Russland HEUTE

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ITAR-TASS

Vernetzt

Aufgeklärt

Prämiert

Wie Goethe Russen die Deutschen näherbringt.

Ob Russland wirklich ein IT-Genie nach dem anderen gebiert – und warum der Intelligenz-Fluss bald versiegen dürfte.

Jurij Kosyrjew zeigt Krieg wie kaum ein anderer.

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KIRILL LAGUTKO

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 7. März 2012

An der Machtvertikalen Es ist zwei Uhr Nachts, als der Fernsehjournalist Tichon Dsjadko auf Facebook ein Bild des Bloggers Alexej Nawalny veröffentlicht und dazu schreibt: „Das ist mein Kandidat.“ Es waren diese drei Elemente, die den Wahlkampf in den letzten Monaten angeheizt haben: Journalisten wie Dsjadko – er arbeitet beim unabhängigen Fernsehsender Doschd – organisierten Demos, wurden auf ihnen festgenommen und berichteten darüber. Soziale Netzwerke wie Facebook waren die Plattformen der Protestler. Und Nawalny, der 35 Jahre junge Anwalt, Blogger und Antikorruptionskämpfer, hat mit seinen Initiativen viele Russen inspiriert, für die „Politik“ zuvor als Unwort des Jahrzehnts galt. Doch „Facebook/kritische Journalisten/Nawalny“, das war auch eine Parallelwelt: Dies ist in der Nacht von Sonntag auf Montag vielen auf schmerzhafte Weise klar geworden. Mit fast 64 Prozent hat Wladimir Putin die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Putin hat den Fehdehandschuh aufgenommen, den ihm die erwachende Mittelschicht im Dezember hinwarf. Er hat jene großen Schichten der Gesellschaft mobilisiert, die politisch wenig interessiert sind, aber die ohne zu zögern für „Stabilität“ stimmen. Diesen Menschen haben Kandidaten wie der Oligarch Michail Prochorow Angst gemacht. Ob es Wladimir Putin in seiner dritten Amtszeit schwerer haben wird, hängt auch davon ab, ob die vielen politisch erwachten Menschen ihren Enthusiasmus der letzten Monate in demokratische Bahnen lenken können: ob in Parteien, Bezirksräten, gesellschaftlichen Initiativen oder als Wahlbeobachter. Max Katz (S. 2) hat es am Sonntag vorgemacht.

POINTIERT

Die Leiden der neuen Kremler Alexej Knelz

Putin (hier im Sommer 2011) steht in den Augen vieler Russen für Stabilität. Damit hat er die Wahlen gewonnen.

CHEFREDAKTEUR

P

utins Russland – diese Wortverbindung wurde gebräuchlich in den letzten vier Monaten vor der Präsidentschaftswahl. Die Proteste in ihrem Vorfeld haben gezeigt, dass in Russland ein Milieu politisch aktiver Menschen entstanden ist, die man wohl erstmals auch „Bürger“ nennen kann – oder „Kremler“, weil die Burg, von dem Bürger ableitet, im altrussischen Kreml heißt und weil sie in Moskau protestierten, wo der Kreml steht. Auf dem Land gibt es hingegen wenige Kremler. Und es steht ihnen einiges bevor. Die Entwicklung einer Streitkultur beispielsweise: Noch beschuldigen sich Opposition wie Staatsmacht gegenseitig, anstatt scharf zu diskutieren. Nicht die Zukunft dominiert ihre Agenda, sondern die Vergangenheit: Zu stark sind die Erinnerungen der älteren Generation, gemeint sind alle über 35, an die Misere der 1990erJahre. Es überrascht nicht, dass sie Wladimir Putin an die Führungsspitze wählten. „Es soll nur nicht schlimmer werden“, war bei den Wahlen das Leitmotiv vieler Russen. Die Wortverbindung Putins Russland ist daher unstimmig: Vielmehr ist es Russlands Putin, der das Land die kommenden sechs Jahre regieren will – eine lange Zeit für eine Gesellschaft, die erwacht ist.

INHALT ILIA WARLAMOW

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Kinder Heißbegehrte Plätze im Hort GESELLSCHAFT

Aufsteigende Börsianer Auch zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion haben nur wenige Russen Geschmack an Börsengeschäften gefunden: Weniger als ein Prozent der Bevölkerung investiert in Aktien oder Aktienfonds. Schuld daran hatte auch die Wirtschaftskrise 2008. Nichtsdestoweniger gelang es über kurzfristige Spekulationen vielen aufsteigenden Jungbörsianern, ihr Startkapital um ein Vielfaches zu vermehren. SEITE 4

Mutbürgerliche Poeten

DAS THEMA

IT-BRANCHE SILICON VALLEY STEHT DRAUF, SKOLKOWO IST DRIN ITAR-TASS

Texterkennungssoftware Abbyy Finereader oder das populäre iPhone-Spiel „Cut the Rope“ – made in Russia? Das steht nicht drauf, ist aber so. Zwar gibt es zuhauf talentierte Programmierer, aber kaum Vermarktungsstrategen. Abhilfe schaffen soll das Innovationsstädtchen Skolkowo. SEITEN 6 UND 7

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Innovation E-Reader statt Schulbücher

„Wir Männer haben Ehre und Gewissen versoffen / das russische Weib Natalja Wassiljewna hat alles erzählt, sie lässt uns hoffen.“ Mit Versen wie diesem sind die Macher des Fernsehformats „Bürger Poet“ Kult geworden: Provokativ und witzig verreimen sie das aktuelle Geschehen von Putins Rückkehr bis zum Untergang der Costa Concordia. Inzwischen touren sie von Stadt zu Stadt – aber nach nur einem Jahr hat die Geschichte sie eingeholt.

WIRTSCHAFT

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REISEN

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Pjatigorsk Heiße Quellen im Kaukasus

LORI/LEGION MEDIA

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Politik

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Wahlen Statt gegen Putin zu kämpfen, versucht ein 27-Jähriger, in den Bezirksrat seines Stadtteils zu gelangen Transparenz im Internet: In 40 Prozent aller Wahllokale wurden Webcams installiert.

© vladimir fedorenko_ria novosti

Junge Wahlbeobachter – Max Katz geht in die Politik Am Montag nach den Wahlen herrscht bei vielen Russen, die auf Wandel gehofft hatten, Katerstimmung. Nicht bei Max Katz: Der 27-Jährige feiert seinen Sieg.

hen Abend Hunderte Menschen, in den Durchgängen, auf der Straße. Etwa die Hälfte sind junge Studenten, der Rest ältere, ärmlich gekleidete Russen. „Wir spazieren hier nur“, antwortet eine Russin und wendet sich ab, aber die meisten reden offen darüber, dass sie als bezahlte Statisten eingeladen sind: „Für irgendein Konzert zahlt man uns 400 Rubel“, sagt ein junger Student, der mit zwei Freundinnen da ist. Die einen bekommen 400, andere 300 Rubel, also sieben bis zehn Euro. Angemeldet haben sie sich über die Seite stud.ru, auf der Studentenjobs aller Art angeboten werden. „Alle, die sich bei Andrej angemeldet haben, kommen mit mir mit“, ruft ein junger Mann mit kurz geschorenen Haaren. Dutzende Menschen drängen sich hinter ihm die Treppe hinauf. Wer er ist? „Ein Brigadier“, bäfft er zurück. Mehr ist aus ihm nicht herauszubekommen. Inzwischen ist es dunkel geworden in Schukino, um sechs Uhr haben die Wahllokale geschlossen, die Wahl ist aus, und Max Katz ist ins Wahllokal 2997 zurückgekehrt. „Hier wollen die irgendein Ding drehen“, vermutet er, es gab schon am Morgen Probleme. Denn neben den sechs unabhängigen Wahlbeobachtern, allesamt ziemlich milchgesichtige junge Russen, stehen nun sechs bullige Typen in schwarzen Anzügen, die sich als Beobachter ausgeben aber eher an Türsteher erinnern. Irgendwann fangen sie an, Katz zu filmen, einer zeigt ihm den Stinkefinger. Katz bleibt ruhig. Es bleibt nicht die letzte Provokation: Der Wahlleiter und sein Stellvertreter schreien bei jeder Gelegenheit hysterisch, irgendwann gelingt es ihnen, das

Moritz Gathmann russland heute

moritz gathmann (2)

