglichkeiten zur Kostensenkung suchen“, meint Cherkin. Wer in Russland konkurrenzfähig sein will, der muss seine Produktion mittelfristig so weit wie möglich lokalisieren.

Nach der Krise Das wissen auch die Zulieferer. „Unsere Investitionen in Russland

haben strategischen Charakter. Langfristig rechnen wir mit einem Wachstum des russischen Marktes, und darauf möchten wir vorbereitet sein“, erklärt Gerhard Pfeifer, Präsident der Bosch-Gruppe in Russland, und ergänzt: „Es wird auch eine Zeit nach der Krise geben.“ Unter der Voraussetzung, dass sich die politische und wirtschaftliche Lage entspanne, sei wieder ein langfristiges und konstantes Wachstum der Produktion zu erwarten. Ein fast noch größeres Problem als die Absatzkrise sind die fehlenden Zulieferer aus der zweiten Reihe. „Einerseits gibt es nur relativ wenige Zulieferer. Andererseits besteht Nachholbedarf etwa hinsichtlich der Modernisierung der Produktionsanlagen oder bei der Prozessstabilität und -qualität als auch bei der Zertifizierung. Der Anteil der Unternehmen, die westliche Qualitätsstandards bei der Fertigung von Automobilen erfüllen, bewegt sich im einstelligen Prozentbereich“, meint BoschChef Pfeifer. Seine Firma hat deshalb bereits zwei Zulieferermessen veranstaltet, um internationale und russische Unternehmen zu motivieren, sich an der Wertschöpfungskette in Russland zu beteiligen. „Es wird nach der derzeit schwierigen Lage auch wieder bessere Zeiten geben. Deshalb begrüßen wir es, wenn auch weitere Unternehmen sich in Russland engagieren.“

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Rubelverfall: Russland wird zum Billig-Reiseland

Südosteuropa, Nahost und BRICS: Putins neue Freunde

Russland und Abchasien bald ohne befestigte Grenze?

Erinnerungen an den Vater: Briefe aus dem Gulag

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Regionen

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Sotschi Moderne Liftanlagen, gigantische Arenen – das Olympiagelände wird nicht nur für den Wintersport genutzt

Ein Jahr nach Olympia Eventanfragen gäbe es genug für Sotschi – doch die Betten sind ausgebucht, die Lifte überfüllt. Unkenrufe, das olympische Gelände stände in Zukunft leer, haben sich nicht bewahrheitet. BRYAN MACDONALD

Internationale Medien haben prophezeit, dass Sotschi nach den Olympischen Winterspielen zu einer Geisterstadt mutiere. Heute, ein Jahr nach den Spielen, hat sich die Prognose nicht bewahrheitet. Erstaunlich, aber wahr: Ausgerechnet in der Wirtschaftskrise wachsen die Ski-Resorts, die für die Spiele errichtet wurden. Der Klub Treugolnik in Adler, der südlichen Vorstadt von Sotschi unweit des Flughafens, ist voll wie eine Sardinenbüchse. Es ist Januar. Zum ersten Mal seit vier Jahren ist in Sotschis Küstenregion Schnee gefallen. Die langen russischen Neujahrsferien neigen sich dem Ende zu. Der schwache Rubel, der Appell von Präsident Putin, die Ferien in der Heimat zu verbringen, und die neuen Sporteinrichtungen, die sich sehen lassen können, treiben immer mehr Touristen in die Region. Menschenmassen stürmen auf die 40 Kilometer langen Bergpisten und reizen das Tageslimit von 10 500 Skifahrern bis an die Grenzen aus. Sotschis Geschäftsleute können ihr Glück kaum fassen. Jedenfalls die, die ihre Häuser oder ihr Eigentum im Zuge der kontrovers diskutierten Zwangsaufkäufe beim Bau der olympischen Stätten nicht verloren haben. Dabei ist es noch nicht lange her, dass die Medien warnten, Sotschi würde eine Geisterstadt werden, wenn der olympische Zirkus einpackt und wegzieht. Doch nicht alles ist so rosig. Der Küsten-Cluster, das Herzstück der Spiele, bleibt außerhalb von Feiertagen geradezu unheimlich still, und manche Wohnhäuser stehen halb fertig da. Dmitrij Bogdanow, Direktor des Hotels Sanatory Znanie, bedauert, dass die Stadt nicht noch mehr

REUTERS

FÜR RBTH

Ein Jahr nach den Olympischen Spielen zieht Sotschi mit diversen Großveranstaltungen an.

Besucher aufnehmen kann. „Das ganze Land braucht neue Tourismuseinrichtungen. Wegen fehlender Erfahrungen beim Managen solcher touristischer Riesenprojekte gibt es heute einige Probleme mit den Kapazitäten und nachhaltiger Rentabilität“, sagt er. „Ich erinnere mich an die Sowjetzeiten, als über 1,5 Millionen Menschen im Jahr nach Sotschi kamen. Vor ein paar Jahren waren es gerade mal 50 000. Es ist offensicht-

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Der Cluster um das Olympiastadion, das schon während des Baus als Fehlinvestition bezeichnet wurde, scheint die meiste Zeit über leer zu stehen. Doch Andrej Ponomarenko, Geschäftsführer des G8Sprachendienstes und eng in die internationale Öffentlichkeitsar-

Spiele nur zum Spaß: BIP-Effekt von Sotschi verpufft weitgehend Die Olympischen Spiele in Sotschi sollten der russischen Wirtschaft Vorschub leisten. Allerdings haben Sanktionen und fallende Ölpreise diesen Effekt zunichtegemacht. RBTH

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Leoparden im Bolschoi-Eispalast

beit von Sotschi eingebunden, sagt, der Schein trüge. „Bei den Spielen des lokalen Eishockey-Teams, der Sotschi-Leoparden, kommen im Bolschoi-Eispalast zwischen 7 000 und 9 500 Fans zusammen. Im September hat dort der Channel One Cup mit Mannschaften aus aller Welt stattgefunden. Der Schaiba-Eispalast beherbergt im Februar den Cirque du Soleil, und in der Eisberghalle lief sechs Monate lang ein Musical mit fünf

Olympia Positive Effekte auf Wirtschaftswachstum sind wegen der Krise kaum spürbar

