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Mittwoch, 4. Februar 2015

Deutsche Ausgabe

Die monatlichen Beilagen erscheinen in verschiedenen Sprachen in führenden internationalen Tageszeitungen: The Daily Telegraph, Le Figaro, The New York Times.

Diese bezahlte Sonderveröffentlichung wird dem HANDELSBLATT beigelegt. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines (Russland) verantwortlich. Die Handelsblatt-Redaktion ist bei der Erstellung der bezahlten Sonderveröffentlichung nicht beteiligt.

LORI/LEGION MEDIA

Russen in Garmisch vermisst

Russische Touristen haben sich zu einer der wichtigsten Touristengruppen in Europa entwickelt. Nun hat der schwache Rubel viele Pläne für Auslandsreisen zerstört. Auch die innerrussische Konkurrenz schläft nicht. Deutsche Kurorte beklagen bereits Verluste. SEITE 7

Was tun mit dem Islam? Der Terroranschlag in Paris hat eine Diskussion über den Umgang mit dem Islam in Gang gesetzt. Russland führt diese Debatte seit Jahren und hat Fehler, aber auch einiges richtig gemacht. Könnte sich Europa etwas abschauen beim Nachbarn im Osten? SEITE 9

Berlinale unter Stromwolken

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES IST EIN MEHRSPRACHIGES INFORMATIONSANGEBOT ÜBER RUSSLAND.

gen und Entlassungen auf der Tagesordnung stehen. Das Bruttoinlandsprodukt wird im laufenden Jahr spürbar sinken. Die größten Probleme des Landes, die sich bereits in der Krise 2008 offenbarten, etwa die fatale Abhängigkeit vom Ölpreis, wurden

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nicht gelöst. Zusätzlich verunsichern die Sanktionen die Investoren. Nur eine merkliche Erholung des Ölpreises sowie eine geopolitische Entspannung könnten die Lage beruhigen.

Die russische Filmindustrie stecke in einer permanenten Krise, sagen Kritiker. Auch die jüngsten Erfolge sorgen nicht nur für Applaus in Russland, sondern für heftige Diskussionen. „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew hat gute Aussichten auf einen Oscar, „Unter Stromwolken“ von Aleksej German tritt bei der Berlinale an.

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DPA/VOSTOCK-PHOTO

Die letzten Monate des vergangenen Jahres brachten vielen Russen die Gewissheit: Die Krise, von der seit langem die Rede war, ist nun auch im eigenen Portemonnaie angekommen. Die Preise schnellten in die Höhe. Demnächst dürften bei vielen Unternehmen Lohnkürzun-

REUTERS

Der Rubel sinkt, die Wirtschaft wankt

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In Deutschland wird die Printausgabe von RBTH dem Handelsblatt einmal monatlich beigelegt.

DIE NÄCHSTE AUSGABE

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erscheint am 6. März 2015

Printausgaben


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Konjunktur

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

INTERVIEW WLADIMIR MAU

«Die Lage erinnert stark an die Krise in der Sowjetunion» RUSSLANDS KRISE ALS CHANCE, DIE ABHÄNGIGKEIT VON ROHSTOFFEXPORTEN ZU ÜBERWINDEN

Wie würden Sie angesichts von Rubelverfall und fallender Ölpreise die neue Realität beschreiben, mit der die russische Wirtschaft konfrontiert ist? Als Leiter einer staatlich fi nanzierten Einrichtung, einer der größten Hochschulen des Landes, liebe ich hohe Ölpreise. Als Wirtschaftshistoriker bevorzuge ich allerdings gemäßigt niedrige Preise auf Ressourcen, da sich übermäßige Einnahmen in der Regel negativ auf die Qualität von Institutionen auswirken. Im 16. Jahrhundert bekam Spanien über einen Zeitraum von 50 Jahren regelmäßig hohe Kapitalerträge in Form von Silber und Gold. Letztendlich führte das zum Untergang des damals mächtigsten Staates in Europa. Wir müssen verstehen, dass die aktuelle Krise in Russland ein ernstzunehmender Anlass ist, uns unserer makroökonomischen Politik bewusst zu werden.

Können fallende Ölpreise Russland helfen, die eigene Abhängigkeit von den Rohstoffexporten zu reduzieren und umfassende Reformen durchzuführen? Wenn die Ölpreise niedrig bleiben, können wir davon ausgehen, die „holländische Krankheit“, bei der sich die Herstellung aller Güter mit Ausnahme der Rohstoffe nicht mehr rentiert, überwunden zu haben. Das gibt die Möglichkeit, die Inflation entschieden zu bekämpfen, ohne dabei die sinkende Konkurrenzfähigkeit russischer Unternehmen aufgrund des stärkeren Rubels befürchten zu müssen. Russland kann auch die Einwanderungsbestimmungen lockern, weil das Land für Migranten weniger attraktiv geworden ist. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Hauptursache für die aktuelle Wirtschaftskrise in Russland? Heute sehen wir, dass sich gleich mehrere Krisen überlagern. Zum einen wirkt weiterhin die weltweite Strukturkrise. Sie verursacht tiefergehende Verzerrungen in der Wirtschaft und der Politik führender Nationen. Zum anderen ist zu beobachten, dass das russische Wachstumsmodell aus den 2000erJahren, das auf die Steigerung der Nachfrage, d. h. auch des Konsums, setzte, eine Krise durchlebt. Hinzu kommt die Verschärfung der geopolitischen Situation. Wegen der branchenbezogenen Sanktionen, die vor allem im Finanzsektor gegen das Land gerichtet wurden,

Global Security After the Ukraine Crisis

Worin unterscheidet sich die aktuelle Krise in Russland von der Krise der Jahre 2008/2009? Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass wir damals gemeinsam mit der ganzen Welt einen Ausweg aus der Krise gesucht haben. Jetzt suchen wir den Ausweg selbst und niemand wird uns helfen. Insgesamt erinnert die Krise sehr stark an die Krise in der Sowjetunion im Jahr 1986. Im Augenblick sind fallende Ölpreise und die Wirkung der Sanktionen die äußeren Schocks für die russische Wirtschaft. In ähnlichem Umfang fiel der Ölpreis auch 1986. Erschwert wurde die Situation durch die Anti-Alkohol-Kampagne, die den Staatshaushalt um die nach Erdöl zweitwichtigste Einnahmequelle brachte. Damals löschte die sowjetische Regierung das Krisenfeuer mit Außenschulden. Die UdSSR trat in die Krise mit einer ausbalancierten Wirtschaft, aber nur vier Jahre waren nötig, damit der Staat kollabiert. Dabei war in den ersten zwei Jahren ein wirtschaftliches Wachstum im Land zu verzeichnen. Allerdings verfügte die UdSSR praktisch über keinerlei Reserven und war als Wirtschaftssystem weitaus weniger flexibel.

BIOGRAFIE BERUF: ÖKONOM ALTER: 55

Wladimir Mau wurde 1959 in Moskau geboren. Er studierte am Moskauer Plechanow-Institut für Volkswirtschaft. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gehörte er Anfang der 1990er-

In letzter Zeit sagen die Wirtschaftswissenschaftler, dass entweder eine Mobilisierung oder eine Liberalisierung die Antwort auf die Krise sein kann. Welches dieser Szenarien bringt Ihrer Meinung nach Vorteile für Russland? Das Liberalisierungsmodell hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weltweit etabliert. Das größte Beispiel dieser Entwicklung ist China nach 1978 und besonders nach den studentischen Protesten von 1989, als das Land mit Wirtschaftssanktionen belegt wurde.

Jahre zum engsten Kreis der Wirtschaftsreformer um den verstorbenen Jegor Gaidar, damals Finanzminister und Vizepremier des Landes. Heute ist Mau Rektor an der Staatlichen Akademie für Volkswirtschaft und Verwaltung und zählt zu den einflussreichsten Regierungsberatern in Sachen Wirtschaft.

Eben aufgrund der Liberalisierung begannen in China 1992 die Investitionen und das BIP rasant zu wachsen. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele für schnelles Wachstum auf der Basis der Liberalisierung der Wirtschaft. Ich nenne nur einige Länder: Chile, Finnland, Irland, Südafrika oder Polen. Beispiele für beschleunigtes Wachstum nach dem Mobilisierungsmodell sind im letzten halben Jahrhu n d e r t d a g e g e n n ic ht z u verzeichnen. Das Gespräch führte Alexej Lossan.

Banken 13 Milliarden Euro sollen die Finanzinstitute krisenfest machen

COMING UP IN FEBRUARY BRIEF

befindet sich die russische Wirtschaft in einem Schockzustand. Fallende Preise auf Öl, die wichtigste Einnahmequelle des Staatshaushalts, üben zusätzlich außenwirtschaftlichen Druck aus. DENIS WISCHINSKIJ / TASS

Im letzten Quartal 2014 ist in Russland nach dem Verfall der Ölpreise die nationale Währung abgestürzt. Auf dem Moskauer GaidarForum sprach der Rektor der Russischen Akademie für Wirtschaft und Verwaltung und seinerzeit einer der Co-Autoren der russischen Wirtschaftsreformen Anfang der 1990er-Jahre, Wladimir Mau, mit RBTH darüber, wodurch das heutige Russland mit der UdSSR nach 1985 vergleichbar ist.

Regierung stützt Banken mit Milliarden Ahead of the Munich Security Conference, which will be held from Feb. 6-8, we take a look at the implications of the Ukraine crisis for global security. How did it change Russia’s relations within the post-Soviet space? Can we predict what Russian actions in other parts of the world will be? And, most importantly, has the Ukraine crisis changed what wars will look like in the future?

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Der Kreml greift den heimischen Banken mit 13 Milliarden Euro unter die Arme. Damit sollen vor allem Reserven gebildet werden. ALEXEJ LOSSAN RBTH

Die Regierung plant, die russischen Banken mit 13 Milliarden Euro zu unterstützen. Ziel ist es, eine Bankenkrise zu verhindern. Das Geld soll den Banken ein Polster verschaffen, um die Folgen des Ölpreisverfalls und der Rubelschwäche abzumildern. Das Geld kommt von der Agentur für Anlagenversicherung, einer Institution, die Anlegern die Rückzahlung von Geldern ga-

rantieren soll. Diese Mittel können nur Banken beantragen, die bereit sind, mehr Kredite an die Realwirtschaft zu vergeben. Kreditinstitute, die zusätzliche Mittel erhalten wollen, müssen zudem eine Reihe von weiteren Voraussetzungen erfüllen. Zum Beispiel müssen sie über Eigenkapital in Höhe von mindestens 340 Millionen Euro verfügen. Sie müssen sich zusätzlich verpflichten, die Gehälter ihrer Mitarbeiter nicht zu erhöhen. Die Unterstützung ist notwendig, davon sind auch die Ökonomen überzeugt. German Gref, der Sberbank-Chef, prophezeite eine „allumfassende“ Bankenkrise, falls der

Ölpreis sich weiter um die 45 USDollar pro Barrel bewege. Russische Banken müssten demnach im Jahr 2015 Reserven von 46,2 Milliarden US-Dollar aufbauen. Gref glaubt nicht, dass das viele schaffen können. Grefs Sberbank selbst hat wegen der Bildung von Reserven einen Gewinneinbruch auf etwa 4,1 Milliarden Euro. Oleg Wjugin, Vorsitzender des Direktorenrats der MDM-Bank, hält Grefs Befürchtungen für „ein wenig übertrieben“. „Probleme wird es geben, doch sie werden nicht so schwerwiegend sein“, glaubt er, aber: „Hier und heute ist das Bankensystem stabil“.


Konjunktur

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

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Rubelkrise treibt Russen in die Wechselstuben und verunsichert internationale Investoren

Kapitalabfluss auf Rekordniveau wovon 50 bis 80 Milliarden für den Schuldendienst im Ausland bestimmt sind.

Der Kapitalabfluss aus Russland stieg 2014 um das 2,5-Fache gegenüber 2013 und lag um ein Vielfaches höher als in der Krise 2008. Der Zufluss von Investitionen dagegen versiegte.