Als alles klar ist gegen acht Uhr am Montagmorgen, torkelt ein todmüder und glücklicher Max Katz, Kandidat bei den Bezirkswahlen im Moskauer Stadtteil Schukino, aus der Bezirkswahlkommission, twittert „Ich bin zu 90 Prozent sicher, dass ich es geschafft hab“, fährt mit dem Lift in den zehnten Stock eines neuen Wohnhauses im Nordosten der Stadt und legt sich ins Bett. Die meisten seiner Freunde schlafen schon längst und haben den Sonntagabend eher als Albtraum erlebt: Als ein Moderator im staatlichen Fernsehen nach 18 Uhr die ersten Hochrechnungen vorträgt, wird zur Sicherheit, was viele ahnten, aber nicht wahrhaben wollten. 64 Prozent für Wladimir Putin. Bis 2018 wird er als Präsident ihre Geschicke lenken. Mehr als 24 Stunden zuvor: Es ist noch dunkel, als Katz den ersten Schritt auf seinem Marsch durch die Institutionen tut. „Mein Name ist Max Katz, ich bin 27 Jahre alt. Am 4. März werden die Wahlen in den Bezirksrat von Schukino stattfinden. Das ist ein völlig sinnloses Organ, es verfügt über keinerlei Vollmachten“, hatte er auf seinem Flugblatt geschrieben. „Alle rieten mir, dass ich so wie die Übrigen Versprechungen machen soll: Dass ich korrupte Beamte bestrafen, die Kosten für Gas und Wasser senken werde. Aber ich wollte ehrlich sein“, sagt Katz, während er seinen schwarzen Opel durch die vollgeparkten Hinterhöfe des Stadtteils Tuschino lenkt. Rund um die neuen Hochgeschos-

Im Wahllokal 2997 in Schukino herrscht in der Nacht Belagerungszustand: Am Ende setzen sich Max Katz (l.) und seine Wahlbeobachter gegen die „Männer in Schwarz“ (r.) durch. Katz zieht in den Bezirksrat ein.

ser stehen sehr viele Autos: Der Stadtteil gilt als wohlhabend, Mittelschicht, viele junge Leute. Das Auftreten des 27-Jährigen erinnert an Joschka Fischer in Turnschuhen im deutschen Bundestag vor drei Jahrzehnten: Jeans, blauer Pullover mit Norwegermuster, Kapuzenjacke. Katz hat sein Geld vor allem mit Pokern im Internet verdient, er ist russischer Pokermeister und auch international ein gefürchteter Spieler.

Ein russischer Joschka

Der Kontrast zu den üblichen Politikern, aber auch den Vorsitzenden in den Wahllokalen, könnte größer nicht sein. Hier die Wahlkommission, ältere Schuldirektorinnen in Kostümen und mit Steckfrisuren, die Männer in grauen Anzügen und ernsten Mienen, die sich mit Vor- und Vatername anreden: „Galina Wiktorowna“ sagen sie und „Pawel Michajlowitsch“. Und dort die 25-Jährigen in Jeans und Turnschuhen, die auf den Sofas vor Gummibäumen und staubigen

rosa Vorhängen sitzen und ihre Beobachtungen auf Twitter und Facebook posten. Die meisten von ih nen sind zu m ersten Mal Wahlbeobachter.

Der Wandel von unten

Allerdings glaubt schon am Nachmittag kaum einer daran, dass Putin in die zweite Wahlrunde muss. Nicht nach einem Wahlkampf, in dem er jeden Tag stundenlang über den Bildschirm flimmerte und in dem mit Wladimir Jawlinskij der einzige wirkliche Oppositionskandidat aus dem Rennen geworfen wurde. Deshalb kandidiert Katz auch für den Bezirksrat: Es ist der Anfang eines Wandels von ganz unten. Es war irgendwann nach den ersten Demonstrationen im Dezember, als Katz einen Aufruf der oppositionellen Jabloko-Partei zu den Bezirksratswahlen las. „Eigentlich wollte ich erst mit 35 in irgendeiner kleineren russischen Stadt Bürgermeister werden und dann meine städtebaulichen Pläne ausprobieren“, erzählt Katz. Er gehöre ja gar

nicht zu den „frustrierten Städtern“, als welche die Protestler von den Medien gerne identifiziert werden. „Ich bin eigentlich ganz zufrieden“, sagt er. In ganz Russland registriert die Wahlbeobachterorganisation Golos am Sonntag Verletzungen des Wahlrechts: Über 2500 sind es am Ende, besonders oft sogenannte „Karussells“: Wähler werden mit Bussen von Wahllokal zu Wahllokal gekarrt und stimmen gleich mehrfach ab, in einigen Fällen für Geld, wie ein Video im Internet beweist. Die russische Zentrale Wahlkommission, deren Leiter Wladimir Tschurow seit Jahren die Wahlsiege von Putin und Einiges Russland absegnet, beschwichtigt allerdings: Bisher seien gut 500 offizielle Beschwerden bei ihnen eingegangen, die natürlich genau überprüft würden. Üblicherweise, so auch nach den Duma-Wahlen, wird der Großteil der Beschwerden am Ende zurückgewiesen. An den Metrostationen rund um den Roten Platz stehen am frü-

Das Auftreten des 27-Jährigen erinnert an Joschka Fischer in Turnschuhen im Deutschen Bundestag. einzige unabhängige Mitglied der Wahlkommission auszuschließen. Die Männer in den schwarzen Anzügen versuchen, Katz und seine Beobachter mit allen Mitteln zu provozieren. Die Wahlbeobachter reagieren damit, eine Beschwerde nach der anderen zu schreiben. Am Ende verlassen die Männer in Schwarz das Wahllokal und fahren in einer Maybach-Limousine davon. „Es könnte sein, dass wir sie an Wahlfälschungen gehindert haben“, sagt Katz. Gegen zwei Uhr nachts sind die Stimmen zur Präsidentschaftswahl gezählt: 52 Prozent für Putin in diesem Wahllokal. „Das kann ich nicht glauben“, flüstert eine junge Wahlbeobachterin, den Tränen nah. Den Tränen nah steht Wladimir Putin an diesem Abend auf dem Manegenplatz vor dem Kreml: „Wir haben gesiegt“, erklärt er von der Bühne herab und bedankt sich bei Zehntausenden, die vor ihm „Putin, Putin“ skandieren. Und es sind darunter Hunderte, die zehn Euro kosten. Und Max Katz? Hat’s geschafft: Von den insgesamt 16 Kandidaten bekommt er am Ende die drittmeisten Stimmen und zieht als eines von fünf Mitgliedern in den Bezirksrat ein. Der erste Schritt ist getan.


Politik

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Zivilgesellschaft Seit Dezember protestieren auch im südrussischen Woronesch Putin-Gegner für freie Wahlen

Winterliche Protestszenen aus der Provinz Ähnlich wie in Moskau und Sankt Petersburg fehlt es in der Provinz der Opposition an Charisma. Markieren die Präsidentschaftswahlen ein Ende ihrer Proteste?

Design. Der 180 Zentimeter große, hagere Aktivist sitzt, die Ellenbogen aufgestützt, am Kopfende des Tisches. Die Rolle als Sitzungsleiter gefällt ihm. Als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte, ruft er mit einem Nicken die Sprecher auf, Unruhe schnürt er ab, indem er in die Hände klatscht. „Ruhe, Genossen!“, ermahnt er jene, die alle ein gutes Stück älter sind als er.

heidi Beha

„Psst! Ruhe! Seien Sie doch leise, ich verstehe ja gar nichts!“, raunt eine ältere Dame zwei Frauen zu, die sich hinter ihr lautstark unterhalten. Auf der Bühne im Zentrum Woroneschs, einer Fastmillionenstadt 500 Kilometer südlich von Moskau, wird gesprochen. „Wir wollen freie und faire Wahlen. Es muss endlich Schluss sein mit den Fälschungen“, fordert der junge Redner. Er ist so aufgeregt, wie es nur ein Schüler bei seinem ersten Referat sein kann. Das Stocken und Stottern verunsichert den nicht sehr großen Zuhörerkreis. Ermutigend rufen ihm einige zu: „Keine Angst, sprich weiter, du hast völlig recht.“ Das war am 10. Dezember, auf der ersten Demonstration nach den Duma-Wahlen, doch auch noch am 4. Februar stockt und stottert es. „Ich schäme mich ein wenig, wenn ich einige Redner auf der Bühne sehe und ihnen zuhöre“, sagt eine Demonstrantin. Das System verändern „Ich will die Protestbewegung unterstützen, aber mir fällt es schwer, mich mit den Organisatoren zu identifizieren.“ Die Organisatoren treffen sich wöchentlich, um zu planen, wann und wo demonstriert wird, ob man

Pavlina Martinu

für russland heute

Wollen das System verändern – wenigstens in Woronesch: Aleksander Boldyrjew, Wjatscheslaw Sawalin.