ALEXEJ LOSSAN

FÜR EINE TONNE ZEITUNGSPAPIER BRAUCHT MAN ZWÖLF BÄUME

lich, dass wir noch einiges Wachstumspotenzial haben.“

Vorstellungen pro Woche.“ Das Sprachtalent erläutert: „Im SpeedSkating-Zentrum ist seit fast einem Jahr eine Tennis-Akademie untergebracht. An anderen Veranstaltungsorten fanden diverse Events statt: die Schachweltmeisterschaft, Wirtschaftsforen, Ausstellungen. Interessanterweise waren die Küstenhotels während der Olympischen Spiele nicht komplett belegt, wohl aber im letzten Herbst beim russischen Formel-1-GrandPrix.“ In Krasnaja Poljana war die Überfüllung das größte Problem in diesem Winter. Die Hotels waren bereits lange vor den Neujahrsferien ausgebucht. Die Preise für einen sechstägigen Skipass wurden auf 13 500 Rubel (170 Euro) angehoben, am Ende konnten nur noch Hotelgäste den Pass ergattern. Die Stadtregierung ließ im Dezember gar Werbespots im Fernsehen laufen, um die einheimische Bevölkerung davon abzubringen, im Januar in die Berge zu fahren. Bogdanow sagt, dass die Schwäche des Rubels gegenüber dem Euro ein Geschenk des Himmels gewesen sei, gibt aber zu bedenken, dass dies nicht von langer Dauer sein könne. „Die Menschen gaben uns diesen Winter eine Chance, weil die Finanzen eine wesentliche Rolle bei ihrer Reiseplanung spielten. Jetzt kommt es darauf an, ihnen den richtigen Service zu bieten, damit sie auch wiederkommen. Das ist die große Herausforderung.“

Der Olympia-Effekt sorgt für eine Rekordzahl an Touristen in der Region Krasnodar. Wie die Nachrichtenagentur Tass berichtet, besuchten nach Angaben der lokalen Behörden insgesamt 13 Millionen Touristen das Schwarzmeer-Gebiet, in dem auch Sotschi, der Austragungsort der Winterolympiade 2014, liegt. Die Anzahl der Touristen in der Olympiastätte selbst sei um 31 Prozent gestiegen und habe insgesamt etwa fünf Millionen betragen. „Das Projekt hat sich im Bezug auf die Effektivität staatlicher Investitionen als recht erfolgreich erwiesen“, sagt Timur Nigmatullin von der Investmentgesellschaft Finam. Jeder zehnte Tourist in Sotschi sei aus dem Ausland angereist. Insgesamt bescherten die Olympischen Spiele der russischen Wirtschaft etwa 0,3 Prozent zusätzliches Wachstum, be-

merkt der Finam-Experte. Allerdings hätten die Sanktionen den wirtschaftlichen Nutzen der Spiele zunächst einmal zunichtegemacht, so Nigmatullin weiter.

Katalysator für Strukturreformen Noch zu Beginn des vergangenen Jahres, vor der sportlichen Großveranstaltung, erwartete die russische Zentralbank für 2014 eine Steigerung der Wirtschaftsleistung zwischen 1,5 und 1,8 Prozent. Zudem hätten die Olympischen Spiele nach Prognosen des Finanzdienstleisters Merrill Lynch zu einem Katalysator für Strukturreformen werden können. Diese sind zur Beschleunigung wirtschaftlichen Wachstums und zur Optimierung staatlicher Regulierungsmechanismen in Russland notwendig. Angesichts von Sanktionen und fallenden Ölpreisen blieb das BIPWachstum 2014 mit 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr hinter allen Prognosen zurück. Das Wachstum war seit 2009 am langsamsten. Zum Vergleich: 2012 stieg das russische BIP um 3,4 Prozent, 2011 um 4,3 Prozent und 2010 um 4,5 Prozent.

ZAHLEN

1,8 Prozent BIP-Wachstum prognostizierte die russische Zentralbank aufgrund der Olympischen Spiele 2014.

5.000.000 Menschen besuchten Sotschi im Jahr 2014, zehn Prozent von ihnen kamen aus dem Ausland.

„Die Winterolympiade war ein politisches Vorhaben, weswegen anfänglich niemand ernsthaft davon ausging, dass das Projekt sich voll und ganz auszahlen würde“, sagt Sergej Bespalow vom Zentrum für öffentliche Politik und Staatsführung am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Russischen Akademie für Wirtschaft und Verwaltung. Der größte Teil der Ausgaben sei allerdings in den Ausbau der Infrastruktur von Sotschi investiert worden, dem wichtigsten Urlaubsort Russlands.

Zukunftsaussichten Nach Einschätzung von Timur Nigmatullin schaffte das gute Voraussetzungen, um den Fremdenverkehr sukzessive anzukurbeln. Die Schwäche des Rubels sei im Moment der Motor für die wachsende Binnennachfrage im Reisesektor. Das erfolgreiche Formel-1-Rennen in Sotschi im Herbst 2014 ist ebenfalls der Olympiade zu verdanken: „Die Rennstrecke wurde im Olympischen Park gebaut“, erinnert Sergej Bespalow. Ihm zufolge bewirken allein die publikumswirksamen Formel-1-Veranstaltungen, dass zumindest ein Teil der enormen Ausgaben für Olympia wieder hereinkomme. In Zukunft werde Sotschis Attraktivität für ausländische und russische Touristen davon abhängen, ob die Behörden es schaffen, große internationale Wettkämpfe, allen voran die Wintersport-Weltmeisterschaften, nach Sotschi zu holen. „Aber die Eskalation der geopolitischen Spannungen und die Sanktionen werden kaum dazu beitragen, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen, die durch die Olympischen Spiele geschaffen wurden, in vollem Umfang zum Tragen kommen“, sagt Bespalow. Zugleich könne man aber, wenn sich die Situation entspanne, damit rechnen, dass große Investoren bei ihren Entscheidungen hinsichtlich Russlands die positiven Erfahrungen von Sotschi berücksichtigten.


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Meinung

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HILFE FÜR DEN KREISLAUF DER WIRTSCHAFT