Investitionen im Minus

ANNA KUTSCHMA RBTH

SERGEJ KONKOW / TASS

Mlrd. US-Dollar

Keine Besserung in Sicht

tallurgie und der Kohlegewinnung. Ein schwacher Rubel bedeutet für sie Kostenvorteile, zumal wenn sie größtenteils auf russische Ausrüstung setzen. Die Metallurgie profitiert zudem von der Verdrängung ukrainischer Produzenten. „Andere profitieren von der Förderung der Importsubstitution“, führt Ostap-

QUELLE: ROSSTAT

ANTON BUCENKO / TASS

Schwacher Rubel stützt Exporteure Vor allem die rohstofffördernden Unternehmen und Produzenten petrochemischer Erzeugnisse mit einem Exportanteil von 75 Prozent profitierten von der Rubelkrise, erklärt Georgij Ostapkowitsch, Direktor des Zentrums für Konjunkturforschung an der Higher School of Economics. Ebenfalls im Vorteil sind Unternehmen aus der Me-

Höhe von 118 Milliarden US-Dollar. Nach Einschätzung von Experten hängt die weitere Entwicklung von der Sanktionspolitik, dem Ölpreis und der Stabilität der Landeswährung ab.

Russland und das Kapital seit 1994

RBTH

Ein solches Ausmaß haben nicht einmal die Experten vorhergesehen. 151 Milliarden US-Dollar an Kapital flossen laut Zentralbank im vergangenen Jahr aus Russland ab. Zum Vergleich: 2013 waren es 61 Milliarden und selbst 2008 war der Betrag mit 133,6 Milliarden geringer. Das Finanzministerium hatte lediglich 90 bis 100 Milliarden prognostiziert, die Zentralbank 128 Milliarden US-Dollar. Nach Angaben der Währungshüter geht die Kapitalausfuhr auf höhere Einlagen in US-Dollar und die Tilgung äußerer Verpflichtungen durch den russischen Privatsektor zurück. Gleichzeitig sind die Refinanzierungsmöglichkeiten wegen geltender Sanktionen eingeschränkt. Der größte Faktor beim Kapitalabfluss sind die Russen selbst. Im Jahr 2014 kaufte die Bevölkerung rekordverdächtige 34 Milliarden US-Dollar, den Großteil davon im letzten Quartal. Im Krisenjahr 2008 lag der Wert noch bei 24 Milliarden US-Dollar. „In den letzten Jahren sind die Einkommen der Bevölkerung gestiegen, wobei der Rubel weiterhin für Währungsschwankungen empfindlich blieb. Daher ist es folgerichtig, dass Menschen beim Verfall des Rubels fremde Währung aufkaufen“, erläutert Maxim Petronewitsch, stellvertretender Leiter des Zentrums für Wirtschaftsprognose bei der Gazprombank. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass diese Beträge praktisch im Inland geblieben sind. „Verändert hat sich nur die Struktur privater Ersparnisse“, betont Alexander Abramow vom Zentrum für Systemforschung bei der Russischen Akademie für Wirtschaft und Verwaltung. Für 2015 prognostiziert die Zentralbank eine Kapitalausfuhr in

kowitsch weiter aus. So würden importierte Nahrungsmittel durch heimische Produkte ersetzt. „Zu den Gewinnern zählen Unternehmen, deren Produkte in harter Währung verkauft werden, während der Anteil importierter Komponenten an der Produktion gering ist“, sagt Wiktor Demidow, Leiter der Consulting-Abteilung bei FinExpertisa. Als Beispiel nennt er die Käseproduzenten. Wegen des schwachen Rubels ist die Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte im Vergleich zu den importierten Käsesorten gestiegen. Allerdings könnten ihre in harter Währung finanzierten Produktionsanlagen diese Vorteile wieder zunichtemachen. Der schwache Rubel erhöhe die Kosten für die Modernisierung der Produktion. Vor diesem Problem stehen die Maschinen- und Anlagenbauer. Im Hightech-Bereich brauche es Importe, so Ostapkowitsch. Ahnlich bei Konsumgütern. Kaum ein Unternehmen kann nur mit russischer Ausrüstung und russischen Rohstoffen produzieren.

„Sehr wahrscheinlich kehrt der Ölpreis nicht auf 100 Dollar pro Barrel zurück, was einen leichten Zufluss an Devisen bedeuten würde. Hinzu kommt eine deutliche Verschlechterung der russischen Wirtschaft. Wir sehen auch für dieses Jahr einen Kapitalabfluss in Höhe von mehr als 100 Milliarden Dollar“, sagt Elizaweta Belugina, Leiterin der Analysten-Abteilung beim Wertpapierhändler FBS. „Das Weiterbestehen der Sanktionen, die mögliche weitere Abwertung des Rubels, die Herabsetzung des Ratings auf RamschNiveau werden weiteren Kapitalabfluss fördern“, fügt Abramow hinzu. Das Zentrum für Wirtschaftsprognose der Gazprombank sagt für 2015 einen Abfluss von 100 bis 130 Milliarden US-Dollar voraus,

DEUTSCHLAND

Während die Kapitalflucht zunimmt, versiegen die ausländischen Investitionen in Russland nahezu vollständig. In den ersten drei Quartalen 2014 betrug das Minus bei den Investitionen nach Angaben der Moskauer Währungshüter 21,7 Milliarden US-Dollar. Vom Abfluss ausländischer Mittel sind ausnahmslos alle Branchen betroffen: die Öl- und Gasindustrie, die Metallerzeugung, der Handel, die Agrarwirtschaft, Immobilien. „Aktuell wirken direkte und indirekte Verbote auf Investitionen in Russland. Westliche Investoren entwickeln ein Misstrauen gegenüber großen Projekten in unserem Land“, erläutert Alexander Abramow vom Zentrum für Systemforschung bei der Russischen Akademie für Wirtschaft und Verwaltung. So führte die Abkühlung im deutsch-russischen Verhältnis zu einer Absenkung von Investitionen in den russischen Maschinenbau und die Pharmaindustrie. „Viele deutsche Unternehmen sagen die Teilnahme an Projekten in Russland ab, 41 % der Unternehmen fahren den Umfang der Investitionen zurück“, sagt Elizaweta Belugina vom FBS. „Außerdem leidet die Energiebranche unter den Sanktionen. Ebenfalls auf das Konto von Sanktionen geht der im Dezember 2014 geplatzte Aktientausch zwischen Gazprom und dem deutschen Konzern BASF“, fügt Belugina hinzu. „Bei politischer Instabilität bleiben Direktinvestitionen aus. Das ist eine normale Erscheinung“, meint Maxim Petronewitsch. Allerdings habe sich an den Investitionsbedingungen in Russland nichts geändert. „Der Markt ist nach wie vor groß, wegen des Kursverhältnisses ist die Arbeitskraft nun billiger geworden als in China, die Stromversorgung ist nach wie vor günstig. Daher bestehen auch weiterhin Anreize, um in Russland zu produzieren“, betont er.

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Thema des Monats

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

RUSSLANDS KRISE

Entwicklung des Ölpreises (Brent) in US-Dollar 2008-2015

BILLIGE ENERGIE UND DRUCK VON AUSSEN ZIEHEN DIE WIRTSCHAFT IN EINEN SUMPF VON PROBLEMEN. QUELLE: YANDEX.RU/QUOTES

Aktuelle Wirtschaftsprognosen lassen die Erinnerungen an den Einbruch von 2008/2009 wach werden. Dabei könnte die Lage heute sogar ernster sein als bei der letzten Krise. ALEXEJ LOSSAN RBTH

Es ist nunmehr traurige Gewissheit. Russlands Wirtschaft wird im laufenden Jahr in die Rezession schlittern. Fraglich bleibt allerdings das Ausmaß des Einbruchs. Laut offizieller Prognose des Wirtschaftsministeriums wird das russsiche Bruttoinlandsprodukt um mehr als ein Prozent sinken. Sollte der Ölpreis auf dem Niveau von um die 40 US-Dollar pro Barrel bleiben, wird diese Prognose deutlich nach unten korrigiert werden müssen. Dann, so das Ministerium, wird die Wirtschaftsleistung um etwa fünf Prozent zurückgehen. Dabei sanken bereits in der ersten Woche des Jahres 2015 die Ölpreise unter 50 US-Dollar pro Barrel. Das ist der niedrigste Stand seit sechs Jahren. Der Erdölpreis fiel erneut, nachdem die OPEC angekündigt hatte, die Fördermengen nicht zu reduzieren. Aleksandr Proswirjakow, Berater für Finanz-, Handels- und Rohstoffoperationen von PricewaterhouseCoopers in Russland, erklärt, dass die Entwicklung der russischen Wirtschaft von der Entwicklung der Rohölpreise abhänge, denn der größte Teil der Einnahmen des russischen Staatshaushaltes stammt aus dem Energieexport. Der Haushaltsplan für 2015 basierte auf einem Rohölpreis von durchschnittlich 100 US-Dollar. Sollte der Preis nun lediglich rund 50 US-Dollar betragen, geht auch Alexej Kozlow, Chefanalyst der Investmentgesellschaft UFS, von einem Minus von fünf Prozent aus. Sergej Herstanow, Dozent an der Fakultät für Finanz- und Bankenwesen der Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst, rechnet sogar mit minus 5,8 Prozent. Russland habe sich mit der „holländischen Krankheit“ infiziert: Die Dominanz des Rohstoffexports angesichts hoher Ölpreise mache andere Bereiche der Wirtschaft de facto konkurrenzunfähig. „Der Verfall der anderen Branchen begann Anfang der

2000er-Jahre und schritt mit der Zeit voran. Genau deswegen ist auch die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft vom Öl gestiegen“, erläutert er. Denn nicht nur der Ölpreis wirke sich auf das BIP aus. „Für die Entwicklung des BIP spielen auch der Wechselkurs, die Steuerbelastung und der Kapitalabfluss eine wichtige Rolle“, sagt Herstanow. Einerseits hätten auch Sanktionen gegen Russland sowie eine erwartete erneute Verschlechterung der Bonitätsnote Russlands und russischer Unternehmen durch internationale Ratingagenturen negative Auswirkungen. Durch die Abwertung des Rubels hingegen könne der niedrige Ölpreis teilweise kompensiert werden.

Kein Vergleich zur Krise 2008/2009 Russische Wirtschaftsexperten erinnern an die Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009. Auch damals

SHUTTERSTOCK/LEGION-MEDIA

REZESSION WEGEN ÖLPREIS UND SANKTIONEN

RBTH

2008 war Russland eines von vielen Krisenländern. Heute kommt zur Wirtschaftskrise der internationale Druck hinzu.

stürzte der Ölpreis ab, von 100 USDollar auf 40. Die wirtschaftliche und politische Situation war zu dieser Zeit jedoch anders. „Unser Land war damals keinen wirtschaftlichen Sanktionen ausgesetzt. Zudem ist heute der Markt mit Öl übersättigt“ sagt Daniil Kirkow, Partner der Unternehmensgruppe vvCube. Anton So-

roko, Analyst bei Finam, glaubt, dass die Ölpreise so stark gesunken sind, weil in den USA die Kosten für die Gewinnung von Schiefergas gesunken seien und gleichzeitig die Nachfrage geringer werde. „Die Weltwirtschaft wächst nicht in gleichem Maße wie 2009, als die Investoren noch größere Erwartungen hatten“, bemerkt er.