Tee ausschenkt, ob eine Band spielt und welche Größe die InfoFlyer haben sollen. Auch die Rednerlisten werden abgesprochen. Die Ortsbeschreibungen für die Treffen klingen nach Versteckspiel: „In der Kolzowskaja Straße hinter dem Markt bei einer Garage, vor der ein Schrank steht.“ Für ein Büro fehlt das Geld. Auch die Flyer und den Tee, den die Verantwortlichen bei den Demonstrationen ausschenken, bezahlen sie selbst. Manchmal bekommen sie ein paar Rubel von den Zuhö-

Sitzungen, ein andermal setzt er sich auch ans Ende des Tisches. Wenn er spricht, steht er immer auf, das macht sonst keiner. Eine Hand stützt er auf den Tisch, die andere gestikuliert auf Brusthöhe. Bewegt spricht er über das Schicksal seines Landes. Bei der Planung und auch bei den Demonstrationen hält er sich jedoch im Hintergrund. Ganz anders Wjatscheslaw Sawalin. Einen Tag nach der DumaWahl hat er seinen 18. Geburtstag gefeiert, er studiert PR und

rern. „Hier ist niemand wegen Eigenwerbung, sondern weil wir das System in unserem Land verändern wollen“, sagt Aleksander Boldyrjew über seine Motivation. Das System? „Die Wahlen, die Korruption, die Parteienlandschaft und die politische Kultur.“ Boldyrjew hätten viele Woronescher gerne als Anführer der Proteste. Der 43-Jährige ist schon lange politisch aktiv – für die Oppositionsbewegung Solidarnost erledigt er die journalistische Aufarbeitung. Manchmal leitet er die

Interview Johannes Ebert

Fünf Jahre leitete Johannes Ebert das Moskauer GoetheInstitut. Mit Russland HEUTE sprach er über 1000 Jahre gemeinsamer Geschichte und das beginnende Deutschlandjahr. Anastassia Gorokhova russland heute

Im Juni beginnt in Russland das Deutschlandjahr und in Deutschland das Russlandjahr. Was ist alles zu erwarten? Alle Teile der deutschen Gesellschaft werden sich vorstellen: Kultur, Bildung, Wirtschaft, Politik. Eine Ausstellung zum Thema „1000 Jahre Deutsche und Russen“ eröffnet das Jahr. Das Thema des Jahres lautet zwar „Deutsche und Russen – gemeinsam die Zukunft gestalten“, aber wir blicken erst einmal auf die Grundlage unseres Zusammenlebens. Es wird viel im Bereich Musik geben, aber auch etliche Präsentationen der Wirtschaft. In der zweiten Hälfte 2012 stehen Moskau und Sankt Petersburg im Mittelpunkt des Geschehens, in der ersten Hälfte 2013 die

Regionen mit Schwerpunkt Nowosibirsk, Jekaterinburg, Wolgograd, Nischnij Nowgorod und Kaliningrad. Warum der Titel „Gemeinsam die Zukunft gestalten“? Es gibt Themen, die beide Länder am besten gemeinsam bewältigen können. Etwa Energie, aber auch gesellschaftliche Themen. Wie geht es weiter mit den Finanzen, dem Bildungssystem, der Kulturförderung? Viele Fragen diskutiert man in beiden Ländern. Haben Deutsche und Russen denn eine gemeinsame Zukunft? Russland und Deutschland werden auch in Zukunft vernetzt sein und aufeinander angewiesen. Die „Modernisierungspartnerschaft“ formuliert, dass wir ein enges, partnerschaftliches Verhältnis eingehen. Und nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Da sind auch ganz viele persönliche Kontakte: junge russische Künstler, die für einige Zeit nach Berlin kommen, und deutsche Künstler, die aus Russland neue Impulse

mitbringen. Viele Russen haben Verwandte in Deutschland. Es gibt natürlich Dinge in Russland, die in Deutschland kritisch gesehen werden, oft zurecht. Solche Dinge werden von den Medien aufgegriffen, sie werden entsprechend stark wahrgenommen. Das führt dazu, dass Russland ein schlechteres Image in Deutschland hat als umgekehrt. Welche Rolle kann das Russlandjahr in Deutschland da spielen? Damit bringt die russische Seite ihr Image im Rahmen der Möglichkeiten voran. Die Kollegen haben ein sehr erfolgreiches Russlandjahr in Frankreich gemacht, und ich bin mir sicher, dass sie ihre Erfahrungen auch in Deutschland einbringen können. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass es für beide Länder nützlich ist, die Sprache des anderen zu sprechen. Ich fände es sehr sinnvoll, wenn mehr Deutsche Russisch lernen, und möchte auch, dass meine Kinder weiterhin am Russischunterricht teilnehmen.

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Thema des Jahres: Gemeinsam die Zukunft gestalten

biografie Beruf: generalsekretär des Goethe-instituts Alter: 48

Johannes Ebert, geboren 1963 in Ulm, studierte Politik und Islamwissenschaft. Seit 1991 ist er für das GoetheInstitut tätig, er war Leiter in Riga, Kiew und Kairo, seit 2007 in Moskau. Am 1. März trat er seine Stelle als Generalsekretär des Goethe-Instituts in der Münchener Zentrale an.

Fünf Jahre lang haben Sie das Goethe-Institut in Moskau geleitet. Welche Projekte haben Sie auf den Weg gebracht? Die Aufgabe des Instituts ist es, nicht nur Kontakte zwischen den

Nach der Präsidentschaftswahl Sawalin hofft, dass die Proteste erst der Anfang sind, dass die Menschen aufgerüttelt und politisch und gesellschaftlich aktiver werden. Die Behörden von Woronesch sehen das anders. Bisher haben sie alle Demonstrationen der Opposition problemlos genehmigt. Weiteren Kundgebungen nach der Präsidentschaftswahl stehen sie jedoch mit Skepsis gegenüber. An die Adresse der Organisatoren hieß es, dann sei alles entschieden, man brauche nicht mehr auf die Straße zu gehen. Noch haben es ohnehin nur wenige Menschen in der Fastmillionenstadt zu den Kundgebungen geschafft. Am 4. Februar waren es ganze 200. Wie es nach dem 4. März sein wird, können wohl auch die Woronescher Behörden nicht voraussehen.

Heidi Beha ist Lektorin der Bosch Stiftung in Woronesch. Das Spezial zum Thema russland-heute.de/wahlen

Ländern, sondern zwischen den Individuen der Länder herzustellen. Wir haben Projekte initiiert, bei denen Deutsche und Russen wirklich zusammenarbeiten, zum Beispiel das zweisprachige Portal für Austausch und jungen Journalismus www.to4ka-treff.de. Eine gelungene Initiative war auch „Interdance“, ein zweijähriges Projekt für modernen Tanz mit Teilnehmern aus ganz Europa, die in Russland zusammengearbeitet und dann bei einem Festival ihre Choreographien vorgestellt haben. Das Goethe-Institut hat sich stärker als zuvor zeitgenössischen Fragen gewidmet. Es gab die Vorlesungsreihe „Gegenwart der Zukunft“, bei der es um Zukunftsfragen ging, die unsere Gesellschaften betreffen, „Investigativer Journalismus“ etwa oder die „Stadt der Zukunft“. 2009 eröffneten wir dann ein weiteres Institut in Sibirien, in Nowosibirsk, das war ein ehrgeiziges Projekt. Zudem haben wir mit der Robert Bosch Stiftung ein neues Programm gestartet, in dessen Rahmen junge deutsche Kulturmanager an Orte geschickt werden, wo der kulturelle Austausch mit Deutschland bislang noch nicht sehr ausgeprägt war. 2010 haben wir die Sprachinitiative „Lern Deutsch“ geschaffen, ergänzt durch die Tour „Deutsch unterwegs“: Drei junge deutsch-russische Teams fuhren mit dem Zug durchs Land und warben im öffentlichen Raum und an Schulen für die deutsche Sprache.