Aufbauvisionen anstelle von Sanktionen: Die Welt braucht naive Träumer

Konstantin Korischtschenko

Sergej Sumlenny

ÖKONOM

SANKTIONSEXPERTE

V

or dem Hintergrund der Wirtschaftskrise beschloss die russische Regierung, etwa 13 Milliarden Euro zur Kapitalerhöhung der größten russischen Banken zur Verfügung zu stellen. Dieser Betrag soll in erster Linie die Kreditvergabepolitik im Lande stimulieren, die hohen Zinssätze allerdings schränken die Chancen, einen Kredit zu erhalten, deutlich ein. Die aktive Unterstützung des Bankensystems auf staatlicher Ebene während der Krise ist unumgänglich, da die Banken den „Blutkreislauf“ der Wirtschaft darstellen und eine „Verstopfung der Blutgefäße“ zu äußerst unangenehmen Folgen führen kann. So war auch das Erste, was die USA nach Ausbruch der Krise von 2007 unternahmen, eine umgehende Unterstützung der Banken. Die Regierung stellte zusätzliches Kapital zur Verfügung und setzte ein groß angelegtes Programm zum Aufkauf von Aktiva, vor allem von Pfandbriefen, um. Eine ähnliche Maßnahme führten später die Europäische Union während der Krise 2011 und Japan während der Krisenphase der Neunzigerjahre durch. Wenn man den Abfluss von Einlagen aus dem Bankensystem als Hauptkriterium für eine Krise betrachtet, zeigt sich, dass es im russischen Bankensystem eigentlich gar keine Krise gibt. Das Volumen der Geldmittel, die von Unternehmen und Privatpersonen im Bankensystem eingelegt wurden, stieg innerhalb eines Jahres um 25 Prozent auf 44 Billionen Rubel (586 Milliarden Euro). Unter anderem wirkte die Entwertung des Rubels sich 2014 auf dieses Wachstum aus. Warum stellt also der Staat den Finanzinstituten eine solche Summe zur Verfügung? Das hängt vor allem mit der Notwendigkeit zusammen, das Wirtschaftswachstum zu stimulieren, das sich ohne eine Verbesserung der Kreditvergabebedingungen für die Unternehmen nicht erholen kann. Während des vergangenen Jahres nahm die Menge des sich im Umlauf befindlichen Geldes gerade einmal um zwei Prozent zu, was zur Gewährleistung des BIP-Wachstums viel zu wenig ist und, ganz allgemein gespro-

E

chen, das Anzeichen einer restriktiven Geldpolitik darstellt. Im starken Maße liegt das Problem der zunehmenden Kreditversorgung an dem Anstieg fauler Darlehen im System: 2014 nahm deren Volumen um 50 Prozent zu. Die Wirtschaft braucht dennoch Geld, und hierfür ist der bereitgestellte Betrag durchaus sinnvoll.

sischen Wirtschaft gut verstehen, was an den Maßnahmen zu erkennen ist, die in jeder Hinsicht eingeleitet wurden. Sämtliche Banken, die Geld vom Staat bekommen möchten, müssen strikte Voraussetzungen erfüllen. Diese sind durchaus marktkonform: ein obligatorisches Kreditwachstum von einem Prozent

2014 nahm die Geldmenge nur um 2 % zu, was viel zu wenig ist, um ein BIP-Wachstum zu gewährleisten.

Die aktuellen Zahlen zum Zustand des Bankensystems legen nahe, dass dieses Jahr kein leichtes wird.

Auf die Banken, die an dem neuen Staatsprogramm teilnehmen, entfallen 85 Prozent aller Aktiva des russischen Bankensystems. Neben der „Kapitalerhöhung“ gibt es noch ein ganze Reihe anderer Vorschläge, die in den Anti-KrisenPlan der Regierung aufgenommen wurden. Dazu gehört auch die Gründung einer „Bad Bank“ für faule Kredite und die Erteilung von Staatsgarantien für Investitionsprojekte. Fairerweise muss angemerkt werden, dass nicht nur die Regierung, sondern auch die russische Zentralbank und das russische Parlament die Bedeutung des Bankensystems für die Wiederbelebung der rus-

pro Monat, die Erhöhung des Eigenkapitals und ein eingeschränkter Anstieg der Lohnkosten. Allerdings lässt die gegenwärtige Konjunktur kaum darauf hoffen, dass sich sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Klein- und mittelständischen Unternehmen ausreichend viele qualifizierte Kreditnehmer finden werden, die in der Lage wären, Milliarden von Rubel pro Monat zu den gegenwärtig hohen Zinssätzen aufzunehmen. Die Stabilisierung der Inflation und des Rubelkurses stellt deshalb eine wichtige Bedingung für den Erfolg des Programms zur Kapitalerhöhung der Banken dar. Nicht ganz so publikumswirksam,

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES (RBTH) IST EIN INTERNATIONALES MEDIENPROJEKT, DAS VON DEM VERLAG ROSSIJSKAJA GASETA FINANZIELL UNTERSTÜTZT WIRD. RBTH WIRD AUS ANZEIGENGESCHÄFTEN UND SPONSORING SOWIE ZUSCHÜSSEN VON STAATLICHEN BEHÖRDEN IN RUSSLAND FINANZIERT. DIE HANDELSBLATT-REDAKTION IST AN DER ERSTELLUNG DIESER BEZAHLTEN SONDERVERÖFFENTLICHUNG NICHT BETEILIGT. DIE REDAKTION VON RBTH IST UNABHÄNGIG UND HAT ZUM ZIEL, DEN LESERN EIN MÖGLICHST BREITES SPEKTRUM AN EXPERTENMEINUNGEN ÜBER DIE ROLLE RUSSLANDS IN DER WELT UND ZU EREIGNISSEN INNERHALB RUSSLANDS ZU BIETEN. DABEI IST DIE REDAKTION BEMÜHT, HÖCHSTEN JOURNALISTISCHEN ANSPRÜCHEN ZU GENÜGEN. SO SOLL EINE WICHTIGE LÜCKE IN DER INTERNATIONALEN MEDIENBERICHTERSTATTUNG GESCHLOSSEN WERDEN. DIE PRINTBEILAGEN VON RBTH ERSCHEINEN WELTWEIT IN 26 RENOMMIERTEN ZEITUNGEN IN 23 LÄNDERN UND IN 16 SPRACHEN. AUSSERDEM GEHÖREN ZU RBTH 19 ONLINEAUSGABEN IN 16 SPRACHEN. BEI FRAGEN UND ANREGUNGEN WENDEN SIE SICH BITTE AN: REDAKTION@RBTH.COM ROSSIJSKAJA GASETA VERLAG, UL. PRAWDY 24 STR. 4, 125993 MOSKAU, RUSSISCHE FÖDERATION, TEL.

aber nicht minder wichtig war auch die Entscheidung der russischen Zentralbank über die Erleichterung einiger Vergabekriterien während der Krise. Zum einen dürfen die Banken bis zum 1. Juli 2015 die Bewertung ihres Wertpapierportfolios nicht revidieren. Zum anderen wurden die Anforderungen zur Bildung von Anleihereserven herabgesetzt. Diese Änderungen erleichtern ungeachtet ihres zeitlich begrenzten Charakters die Überwindung der wahrscheinlich kritischsten Periode – der Neubewertung der Aktiva für die Zeit nach der Entwertung. Die aktuellen Zahlen zum Zustand des Bankensystems legen nahe, dass dieses Jahr kein leichtes werden wird. Das Volumen der überfälligen Verbindlichkeiten nimmt zu, ebenso wie die Rücklagen der Banken für mögliche Verluste. Unterm Strich musste das Bankensystem Ende Januar einen, wenn auch kleinen, aber immerhin spürbaren Verlust verzeichnen. Umso wichtiger ist es, alle vorgeschlagenen Maßnahmen schnellstmöglich umzusetzen. Konstantin Korischtschenko ist Leiter des Lehrstuhls für Fondsmärkte und Finanzinstrumente an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst.