Staatsfinanzen Russlands Finanzminister Anton Siluanow verordnet Sparkurs

Haushaltskürzung: Regierung muss trotz schwachem Rubel sparen Russlands Regierung droht wegen des Ölpreisverfalls der Sparzwang. Lediglich Verteidigung und Sozialleistungen sollen nicht betroffen sein. ALEXEJ LOSSAN RBTH

Das Loch ist gewaltig. Etwa 39,7 Milliarden Euro – um diesen Betrag wird das Budget des russischen Staatshaushalts 2015 geringer ausfallen, damit beträgt es nur noch etwa 159 Milliarden Euro. Grund dafür sind vor allem die weltweit niedrigen Preise für Energieträger. Diese Zahlen verkündete Russlands Finanzminister Anton Siluanow auf dem Gaidar-Wirtschaftsforum in Moskau. Das Finanzministerium will versuchen, das Haushaltsdefizit in einem Rahmen von zwei bis drei Prozent des Bruttoinlandprodukts zu halten und hat deshalb angekündigt, die Ausgaben um zehn

Prozent zu reduzieren. Die beiden größten Posten des russischen Staatshaushalts, die Etats für Verteidigung und Sozialausgaben, sollen dabei allerdings nicht angetastet werden. Xenija Judajewa, stellvertretende Vorsitzende der russischen Zentralbank, nannte auf dem Gaidar-Forum zwei Entwicklungen, die zur Herausforderung für Russlands Staatshaushalt und die russische Wirtschaft geworden sind: Ölpreisverfall und Rubelkrise. Die russische Wirtschaft brauche Zeit, sich diesen Entwicklungen anzupassen, sagte Judajewa. Dabei gelte: „Je schneller wir die Periode zur Anpassung durchlaufen, desto schneller kann sich unsere Wirtschaft unter den neuen Vorzeichen weiterentwickeln.“

Strukturelles Ungleichgewicht Tatjana Golikowa, Vorsitzende der

Rechnungskammer der Russischen Föderation, einer einflussreichen Institution zur Finanz- und Ausgabenkontrolle, sprach sich gegen Haushaltskürzungen aus. „Im ersten Quartal 2015 erscheint es sinnvoll, keine Korrekturen am russi-

Experten sehen keine Alternative zum Sparen. Höhere Steuern würden Bürger und Firmen zusätzlich belasten. schen Haushalt vorzunehmen“, sagte Golikowa in Moskau und erklärte: „Wir brauchen diese Zeit, um objektive Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung im Jahr 2014 zu erhalten.“ Die Zahlen zeigten zudem, dass trotz bestehender Schwierigkeiten auch neue Einnahmequellen ge-

schaffen worden seien. „Damit der Haushaltsplan eingehalten werden kann, wurde ein Anti-Krisen-Fonds eingerichtet“, berichtete sie. Sie gab zu bedenken, dass Kürzungen, die den Verteidigungsetat und die Sozialausgaben außen vor ließen, zu einem noch deutlicheren Missverhältnis der Ausgabenverteilung führen würden. „Derzeit entfallen 76 Prozent der Ausgaben des föderalen Haushalts auf diese beiden Bereiche. Nach den geplanten Kürzungen wird die Struktur des Haushalts noch unausgeglichener sein“, warnte Golikowa. Experten sehen indes keine Alternative zu Sparmaßnahmen. „Im Finanzministerium sorgt man sich um die Erfüllung der Haushaltsvorgaben. Daher sind Kürzungen unerlässlich und nicht die schlechteste Option“, meint Ilja Balakirew, Chefanalyst bei UFS IC, und fügt hinzu: „Die Alternative wäre eine


Thema des Monats

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Preise steigen nicht nur bei importierten Gütern und Lebensmitteln

ZAHLEN

96$ 50% -3% Das Leben der Russen beträgt der Ölpreis, der dem ursprünglichen Haushalt für das laufende Jahr zugrunde liegt.

beträgt in etwa der Anteil der Einkünfte aus dem Energiesektor am föderalen Haushalt.

könnte laut Russlands Wirtschaftsminister Uljukajew das BIP bei einem Ölpreis von 60 US-Dollar sinken.

wird deutlich teurer Der gestiegene Dollarkurs hat die Russen härter getroffen, als sie ahnen konnten: Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsgeräte wurden besonders teuer.

Inflation in Russland 2014

MARIA KARNAUCH

Unter anderem decke die Nachfrage Chinas die Förderkapazitäten der USA nicht ab. In Russland wirke sich der Ölpreisverfall stärker auf den Kurs des Rubels aus, weil „anders als in den Jahren 2008 und 2009 heute nur wenig ausländisches Kapital im Land ist. Ausländische Unternehmen investieren weniger in Russland“, meint

Soroko. Auch damals sei die russische Wirtschaft schon abhängig vom Energieexport gewesen, sagt UFS-Analyst Kozlow. Jedoch wäre der Druck heute aufgrund der Sanktionen, einer steigenden Inflation und gestiegenen geopolitischen Risiken größer. Der Ausblick sei nicht sehr optimistisch. Das mache den Unterschied aus.

MICHAIL DZHAPARIDZE / TASS

Russlands Finanzminister Anton Siluanow.

Einnahmensteigerung, aber das würde Steuererhöhungen bedeuten und eine größere Belastung von Bürgern und Unternehmen.“ Stattdessen schlägt er vor, „zweifelhafte Projekte“, wie er sie nennt, zurückzustellen, etwa „die Erschließung der Arktis oder die steigenden Rüstungsaufträge“. Andererseits mache die russische Rüstungsindustrie große Entwicklungsfortschritte, was zur Importsubstitution beitrage. Weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie würden helfen, den Importersatz im Bereich der Hochtechnologie noch schneller voranzutreiben, glaubt Ilja Balakirew.

Anton Soroko, Analyst bei Finam Management, sieht noch einen weiteren Grund, warum der Verteidigungsetat nicht von Kürzungen betroffen ist. Die Höhe der Ausgaben für Verteidigung sei von strategischer Bedeutung und daher auch eine politische Entscheidung, erläutert er. Das könnten die Finanzbehörden nicht ändern. In den Bereichen Bildung und Gesundheit seien Kürzungen jedoch kritisch, wie Soroko weiter anmerkt. Er schlägt vor, sich um eine Effektivitätssteigerung der Ausgaben zu bemühen: „Jeder eingesetzte Rubel muss sich mehrfach auszah len“, findet der Analyst.

Die Preise vieler Waren sind 2014 schneller gestiegen als die Inflationsrate, die die Statistikbehörde Rosstat mit 11,4 % beziffert hat. So legten Lebensmittelpreise im Schnitt um 15,4 % zu. Zum Höhepunkt des Anstiegs kam es im Dezember, als auch die stärksten Schwankungen der Währungskurse registriert wurden. Experten erklären dies durch die starke Abhängigkeit vom Import. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat sind Obst und Gemüse um 22 % teurer geworden. Im Winter wird für gewöhnlich das meiste Obst und Gemüse importiert. Wegen der von Russland eingeführten Sanktionen haben viele ein Defizit auf dem Markt erwartet, erklärt Julia Maruewa, Partner von Nielsen Russia. Das hat die Preise für zum Import zugelassenes Obst und Gemüse in die Höhe getrieben. Fleisch und Geflügel sind um 20,1 % teurer geworden, womit sie die Inflationsrate um fast das Doppelte übertroffen haben. Die Preise für Fisch sind um 19,1 % gestiegen. Hierbei spielt ebenfalls das Embargo für europäischen Fisch sowie Gerüchte über ein bevorstehendes Defizit eine Rolle. Die Preise für Milch und Milchprodukte sind im verg a n g e ne n Ja h r u m 14,4 % gestiegen. „Neben der Unsicherheit heizen auch die gestiegenen Rohstoffkosten der Hersteller, die nicht selten ihre Vorprodukte aus dem Ausland einführen, die Inflation an. Hier spielt der starke Rückgang des Rubelkurses und die gestiegenen Preise der Rohstofflieferanten eine Rolle“, erklärt Julia Maruewa. Den größten Preisanstieg gab es im Dezember, als der Rubel gegenüber dem Dollar und Euro stark an Wert verlor. Den Nachhall dessen spürten die Käufer in den ersten zehn Tagen des neuen Jahres. Während der russischen

RBTH

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QUELLE: ROSSTAT

Weihnachtsferien wurden die Lebensmittel im Durchschnitt nochmals um vier bis zehn Prozent teurer. Die Teuerung hat bereits auch die Regierung auf den Plan gerufen. Premier Dimitrij Medwedjew wies die zuständigen Beamten an, keine „ungerechtfertigten Preiserhöhungen“ zuzulassen. Gegen den „grenzenlosen“ Preisanstieg müssen die Strafverfolgungsbehörden und der Antimonopoldienst Russlands ankämpfen.

Fernseher als Geldanlage Weil der Rubelkurs gefallen ist, sind auch importierte Elektronikartikel und elektronische Haushaltsartikel teurer geworden. „Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation und der instabilen nationalen Währung sind die Preise seit Beginn 2014 um 30 bis 40 Prozent gestiegen“, heißt es bei einem der größten russischen Elektronikmärkte M.Video. „Zurzeit sind die Preise stabil auf dem Niveau von Ende 2014.“ Angesichts des großen Preissprungs haben sich die Verkaufszahlen bei M.Video im Dezember zum Vorjahresmonat mehr als verdoppelt. Viele Russen versuchten so zumindest einen Teil ihrer Rubel-Ersparnisse zu retten. Andere, die bereits Dollar auf der hohen Kante hatten, witterten dagegen ein gutes Geschäft, weil die Preisentwicklung dem Dollarkurs hinterherhinkt. Doch schon im Januar haben ei-

nige ihren Impulskauf bereut und versuchen nun, gekaufte Geräte wieder zurückzugeben. Wie bei M.Video bestätigt wurde, gibt es im Moment mehr Rückgaben als noch vor einem Jahr, auch wenn man noch nicht von einer Massentendenz sprechen kann. Andere versuchen, die Waren im Netz wieder zu Geld zu machen. Nicht weniger aktiv waren die Modehändler aufgrund des Anstiegs des Dollarkurses. Laut Darja Jaderny, der Direktorin der Analyseabteilung der EsperGroup, sind die Preise für Kleidung im Marktdurchschnitt seit Mitte Dezember um 16,4 % gestiegen. Einige Hersteller, zum Beipsiel Zara (Anstieg um 27 %) und Massimo Dutti (Anstieg um mehr als 30 %) haben den Durchschnitt jedoch überschritten. „Sowohl ausländische als auch russische Hersteller haben die Preise angehoben, russische Hersteller lassen auch hauptsächlich im Ausland produzieren, meist in China“, erklärt die Expertin. „Außerdem kaufen russische Unternehmen Rohstoffe und Ausrüstung e n f ü r i h r e F a br i k e n i m Ausland.“ Die Experten sehen das Ende der Preisspirale noch nicht erreicht und sagen einen weiteren Anstieg der Inflationsrate voraus. Die Situation könnte sich lediglich durch eine spürbare Stabilisierung des Wechselkurses der Landeswährung ändern. Preisregulierungen dürften dagegen wenig effektiv sein.

Inflation in Russland 1991-2014 (in % gegenüber dem Vorjahr) 2000

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Sport

RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

Schwacher Rubel Verträge der Fußballer und Trainer werden durch die Währungskrise zusehends teurer

Premier Liga: Der Gürtel wird enger geschnallt

ken an die Fußballer und ihre Agenten heranzutragen“, sagte der Generaldirektor des Moskauer Klubs ZSKA Roman Babajew dem Portal Championat.com. Der Torwart von Spartak Moskau Artjom Rebrow stimmt der Idee eines fixierten Wechselkurses zu. „Wenn schon reiche Klubs Probleme haben, was sollen dann die kleinen sagen? Diese Entscheidung würde es vielen Klubs erlauben, die Meisterschaft in Ruhe zu Ende zu spielen. Andere wie Kyrill Kombarow von Torpedo Moskau haben weniger Verständnis. „Warum sollten ausgerechnet die russischen Spieler Zugeständnisse machen? Niemand wusste, dass die Krise kommt, daher haben die Verträge mehrere Jahre Laufzeit. Derzeit werde ich nach dem ZB-Wechselkurs bezahlt, bei anderen mag das anders laufen, das weiß ich nicht“, sagte Kombarow.

Die russischen Fußballvereine wollen das Problem der Rubelabwertung durch eigene interne Umrechnungskurse lösen. Nun müssen sie die Zustimmung der Spieler einholen. ALEXEJ MOSKO, ALEXANDER JAKOBSON RBTH

RUSLAN SCHAMUKOW / TASS

Rechte der Spieler werden eingeschränkt

Die Zenit-Spieler Hulk (links) und Axel Witsel (rechts) gehören zu den bestbezahltesten Fußballspielern in Russland.