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Wirtschaft

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Aktienmarkt Seit 1998 wächst die Zahl der Minderheitsaktionäre, aber die Finanzkrise hat den Optimismus gedämpft

Das Auf und Ab der russischen Jungbörsianer

galten in Branchen wie der Petrochemie, der Metallurgie und dem Bankenwesen als gering. Dieser Trend wurde durch die Krisenjahre 2008 und 2011, als die russischen Privatanleger bis zu 50 Prozent des Kapitals verloren, durchbrochen. Während der Krisen ließ der Run auf den Fondsmarkt nach. Die hohe Volatilität des russischen Marktes aufgrund seiner Abhängigkeit von den Rohstoffpreisen und europäischen und amerikanischen Börsen machte die Privatanleger vorsichtiger. Heute ist das Bild zwiespältig: Laut dem Börsenportal Investfunds.ru überschritt im ersten Halbjahr 2011 das Nettovolumen der in offene Investmentfonds akquirierten Mittel 5,8 Milliarden Rubel – das Dreifache des Vorjahreswerts. Doch im August ließen die Fondsmärkte stark nach und entwerteten das über Jahre angehäufte Vermögen. MICEXRTS gibt an, dass die Anzahl der Privatkunden zwar deutlich zugenommen, deren Aktivität jedoch nachgelassen habe: 96 000 Russen führten 2011 mehr als einen aktiven Deal durch – gegenüber 104 000 im Vorjahr.

Alternative zur Bank? pressebild

Börsianer, Bohrmeister, Babuschkas: Minderheitsaktionäre auf der Jahresversammlung des russischen Energieriesen Gazprom

Anfang der 1990er entdeckten die Russen den Aktienmarkt. Zwei Jahrzehnte danach gibt es jedoch weniger als ein Prozent börsenaktiver Kleinanleger – aus gutem Grund. wladimir ruwinski russland heute

Das Jahr 2011 war für den russischen Otto Normalaktionär kein gutes: Der Börsenindex fiel um 19 Prozent, unterm Strich bilanzierte lediglich ein Fünftel der Investmentfonds einen Gewinn. Gleichzeitig aber nahm die Zahl der Privatanleger, die selbstständig auf dem Fondsmarkt handeln, zum Jahresende 2011 zu: nach Angaben der fusionierten MICEX-RTSBörsen um 9,3 Prozent. In absoluten Zahlen gibt es aber nur 780 000 russische Anleger, weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik sind es laut dem Deutschen Aktieninstitut über acht Millionen, auf den Bevölkerungsanteil hochgerechnet zehnmal so viel wie in Russland. Verglichen mit anderen Ländern steht Russland noch schlechter da: So halten 25 Prozent der Amerikaner und 27 Prozent aller Japaner Aktien, in Australien sind es 37 Prozent.

Neues Gelddenken

Nur allmählich entwickeln Russen den Geschmack am Börsenroulette – obwohl bereits 1992 begründet, blieb der Börsenmarkt jahrzehntelang professionellen Brokern überlassen. Als einen der Hauptgründe nennt Denis Strebkow, Dozent an der Staatlichen Hochschule für Ökonomie, das „Fehlen einer elementaren Finanzkultur bei den Bürgern Russlands als einen der Bestandteile der marktwirtschaftlichen Kultur überhaupt“.

In den 90ern hätten die potenziellen Anleger kein Vertrauen in die Finanzinstrumente gehabt und nicht verstanden, wie auf dem Aktienmarkt Gewinne generiert werden. Wertpapiere waren für sie ein Ersatz für Bankkonten. Das Bild änderte sich vor knapp zehn Jahren, als Privatanleger aktiv auf den russischen Fondsmarkt drängten. Der Wohlstand nahm zu, die Bürger suchten neben Immobilien effizientere Wege zur Vermögensbildung. Zu diesem Zeitpunkt war die Kapitalisierung der russischen Aktienbörsen stabil gewachsen, Investment- und Brokergesellschaften schossen plötzlich wie die Pilze aus dem Boden. Gleichzeitig änderte sich auch die mentale Einstellung der Gesellschaft, für die zu Sowjetzeiten ein Hang zum Staatspaternalismus und die Unfähigkeit zur Selbst-

verwaltung typisch war. „Es bildete sich ein neuer bürgerlicher Persönlichkeitstypus heraus, für den Geld der Maßstab für Glück, Freiheit und Erfolg war“, erklärt Strebkow.

Mutige Anleger nach der Krise

Es entstand eine Bevölkerungsschicht, die selbstständig an der Börse spekulierte – mit einem etwas ungewöhnlichen Ansatz. Während ein Deutscher über offene Investmentfonds Aktien zeichnet und erst mit der Erfahrung mutiger wird, wagten die russischen Kleinanleger sich nach dem Finanzkollaps 1998 gleich an den selbstständigen Handel mit Wertpapieren. Es blieb ein überschaubarer Kreis von Halbprofis, die dank Internetzugang ein gutes Taschengeld dazuverdienten. Ihr Ziel wurden die Futures auf die Aktienindizes der beiden Börsen

Kursschwankungen statt Dividenden Zurzeit hat der russische Privatanleger zwei Möglichkeiten, am Aktienmarkt zu handeln: Entweder er vertraut sein Geld der Verwaltung eines kollektiven, offenen Investmentfonds an (wofür bereits ein paar tausend Rubel ausreichen), oder er wird zum eigenen Schmied seines Glücks und eröffnet ein Konto bei einem Börsenhändler. Zusätzlich kann man sein Geld auch über eine Treuhand arbeiten lassen – diese ähneln einem offenen Investmentfonds, sind aber auf die individuellen Bedürfnisse des Anlegers zugeschnitten. Man hat die Möglichkeit, Entscheidungen bezüglich der Anlage zu treffen, sowohl mithilfe eines persönlichen Managers als auch eines Analystenteams. Die „Eintrittskarte“ ist allerdings hoch: Sie beträgt einige Millionen Rubel.

Als die Fondsmanager und Brokergesellschaften im letzten Jahrzehnt diese Goldader entdeckten, begann ein Kampf um Privatkunden. Die einen führten Lehrgänge für ihre Klienten durch, andere kreierten massenhaft Investmentprodukte, die für Menschen entwickelt wurden, die vom Fondsmarkt keinerlei Ahnung hatten. Im Unterschied zu Aktienmärkten wie in Deutschland, auf denen Anleger ihre Wertpapiere in erster Linie wegen der Dividende kaufen, setzen die russischen Spekulanten mit ihren Investitionen im Wesentlichen darauf, Gewinne durch Kursschwankungen einzustreichen. Der größte Teil der russischen Aktiengesellschaften zahlt seine Dividenden nur in unregelmäßigen Abständen, ihre Höhe ist relativ unbedeutend.

zahlen

10,1 Billionen

US-Dollar betrug das Gesamthandelsvolumen aller MICEX-RTS-Märkte 2011.

800 Milliarden

US-Dollar betrug 2011 die Gesamtkapitalisierung aller gehandelten Aktien.

RTS und MICEX. Mithilfe kurzfristiger Spekulationen über Brokersoftware vermehrten Privatanleger ihr Startkapital um ein Vielfaches. Bis zur Krise im Jahr 2008 schütteten die Anteilfonds Gewinne aus, die Inflation und Sparzinsen um das bis zu Zehnfache übertrafen. Renditen von 30 Prozent

Analysten sind sich einig, dass der russische Fondsmarkt für Privatanleger die beste Alternative zum Sparkonto ist. Allerdings ist der Markt der offenen Investmentfonds in Russland noch recht klein. Der Leiter der Analyseabteilung der Bank Otkrytije, Wladimir Sawwow, gibt zu bedenken: „Der Gesamtwert der Nettoaktiva aller offenen Investmentfonds beträgt 0,5 Billionen Rubel (12,5 Milliarden Euro), was im Vergleich zu den zehn Billionen auf den Bankkonten sehr wenig ist.“ Die Entwicklungsstrategie der Regierung für den Finanzmarkt Russlands bis 2020 sieht ein Anwachsen der Privatanleger auf 20 Millionen vor. Vor Kurzem hat jedoch der Rechnungshof dieses Vorhaben der Liste unrealisierbarer Projekte zugeordnet, weil die Aktivität der Anleger, einschließlich der Privatanleger, zu gering sei. „Wenn es zu keiner weiteren Wirtschaftskrise kommt, werden wir, realistisch betrachtet, mit vier bis fünf Millionen rechnen können“, glaubt Wladislaw Kotschetkow, Präsident der Investmentgesellschaft FINAM.

Russische Aktienindizes nach Punkten


Wirtschaft

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Innovation Russische Schüler steigen in den nächsten Jahren auf digitale Schulbücher um

Alle Bücher in einem Reader Auf dem freien Markt hinkte Plastic Logic lange Firmen wie Apple und Amazon hinterher. Jetzt soll der Que proReader seine Vorteile in russischen Schulen unter Beweis stellen.