+7 495 775-3114, FAX +7 495 988-9213 HERAUSGEBER: JEWGENIJ ABOW, CHEFREDAKTEUR VON RBTH: PAVEL GOLUB RESSORTLEITER WIRTSCHAFT: ALEXEJ LOSSAN CHEFREDAKTEURIN DEUTSCHE AUSGABE: JEKATERINA IWANOWA REDAKTIONSASSISTENZ: JULIA SCHEWELKINA COMMERCIAL DIRECTOR: JULIA GOLIKOVA ANZEIGEN: SALES@RBTH.RU ARTDIRECTOR: ANDREJ SCHIMARSKIY PRODUKTIONSLEITUNG: MILLA DOMOGATSKAJA, LAYOUT: MARIA OSCHEPKOWA LEITER BILDREDAKTION: ANDREJ SAJZEW VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT: JEKATERINA IWANOWA, ZU ERREICHEN ÜBER RBTH REPRÄSENTANZ DEUTSCHLAND C/O KAISERCOMMUNICATION GMBH, ZIMMERSTRASSE 79-80, 10117 BERLIN COPYRIGHT © FGUB ROSSIJSKAJA GASETA, 2015. ALLE RECHTE VORBEHALTEN AUFSICHTSRATSVORSITZENDER: ALEXANDER GORBENKO, GESCHÄFTSFÜHRER: PAWEL NEGOJZA, CHEFREDAKTEUR: WLADISLAW FRONIN ALLE IN RUSSIA BEYOND THE HEADLINES VERÖFFENTLICHTEN INHALTE SIND URHEBERRECHTLICH GESCHÜTZT. NACHDRUCK NUR MIT GENEHMIGUNG DER REDAKTION

in Jahr nach Inkrafttreten der US- und EU-Sanktionen gegen Russland ist die Welt nicht sicherer geworden und bei der Ukraine-Krise ist noch immer kein nahes Ende in Sicht. Dafür sind die Folgen für die Wirtschaft verheerend. Laut einer Umfrage der AHK spüren 78 Prozent der in Russland tätigen deutschen Unternehmen eine Verschlechterung respektive eine starke Verschlechterung ihrer Geschäfte aufgrund der Ukraine-Krise. 49 Prozent der Firmen befürchten eine Abkehr Russlands von der EU hin zu China. Auf westliche Unternehmen wirken die Texte und Formulierungen der Sanktionen oftmals verwirrend und abschreckend – selbst wenn ihre eigenen Geschäfte nach einer sachlichen Analyse unter keine Restriktionen fallen. Schon aus diesem Grund bleibt zu hoffen, dass die Sanktionen so schnell wie möglich abgeschafft werden. Viel wichtiger wäre es aber, sich schon jetzt Gedanken zu machen, wie man die betroffenen Gebiete nach dem Konflikt wiederaufbauen wird und wie man Russland und die Ukraine im Rahmen einer friedlichen Zusammenarbeit in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit der EU integriert. Dies mag heute – da der Frieden im Donbass noch weit entfernt scheint – fast naiv klingen, aber wie naiv klangen in den 1940erJahren die Träume von einer Europäischen Union? Wer konnte es sich damals vorstellen, dass die einstigen Erzfeinde Deutschland und Frankreich als Motoren des Friedens und der europäischen Integration eine gemeinsame Zukunft gestalten werden? Daher besteht jetzt geradezu eine Notwendigkeit, naiv zu sein und von einem Europa mit Russland und mit der Ukraine ohne Sanktionen und Grenzen zu träumen. Nur durch einen gemeinsamen Aufbau der zerstörten Region – mit der EU, mit Russland und mit der Ukraine – kann man eine nachhaltige Zukunft bauen. Eines Tages wird man diese Naivität als Zukunftsvision bezeichnen. Der Autor ist Head of Task Force Sanctions bei dem Beratungsunternehmen RUSSIA CONSULTING.

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Gastronomie

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INTERVIEW ANATOLY KOMM

„Ein Küchenteam ist wie ein Orchester“ DER STARKOCH HAT RUSSLANDS NATIONALKÜCHE IN DIE SPHÄRE DER HAUTE CUISINE KATAPULTIERT. JETZT LOCKEN NEUE HERAUSFORDERUNGEN.

Was ist neu in Ihrem zweiten Moskauer Restaurant? Alles dort ist neu! Ich würde es als gastronomische Brasserie bezeichnen. Während das Varvary drei Michelin-Sternen entspricht, würde ich es hier bei einem Stern belassen. Ich übertreibe natürlich ein bisschen ... Sie haben den Glauben der Russen an ihre nationale Küche wiederhergestellt. Im Michelin-Führer sind Sie aber mit Ihrem ersten Restaurant Green in der Nähe von Genf vertreten. Ich wollte ein Auswärtsspiel gewinnen. Doch letzten Endes hat es mich wieder nach Russland gezogen. Leider war ich da offenbar der Einzige. Einer allein im Feld ist kein Krieger, wie ein russisches Sprichwort sagt. Die Skandinavier haben den Markt auch nicht nur mit René Redzepi (ein dänischer Koch, dessen Restaurant Noma in Kopenhagen viermal zum „besten Restaurant der Welt“ gekürt wurde, Anm. d. Red.) erobert. Hinter ihm stand ein ganzes Team von zehn bis 15 weiteren berühmten Chefköchen. Und die Trends, die heute Peru oder Mexiko in der Restaurantwelt vorgeben, sind ebenfalls nicht auf das Werk von nur ein oder zwei Köchen zurückzuführen. Sie kennen jeden Trend. Reisen Sie oft in der Welt umher? Ich habe ständig Gastspiele. Das letzte war in Lyon, der Hauptstadt der französischen Küche. Dort habe ich ein Dinner für namhafte Chefköche angerichtet. Haben Sie das Dinner im russischen Stil gekocht? Ja, die russische Küche ist absolut meins und ich mag russische Lebensmittel. Vor acht Jahren haben mir alle einen Vogel gezeigt, als ich sagte, dass ich nur heimische Zutaten in der Küche verwende. Jetzt gibt es Köche, die bewusst Zutaten aus der Region einsetzen. Es freut mich, dass ich meinen bescheidenen Beitrag dazu geleistet habe. Früher sagte man, dass ich