Rangliste der Top-Verdiener in der russischen Liga

NATALIA MICHAILENKO

Rund 47,5 Millionen Euro im Jahr – so viel verdienen die zehn bestbezahlten Fußballprofis. Das hat vor Kurzem das Portal Sport.ru ausgerechnet, und man könnte meinen, dass seien Peanuts für die Oligarchen. Doch nun würfelt die Rubelkrise alles durcheinander. Im Frühjahr und Sommer letzten Jahres, als der Euro noch 38 Rubel kostete, entsprach dies einem Wert von 1,805 Milliarden Rubel. Nun, da der Kurs bei 75 Rubel pro Euro liegt, müssen für die Gehälter der Topverdiener bereits 3,56 Milliarden Rubel veranschlagt werden. Diese Schwankungen können selbst die kommerziell erfolgreichsten Klubs nicht unberührt lassen. So erklärte Spartak-Präsident Leonid Fedun, dass die Ausgaben seines Klubs um 50 Prozent gestiegen seien, während die Einnahmen nahezu unverändert blieben. „Unsere jährlichen Ausgaben haben wir bisher zu 20 Prozent aus dem Ticketverkauf bestritten, inzwischen decken wir damit lediglich zehn Prozent ab“, teilte er der Zeitung „Sport-Express“ in einem Interview mit und fügte hinzu, dass seinen Berechnungen nach fünf andere Mannschaften ebenso mit ernsthaften Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. „Viele ausländische Fußballer verfügen über Verträge in Euro oder US-Dollar, bekommen ihr Gehalt jedoch in Rubel zum jeweiligen Zentralbankkurs ausgezahlt. Auch für einige einheimische Fußballer erfolgt die Bezahlung nach diesem Schema“, erklärt der Sportjurist Jurij Sajzew. Es ist offensichtlich, dass die Auszahlung der Einkommen in fremder Währung für eine größere Wettbewerbsfähigkeit russischer Vereine im internationalen Vergleich gesorgt hat. Die Kehrseite der Medaille: Internationale Spieler, und noch nicht einmal die besten ihrer Zunft, hatten Einkommen, die selbst im internationalen Vergleich sehr hoch waren. Ab sofort dürfte es nicht mehr ganz so lukrativ sein, in Russland zu spielen.

QUELLE: SPORTS.RU

ZAHLEN

204.650.000 € beträgt der geschätzte Marktwert aller Spieler der russischen Premier Liga nach Angaben von Transfermarkt.de.

60.000.000 € soll der Club Zenit Sankt Petersburg 2012 für den Brasilianer Hulk als Ablöse gezahl haben.

Es geht nicht nur um Geld Am 24. Dezember 2014 unterzeichneten die Vereine der russischen Fußballliga eine Absichtserklärung, in der sie bekannt gaben, „interne“ Wechselkurse für USDollar und Euro bei 45 beziehungsweise 55 Rubel festzusetzen. Der offiziell gehandelte Kurs betrug an diesem Tag für den USDollar 54,5 und für den Euro 66,4 Rubel. In dem Memorandum stimmen die Vereine zudem darin überein, dass die Konsequenzen des Rubelverfalls für den russischen Fußball dramatische Ausmaße an-

107.000.000 € hat ZSKA Moskau, der Meisterclub der vergangenen zwei Spielzeiten, jährlich zur Verfügung – dreimal weniger als der reichste Club Zenit St. Petersburg.

Fast alle Vereine werden ihren Haushalt überarbeiten müssen. Die Ausgaben steigen wegen des Rubelverfalls.

nehmen könnten. Die Fußballvereine wollen sich nun mit Spielern und Vermittlern zusammensetzen, u m bestehende Ver träge zu überarbeiten. Es ist vollkommen klar, dass die Top-Klubs aus Sankt Petersburg und Moskau, das gegenwärtige Auf und Ab noch verkraften können. Das größte Problem besteht in der Ungewissheit, wie lange die finanziellen Schwankungen andauern werden. Der bekannte Fußballagent Arsen Minasow, der unter anderem die Interessen Roman Schirokows, Kapitän der russischen Nationalmannschaft, vertritt, erklärt im Gespräch mit RBTH, dass der russische Fußball einerseits zweifellos unter der Situation leide, das Problem sich aber nicht nur auf Fußballspieler beschränke. „Ich kann mir vorstellen, dass einige Vereine pleitegehen und sich sogar auflösen werden. Die Leidtragenden der gegenwärtigen Situation werden die Angestellten sein – die Verwaltungsmitarbeiter, Ärzte und das Trainer-Team.“

Fußballer sollen Änderungen zustimmen Der Präsident der russischen Fußballliga Sergej Prjadkin räumte ein, dass sich die Krise „ziemlich dramatisch“ auf die Liga auswirke. „Fast alle Vereine werden ihren Haushalt überarbeiten müssen, weil deren Ausgabenseite gestiegen ist. Den aktuellen Kurs des Rubels könnte niemand bezahlen.“ Deshalb sei eine interne Absichtserklärung getroffen worden, an die sich die Vereine halten müssten. „In dem Memorandum wird klar gesagt, dass sich die Klubs individuell mit den Spielern absprechen müssen, denn alle Verträge sind unterschiedlich aufgebaut“, erklärte Prjadkin der Zeitung „Sport-Express“. Die Klubchefs mussten eingestehen, dass eine Überarbeitung der Verträge in der Praxis schwierig wird. „Keiner wird die Vereinbarungen mit den Spielern einseitig verändern. Schließlich sind die bestehenden Verträge weiterhin gültig. Doch eine konsolidierte Position wird helfen, diesen Gedan-

Michail Prokopez, Partner der Anwaltskanzlei Legal Sport, nennt das Vorgehen von Vereinen und Liga in einem Interview mit der Zeitung „Wedomosti“ logisch, warnt jedoch, dass das Memorandum für die Spieler keine rechtliche Bedeutung habe. Die Beziehung zwischen den Spielern und Vereinen würde von Arbeitsvereinbarungen geregelt. Deshalb müssten sich die Klubs selbst mit ihren Spielern einigen. „Fußballspieler haben in Russland keine starke Gewerkschaft, die sie schützt und sich mit der Liga absprechen würde, zum Beispiel bei der Höhe maximal möglicher Gehälter“, bemerkt Prokopez. Und wo es keine Vereinbarungen gebe, müssten Vereine auch keine Strafen für das Brechen eben solcher zahlen. Der Chef der Abteilung für Sportrecht bei der Anwaltskanzlei CMS, Waleri Fedorejew, kritisiert die Entscheidung der Liga und findet, dass sie die Rechte der Spieler einschränke. „Äußerungen, die eine Entlassung von Spielern einfordern, wenn sich diese nicht auf die neuen Bedingungen einließen, klingen seltsam“. Gesetzeskonforme Gründe für eine Kündigung gebe es nicht viele. Im besten Fall würden grobe Verstöße gegen die Disziplin zählen. In allen anderen Fällen müssten die Vereine Abfindungen für eine vorzeitige Auflösung des Vertrags zahlen. Und die könnten in der Summe den Gewinn aus der Senkung des Kurses auffressen. Der brasilianische Stürmer Hulk von Zenit, zum Beispiel, würde bei seinem erst 2017 auslaufenden und mit sieben Millionen Euro pro Jahr dotierten Vertrag laut inoffiziellen Angaben im Fall einer Kündigung über 20 Millionen Euro Abfindung erhalten. „Die Verträge müssen eingehalten werden und die Spieler haben nichts zu befürchten“, sagt der Generalsekretär der Fußball-Gewerkschaft Nikolai Grammatikow. Der Anstieg von US-Dollar und Euro habe ein altes Problem des russischen Fußballs offengelegt – die niedrigen Einnahmen. „Die Liga erhält 59 Millionen Euro jährlich, die Vereine investieren insgesamt über eine Milliarde. Außerdem gibt es bei uns keine Vereinbarungen über Gehaltsgrenzen. Mit einem Memorandum kann man diese Fragen nicht lösen“, ist sich Grammatikow sicher.


Reisen

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Deutsche Urlaubsregionen fürchten empfindliche Einbrüche bei den Gästezahlen aus Russland

MICHAIL BOLOTIN FÜR RBTH

Peter Ries ahnt Schlimmes, auch wenn er die Gewissheit noch nicht schwarz auf weiß hat. „Es ist, als habe jemand einfach den Stecker gezogen“, sagt der Tourismusdirektor von Garmisch-Partenkirchen. Die Rede ist von russischen Touristen, die Anfang Januar normalerweise den bayerischen Skiort überrennen. Denn dann ist in Russland Weihnachtszeit und die gesetzlichen Feiertage reichen bis in die Monatsmitte hinein. 2013 entfiel etwa ein Drittel der jährlichen 36.000 Besucher aus Russland auf den ersten Monat. In diesem Jahr lief es anders. „Drei von vier Reiseveranstaltern, mit denen wir im Russland-Geschäft kooperiert haben, sind pleite. Und die Buchungszahlen der verbliebenen sind so gut wie pulverisiert“, erklärt der Tourismusexperte. So wie Garmisch ergeht es derzeit vielen Reisegebieten in Deutschland und auch anderswo in Europa. Die Wirtschaftsflaute und die massive Abwertung des Rubels um etwa 50 Prozent zum Euro und zum US-Dollar haben die Reiselust vieler Russen spürbar gedämpft. Zuerst schlug die Situation auf die Reiseveranstalter im Land durch. Die Chefin des Branchenverbandes ATOR, Maja Lomidze, berichtete im Dezember von einem Nachfragerückgang bei organisierten Auslandsreisen um 40 bis 50 Prozent. Dabei war der Auslandstourismus in den vergangenen Jahren ein konstanter Wachstumsmarkt. Die Zahl der Russen, die innerhalb eines Jahres nach Europa gereist sind, hat sich nach Angaben der European Travel Commission zwischen 2004 und 2013 von 12,3 auf 31,8 Millionen fast verdreifacht. Damit hat sich das Land zum drittwichtigsten Herkunftsland für Europas Gastgewerbe gemausert. Für 2015 sehen Experten der ETC allerdings einen Einbruch von etwa zehn Prozent. Auch die Statistik der Tourismusbehörde Rosturizm zeigt bereits für die ersten neun Monate von 2014, als der Rubel noch relativ stabil war, ein leichtes Minus. Bei günstigen Zielen wie Türkei und Ägypten blieb der Boom zwar ungebremst. Länder wie Spanien, Griechenland oder Thailand mussten dagegen empfindliche Einbrüche verkraften. Finnland, ein beliebtes Wochenendziel für die Einwohner der Fünf-Millionen-Stadt Sankt Petersburg empfing nur noch ein D r it t e l d e r g e w ö h n l i c h e n Touristenanzahl. Ein dermaßen drastischer Rückgang droht Deutschland wohl nicht, auch wenn das Land zu den kostspieligen Reisezielen gehört. Wer hierher fährt, gehört mindestens zur Mittelschicht. Doch auch an den wohlhabenden Russen geht die Krise nicht spurlos vorüber. So meldete der Traditionskurort

Baden-Baden das erste Mal seit zwanzig Jahren weniger russische Gäste. Die kommunale Statistik, die auch die Ukrainer zu dieser Gruppe zählt, weist zwischen Januar und September 10.000 Besucher weniger aus den beiden Ländern aus. Das tatsächliche Ausmaß des Rückgangs wird allerdings erst klar, wenn die Zahlen vom Januar, dem wichtigsten Monat im Jahr, vorliegen. „Wir gehen für das vergangene Jahr von einem Minus zwischen zehn und 14 Prozent aus“, erklärt Tourismus-Direktor Ries aus Garmisch-Partenkirchen. Der Einbruch im Januar dürfte kräftiger ausfallen. Dabei haben sich die russischen Gäste zur zweitwichtigsten Urlaubergruppe im bayerischen Skiort gemausert und stellen jeden achten Besucher aus dem Ausland, knapp hinter den Amerikanern. Ein Ergebnis jahrelanger, gezielter Arbeit auf dem russischen Markt, so Ries. Nun gehe ein großer Teil der Wertschöpfung verloren, weil Touristen aus Russland meistens auch viel Geld in den Geschäften und Restaurants gelassen haben.