Buches sieht die Lehrerin auch darin, dass es mit seinen 475 Gramm das komplette Schulbuchsortiment von der ersten bis zur elften Klasse aufnehmen kann und sich die Schüler nicht mehr an ihren kiloschweren Schulranzen abschleppen müssen. Nach den Plänen der Regierung sollen die russischen Schüler die E-Reader umsonst erhalten, finanziert wird das Programm vom Staat. Momentan befindet sich das Projekt in der Testphase. Sollte sich der E-Reader als tauglich erweisen, wird der Großteil der russischen Schulen innerhalb der

jelena schipilowa für russland heute

Mehr als zehn Jahre lang versuchte die britische Firma Plastic Logic, ihre Technologien in bare Münze zu verwandeln, aber stets blieb sie einen Schritt hinter der Konkurrenz zurück: Zuletzt stellte sie die Produktion ihres Que proReaders ein, weil das iBook von Apple und der Kindle von Amazon den Markt schon besetzt hatten. Es stand Ende 2010 nicht gut um Plastic Logic. Das Geld der Investoren (fast 350 Millionen Euro) war aufgebraucht, und der Que proReader mit seinem biegsamen Kunststoffdisplay war vorerst gescheitert. Als Retter trat im Januar 2011 die staatliche russische Innovationsagentur Rusnano auf, die fast die Hälfte der Aktien erwarb.

So groß wie ein DIN-A4Blatt, vier Millimeter dick und 475 Gramm leicht – die Alternative zum schweren Rucksack.

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Die Nase im Rechner: Unterricht an der Pilotschule in Kaliningrad

Plastic Logic im Standort Deutschland

aktuell Gute Geschäfte in Russland Deutsche Unternehmer, die in Russland tätig sind, glauben an eine positive Entwicklung der dortigen Wirtschaft. Nach einer Umfrage des Ostausschusses und der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer gehen 71 Prozent der Befragten von einem Wirtschaftswachstum für das Jahr 2012 aus. 49 Prozent planen 2012 Investitionen in Russland von über 880 Millionen Euro, 64 Prozent wollen ihr Personal aufstocken. Unzufrieden sind die Unternehmen mit dem Verlauf der von Medwedjew angekündigten Modernisierung des Landes: Nur 41 Prozent haben hier im vergangenen Jahr Fortschritte beobachtet. Die größten Herausforderungen sehen sie im Abbau der Bürokratie und im Kampf gegen Korruption, gefolgt von Zoll- und Visa-Fragen.

Thüringische Keramik in Tomsk Ende Februar hat MOJE Keramikimplantate in der sibirischen Stadt Tomsk eine Niederlassung eröffnet. Die mittelständische Firma aus dem thüringischen Petersberg wird dort Implantate aus Zirkonkeramik für Zehen, Hand-, Fingergelenke und den Dentalbereich herstellen. Nur 20 Prozent der Produktion soll in Russland abgesetzt werden, der Rest geht vor allem nach China, Indien und in die USA. Die Investitionen betrugen zwei Millionen Euro, das Werk kann pro Jahr bis zu 8000 Implantate herstellen.

Die britische Firma Plastic Logic wurde im Jahr 2000 an der Universität Cambridge gegründet. Heute verfügt sie auf dem Gebiet der Kunststoffelektronik über viele einschlägige Technologien und Patente. OAK Investment Partners, Amadeus Capital Partners, BASF Venture Capital und andere investierten. 2008 errichtete die Plastic Logic ein Werk in Dresden, dessen Schicksal jedoch ungewiss ist:

In Deutschland werden nur die Bildschirme für das elektronische Lesegerät produziert, während sich die abschließende Montage in einem US-Labor vollzieht, was die Produktion verteuert. Zudem wurde nach dem Einstieg von Rusnano entschieden, eine Fabrik im russischen Selenograd zu bauen. Da Plastic Logic Subventionen erhalten hat, sind die Arbeitsplätze in Dresden jedoch bis 2013 gesichert.

Gerät ist etwa so groß wie ein DIN-A4-Blatt, nur vier Millimeter dick und äußerst leicht. Bedient wird es durch Berühren der Oberfläche mit dem Finger. „Die Kinder sind total begeistert! Sie mögen das Spielerische, die Möglichkeit, Bemerkungen direkt ins Buch hineinzuschreiben. Ich glaube, dass elektronische Lehrbücher mit der Zeit die klassischen Papierschulbücher ablösen werden“, sagt Irina Rubzowa, Mathe-

matiklehrerin am Lyzeum Nr. 18 im Gebiet Kaliningrad. An ihrer Schule wird mit dem Plastic Logic 100 experimentiert, seit einem halben Jahr sind ihre Sechstklässler auf Touchscreen umgestiegen. „Es kam schon vor, dass die Kinder sich die Reader gegenseitig an den Kopf schlugen, sie fallen ließen oder Wasser auf sie schütteten. Aber nur einmal stürzte ein Gerät ab und musste neu gestartet werden. Und es blieb kein Defekt zurück“, sagt Rubzowa. Einen großen Vorteil des elektronischen

Messe Internationale Tourismusbörse Berlin

Gesprächskreis Aktuelles zum Zoll in Russland

Konferenz european investment conference russia

7.-11. März, Berlin, Messe

12. März, IHK Hannover

22.-23. März, KAluga, Moskau

Mehr als alle anderen zieht es seit Jahren die Deutschen nach Russland. Auf dem gesamtrussischen Stand von Rostourism können sich Interessierte darüber informieren, wie man auf Kamtschatka, im Altai oder in Burjatien seinen Urlaub verbringen kann.

Die Zollabwicklung von Lieferungen nach Russland als auch in die weiteren Mitgliedsstaaten der Zollunion (Kasachstan, Belarus) bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung. Zudem trat Russland im Dezember in die WTO ein. Welche Auswirkungen hat dies?

Die Region Kaluga, 200 Kilometer südlich von Moskau, ist besonders bei deutschen Investoren beliebt. So werden auf der Konferenz, die sich an ausländische Investoren richtet, auch vor allem deutsche Experten aus Wirtschaft, Banken und Politik sprechen.

Hier erhalten junge russlandkompetente Nachwuchskräfte die Möglichkeit, mit Unternehmen, die in Russland und Deutschland aktiv sind, in direkten Kontakt zu treten. Die Börse richtet sich an Studenten, Absolventen und Arbeitnehmer mit ersten Berufserfahrungen.

›› itb-berlin.de

›› hannover.ihk.de

›› arrko.ru/en/events

›› deutsch-russisches-forum.de

Anwendung in der Praxis

Hoffnung auf den Durchbruch

Durch die Teilnahme am Regierungsprogramm will Plastic Logic Mittel für die weitere Entwicklung sammeln. Derzeit gibt es in Russland 13 Millionen Schüler. Würde jeder einzelne mit einem Reader ausgestattet werden, könnte die Firma rund vier Milliarden Euro einnehmen – ein Siebenfaches dessen, was sie seit Unternehmensgründung verbuchen konnte. Ein leichtes Spiel wird es für die Briten dennoch nicht, denn parallel zu ihnen erprobt die Konkurrenz ihre eigenen Reader in der Praxis: das PocketBook 902, Intel ClassMate und JetBook Color – das erste Tablet mit buntem E-Ink-Display. Jelena Schipilowa schreibt für das Wirtschaftsmagazin RBC.

Ein Nickerchen in der Sleep Box

pressebild

Die Russen glaubten an den Erfolg der Kunststoffelektronik: Ihr wesentlicher Vorteil liegt darin, dass damit Reader mit stoßfesten Sensordisplays und einer Diagonale von über zehn Zoll hergestellt werden können, während konventionelle Glasdisplays zerbrechlich und schwerer sind. Die Investitionen von Rusnano in das Stammkapital liegen bei 100 Millionen Euro, dazu kommen 35 Millionen in Form einer Kreditgarantie. Die Weiterentwicklung des Que Readers wurde vorläufig ausgesetzt. Ein Forscherteam sollte bestimmen, wie und wo dessen Technologien angewandt werden konnten, damit die Wissenschaftler ihr Produkt erproben konnten und es sich wenigstens teilweise bezahlt machte. Eine abgewandelte Version des Que proReaders soll nun in russischen Schulen beweisen, dass er mehr kann als ein iBook oder ein Kindle. Das Bildungsministerium machte allerdings technische Voraussetzungen zur Bedingung, die weit unter den Anforderungen des Konsummarkts lagen. Der Schülerreader sollte vor allem strapazierfähig – und über einen gewöhnlichen Computer hinaus updatefähig sein. Ferner durften keine eigenen Inhalte installierbar sein. Kurzum: Der Plastic Logic 100 ist ein E-Bookreader mit Lesezeichen- und Notizbuchfunktion. Das

pressebild

Strapazierfähig für Kinder

nächsten drei bis fünf Jahre damit ausgestattet. Momentan kostet der Reader rund 280 Euro, der Hersteller gewährt zwei Jahre Garantie, die Lebensdauer sei theoretisch unbegrenzt. Dabei geht es mehr um die Minimierung gesundheitlicher Risiken bei Schülern als um die positiven Effekte für die Lernmittelfreiheit: In Russland kosten die Schulbücher erheblich weniger als in Europa. Für die europäischen Märkte wäre das Gerät aber vor allem durch seinen relativ geringen Preis attraktiv. In Deutschland könnte es den Schulbuchmarkt wegen der hohen Druckkosten von PrintMedien aufrollen. Allerdings ist zu erwarten, dass die Verlage auch für die elektronische Version ihrer Bücher ihren Preis verlangen werden.