verrückt sei, als ich erstmals meine Gastro-Spektakel veranstaltete, jetzt verwenden alle diesen Begriff. Selbst wenn Sie in die bedeutendsten Restaurants kommen, gibt es dort nur Spektakel. Das heißt mit anderen Worten: Alles entwickelt sich. Ich war nur der Zeit ein wenig voraus. Für mich sind diese Gastro-Spektakel schon wieder Vergangenheit. Zurzeit gibt es viele Michelin-Köche, die eine Brasserie eröffnen. Außer einem „Menü“, einer Abfolge von bestimmten Gerichten, die in einer „theatralischen“ Reihenfolge serviert werden, bekommen Sie dort aber nichts. À la carte können Sie in diesen Brasserien nicht bestellen. In meinem neuen Restaurant gibt es dagegen nur à la carte. Allerdings habe ich die Speisekarte so arrangiert, dass jeder sein eigenes Spektakel zusammenstellen kann. Sie eröffnen ein Restaurant, geben jedoch weiter Ihre kulinarischen Gastspiele. Wie vereinbaren Sie beides miteinander? Wenn Walerij Gergiev irgendwo ein Gastspiel gibt, werden da etwa im Mariinski-Theater alle Stücke abgesetzt? Ein etwas frecher Vergleich, zugegeben, aber dennoch. Anthony Bourdain, der US-amerikanische Koch, TV-Moderator und Buchautor, schrieb in „Medium Raw“ (auf Deutsch: „Ein bisschen blutig: Neue Geständnisse eines Küchenchefs“, Karl Blessing Verlag): „Wenn Sie glauben, dass die berühmten Chefköche die ganze Zeit in ihren Restaurants arbeiten, dann sind Sie auf dem Holzweg. Wenn Sie in einem dieser Restaurants zum Dinner sitzen, ist der Chefkoch wahrscheinlich gerade im Flieger unterwegs.“ Und das stimmt. Aber das Team, meine

Jungs, spielen dann nach Noten, wie das ein gutes Orchester tut. Wann und wo geben Sie Ihr nächstes Gastspiel? Nach der Restauranteröffnung werde ich wohl im April wieder reisen. Als Erstes werde ich zum Abschluss der Ski-Saison in die Schweiz zum Zermatt Palace fahren. Im Mai geht es dann nach Singapur zum World Gourmet Summit, wo wir neben einem Workshop ein Gala-Dinner ausrichten werden. Sind Ihre Gastspiele immer ausverkauft? Die Plätze reichen noch nicht einmal! Ich erinnere mich an ein Gastspiel vor einigen Jahren. Ich war im Les Airelles in Courchevel, 157 Dinner-Tickets waren verkauft. Aber das Restaurant hatte nur 90 Plätze. Die Organisatoren haben deswegen im Nachbarrestaurant des berühmten Pierre Gagnaire Plätze angemietet. Haben Sie im Ausland Lieblingsrestaurants? Welche Restaurants sind für Sie die bedeutendsten? Da gibt es einige. Zu nennen wären etwa das D.O.M. in São Paulo, das L’Astrance in Paris und das Noma in Kopenhagen. Allerdings kann ich mich für die nordische Küche nicht so begeistern. Ich sehe dort fast keine Entwicklung. Dass beim letzten Kochwettbewerb im Bocuse d’Or Norwegen den Sieg davontrug, erschien mir ziemlich ungerecht. Die Amerikaner waren erheblich besser. Werden Sie ein weiteres Restaurant im Ausland eröffnen? Es gibt diverse Angebote – aus London, Monaco oder Montreux. Ich überlege es mir. Das Gespräch führte Irina Mak.

Anatoly Komm verwendete als einer der ersten Köche Russlands in seinem Restaurant fast vollständig Zutaten aus heimischer Produktion.

PRESSEBILD(3)

Der russische Spitzenkoch Anatoly Komm gehört zu den Besten der Welt. Seit vierzehn Jahren betreibt er das Restaurant Varvary in Moskau. Anfang Februar eröffnete er sein zweites Restaurant in der russischen Hauptstadt, das Anatoly Komm for Raff House. Mit RBTH spricht der Kochzar über die russische Küche und das Geheimnis seines Erfolgs.

BIOGRAFIE BERUF: KOCH ALTER: 47

Anatoly Komm wurde 1967 in Moskau geboren. Nach seinem GeophysikStudium verdiente er das erste Geld mit dem Verkauf von Computern. Anfang der 1990er wechselte Komm ins Modegeschäft. Bereits als Kind hatte Komm ein Faible für die Küche. So

DEUTSCHLAND

folgte 2001 sein erstes Restaurant in Moskau und 2004 in Genf. Mit seinem Green in Genf schaffte es Komm als erster Russe auf die Liste der Köche, die für ein Lokal mit einem MichelinStern ausgezeichnet sind. Nach seiner Rückkehr nach Moskau 2006 widmete sich Komm der russischen und sowjetischen Küche und interpretierte sie mit Kunstgriffen aus der Haute Cuisine und der Molekularküche neu.

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Kunst

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SCHÄTZE DES ZAREN KAUM EIN JUWELIER UND EUROPÄER WURDE IN RUSSLAND SO BEWUNDERT WIE CARL FABERGÉ. ER BELIEFERTE ADLIGE UND DEN ZARENHOF. DOCH DER UNTERGANG DER MONARCHIE BRACHTE AUCH DIE FIRMA FABERGÉ ZU FALL.

RBTH

Im Jahr 1883 gibt Zar Alexander III. zwei zikadenförmige Manschettenknöpfe bei einem gewissen Carl Fabergé in Auftrag. Der junge Juwelier hatte die Aufmerksamkeit des Zaren während der Russischen Industrieausstellung auf sich gezogen, die ein Jahr zuvor in Moskau stattfand. So begann das erste Kapitel einer langen Geschichte der Freundschaft zwischen dem Haus der Romanows und einem Mann, dessen Name bald für den Glanz und die Größe des Russischen Kaiserreichs stehen würde. Mit dem Ausbruch der Oktoberrevolution dreißig Jahre später fand die Geschichte ein jähes Ende. Doch zuvor durchlebte das Kaiserreich eine Phase des Friedens und der Stabilität, eine Ära von industriellem Wachstum, Wohlstand und Überfluss, gekennzeichnet durch große künstlerische Leistungen. Um dem anspruchsvollen Geschmack ihrer Kunden gerecht zu werden, besannen sich die russischen Juweliere ihrer Wurzeln, kehrten von europäischen Standards ab und versuchten ihren Arbeiten einen authentischen Touch zu verleihen. Schmuck und Edelmetalle waren zu jener Zeit fester Bestandteil des Alltags russischer Adeliger und Angehöriger der Zarenfamilie. Für Fabergé war das die Stunde der Gunst und Gloria.

Frischer Wind bei Fabergé Der herausragende Erfolg des 1842 von Gustav Fabergé gegründeten Juweliergeschäfts geht wohl auch auf seinen Standort im Herzen Sankt Petersburgs zurück, größtenteils aber auf die hervorragende Qualität, die es bot. Allerdings sei angemerkt, dass Fabergé senior zwar ein geschickter Juwelier, aber für seine Zeit nicht allzu innovativ gewesen ist, wie seine persönlichen Entwürfe, die bis heute erhalten sind, belegen. Im Jahr 1872 übernahm sein ältester Sohn Peter Carl Fabergé die Führung des Familienunternehmens. „Ungeachtet seines jungen Alters – er war gerade 26 – war Carl ein erfahrener Juwelier.