Verschärfte Konkurrenz Jetzt müssen auch Russen sparsam bleiben. Laut VTB 24, einer der größten Banken des Landes, haben ihre Kunden in der Urlaubssaison bis zu 40 Prozent weniger Geld im Ausland gelassen. Die Zahl der Transaktionen hat sich halbiert. Dabei haben Luxuskaufhäuser, ob in München, Berlin oder Dresden, auf die Kundschaft aus Russland gehofft. Seit Jahren bemüht sich die sächsische Hauptstadt mit Erfolg um russische Touristen. So erstrahlt die AltmarktGalerie zum Jahresanfang in den russischen Nationalfarben weiß, blau und rot. Väterchen Frost und Enkelin Snegurotschka begrüßen die Kunden und russischsprachige Hostessen stehen pünktlich um 13.20 Uhr am Airport, um den Moskauer Flieger zu empfangen. Doch erst kürzlich klagte Nadine Strauß, Chefin der Altmarkt-Galerie, der 500-Euro-Schein sitze nicht mehr so locker. Zumal sich die Hoffnungen auf neue Direktflüge aus Krasnodar und Sankt Petersburg nicht erfüllt haben. Die Verbindungen stehen zwar noch im Flugplan, Tickets werden derzeit allerdings nicht angeboten. Andere Traditionsziele wie Berlin hoffen dagegen, die innerdeutsche Konkurrenz um Touristen für sich entscheiden zu können. „Gerade in Krisenzeiten bietet die deutsche Hauptstadt mehr fürs Geld als andere Weltmetropolen, sagt Burkhard Kieker, Geschäftsführer von visitBerlin. Berlin sei schon aus anderen Krisen als Gewinner hervorgegangen. In der Tat haben die Übernachtungszahlen bis Novembe r nu r u m z we i P roze nt abgenommen. Doch nicht nur die innerdeutsche Konkurrenz verschärft sich. Insbesondere die Bergregionen schauen neidisch auf Sotschi. Zumindest über die Weihnachtsferien sei die einstige Olympiastadt komplett ausgebucht gewesen. Etwa 180.000 Besucher waren es allein in den

Oben: Der Skiort Garmisch-Partenkirchen gehört zu den beliebtesten Reisezielen für wohlhabende Russen in der Wintersaison. In diesem Jahr bleibt ein Großteil der Besucher aus Russland aus. Rechts: Erstmals machen die Olympiastadt Sotschi und das Ski-Resort Rosa Khutor den Alpen Konkurrenz. Anfang Januar waren die Hotels in Russlands neuestem Skigebiet komplett ausgebucht.

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FAKTEN ÜBER RUSSISCHE TOURISTEN

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ARTUR LEBEDEW / TASS

Deutschland vermisst russische Gäste, denn der Rubelsturz hat viele Urlaubspläne zunichte gemacht. Die Branche fürchtet Verluste und hofft auf ein Ende der Krise in Russland.

ALAMY/LEGION MEDIA

Russische Touristen bleiben daheim

In den vergangenen zehn Jahren hat sich Russland zum drittwichtigsten Herkunftsland für die europäische Tourismusindustrie entwickelt. 2013 kamen 32 Millionen russische Touristen nach Europa – sechs Prozent der ausländischen Gäste.

ersten beiden Jahreswochen. Im ganzen Jahr sollen es insgesamt über eine Million werden. Auch der russische Verband der Reiseveranstalter meldet, die Nachfrage nach innerrussischen Destinationen sei um mehr als ein Viertel gestiegen. Tourismusdirektor Ries sieht Sotschi ebenfalls als direkte Konkurrenz. Viel machen könne man dagegen nicht. Geld in verstärktes Marketing wäre derzeit in den Sand gesetzt. Auch Ersatz für die Russen lasse sich nicht so schnell finden. Bleibt nur auf eine Konjunkturwende zu hoffen. Eines möchte der Garmisch-Partenkirchener auf jeden Fall vermeiden: „Falls der Eindruck entsteht, die russischen Gäste sind wegen der internationalen Situation hier nicht erwünscht, so ist das falsch. Bei uns geht es um Gastfreundschaft und nicht um Politik. Also kann ich nur sagen: Herzlich Willkommen!“

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2013 besuchten erstmals mehr als eine Million Touristen aus Russland die Bundesrepublik. Damit hat sich die Zahl seit 2003 vervierfacht. Beliebtestes Bundesland ist Bayern, die Hauptstadt Berlin liegt auf Platz zwei vor NRW.

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Russen gehören zu den wichtigsten Kunden im Bereich des TaxFree-Shoppings. Auf sie entfallen in Deutschland 20 Prozent der Einkäufe von Nicht-EU-Bürgern. Im vergangenen Jahr ist das Volumen jedoch bereits um 18 Prozent gesunken.

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Meinung

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DAS JAHR WIRD SCHMERZHAFT Konstantin Korischtschenko ÖKONOM

IORSCH

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er Kursverlust des Rubels von fast 50 Prozent gegenüber den gängigen Währungen bereitet nicht nur den Konsumenten Probleme, sondern auch westlichen Firmen. Deshalb ist es sinnvoll herauszufinden, womit die russische Wirtschaft 2015 rechnen muss. Um diese Frage beantworten zu können, sollte man sich daran erinnern, wie sich Russlands Wirtschaft in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Während der zehn Jahre zwischen 2003 und 2013 nahm der Realwert des Rubels um nahezu 45 Prozent zu – das ist ein beachtlicher Wert. Im Vergleich dazu verteuerten sich die Nationalwährungen der wachstumsstarken Länder wie China und Indien nur um zehn Prozent. Allerdings stieg dort das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner wesentlich schneller als in Russland. Während in diesem Zeitraum der Anstieg des Bruttoinlandsproduktes in Russland rund 85 Prozent betrug, waren es in China 206 Prozent und in Indien immerhin noch 120 Prozent. Russland vermochte den Lebensstandard vor allem durch die Stärkung seiner Nationalwährung und schnell steigende Löhne zu heben. Aber diese Situation konnte nicht ewig währen: Die stärkere Währung und die hohen Fertigungskosten ließen die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sinken. Deshalb setzte 2012 ein zunehmend negativer Trend ein, der zu einer geringeren Rentabilität in sämtlichen Wirtschaftsbereichen, mit Ausnahme der Petrochemie, zu schrumpfenden Investitionen und einem Abklingen des Reallohnanstiegs führte. Unterm Strich entwickelte sich die russische Wirtschaft praktisch

2015 werden die Wirtschaftsaktivitäten weiter abflauen, die Unternehmen werden sich an die neuen Bedingungen anpassen müssen und Russlands Bevölkerung wird weniger konsumieren. in jeder Hinsicht wesentlich langsamer als zuvor. 2014 verschärfte sich die Situation aufgrund der zunehmenden geopolitischen Spannungen, der Sanktionen, des Wegfalls der Außenmärkte und des erheblichen Kapitalabflusses ins Ausland. Im Sommer gesellte sich dann auch noch der rapide Verfall des Erdölpreises hinzu. Es war nun nicht länger möglich, den Rubelkurs

RUBELKRISE LÄSST RUSSEN WEITGEHEND KALT Georgij Bowt POLITOLOGE

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er Dezember war ein wilder Monat für den Rubel. Zehnoder gar 20-prozentige Schwankungen an einem Handelstag würden für viele andere Länder wohl einer Katastrophe gleichkommen. Die jeweilige Regierung würde wahrscheinlich zum Rücktritt gezwungen werden und es käme zu Tumulten unter der Bevölkerung. Von außen betrachtet könnte man meinen, auch das verarmte russische Volk müsse auf die Straße gehen, und der Präsident könnte gezwungen sein, Medwedjews Kabinett zu opfern. Es geschieht jedoch nichts dergleichen. Um die Gelassenheit der Russen zu verstehen, genügt ein Blick auf

die vergangenen Jahrzehnte: In diesem Zeitraum hat das Land gleich mehrere Abwertungen des Rubels überstanden. So war beispielsweise die Situation 1998 viel schlimmer als gegenwärtig. Die letzte große Abwertung liegt gerade einmal sechs Jahre zurück. Nie hat das bisher zu irgendwelchen spürbaren sozialen und erst recht nicht politischen Protesten geführt – selbst nicht zu Zeiten, als die Opposition wesentlich stärker und besser organisiert war. Ein wichtiger Grund für die entspannte Reaktion der Russen liegt darin, dass ein Großteil der Bevölkerung ausschließlich in einer „Rubelwelt“ lebt und mit ausländischen Währungen nicht in Berührung kommt. Die Spareinlagen der Bürger bei russischen Banken haben gegenwä r tig ei n

weiterhin auf seinem relativ hohen Niveau zu halten. Als dann zur Politik einer frei floatenden Währung übergegangen wurde, begann der Rubel rasant zu fallen. Von den äußeren Faktoren ist zunächst vor allem der Erdölpreis relevant. Wenn dieser nicht weiter fällt und sich auf einem bestimmten Niveau einpendeln sollte, dürfte dies das erste Anzeichen einer Kehrtwende der Wirtschaft sein. Die meisten Analysten stimmen darin überein, dass sich die Nachfrage nach Erdöl an der Entwicklung der Weltwirtschaft ausrichtet. So war es in der Vergangenheit, so ist es gegenwärtig, und so wird es auch in Zukunft sein. Ein Rückgang der Nachfrage oder ein sprunghaft ansteigendes Angebot, wie gegenwärtig durch das Schieferöl der USA, sind lediglich eine vorübergehende Erscheinung – langfristig jedoch wird der Erdölpreis steigen. Und in dem Maße, wie sich der Erdölpreis stabilisie-

ren wird, wird sich auch der Rubelkurs wieder erholen. Zweitens wird die Politik der Zentralbanken Einfluss auf die russische Wirtschaft haben. Während in Japan die Notenpresse weiter auf Hochtouren läuft und innerhalb der EZB der geplante Aufkauf von Staatsanleihen auf den Widerstand Deutschlands stößt, nimmt in den USA im Gegensatz dazu der Prozess der Abschöpfung „überflüssiger“ Liquidität vom Markt immer mehr Fahrt auf. Das wird den Euro und den Yen gegenüber dem US-Dollar auch in der nächsten Zeit höchstwahrscheinlich noch weiter schwächen. Zieht man in Betracht, dass die wichtigsten Exportgüter immer noch in US-Dollar gehandelt werden, wird dies den Druck auf die Rohstoffpreise erhöhen. Innerhalb der russischen Wirtschaft wird der Kampf der Moskauer Zentralbank gegen die Inflation und für die Stabilisierung

Gesamtvolumen von etwa 16,8 Billionen Rubel (225 Milliarden Euro). Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass der allergrößte Teil dieser beachtlichen Einlagen einem relativ kleinen Teil der Bevölkerung gehört. 71 Prozent verfügen, Umfragen zufolge, über keinerlei Sparguthaben. Ein Sparkonto in der einen oder anderen Form, und dabei ist nicht nur die Rede von Girokonten, auf die das Gehalt überwiesen wird und von denen man Geld am Geldautomaten abheben kann, besitzen lediglich zehn Prozent der Bevölkerung. Eine „Sparrücklage“ beginnt im Verständnis des Durchschnittsrussen bei dem relativ bescheidenen Betrag von 250.000 Rubel (etwa 3.500 Euro). Viele bewahren ihre Ersparnisse zu Hause auf, vor allem wenn eine größere Investition bevorsteht. In Fremdwährungen legen, so die Ergebnisse verschiedener Umfragen, ihr Geld nur vier bis sieben Prozent der Bevölkerung an. Natürlich interessieren sich die Leute für den Umtauschkurs. Sie tun das aber äußerst distanziert, als ob die Geschehnisse in erster Linie nur die „satten Moskauer“ oder schlicht nur die Reichen be-

träfen. Natürlich spüren Auslandsreisende die Abwertung auch. Aber einen Reisepass besitzen lediglich 15 Prozent der Bevölkerung, und davon fährt der überwiegende Teil lediglich einmal im Jahr nach Ägypten oder in die Türkei. Nur zwischen drei und fünf Prozent der Bevölkerung reist regelmäßig in den Westen.