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Oft ist man an Flughäfen müde – aber es fehlt ein passender Ort zum Schlafen. Das Moskauer Architekturbüro Arch Group hat deshalb die „Sleep Box“ entwickelt und auf dem Scheremetjewo-Flughafen aufgestellt. Das Modul bietet ein Bett, einen Fernseher, Wi-Fi und Platz fürs Gepäck. Im April soll nun im Zentrum Moskaus ein Hotel eröffnen, das ausschließlich mit Schlafboxen ausgestattet ist.

Börse Karrierebörse Russland 17. April, München, Agentur für Arbeit


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Das Thema

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

It-branche russlands russische IT-Innovationen machen Unter fremden Namen wie Parallelgraphics oder qik karriere

einen Moment bitte, ich yandex dir das mal eben Fürs Outsourcing taugen die Russen nicht. Im Vergleich zu Indern sind sie teurer – und zu schöpferisch. Deshalb brauchen ihre guten Ideen meist jemanden, der sie umsetzt. tino künzel

für russland heute

So manche technische Innovationen, die das Leben erleichtern, fangen damit an, dass sich ihre Erfinder selbst das Leben erleichtern. Nikolai Abkairow ist da ein gutes Beispiel: Der Programmierer aus dem Moskauer Vorort Selenograd war irgendwann genervt von den Staus auf seinem Arbeitsweg in die russische Hauptstadt. Andere hätten daraufhin vielleicht den Zug genommen, Abkairow beschloss, von zu Hause aus zu arbeiten. Und tat sich zusammen mit Ramu Sunkara und Bhaskar Roy, zwei Amerikanern indischer Abstammung, die gerade ihren Ausstieg beim US-Softwaregiganten Oracle planten. Anfang 2007, nach neun Monaten Entwicklungsdauer, war der Prototyp von Qik fertig, einem Programm, das die Funktionalität von Mobiltelefonen erhöht. Es erlaubt Handybesitzern, selbst gemachte Videos unkompliziert ins Internet hochzuladen und Freunden zugänglich zu machen. Die Anwendung – inzwischen auch für Videotelefonie und -chats geeignet – nutzen heute mehr als zehn Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Das gleichnamige Startup legte eine Blitzkarriere

hin: Im Januar 2011 wurde die Firma für 121 Millionen US-Dollar von Skype gekauft. Heute beschäftigt Qik in Selenograd 50 Programmierer. Die Absolventen der Nationalen Forschungsuniversität für Elektronische Technologie (MIET), die sich in dem Städtchen befindet und an der auch Nikolai Abkairow einst studierte, haben einen attraktiven Arbeitgeber direkt vor der Nase. Die gute Nachricht an dieser Erfolgsgeschichte ist aus Sicht von Russlands IT-Branche, dass auf dem Weltmarkt auch mitmischen kann, wer nicht in den Westen geht. Das mag keine ganz neue Erkenntnis sein, doch es kann nichts schaden, wenn sie ab und an aufgefrischt wird, wo doch die

Geschäftssinn seiner Partner in Übersee hätte das gesamte Projekt von Anfang an keine Chance gehabt, räumte der pressescheue Abkairow auf Zelenograd.ru in seinem einzigen Interview ein: „Ich wäre nie allein ins kalte Wasser gesprungen, so mutig bin ich nicht.“

Russische Software auf der CeBIT in Hannover

Zahl der russischen HightechStars relativ überschaubar ist und deshalb auch andere Schlüsse zulässt. Was ebenso ins Bild passt, ist die Kehrseite: Bei Qik handelt es sich nicht um ein russisches, sondern um ein amerikanisches Unternehmen. Es hat seinen Hauptsitz im Silicon Valley. Dort kümmern sich zwei Dutzend Mitarbeiter um Vermarktung und Verkauf. Ohne den

Das lässt sich durchaus verallgemeinern: Russland steht bisher eher für begnadete Programmierer als für betriebswirtschaftliche Ausnahmetalente. Hin und wieder kommt allerdings beides zusammen. So landete die Moskauer Softwareschmiede Abbyy mit ihrem Texterkennungsprogramm FineReader und dem elektronischen Wörterbuch Lingvo jeweils Volltreffer. Auf der diesjährigen CeBIT legt Abbyy den Schwerpunkt auf Businesslösungen sowie die mobile Dokumenten- und Datenerfassung. Das international erfolgreichste russische IT-Unternehmen ist der Virenschutzhersteller Kaspersky Lab. Sein Umsatz betrug im vergangenen Jahr 612 Millionen USDollar – ein Plus von 14 Prozent gegenüber 2010 und 57 Prozent gegenüber 2009. Auf das Ausland entfielen davon rund 80 Prozent. Von den 20 ertragsstärksten Firmen der Branche produziert ein Großteil allerdings nichts selbst, sondern betreibt Systemintegration, passt also Produkte anderer Hersteller an die Bedürfnisse

Max Levchin

David Yang

Unter den sozialen Netzwerken liegt Facebook deutlich hinter den russischen Pendants vk.ru und odnoklassniki.

reuters/vostock-photo

Euro erzielte der russische IT-Export 2011 – gemessen am Weltmarkt eine niedrige Zahl. Rund 300 000 Russen sind in der IT-Branche beschäftigt.

seiner Kunden an. Drei weitere Schwergewichte sind in ihrer Breitenwirkung hauptsächlich auf den russischsprachigen Raum beschränkt: Die Suchmaschine Yandex, inzwischen mit zahlreichen weiteren Features aufgepeppt und seit Mai 2011 an der New Yorker Technologiebörse NASDAQ notiert, behauptet sich in Russland mit 60 Prozent Marktanteil gegen Google. Unter den sozialen Netzwerken ist Weltmarktführer Facebook mit deutlichem Abstand weiterhin nur die Nummer drei hinter den russischen Networks Vk.com und Odnoklassniki. Der russische IT-Markt wächst, jedoch einstweilen auf niedrigem Niveau. Microsoft erzielt lediglich 1,5 Prozent seines Umsatzes in Russland. Umgekehrt gibt es, wie Jewgenij Kaspersky einmal sagte,

Andrey Andreev

Grigori Schenkman Alec Miloslavsky

zahlen

14,6 Prozent

Wachstum mit 15,2 Milliarden Euro erzielte der russische IT-Markt 2011. Haupttreiber sind die Softwareentwicklung und Internetservices.

15,8 Prozent

Wachstum werden für das Jahr 2012 prognostiziert. Für 2013 gibt das Ministerium für Kommunikation 18,1 Prozent Wachstum an.

1 Milliarde

IT-Vordenker aus Russland

Alexander Galizki alter: 37

alter: 36

alter: 43

alter: 37

wohnsitz: Moskau

wohnsitz: San francisco

wohnsitz: Moskau

wohnsitz: london

vermögen: 74 Mio. euro

vermögen: 75 MIO. euro

vermögen: 150 mio. euro

vermögen: 600 mio. euro

alter: 49, 48

1993 verkaufte Galizki zehn Prozent seines IT-Unternehmens Elvis+ an den amerikanischen Computergiganten Sun Microsystems. Seitdem beschäftigt er sich mit Venture-Investments und legte mit Almaz Capital einen Fonds auf, der in Softwarestartups investiert. Letzten Winter verkaufte Almaz Capital 20 Prozent von Qik, einer Software für mobiles Video, an den VoIP-Anbieter Skype. Im AlmazPortfolio sind ferner Minderheitsanteile an Yandex und dem Softwareentwickler Parallels gelistet.