Lieferant des Zarenhofs Im Jahr 1884 wurde Fabergé zum Lieferanten des Zarenhofs und damit, wie man heute sagen würde, zu einem Big Player im Geschäft. Dabei war sein Geheimnis wirklich einfach: Carl legte größten Wert auf die Qualität seiner Materialien. Zudem musste die Verarbeitung seiner Erzeugnisse absolut perfekt sein, bevor sie die Werkstatt verlassen durften. „Seine Stärke war auch seine Genialität: Fabergé verstand es, die europäische Kunst und Kultur mit russischen Traditionen zu verbinden“, erläutert Caroline Charron den Unternehmenserfolg. Anders als andere Juweliere verwendete Fabergé nicht pures Gold allein, sondern erlaubte sich, hin und wieder Legierungen von weißem und grauem Gold einzufügen. An den Edelsteinen schätzte er deren ästhetischen Wert stets mehr als ihren aktuellen Preis. Dank der innovativen Lackiertechnik seines Unternehmens wiesen seine Erzeugnisse ein einzigartiges Aussehen auf und die Verwendung halbedler Steine – ein außergewöhnlicher Kunstgriff zu seiner Zeit – garantierte seinen Produkten stets wettbewerbsfähige Preise. Die Zarin Maria Fjodorowna, Ehegattin Alexanders III., hatte einen Sinn für Diamanten und Smaragde. 1885 kreierte Carl Fabergé auf Bestellung des Zaren

1. Das Hennen-Ei, welches 1885 von Zar Alexander III. als Geschenk für seine Frau, Maria Fjodorowna, in Auftrag gegeben wurde. 2. Carl Fabergé 3. Porträt von Zar Alexander III., 1899. 4. Das Kuckucksei aus der Privatsammlung von Wiktor Wekselberg.

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FAKTEN ÜBER FABERGÉ

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Ein Fabergé-Museum, das dem russischen Milliardär Wiktor Wekselberg gehört, wurde am 19. November 2013 im SchuwalowSchloss in Sankt Petersburg eröffnet. Das Schloss befand sich bis Mitte der 2000er-Jahre in einem desolaten Zustand. Die Restaurierung des Gebäudes kostete mehr als 27 Millionen Euro. Die Grundlage der Ausstellung bildet die Privatsammlung Wekselbergs. Sie besteht aus ungefähr 4 000 Werken der dekorativen angewandten Kunst, inklusive einer Sammlung von Fabergé-Eiern, die 2004 von den Erben des US-Magnaten Malcolm Forbes an den russischen Oligarchen verkauft wurden.

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Heute existieren 62 Eier aus insgesamt 71 bekannten Schmuckstücken. Aus der Kollektion des Zaren, die 54 Fabergé-Eier umfasst, sind bis heute acht Stück verschollen. Die meisten Eier befinden sich in Museen in Russland und den USA.

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Wie viele Fabergé-Eier genau hergestellt worden sind, ist nicht bekannt, weil nur die Zarenkollektion dokumentiert ist. Vor einigen Jahren sorgte der Verkauf des sogenannten Rothschild-Eies für Aufsehen. Dieses war ein ganzes Jahrhundert lang unbemerkt von der Öffentlichkeit aufbewahrt worden.

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für sie das erste seiner berühmten Ostereier. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein lackiertes weißes Ei. Im Inneren enthält es aber goldenes Eigelb. Inmitten des Dotters befindet sich eine Henne mit einer Miniaturkrone aus Diamanten und Miniatureiern aus Rubinen. Die Zarin war von dem Geschenk derart entzückt, dass der Zar mit Fabergé eine Vereinbarung über die Lieferung von einem Osterei pro Jahr traf. Die Tradition überlebte den Kaiser und ging an seinen Sohn und Nachfolger Nikolaj II. über. Von den insgesamt 71 Eiern, die das Unternehmen kreierte, waren 52 für die Zarenfamilie bestimmt. Zusätzlich erhielt das Haus Fabergé Aufträge anlässlich besonderer Zeremonien, wie etwa die offizielle Krönung Nikolajs II. im Jahr 1894 oder das offizielle Jubiläum zur 300-jährigen Regentschaft der Romanows im Jahr 1913.

Vorabend eines turbulenten Jahrhunderts Aus Dankbarkeit für die Bemühungen des Juweliers half die Zarenfamilie eine Ausstellung seiner Arbeiten zu organisieren. Im März 1902 fand sie statt – das glorreiche Ereignis in der Unternehmensgeschichte dauerte zwei Tage. Ausgestellt wurden Fabergés Arbeiten für die Zarinnen Maria und Alexandra Fedorowna sowie für andere Angehörige der Zarenfamilie. Neben den berühmten Eiern fertigte das Haus Fabergé vielfältige andere Juwelen, Statuen und Geschirr aus Edelmetallen. Jedes

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Er hatte in Europa studiert und Reisen nach Deutschland, Frankreich und Italien unternommen, wo er das Beste vom Besten an Traditionen und Know-how aufgriff“, erzählt Caroline Charron, Buchautorin von „Fabergé: de la cour du tsar à l’exil“ (zu Deutsch: „Fabergé: Vom Hof des Zaren ins Exil“). Während seiner Zeit in Europa lernte Carl mit dekorativem Glas, Opal, Amethyst und anderen Materialien umzugehen, die von den Juwelieren seiner Zeit eher selten verwendet wurden. Um auch die traditionelle Handwerkskunst zu erlernen, bot Fabergé seine Dienste der Eremitage in Sankt Petersburg an. Kostenlos reparierte und restaurierte er die Juwelensammlung des Museums und erlangte auf diese Weise schließlich die alten Handwerkstechniken. Einige Jahre später führte er mit Unterstützung seines Bruders Agathon und einem exzellenten Team an Dekorateuren und Kunsthandwerkern sein Unternehmen an die Spitze.

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Als Sohn eines Juweliers brachte er die Firma seines Vaters zu Weltruhm und erwarb die Gunst des Zaren. Doch am Ende wurde seine enge Bindung zu Russland Carl Fabergé zum Verhängnis.