Ein Großteil der Russen lebt in einer Rubelwelt und kommt mit ausländischer Währung nicht in Berührung. Der Verfall des Rubelpreises wirkt sich in Russland natürlich in Form von Preisanstiegen aus, und dieser Trend wird in den nächsten Monaten noch zunehmen. Fällt der Rubel gegenüber dem US-Dollar um zehn Prozent, verursacht dies allerdings lediglich ein Prozent an Inflation. Der rasante Preisanstieg ist selbstverschuldet – durch eine Wirtschaft, die unzureichend diversifiziert, die monopolisiert und kaum wettbewerbsfähig ist. Aber

des Rubels die Möglichkeit eines Wirtschaftswachstums drastisch einschränken. Das hängt damit zusammen, dass unter den Bedingungen einer frei floatenden Währung die Geldemission und die Zinsrate die Hauptsteuerinstrumente sind. Gegenwärtig sind Einschränkungen bei der Kreditvergabe und entsprechend hohe Zinssätze zu beobachten. Eine solche Politik verhindert tatsächlich das Aufflammen der Inflation und hält die Spekulanten im Zaum. Aber sie verhindert auch den Zufluss frischen Kapitals in die Wirtschaft. Infolgedessen werden die Unternehmen, da ihnen der Zugang zu Krediten vorerst versperrt bleibt, ihre Investitionsprojekte einfrieren und sich um eine Senkung vor allem der Fer tig ungskosten bemühen. Unterm Strich wird das Jahr 2015 für Russland also eher ein weiteres Abflauen der Wirtschaftsaktivitäten bringen. Die Unternehmen müssen sich in diesem Jahr an die neuen Bedingungen anpassen, die sonst eher kauffreudige Bevölkerung wird ihren Konsum einschränken. Dennoch kann man dies als eine unumgängliche Etappe beim Übergang von der durch den Export von Erdöl und Erdgas geprägten Wirtschaft zur Wirtschaft eines ausgeglichenen und nachhaltigen Wachstums ansehen. Leider zeigt die Erfahrung anderer Länder, dass ein solcher Transformationsprozess sehr schmerzhaft verlaufen kann. Aber der aktive Einsatz von Marktmechanismen kan n d iese Phase erheblich verkürzen. Konstantin Korischtschenko ist Leiter des Lehrstuhls für Fondsmärkte und Finanzinstrumente an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst.

selbst ein Preisanstieg von 20 bis 30 Prozent treibt die Menschen nicht auf die Straße, weil diese Erscheinung für Russland absolut nichts Neues oder Ungewöhnliches darstellt. Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich von vorherigen Währungskrisen zudem darin, dass der Präsident und die Regierung ein für die postsowjetische Zeit beispielloses Vertrauen in der Bevölkerung genießen – besonders vor dem Hintergrund der Konfrontation mit dem Westen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist der Überzeugung, dass Russland in diesem Konflikt im Recht sei. Gegenwärtig vertrauen mindestens 80 Prozent der Russen dem Präsidenten. So besagen es Umfragen des Lewada-Zentrums von Ende November. Damit hat das Vertrauen der Bevölkerung innerhalb eines Jahres um 50 Prozent zugenommen. Die Zahl derer, die glauben, dass Putin kein Vertrauen verdiene, fiel innerhalb desselben Zeitraums von zwölf auf vier Prozent. Georgij Bowt , russischer Politologe und Journalist der unabhängigen Online-Zeitung Gazeta.ru


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Nikolai Silajew KAUKASUS-FORSCHER

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ussland ist eines jener Länder, für die die französische Tragödie höchst aktuell ist. Auch wir hatten und haben es mit Terrorismus im Namen des Islams zu tun. Wir verfügen über die Erfahrung einer recht offen geführten, gesellschaftlichen Diskussion darüber, was bei der Kritik an Religion und Kirche zulässig ist. Ebenso gibt es traurige Beispiele dafür, wie Terroristen zielgerichtet ideologische Gegner umbringen: Im November 2009 wurde in Moskau Vater Daniil (Sysojew), ein russisch-orthodoxer Missionar, der sehr umfangreich und scharf gegen Muslime polemisiert hatte, ermordet. Deshalb wurde in Russland die aktuelle Debatte in Europa darüber, wie eine moderne Gesellschaft mit dem Islam zusammenleben kann, auch sehr schnell aufgegriffen. Religion stellt für den heutigen bürokratischen Nationalstaat stets eine Herausforderung dar. Denn sie setzt in der einen oder anderen Weise eine nicht staatliche, nicht staatsbürgerliche Loyalität und nicht staatliche Autorität voraus, und macht sich so für die Mächtigen verdächtig. In diesem Sinne existiert kein prinzipieller Unterschied zwischen Russland, Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und China. Für den Islam war die politische Dimension, oder besser gesagt das Fehlen einer Grenze zwischen Weltlichem und Geistlichem, von großer Bedeutung wie auch für das Christentum. Andererseits widersetzt sich der Islam einer solchen Bürokratisierung, wie sie sich in den kirchlichen Organisationen der Christen herausgebildet hat. Das lässt den Islam zu einem besonders komplizierten Partner für den Staat werden: Er beansprucht eine regulative Rolle

in jenem Bereich, den der Staat als sein ureigenes Monopol ansieht, unterliegt selbst aber kaum einer bürokratischen Struktur. Der Staat strebt stets danach, den Islam transparent und kalkulierbar sein zu lassen, vermag aber d ie se s Zie l n ie vol le nd s z u erreichen. Deshalb ähneln die Versuche der Staaten, den Islam zu „integrieren“, einander so sehr, ungeachtet der vollkommen unterschiedlichen Situationen in den einzelnen Ländern. Der Archetypus der gegenwärtigen Geistlichen Verwaltungen der Muslime – auf Initiative des Staates geschaffener quasi-kirchlicher Organisationen, die dazu dienen sollen, die Muslime im Dialog mit der Beamtenschaft zu vertreten – stammt in Russland noch aus der Zarenzeit,

Religion stellt für den Staat stets eine Herausforderung dar, weil sie keine staatliche Loyalität voraussetzt. überlebte die Sowjetepoche und wirkt erfolgreich bis in die postsowjetische Zeit. Diese Organisationen sind es, die mit dem sogenannten „traditionellen Islam“ assoziiert werden. Auch wenn dieser Begriff vom Standpunkt der islamischen Glaubenslehre betrachtet kaum Sinn ergibt, ist er doch bei den Beamten und Politikwissenschaftlern äußerst populär, da damit jener Teil der islamischen Gemeinden bezeichnet wird, der sich loyal gegenüber den Geistlichen Verwaltungen und mittels dieser auch gegenüber staatlichen Institutionen verhält. Die religiösen Strukturen, die durch den Staat geschaffen oder bevollmächtigt wurden, beginnen

NATALIA MICHALENKO

INTEGRATION UND DER ISLAM: RUSSISCHE ERFAHRUNGEN FÜR EUROPA

unweigerlich, ihr eigenes Spiel zu spielen, und beanspruchen dabei, in den Verhandlungen mit der Beamtenschaft die Interessen sämtlicher Muslime zu vertreten, wobei sie eine größere fi nanzielle und materielle Unterstützung unter Verweis auf die zunehmende Radikalisierung fordern und ihre guten Kontakte zur Beamtenschaft dafür nutzen, Druck auf Abweichler in den muslimischen Gemeinden auszuüben. Es sind übrigens auch Fälle bekannt, in denen, so mag es scheinen, gegenüber der Beamtenschaft loyale geistliche Führer radikale Losungen übernahmen, um ihre eigene Popu la r ität dadu rch z u steigern. Die „Unzulänglichkeit“ der Geistlichen Verwaltungen als den Islam vertretende Partner veranlasste den Staat, weitere Möglichkeiten eines Dialogs mit den muslimischen Gemeinden zu suchen. In den vergangenen Jahren kam es zu mehreren Initiativen in dieser Richtung. Die föderalen Behörden gaben mehrere Milliarden Rubel für die Entwicklung der islamischen Lehre aus. Nach Russland werden namhafte islamische Prediger eingeladen und es werden theologische Konferenzen veranstaltet. Mit Unterstützung der Regierung der Republik Dagestan wurde der Dialog zwischen der Geistlichen Verwaltung der Muslime und jenen muslimischen Gemeinden, die deren Autorität nicht anerkennen, auf-

genommen. Dieser Dialog wurde zu einem der Elemente der „sanften“ Anti-Terror-Strategie, die auf eine politische und ideologische Schwächung des bewaffneten Untergrundes gerichtet ist. In Russland ist häufig von dem Jahrhunderte andauernden Zusammenleben des Christentums und des Islams sowie vom ange-

Nach Russland werden namhafte Prediger eingeladen und es werden theologische Konferenzen veranstaltet. häuften Erfahrungsschatz dieses Zusammenlebens die Rede. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die Islamisierung ist für Russland eine historisch neue Erscheinung. Das sowjetische Modell der sozialen Integration verbannte die Religion auf den Hinterhof des öffentlichen Lebens. Die konfessionelle Vielfalt als eine ernsthafte Herausforderung entwickelte sich erst in den vergangenen Jahren, als durch den Wirtschaftsboom und die dadurch hervorgerufene Migration die Muslime und NichtMuslime plötzlich begannen, sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Der Arbeitskräfteüberschuss im Nordkaukasus lässt die Migranten in andere Regionen des Landes drängen. Die

Nachfrage nach billigen Arbeitskräften verstärkt den Strom der Migranten aus Mittelasien. Dieses Wirtschaftswachstum führte jedoch auch dazu, dass die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen, darunter auch die muslimischen Migranten, an den Früchten dieser Entwicklung partizipieren konnten, wenn auch nicht im gleichen Maße. Aber ungeachtet der massenhaften Zuwanderung billiger Arbeitskräfte führte diese Migration nicht zwangsläufig zu einer Marginalisierung. Es ist bezeichnend, dass sich in den russischen Städten keine Migrantenghettos herausgebildet haben, wie sie so charakteristisch für viele westeuropäische Städte sind. Die russische Gesellschaft erwies sich als ausreichend offen, um keine sozialen Entladungen aufgrund von Ausgrenzung zuzulassen – ungeachtet des schweren Erbes zweier Tschetschenienkriege, demografischer Verwerfungen und des postsowjetischen Kollaps, den die staatlichen Institutionen erst kürzlich überwunden haben. Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Probleme des Kaukasus und regionale Sicherheit des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen und Direktor der gemeinnützigen Organisation „Kaukasische Zusammenarbeit“.

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Ukraine und Russland: Selbstbestimmt aus der Krise Die beiden Länder müssen ihr Verhältnis zueinander definieren.

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RUSSISCHES KINO TROTZ NEUER RESTRIKTIVER GESETZE UND KRITIK AUS DEM KULTURMINISTERIUM SCHAFFT EIN RUSSISCHER FILM ERSTMALS SEIT LANGEM WIEDER EINE OSCAR-NOMINIERUNG. KINOPOISK.RU

Dreharbeiten zum Blockbuster Stalingrad. Rechts: Regisseur Fjodor Bondartschuk

BITTERSÜSSE OSCAR-TRÄUME Die russische Filmindustrie entwickelt sich widersprüchlich. In diesem Jahr hat das Land seit Langem wieder eine aussichtsreiche Oskar-Nominierung. Das freut längst nicht alle. DMITRIJ VACHEDIN FÜR RBTH

Im Februar werden in Berlin Berlinale-Bären und in Los Angeles Oscars verliehen. Bekommt „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew den Oscar für den besten ausländischen Film, wird der Film „Unter Stromwolken“ von Alexej German in Berlin ausgezeichnet, wird man sicherlich vom großen Erfolg des russischen Kinos sprechen. Wird es nicht passieren, werden wohl einige Filmkritiker die Situation im russischen Kino als krisenhaft bezeichnen. Durchbruch und Krise. Erfolg und Stagnation. In Wirklichkeit ist die russische Filmindustrie so ambivalent, dass beide Thesen irgendwie stimmen. Je nach Perspektive, je nach den Kriterien. Doch alles der Reihe nach.