1991 wanderte Levchins Familie von Kiew nach Chicago aus. Sieben Jahre später gründete er zusammen mit mehreren Geschäftspartnern Fieldlink, einen Online-Bezahldienst, der später in PayPal umbenannt und von eBay 2002 übernommen wurde. Daraufhin gründete Levchin Slide.com, ein Online-Foto-Sharing, und die Social-Networking-Plattform Yelp. 2005 produzierte er die Politsatire „Thank you for smoking“. 2010 verkaufte er Slide. com an Google, das den Dienst 2011 einstellte.

David Yang wurde im armenischen Jerewan geboren, studierte aber am Moskauer Institut für Physik und Technologie, das bisher sieben Nobelpreisträger für Physik hervorbrachte. 1989 gründete Yang BitSoftware, die heute ABBYY heißt und mit dem FineReader (Texterkennung) und Lingvo (multilinguale Wörterbücher) weltberühmt wurde. Kürzlich eröffnete er mehrere Restaurants in Moskau, in denen er seinen neuesten Streich in der Praxis testet – iiko, eine Software für intelligentes Gastronomiemanagement.

Seit sechs Jahren wohnt der Gründer der größten Online-Partnerbörse Badoo in London. Der Startup-Spezialist stand hinter diversen Internetprojekten wie dem Webanalysedienst SpyLog, der Online-Partnervermittlung Mamba oder auch BegUN – der Software für Kontextwerbung im Internet. Auf Badoo sind derzeit rund 130 Millionen Nutzer registriert. Der Wert des „Sex-Facebooks“, an dem Andreev rund 80 Prozent der Anteile hält, wird auf gegenwärtig eine Milliarde USDollar geschätzt.

Die Geschäftspartner lernten sich in den USA kennen: Miloslavsky arbeitete bei Pixar, Schenkman verkaufte Telefone. Mit Genesys spezialisierten sie sich auf Telekom-Software. 2000 wurde die Company für 1,5 Milliarden USDollar von Alcatel aufgekauft. Ihre neue Firma Exigen Capital entwickelte EquaTrax, ein Programm zur Abrechnung von Künstlertantiemen.

›› almazcapital.com

›› paypal.com; slide.com

›› abbyy.de; en.iiko.ru

›› badoo.com

›› equatrax.com

wohnsitz: san francisco vermögen: je 260 mio. Euro

Quelle: Forbes


Das Thema

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

elle Ehrgeiz steht den russischen Programmierern aber manchmal buchstäblich im Wege. Vor zehn Jahren hätten viele geglaubt, Russland könne beim Outsourcing für westliche IT-Firmen das neue Indien werden, sagt Georgij Patschikow, Chef von ParallelGraphics, einem Moskauer Anbieter von 3D-Bedienungsanleitungen. Aber dann stellte sich heraus, dass die Inder besser Englisch sprechen und billiger sind. Das war jedoch noch nicht alles. „Unsere Programmierer schauen sich eine Software an und sagen: ‚Das kann ich besser.‘ Beim Outsourcing muss man sich aber an die Vorgaben halten, da gehört auch die nötige Disziplin dazu.“ Am fruchtbarsten sei die Zusammenarbeit mit ausländischen Auftraggebern, wenn es noch Raum für schöpferische Diskussion gebe, meint Alexander Wowkula, technischer Direktor bei ParallelGraphics: „Wenn der Kunde noch nicht weiß, was er genau will, dann welcome to Russia!“ ParallelGraphics macht seine Geschäfte vor allem mit dem Ausland, etwa mit Boeing und Air-

Am fruchtbarsten ist die Zusammenarbeit mit ausländischen Auftraggebern, wenn es noch Raum für Schöpferisches gibt: „Wenn der Kunde nicht weiß, was er will, dann welcome to Russia!“

Eine Suchmaschine geht an die Börse Arkadi Wolosch (2. v. r.), Gründer, Chef und Anteilhaber der größten russischen Suchmaschine Yandex, feiert den Börsengang in New York. Seit dem 24. Mai letzten Jahres ist der Google-Konkurrent aus Russland an der Technologiebörse Nasdaq ge-

im Lande „eine Menge qualifizierter Spezialisten, aber nur wenige erfolgreiche Unternehmen“. Immerhin richten mehr und mehr Unternehmensgründer ihre Startups gleich von vorneherein global aus. Alexander Galizkij, Mitbegründer und Geschäftsführer des russischen Venturefonds Almaz Capital, spricht von „Belebung“ auf diesem Gebiet. Der Fonds hat in den vergangenen drei Jahren jeweils zwischen fünf und sieben Millionen Dollar in insgesamt zehn Firmen investiert, unter anderem mit Geldern der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie von Cisco Systems. Ventureveteran Galizkij sieht den Standortvorteil Russlands in der „starken Programmierschule“, die auf einer Topausbildung be-

listet (YNDX) – mit einem Börsenwert von anfangs acht Milliarden US-Dollar. Derzeit liegt der Aktienkurs bei 21,60 (Kaufempfehlung). Heute ist Yandex 500-mal so viel wert wie im Jahr 2000, als die ersten Privatinvestoren einstiegen.

ruhe und Softwareentwickler befähige, mit komplexen Problemstellungen fertig zu werden: „Schwierige Aufgaben, Analytik, große Datenmengen und Algorithmen – da sind wir absolut konkurrenzfähig. Darauf kann sich verlassen, wer mit Russen arbeitet.“

bus. Im Inland sei das Interesse gering, so Patschikow. „Den großen Staatsbetrieben sind mögliche Einsparpotenziale mit unserer Software die Mühe nicht wert. Das ist eben der Unterschied zwischen einer extensiven und einer intensiven Wirtschaft.“

Apps aus Russland

Viel verspricht sich das Unternehmen von Skolkowo, dem Innovationsstädtchen vor den Toren Moskaus, das ab 2014 seinen Betrieb aufnehmen soll. Schon 300 Firmen haben dafür den Zuschlag bekommen. Ende Februar nahm auch ParallelGraphics sein Teilnehmerzertifikat in Empfang. Georgij Patschikow kann nur Positives berichten: „Das Antragsverfahren war komplett online. Korruption gibt es keine. Bisher ist alles so, wie man es sich nur wünschen kann.“ Sollte Skolkowo die beabsichtigte Wirkung erzielen und Katalysator für die Modernisierung von Russlands Wirtschaft werden, könnte davon langfristig auch das Image von russischer Soft- und Hardware profitieren. Bisher ist „Made in Russia“ noch kein Gütesiegel. Amerikanische IT-Firmen mit russischen Wurzeln wie Evernote, ein Spezialist für Datenspeicherung und -sortierung, meiden eine explizite Erwähnung ihrer Vorgeschichte, wo immer es geht. Ventureexperte Galizkij hält es für eine Frage der Zeit, dass sich die Einstellung ändert: „Heute tut man sich keinen Gefallen, wenn man Russland ins Spiel bringt. Aber auch Waren aus China galten einst als minderwertig. Langsam ist das Vertrauen gewachsen. Dasselbe wird mit russischen Produkten passieren.“

Galizkij findet, dass sogar die Gegenüberstellung von zwei Kultspielen für Smartphones in diesem Sinne ausfällt. Im Vergleich zum Bestseller „Angry Birds“ vom finnischen Entwicklungsstudio Rovio Entertainment sei das ebenfalls äußerst populäre „Cut The Rope“ des Moskauer ZeptoLab deutlich anspruchsvoller: „Das ist ein anderes intellektuelles Niveau.“ Dieser intellektu-

© RUSLAN KRIVOBOK_RIA NOVOSTI

bekanntesten Virenscanner stammt aus den in Russland gegründeten Kaspersky Labs. Die Produkte von ABBYY, dem Moskauer Entwickler für Texterkennungs- und Sprachsoftware, nutzen über 30 Millionen Menschen und Branchengrößen wie Epson, HP, Lexmark und Siemens Nixdorf.

RUSSISCHE APPS

ALAMY/LEGION MEDIA

SPIEL ICH MAG BONBONS – EINE APP GEHT UM DIE WELT

Es rappelt im Karton: Dort hockt ein kleiner grüner Nimmersatt und lechzt nach Bonbons, die maßgerecht abgeseilt werden müssen, um in seinem Rachen zu verschwinden. Das ist das Spielprinzip von „Cut The Rope“, einem höchst unterhaltsamen Zeitvertreib, der auf den Spuren von „Angry Birds“ wandelt und mit mehr als 60 Millionen Downloads zu den derzeit meistverkauften Apps für Smartphones gehört. Neuerdings läuft das Spiel in einer abgespeckten Gratisversion auch im Internetbrowser (www.cuttherope.ie). Entwickelt wurde es von ZeptoLab, einem in Moskau ansässigen Softwarehersteller mit knapp 20 Beschäftigten.