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DIE FABERGÉ-SAGA: VOM UNTERGANG ZWEIER IMPERIEN

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Stück ist ein Meisterstück für sich. Fabergé wurde nicht nur innerhalb des Russischen Reiches, sondern auch über seine Grenzen hinaus hoch geschätzt: Seine Erzeugnisse dienten oft als Geschenk für europäische Königshäuser. Bald eröffnete Fabergé Niederlassungen in Moskau, Odessa, Kiew und London und lieferte auch an den König von Siam oder die britischen Royals. Ein weiterer Erfolgsfaktor des Unternehmens war das Marketing- und Managementgeschick von Carl Fabergé. Laut dessen Biografen Walentin Skurlow hatte der Mann ein Gespür für die besten Kunsthandwerker und Handelsvertreter. Um auch Kunden aus entfernten Regionen den Zugang zu seinen Produkten zu eröffnen, lieferte er Warenkataloge an sie aus. Bis zum Jahr 1914 stellte sein Imperium nahezu 100 000 einzigartige Arbeiten her. Dennoch musste das Unternehmen bald einen schweren Schlag hinnehmen. Während des Ersten Weltkriegs brach der Konsum von Luxusgütern ein und die Gewinne von Fabergé wurden durch eine Reihe von Niederlagen zunichte gemacht. Wie viele andere vom Konfl ikt betroffene Unternehmen versuchte auch Fabergé seine Produktion auf die Bedürfnisse des Militärs umzustellen. Er nahm Aufträge der Armee zur Herstellung von Offiziersabzeichen an. Doch die traumhafte Saga des Hauses Fabergé endete mit der Abdankung von Nikolaj II. und dem Sturz der russischen Monarchie. Die neue Regierung der Bolschewiki erklärte einen


Kunst

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Juwelen der Oligarchen: Die teuersten Kunstkäufe te der Eremitage eines von Kasimir Malewitschs Gemälden vom Schwarzen Quadrat, das er 2002 aus der Insolvenzmasse der Inkombank für eine Million USDollar (890 000 Euro) kaufte. Das „Schwarze Quadrat Nr. 2“ von 1913 gehörte bis 1991 der Witwe des Malers und geriet nach ihrem Tod in den Besitz der Bank. Es gehört zur Dauerausstellung der Eremitage.

Russische Milliardäre haben über Jahre viele Kunstwerke erworben. Während einige den Anblick privat genießen, teilen andere ihren Kunstgeschmack gerne mit der Allgemeinheit. JULIA WINOGRADOWA FÜR RBTH

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„Dora Maar au chat“ von Pablo Picasso. Boris Iwanischwili, der 2011 die rusKOMMERSANT

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Fabergé-Kollektion der Familie Forbes. Der russische Oligarch Wiktor Wekselberg er-

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acht Bildern, die den Titel „Improvisation“ tragen. Das Bild wurde nur durch Zufall entdeckt: Es war unter einem anderen Werk Kandinskys versteckt.

Die meisten von Fabergés Kunden flohen außer Landes, andere wurden verhaftet. Das Unternehmen wurde verstaatlicht und sei-

Bis zum Jahr 1914 lieferte das Unternehmen von Carl Faberge insgesamt über 100.000 enzigartige Schmuckstücke aus. ne Niederlassungen geschlossen. Auch Carl verließ Russland im September 1918. Zwei Jahre später verstarb der Unternehmer in der Schweiz. Seines Lebenswerks beraubt hatte er in der neuen Welt keinen Platz gefunden. Zwei Jahre nach seinem Tod gründeten die Söhne Alexander und

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Das „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch. Wladimir Potanin schenk-

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sische Staatsbürgerschaft aufgab, ersteigerte 2006 bei Sotheby’s für 95,2 Millionen US-Dollar (75 Millionen Euro) Pablo Picassos „Dora Maar au chat“. Das Porträt seiner Freundin und Muse hatte Pablo Picasso 1941 im belagerten Paris gemalt. Es gehörte lange Zeit der Familie Gidwitz, US-amerikanischen Multimillionären. „Dora Maar au chat“ gehört zu den zehn Werken, die bei offenen Auktionen den höchsten Preis erzielt haben. Mit diesem Werk fügte Iwanischwili seiner weitgehend unbekannten Sammlung, deren Wert auf über eine Milliarde US-Dollar geschätzt wird, ein weiteres Meisterstück hinzu.

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„Studie für Improvisation 8“ von Wassily Kandinsky. Ein russischer Privatsammler soll 2012 Wassily Kandinskys „Studie für Improvisation 8“ für 23 Millionen US-Dollar (18 Millionen Euro) bei Christie’s in New York ersteigert und damit einen neuen Preisrekord für Kandinskys Werke aufgestellt haben. Das Gemälde entstand 1909 in Murnau und ist Teil einer Serie aus

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Das Ende des Imperiums

Ewgenij Fabergé ihr eigenes Unternehmen in Paris, das sie Fabergé et Cie nannten. Dem Erfolg ihres Vaters, des Juweliers des russischen Zaren, wurden sie allerdings nicht gerecht. Die unschätzbaren Arbeiten des Hauses Fabergé begeistern nach wie vor Luxusliebhaber und Kunstsammler. Im Jahr 2007 wurde das Rothschild-Ei von Carl Fabergé bei Christie’s für 12,5 Millionen Euro versteigert, wodurch es zum teuersten Objekt des russischen Kunsthandwerks aller Zeiten geworden ist. Die Marke Fabergé lebt weiter. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verkauften Alexander und Ewgenij sie an Samuel Rubin, der das auf Düfte spezialisierte Unternehmen Fabergé Inc. gründete. Es wurde später mehrere Male weiterverkauft, bis es schließlich 2012 von der Firma Gemfields für 142 Millionen US-Dollar übernommen wurde.

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Krieg gegen das alte Regime und begann mit der Auslöschung aller Spuren des Kapitalismus.

warb im Jahr 2004 die FabergéSammlung aus dem Besitz der amerikanischen Verlegerdynastie Forbes. Zur Sammlung gehören neun kaiserliche Fabergé-Eier sowie 190 weitere Kunstwerke des Juweliers. Wie viel Wekselberg investierte, ist nicht bekannt, doch der Wert der Sammlung soll 72 bis 96 Millionen Euro betragen haben. Die Sammlung wurde auf Ausstellungen gezeigt und fand 2013 im neuen Sankt Petersburger FabergéMuseum der Stiftung Swjas wremjon („Verbindung der Zeiten“) eine Heimat. „Wir freuen uns, dass eine neue Ära in Russland die Rückkehr der Kunststücke möglich macht“, ließ die Forbes-Familie damals mitteilen.

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Fabergé-Ei von Rothschild. Der Kunstsammler Alexander Iwanow ersteigerte

2007 für 18,5 Millionen US-Dollar (12,5 Millionen Euro) ein FabergéEi, das für die Familie Rothschild angefertigt wurde. 2009 eröffnete Iwanow ein Fabergé-Museum in Baden-Baden mit über 700 Exponaten, darunter auch ein Teil der berühmten Fabergé-Eier. Das Rothschild-Ei gehört seit Dezember 2014 der Sankt Petersburger Eremitage. Iwanow hatte es zuvor an den Präsidenten der Russischen Föderation übergeben.