Zahlen lassen sich sehen Im europäischen Vergleich schneidet der russische Kinomarkt statistisch gesehen gar nicht schlecht ab: So gibt es in Russland 40 Millionen Kinobesucher pro Jahr mehr als in Deutschland (170 Millionen in Russland gegen 130 Millionen in Deutschland). Der Umsatz der Filmtheater in Russland entspricht ungefähr den deutschen Werten ca. eine Milliarde Euro im Jahr. Der Marktanteil der einheimischen Filme ist in Deutschland etwas größer - 26 % gegen 18 % in Russland. Dominiert wird der Markt

i n beiden Länder n von den Hollywood-Produktionen. Man muss zugeben: Russische sowie sowjetische Filme waren nie internationale Kassenhits. „Bei uns ist es ein glücklicher Einzelfall, wenn ein russischer Film überhaupt die Staatsgrenze überquert und einen beschränkten Verleih im Ausland findet. Noch nie gab es die Situation, dass ein russischer Film 100 bis 200 Millionen Dollar im internationalen Verleih kassierte“, meint der wohl bekannteste russische Produzent Alek-

Russland hat 30 Millionen Kinobesucher mehr als Deutschland. Deutsche schauen aber mehr einheimische Filme. sandr Rodnjanskij. Dennoch schaffen es einzelne russische Filme, im Lande die 50-Millionen-Dollar-Marke zu durchbrechen, so auch der Streifen „Stalingrad“ von Fjodor Bondartschuk. Doch das war vor der Krise. Die Folgen der rasanten Schwächung des Rubels sind nicht berechenbar. Russland hat es in den vergangenen Jahren geschafft, vor allem in Millionenstädten eine moderne Kinoinfrastruktur aufzubauen, die allerdings eher amerikanische Blockbuster als europäische Autorenfilme bedient. Momentan gibt es aber trotz der unsicheren Zeiten keine Anzeichen dafür, dass Russen massenweise auf die Kinobesuche verzichten würden. In den traditionell langen russischen Weihnachtsferien haben die Kinos in diesem Jahr

zehn Prozent mehr Umsatz gemacht als im Vorjahr.

Kein Platz für junge Chaoten Gefährlicher als die Krise scheinen manche staatliche Initiativen – so wie das Gesetz gegen den Gebrauch von Schimpfwörtern. Viele Filme, besonders junge, freche, provokative Werke der jungen Filmemacher - wie „Kombinat Nadezhda“ von Natalia Meschtschaninowa, ein Super-Erfolg beim Filmfestival in Rotterdam - haben laut Gesetz keine Chance, in russischen Kinos gezeigt zu werden. So steckt jeder russische Filmemacher jetzt in dem Dilemma, den eigenen Film ausschließlich für Festivals zu produzieren oder ihn durch Eigenzensur „kindergerecht“ zu machen. Ein weiterer möglicher, nicht weniger fataler Schritt ist die Quoteneinführung für russische Filme. Noch diskutiert man darüber, die Entscheidung ist nicht getroffen. „Bei der 50%-Quote werden alle russischen Filmtheater nach einem Monat dicht gemacht. Bei der 30%Quote werden wohl manche Kinos überleben, zumindest für ein paar Jahre“, sagt Produzent Sergeij Seljanow. Die Quoten wären ein harter Schlag für die Industrie und werden wohl nur eintreten, wenn der antiwestliche Kurs härter wird. Dennoch hat Russland „weltoffene, aber patriotische Zuschauer“, wie es der Filmkritiker Iwan Kudrjawzew formuliert. „Der Zuschauer akzeptiert es nicht, wenn das einheimische Produkt komplett durch das ausländische ersetzt wird“, meint er. Der Markt braucht russische Filme.

Mal wieder sozial Interessant, dass ausgerechnet im Jahr des Schimpfwortgesetzes die russische Kinoindustrie durch neue starke Namen erstmal richtig „sozial“ wurde. „Die Korrekturklasse“ von Iwan Twerdowski (umjubelt beim 24. Filmfestival des osteuropäischen Films in Cottbus), wo die Förderklasse in einer russischen Schule für die auf einen Rollstuhl angewiesene Lena zur Hölle wird, das schon erwähnte „Kombinat Nadezhda“, ein verbittertes Porträt einer Provinzstadt

Ausgerechnet der systemkritische Film „Leviathan“ wurde mit staatlichen Geldern unterstützt. im Norden Russlands, und nicht zuletzt „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew, erster Golden-Globe-Award für einen russischen Film seit 1969 und ein heißer Oscar-Kandidat. Kein Regisseur seit Nikita Michalkow schaffte es so weit nach oben wie Andrej Swjaginzew. Sein Werk ist in Russland umstritten: für die einen Metapher, lupenreiner Realismus für die anderen. Doch selbst Kulturminister Vladimir Medinskij, ein Anhänger patriotischer Kostümdramen, hat vor Kurzem erklärt, dass er sich über den Erfolg von „Leviathan“ in Europa freut. Auch wenn er die Darstellung der Kirche im Film „unterirdisch“ fi ndet. Da das russische Kulturministerium den Film mitfinanziert hat, darf der Minister das auch als eigenen Erfolg be-

werten. „Ich hoffe, dass der sehr begabte Andrej Swjaginzew das nächstes Mal einen Film mit unserer Unterstützung ohne diese existentielle Hoffnungslosigkeit kreiert“, so Medinskij.

Mainstream mit Qualität Eine weitere positive Entwicklung: Russische Mainstream-Projekte haben eine Qualität erreicht, die auch Kritiker überzeugt. So schaffte es der Film „Bittersüße Hoch zeitsküsse“ von Zhora Kryzhownikow, ein Kassenhit mit 25 Millionen US-Dollar Einnahmen und Produktionskosten von nur 1,5 Millionen, im vergangenen Jahr in mehrere Top-Listen der angesehensten Kritiker. Eine Hochzeits-Komödie im Home-Video-Stil, ganz souverän und skrupellos gemacht, hat für viele russische Zuschauer ihr Land neu entdeckt. Ein weiteres Phänomen war die Serie „Sportlehrer“ auf dem TNT-Kanal. Diese Sitcom über einen Gangster-Lehrer, quasi die russische Antwort auf den deutschen Kinohit „Fack ju Göhte“, schaffte es, amerikanischen Streifen Konkurrenz zu machen. Ob wirtschaftliche Krise oder ein undurchsichtiges System der Staatsfinanzierung – letztlich wird in Russland ein paralleles System aufgebaut, das jungen Autoren starke Debüts ermöglicht. Patriotische Initiativen des Kulturministeriums beschränken die künstlerische Freiheit, doch gleichzeitig wird der systemkritische Film „Leviathan“ mit Staatsgeldern unterstützt. Das Land isoliert sich und wird gleichzeitig für die Außenwelt immer interessanter. Russland bleibt ein Kinoland.


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CHRONIK

Sowjetische und russische Preisträger auf der Berlinale

in bestimmte Umstände und erschuf so literarische Helden.

INTERVIEW ALEXEJ GERMAN

1975 • „Hundert Tage nach der Kindheit“ von Sergej Solowjow: Der Silberne Bär für die beste Regie

Worin bestehen psychologische und künstlerische Schwierigkeiten, wenn junge russische Regisseure sich modernen Stoffen zuwenden? Was lässt sich an der heutigen Wirklichkeit Russlands verfilmen? Was bleibt für den Film unaussprechlich? Leider ist Russland ein Land, das sich selbst im letzten Jahrhundert zu oft verlor. Unsere Mythologie ist künstlich, weil verloren. Unsere Traditionen sind ein Mix vergangener Epochen. Die Begriffe „gut“ und „schlecht“ variieren unzulässig oft. Unsere Gesellschaftsstruktur ist hektisch und chaotisch. Wir sind eine große Nation, haben uns aber nicht entschieden: Sind wir das Russische Reich, die UdSSR oder etwas Eigenes? Es ist eine merkwürdige Schmelze, in der wir leben: kommunistisch, orthodox, imperial, konsumorientiert und kreditfinanziert. Die Kunst kann das Flüchtige, Skizzierte wahrlich nicht festhalten. Daher muss leider der Großteil erfolgreicher russischer Filme die Wirklichkeit vereinfachen, die Komposition stilisieren, sonst sind die Widersprüche Russlands wohl kaum alle zu fassen. Außerdem sind wir ein Land frei von Ästhetik. Die russische Architektur heute ist ein Nachbau, das Design ist angepasst, die Pflege des historischen Erbes wird gerade konzipiert. Mit anderen Worten: Bei uns ist es schwierig, beispielsweise in Moskau zu drehen. Deshalb drehen viele in der Provinz, wo man die Fiktion des Films irgendwie arrangieren kann.

„Russland verlor sich selbst zu oft“ Bei der 65. Berlinale geht auch ein russischer Film ins Rennen: das vielschichtige und figurenreiche Fresko „Unter Stromwolken“ von Alexej German. Anton Dolin sprach mit dem Regisseur über das Werk.

1977 • „Aufstieg“ von Larissa Schepitko: Der Goldene Bär für den besten Film 1981 • „26 Tage aus dem Leben Dostojewskis“ von Alexandre Zakhi: Der Silberne Bär für den besten Darsteller (Anatolij Solonitsyn) 1983 • „Auf eigenen Wunsch verliebt“ von Sergej Mikaeljan: Der Silberne Bär für die beste Darstellerin (Jewgenija Gluschenko) 1984 • „Frontromanze“ von Pjotr Todorowski: Der Silberne Bär für die beste Darstellerin (Inna Tschurikowa) 1986 • „Die Reise eines jungen Komponisten“ von Georgi Schengelaja: Der Silberne Bär für die beste Regie 1987 • „Das Thema“ von Gleb Panfilow: Der Goldene Bär für den besten Film

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1990 • „Das asthenische Syndrom“ von Kira Muratowa: Spezialpreis der Jury

Was war die Grundlage für das Drehbuch? Gab es Literaturquellen oder bestimmte reale Tatsachen und Ereignisse für das Sujet? Wir schrieben das Drehbuch ohne Grundlage oder Quellen. Im

BIOGRAFIE boren. Er arbeitete nach dem Studium am Moskauer Institut für Kinematografie WGIK bei den LenALTER: 39 film-Studios in Leningrad. Sein Film „Der Papiersoldat“ (2008) wurde in Alexej German wurde 1976 in Leningrad als Sohn eines bekannten Regis- Venedig mit dem Silbernen Löwen in seurs und einer Drehbuchautorin ge- der Kategorie Regie ausgezeichnet. BERUF: REGISSEUR

Grunde ist es für sich genommen ein literarisches Werk und kann so veröffentlicht werden. Geschrieben wurde lange. Denn ein natürliches Geflecht entsteht in der Literatur erst, wenn das Kunstspiel mit der Wahrheit im Text zu wirken beginnt und die nächsten Handlungsschritte ei-

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1988 • „Die Kommissarin“ von Alexander Askoldow: Spezialpreis der Jury

Eine Zuwendung zur Gegenwart: War das schwer? Was ist bei diesem Werk anders als bei den historischen Arbeiten? Es brauchte fünf sehr schwere Jahre. Für mich stand die Filmkunst immer in der Tradition der Malerei. Die fertigen Pfade der modernen, angeblich nichtfiktionalen Kinematografie gehe ich nicht. Was mich angeht, so spricht der russische Film impressionistisch; die Wirklichkeit wird verschärft, nicht kopiert. Vergleicht man den modernen und den historischen Film, so ist die Zeit jetzt neu. Alles ist anders: Informationsdichte, Zeitwahrnehmung, Farbkombination. Daher war dieser Film für uns viel schwieriger als die vorherigen, geschichtlichen. Ein Film, der über eine andere Epoche erzählt, ist im gewissen Sinn immer eine Stilisierung und hat einen klaren Bezugspunkt. Die Gegenwart entsteht im Hier und Jetzt und rinnt uns durch die Finger. Daher ist es schwieriger, mit ihr zu arbeiten. Du musst nicht festhalten, was ist, sondern die Zukunft vorhersagen. Das Bild ergibt sich nicht auf einmal.

gendynamisch vorhersagt. Dafür braucht man immer enorme Energie und Zeit. Was das Echo der Wirklichkeit anbelangt, so haben viele meiner Helden ihre Prototypen. Aber konkrete Schicksale standen mir nicht Modell, sondern das Wesen des Menschen. Ich versetzte einige meiner Bekannten

Was löst die Teilnahme an eben dieser Berlinale bei Ihnen aus? Haben Sie eine eigene Geschichte mit Deutschland und Berlin? Wir sind so geschafft und fertig von der Arbeit, dass wir nur eins denken: Wann ist es endlich vorbei? Zuviel Energie ist verbraucht. Keine Kraft für Emotionen. Mit Berlin verbinde ich Medizin. Mein Vater war hier zur Behandlung, meiner Mutter haben die Ärzte hier das Leben gerettet.