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Reisen

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Industrietourismus Bodenschätze brachten der Tundra-Stadt Surgut Wohlstand

Surgut: Erdöl, Ski und Rentierreiten in Sibirien Dank Erdöl entwickelte sich Surgut zu einer Wirtschaftsmetropole. Touristen haben die Wahl zwischen moderner Industriegeschichte oder der traditionellen Welt der Ureinwohner Sibiriens. JOE CRESCENTE FÜR RBTH

Die älteren Bewohner Surguts erinnern sich noch an die gar nicht allzu lang vergangenen Zeiten, als Surgut ein Dorf war und in den Bevölkerungsregistern kaum Beachtung fand mit seinen nur rund 6 000 Einwohnern. Der rasante Aufstieg zur modernen Stadt mit gigantischen Einkaufszentren, Restaurants, einem dekadenten Nachtleben und protziger Architektur ist der Ölindustrie zu verdanken. Heute haben hier wichtige Konzerne entweder ihren Stammsitz, so wie Surgutneftgas mit über 82 000 Beschäftigten, oder unterhalten Niederlassungen wie der Gasriese Gazprom.

Vom Dorf zur Stadt An die Vergangenheit als Fischerdorf erinnert auch der Name der Stadt, der einer Version zufolge in der chantischen Sprache so viel wie „Fischgrube“ bedeutet. Surgut liegt im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen, der Ureinwohner Sibiriens. Heute bilden sie in der Stadt mit ihren 300 000 Einwohnern die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe. Wer Surgut sehen will, wie es einst vor dem Ölboom aussah, sollte zunächst nach Stary Surgut (zu Deutsch: „Altes Surgut“) fahren, ein kürzlich rekonstruiertes Dorf. In den 14 Holzhäusern sind unter anderem ein Museum für die indigene Bevölkerung untergebracht, eine rekonstruierte Holzkirche, typisch für den russischen Norden, und zudem einige Restaurants.

Das Museumsdorf erinnert daran, dass die Stadt eine der ältesten russischen Siedlungen Sibiriens ist. 1594 ließ der russische Zar Fjodor I., Sohn von Iwan dem Schrecklichen, sie als Vorposten gründen. Ein eindrucksvolles Denkmal erinnert an die drei Gründungsväter: einen Kosaken, einen Kaufmann und einen Heerführer. Bereits im 17. Jahrhudert wurde die Siedlung ein Ort des politischen Exils. Im 19. Jahrhundert lebten hier sogar einige Dekabristen. Nach der Revolution 1917 verlor die Siedlung ihren Stadtstatus, für einige Zeit galt sie als Dorf. Die Wende kam Ende der 1950er-Jahre, als man mit der Suche nach Öl begann. Am 21. März 1961 entdeckte der Geologe Farman Salmanow ein großes Ölvorkommen. In Surgut brachen fortan andere Zeiten an. Heute widmet sich das SalmonowMuseum ganz dem berühmten Geologen. Das Haus, in dem er wohnte, als er 1957 zum ersten Mal nach Surgut kam, bietet außerdem einen Einblick in die Wissenschaft der Ölförderung. Das Gebäude selbst ist restauriert und zeigt die Lebensbedingungen im Surgut der 1960er-Jahre. Das Heimatmuseum von Surgut beherbergt eine Dauerausstellung über die Lokalgeschichte mit so unterschiedlichen Facetten wie dem Leben der Altgläubigen, der Ära des politischen Exils und der Revolutionszeit. Man kann hier auch einige demontierte sowjetische Statuen sehen. Gezeigt wird außerdem eine Ausstellung über die Kindheit in der Sowjetunion mit Kleidung und Spielzeug. Das Surgut Art Museum präsentiert temporäre Ausstellungen zu den verschiedensten Themen, von lokalen Trachten bis zur Ikonenmalerei.

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Tipps für Reisende ANREISE Über Moskau gibt es tägliche Flugverbindungen von Aeroflot und UTair nach Surgut (Flugzeit knapp drei Stunden). UNTERKUNFT bieten das preisgünstige Ob Hotel (Zimmer ab 28 €) und das Hotel Centre für Geschäftsreisende (Zimmer ab 64 € ohne Frühstück). ESSEN Gesundheitsbewussten Besuchern sei die Vegan Health Food Bar empfohlen. Das Lokal Sjem Pjatniz („Sieben Freitage“) bietet russische als auch europäische Gerichte an.

Öl, Ski und Rentierreiten Neben den klassischen Museen wird der sogenannte Öltourismus immer beliebter. Wer will, kann hautnah dabei sein, wenn das schwarze Gold gewonnen wird, und einen Bohrturm erklimmen oder ein Erinnerungsfoto in der Montur eines Ölarbeiters machen. Besucher können versuchen, doch noch Einlass in das mittlerweile offiziell geschlossene Öl-Museum in der lokalen Geschäftsstelle von Gazprom zu bekommen. Denn für Reisegruppen und Schulklassen wird manchmal eine Ausnahme gemacht. Wer sich lieber aktiv erholen will, dem stehen zahlreiche Wintersportoptionen offen. Drei Orte, die unter anderem zum Skifahren einladen,

sind Olimpia, Sneschinka und Myss Kamennyj. Skifahren macht hungrig, wie gut, dass Gourmets in Surgut ebenfalls auf ihre Kosten kommen. Fisch ist die wichtigste Delikatesse, der Muksun steht hier an erster Stelle. Stör und Weißlachs sind ebenfalls sehr beliebt, man kann sie geräuchert oder frisch kaufen. Die Einheimischen bieten im Winter Fisch, Rentierfleisch, Nüsse und Beeren auf der Straße an. Gesundheitsbewussten Besuchern sei die Vegan Health Food Bar empfohlen, in der man sonntags frühstücken, Smoothies trinken und Livemusik hören kann. Es lohnt sich übrigens, auch die Umgebung der Stadt zu erkunden und den rund 130 Kilometer langen Weg von Surgut Richtung Nor-

den nach Russkinskaja auf sich zu nehmen. Die Tundra-Stadt bietet als eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten ein Naturkundemuseum. Hier werden Ausstellungen über die heimische Tierwelt und die indigene Bevölkerung gezeigt. Ende März findet in Russkinskaja ein Festival der Jäger, Fischer und Rentierzüchter statt. Diese Zeit eignet sich besonders für eine Reise für jene, die sich einen lebendigen Eindruck von der Kultur der Ureinwohner machen wollen. Mutige können zudem einen Ritt auf einem Rentier riskieren. 95 Kilometer nordwestlich von Surgut liegt das malerische Chanten-Dorf Ljantor am Fluss Pim. Hier stellt ein ethnografisches Museum mit Freiluftgelände den Lebensraum der Chanten vor. RAMIL SITDIKOV/ RIA NOVOSTI


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