Golden Globe Erstmals seit 1969 geht der Preis an einen russischen Film

1991 • „Der Satan“ von Wiktor Aristow: Spezialpreis der Jury

„Leviathan“: Ausgezeichnet und sehenswert

1994 • „Das Jahr des Hundes“ von Semjon Aranowitsch: Der Silberne Bär für eine künstlerisch besondere Leistung

Andrej Swjaginzews „Leviathan“ ist der erfolgreichste russische Film nicht nur des letzten Jahres, sondern des letzten Jahrzehnts.

1999 • „Der Pharao“ von Sergej Owtscharow: Der Goldene Bär für den besten Kurzfilm

ANTON DOLIN FÜR RBTH

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Vier Nominierungen für die Auszeichnungen der European Film Academy, bester Film bei den Filmfestspielen in London, bestes Drehbuch in Cannes – das ist nur eine unvollständige Aufzählung der Ehrungen. Nun hat Swjaginzews Werk sogar Aussichten, den Oscar in der Kategorie „Bester f r e md s pr ac h i ge r F i l m“ z u gewinnen. Zum ersten Mal ging es um ein hartes Lebensdrama aus der Provinz. Die Natur ist grausam und malerisch zugleich. Die Schicksale der Helden sind kompliziert und tragisch. Jede Aufnahme – ein Gemälde und nicht bloß meisterhaf-

REUTERS

2010 • „Wie ich diesen Sommer beendete“ von Alexej Popogrebskij: der Silberne Bär für den besten Darsteller (Grigorij Dobrygin und Sergeij Puskepalis) und der Silberne Bär für herausragende künstlerische Leistung (Pavel Kostomarov)

Schwanzflosse auf, mal tritt plötzlich ein Priester an den Helden heran und hält eine Mini-Predigt über den Propheten Hiob, aus dessen Buch die Gestalt Leviathans stammt. Zugleich enthält das Werk Swjaginzews alles, was der russische metaphysische Film für gewöhnlich entbehrt: eine direkte politische Botschaft, ausgezeichnete Schauspielerarbeit, realistische Dialoge und schwarzen Humor.

Swjaginzew und die Goldene Palme für das beste Drehbuch

Aktuell und provozierend

tes Handwerk – lässt eine Metapher oder ein Symbol erkennen. Der Leviathan ist eine biblische Gestalt, aber es bleibt unklar, ob er ein Drachen oder ein Wal ist. Hier sind an der Küste des Weißen Meeres Knochen eines Ungeheuers zu erblicken, dort taucht im stü r m ischen Ozean eine

„Leviathan“ ist der aktuellste und provokanteste Film, der seit Langem in Russland gedreht wurde. Es geht darin um den Kampf eines einfachen Handwerkers gegen den Staatsapparat, den Thomas Hobbes einst Leviathan nannte. Die Ehefrau des Handwerkers, sein minderjähriger Sohn und ein alter Armeefreund aus Moskau, Rechts-

anwalt von Beruf, unterstützen ihn, als der Bürgermeister des Städtchens ihm Haus und Grund wegnehmen will. Doch der Film von Swjaginzew ist keine bloße Verurteilung des Systems, sondern eine tiefergehende Analyse seiner Wurzeln. Das Problem sind nicht die Korruption und die totale Verflechtung der Machthaber untereinander. Es besteht darin, dass die wichtigste moralische Instanz, die Russisch-Orthodoxe Kirche, die Schandtaten absegnet. Die große Fangemeinde des Werks schätzt daran weniger das Porträt von Putins Russland als vielmehr seinen universellen Ausdruck. Wie der Humor, so auch die Lyrik Swjaginzews: Sein philosophischer Blick auf den Stellenwert des Menschen in der Natur und im Kosmos werden jedem Zuschauer überall auf der Welt klar werden.


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Bildung

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IM GESPRÄCH

„Russischlehrer haben oft zu wenig Praxis“

Welche Entwicklungen sind das? Wir haben zum Beispiel ein Projekt mit dem Unternehmen Abbyy auf die Beine gestellt, das sich unter anderem mit der künstlichen Sprachsynthese basierend auf semantischen Suchmaschinen auseinandersetzt. So kann das Programm automatisch die Kohärenz und die grammatische Korrektheit der Texte überprüfen. Wir nutzen es im linguistischen Modul. Wie unterstützen Sie ausländische Lehrkräfte, die Russisch unterrichten wollen? Wir laden Sie nach Russland ein. Die ausländischen Kolleginnen und Kollegen beklagen oft fehlende Praxis. Auch von jungen Menschen, die Russisch lernen, hören

98.000 angemeldete Nutzer aus 127 Ländern hat das Portal „Russian@edu“, darunter 4.000 Russischlehrer.

wir das oft. Sie bedauern, dass sie deshalb keine modernen Ausdrücke oder Redewendungen kennen, wie sie sich in einer Sprache, etwa durch Filme, ganz natürlich entwickeln. Es fehlt eine natürliche Kommunikation in russischer Sprache. Dann fallen Defizite auf, wenn es um die Regeln der modernen Geschäftskommunikation geht, etwa beim Briefeschreiben, oder wenn es darum geht, Vorträge und Reden auf Russisch zu halten. Bis zum Jahresende erwarten wir etwa 10.000 Lehrkräfte. Sie kommen aus mehr als 25 Ländern und Regionen wie den USA, aus Lateinamerika, Asien oder Afrika. Wie können Ausländer Russisch als Fremdsprache in Russland studieren? Fallen Studiengebühren an? Um in Russland an einer Universität „Russisch als Fremdsprache“ zu studieren, ist in der Regel ein Bachelorabschluss Voraussetzung, da es sich um einen Masterstudiengang handelt. Unter bestimmten Voraussetzungen werden auch Abschlüsse wie eine ÜbersetzerAusbildung anerkannt. Das Studium dauert zwei Jahre. Für ausländische Studenten gibt es kostenlose Studienplätze. Bewerben kann man sich mit einem speziellen Formular. Dieses muss entweder persönlich oder per Post bei einer Niederlassung der staatlichen Agentur Rossotrudnitschestwo eingereicht werden. Dort wird dieser Antrag geprüft. Es besteht sogar die Möglichkeit, Wünsche bezüglich des Studienor ts und der Universität zu äußern. Das Gespräch führte Gleb Fjodorow.

Margarita Rusezkaja betreut das Lernportal „Russian@edu“, ein Angebot für Russischlehrer weltweit.

Puschkin-Institut mit einer speziellen Lern-Plattform

Russisch online für alle 2014 hat das Puschkin-Institut die Plattform „Russian@edu“ zum Erlernen der russischen Sprache gestartet. 80.000 Nutzer hat das Angebot bereits – eine Million sollen es werden. JEWGENIJA PANOWA FÜR RBTH

Drei Angebote gibt es zurzeit: „Russisch als Fremdsprache“ ist für Ausländer bestimmt, die Russisch lernen wollen. „Russische Schule“ richtet sich an russischsprachige Schüler im Ausland und deren Eltern. „Professioneller Support“ bietet Weiterbildungsmöglichkeiten, um Russisch als Fremdsprache zu unterrichten. Die Rubrik „Russisch als Fremdsprache“ bietet sechs Lernstufen. Das entspricht dem klassischen internationalen Zertifi zierungssystem beim Fremdsprachenerwerb. Kostenlos sind die Stufen A1 und A2, dabei handelt es sich um ein reines Selbstlernangebot. Die Reihenfolge, in der die Übungen absolviert werden, können Nutzer selbst bestimmen. In den fortgeschrittenen Kursen müssen sich die Teilnehmer an das Kursprogramm halten. Sie werden beim Lernen durch einen Tutor unterstützt. Virtueller Unterricht in Gruppen ergänzt das Angebot,

SHUTTERSTOCK/LEGION-MEDIA

Kostet das Angebot „Russisch als Fremdsprache“ tatsächlich nichts? Ja, lediglich ein Internetanschluss ist Voraussetzung. Kostenlos sind die Grundkurse, die auf das Sprachniveau A1 und A2 führen. Die Fortgeschrittenenkurse, die von einem Tutor begleitet werden, sind kostenpflichtig, denn die Tutoren werden von uns für ihre Arbeit bezahlt. „Russian@edu“ bietet darüber hinaus kostenlose Informationen und Hilfen für Lehrer für Russisch als Fremdsprache, etwa in Sachen Methodik. Bislang haben 2.500 Lehrkräfte das Angebot genutzt. Nur wer ein Diplom als Abschluss erhalten will, muss dieses Angebot bezahlen. Wir bieten den Nutzern unserer Plattform eine Analyse der Lernfortschritte und machen auf dieser Grundlage Vorschläge zu zusätzlichen Übungen oder weiterführenden Modulen. Dabei nutzen wir die neuesten Entwicklungen in den Bereichen IT, Linguistik, Computerling uistik u nd Neurolinguistik.

ZAHLEN

PRESSEBILD

Die Direktorin des Puschkin-Instituts für russische Sprache, Margarita Rusezkaja, stellt das Lernportal „Russian@edu“ vor. Es bietet zu m Teil kosten lose Online-Sprachkurse und Weiterbi ldu n g s mög l ic h ke it e n f ü r Russischlehrer.

Lernen am Computer ohne Lehrer – das macht auch Spaß.

geplant sind darüber hinaus auch Webinare. Das Angebot „Russische Schule“ vereint die Kompetenzen von 20 russischen Hochschulen. Als Lehrer treten dort Fachleute auf – Journalisten, Programmierer, Reiseführer, Historiker. Das Angebot richtet sich in erster Linie an russischsprachige Schüler im Ausland und deren Eltern. Es besteht aus den Bereichen „Schulprogramm“ mit Fächern wie Russisch, Literatur, Mathematik und Physik sowie „Zusatzkurse“. Letzteres Angebot vermittelt Wissen zum Beispiel

über alte russische Bräuche oder d ie Zubereitu ng r u ssischer Gerichte. Das Ziel der dritten Rubrik ist die Professionalisierung der Lehrer für Russisch als Fremdsprache. Jede Lerneinheit ist zielgruppenspezifisch konzipiert und hat spezielle Zugangsvoraussetzungen. Voraussetzung, um am Kurs für die Didaktik des Russischen als Fremdsprache teilzunehmen, sind beispielsweise ein philologischer Bachelorabschluss und der Nachweis von Russischkenntnissen auf dem Mindestniveau C1.

MÖCHTEN SIE GERNE VERSTEHEN, WAS RUSSISCHE DICHTER ÜBER DEUTSCHLAND GESCHRIEBEN HABEN? LESEN SIE IM ORIGINAL!

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