300 IT-Firmen im Cluster

Virenscanner made in Russia

Wird in Russland außer Beluga-Kaviar noch was anderes produziert? Ja, Software: So gibt es beispielsweise die IBS Group und Armada, zwei Marktführer im Bereich integrierte Systemlösungen und Business Solutions. Der Konsument dürfte auch zwei weitere Namen kennen: Einer der

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Tino Künzel ist Redakteur der Moskauer Deutschen Zeitung.

TextGrabber

Speaktoit Assistant

Zu faul zum Abtippen? Dann einfach fotografieren. Die App erkennt Schriftstücke auf Fotos, speichert sie im Textformat und übersetzt in neun Sprachen. (iOS, Android)

Der Sprachassistent und virtuelle Smartphone-Genosse führt die Sprachbefehle seines Besitzers aus oder speichert belanglose Kommentare. (iOS, Android, Windows Phone, Blackberry)

Star Walk

RBTH for iPad

Der Astronomie-Leitfaden enthält einen Sternenatlas und sagt in Echtzeit, welche Sterne gerade über dem Kopf des Users sind – und ob vielleicht die ISS vorbeifliegt. (iOS)

Russia Beyond The Headlines, das Mutterprojekt von Russland HEUTE, bietet eine App für das iPad, garniert mit Multimedia rund um Land und Leute. Ab Sommer auch auf Deutsch.


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Gesellschaft

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Sozialpolitik Wie es im heutigen Russland um die einst viel gelobte Kinderbetreuung steht

Wenn ich groß bin, darf ich in den Kindergarten

doch noch einen Platz zu ergattern: Bargeldspenden, Möbel oder Spielsachen kaufen, Fenster putzen, Schaukeln streichen oder andere Renovierungsarbeiten bis hin zu einem persönlichen Geschenk für die Leiter der Einrichtung, die eine solche „Großzügigkeit“ nicht selten missbrauchen. Das Problem der fehlenden Kindergärten entstand in den 90er-Jahren, als fast ein Drittel der öffentlichen Kindertagesstätten geschlossen oder an Privatunternehmen verkauft wurden,

Eltern beantragen schon bei Geburt ihres Kindes einen Kindergartenplatz und müssen dennoch zwei Jahre warten. die sie in Banken und Büros umwandelten. Beschwerde einzulegen ist aufgrund von Gesetzeslücken nahezu unmöglich. Noch schwieriger stellt sich die Unterbringung der unter Zweijährigen dar. Zu sowjetischen Zeiten gab es überall im Land Krippen, die Kinder schon im Alter von unter einem Jahr annahmen.

Geld statt Kindergarten itar-tass (2)

Was von der sowjetischen Kinderbetreuung blieb: zu wenige Kindergartenplätze, überaltertes Personal, niedrige Gehälter.

„Wenn Sie am Tag der Geburt Ihres Kindes einen Platz im Kindergarten beantragen, sind Sie viel zu spät dran“, lautet ein russischer Witz, der die traurige Realität widerspiegelt. jelena nowikowa russland heute

Der Mangel an Kindergärten verursacht vielen russischen Familien Kopfzerbrechen. Das geht so weit, dass manche junge Paare, die nicht auf die Hilfe ihrer Eltern und Familie rechnen können, ihrem Kinderwunsch nicht nachkommen und ganz auf Kinder verzichten. „Meine erste Tochter ist vier Jahre alt, meine zweite zweieinhalb – und wir bekommen nicht einmal für die Große einen Kindergartenplatz“, erzählt die 29-jährige Moskauerin Jelena Ryschowa. „Ich kann nicht wieder arbeiten gehen, da wir niemanden haben, der sie betreuen könnte.“ In der Zwischenzeit habe ihr Arbeitgeber angedeutet, dass sie entlassen werde, wenn sie nicht in drei Monaten zurück sei. Unlängst hat sich Ministerpräsident Wladimir Putin in einer Rede erneut mit dem Thema der Kindertagesbetreuung befasst. Er betonte, dass derzeit rund 1,9 Millionen russische Kinder keinen Platz bekommen und deshalb auf Wartelisten stehen – ein trauriger Rekord, denn vor einigen Jahren lag diese Zahl noch bei 1,7 Millionen. In den letzten Jahren war eine leichte Steigerung der Geburtenrate zu verzeichnen, die auf finanzielle Anreize der Regierung, einschließlich des sogenannten Baby-Schecks (einem Zuschuss von 8000 Euro, den Mütter nach der Geburt des zweiten Kindes erhalten) zurückzuführen ist. Das russische Gesetz sieht einen Mutterschutz von drei Jahren vor. Allerdings bekommt die Frau nur

in den ersten anderthalb Jahren Elterngeld, und zwar, abhängig vom Gehalt, maximal 300 Euro monatlich. Viele Familien sind auf eine Arbeit beider Partner angewiesen. Das geringe Elterngeld kann da kaum einen Ausgleich schaffen. In Russland haben die öffentlichen Kindertagesstätten große Kapazitäten. Den einzelnen Gruppen stehen jeweils zwei Räume zur Verfügung: einen zum Spielen, Lernen und Essen sowie einen Ruheraum, in dem jedes Kind sein eigenes Bettchen hat. In der Vorhalle gibt es Kleiderschränke und eine Bank, auf der sich die Kinder umziehen können. Vorrang haben Sauberkeit und das Wohlergehen der Kinder. Wenn sie sich im Gebäude aufhalten, wechseln sie Schuhe und Kleider, um keinen Dreck hereinzutragen. In der

zahlen

1 900 000

Kinder warten in Russland derzeit auf einen Kindergartenplatz.

100 000

Rubel Schmiergeld oder 2500 Euro zahlten gut betuchte Moskauer Eltern im Schnitt an den Leiter eines Kindergartens für einen Platz.

5000

Rubel monatlich, umgerechnet 125 Euro, stehen in manchen Regionen Eltern zu, deren Kind keinen Platz in einem staatlichen Kindergarten bekommt.

Regel werden sie in Gruppen zu 20 bis 25 von zwei Erzieherinnen betreut. Eine zusätzliche Angestellte hält die Räume sauber, kümmert sich um das leibliche Wohl und hilft den Kindern beim Anziehen. Maximal 30 bis 40 Euro im Monat müssen die Eltern für einen solchen Platz in einer öffentlichen Kindertagesstätte bezahlen. Trotz ihrer guten Führung haben die russischen Kindertagesstätten ein wesentliches Handicap: Für viele Familien bleiben sie unerreichbar, und der Zugang ist hart umkämpft. Eltern lassen sich schon bei der Geburt ihres Kindes auf Wartelisten setzen, und auch so dauert es mindestens zwei Jahre, bis sie an der Reihe sind – falls überhaupt. Die verzweifelten Eltern und Großeltern sind zu allem bereit, um auf andere Art

Die Krippen waren die Rettung für Eltern, die keinen großen Familienverbund zur Seite hatten, der ihnen bei der Betreuung ihrer Kinder hätte helfen können. Durch die prekäre Situation alarmiert, haben die Behörden einiger Regionen wie Nowosibirsk, Perm oder Krasnojarsk nun beschlossen, Eltern, die gezwungen sind, ihre Kinder zu Hause zu behalten, finanziell zu unterstützen. Die Duma debattierte bereits über ein föderales Gesetz für diese Art finanzieller Hilfen. Allerdings wäre auch diese Neuregelung nichts als ein Tropfen auf den heißen Stein, denn die vorgesehenen 100 bis 150 Euro monatlich reichten hinten und vorne nicht aus. Das Problem wäre also nicht einmal im Ansatz gelöst. Währenddessen träumen weiterhin tausende Eltern von einem Kindergartenplatz und würden ihrem Kind durchaus zumuten, auch auf einer einfachen Matratze statt im eigenen Bettchen zu schlafen – wenn es denn angenommen würde.

Fleischlos glücklich im Kinderhort Neben den überfüllten staatlichen Einrichtungen entstehen private Krippen mit Ökoerziehung und vegetarischen Menüs. Natalja Radulowa ogonjok magazin

Kleine private Kindergärten sind im heutigen Russland eine normale Erscheinung. Meistens mietet eine Frau eine Dreizimmerwohnung und stellt eine Gruppe von fünf bis zehn Kindern zusammen. Die Eltern bringen ihre Kinder dorthin, weil sie in der Nähe wohnen und es in der staatlichen Vorschuleinrichtung keinen Platz gibt oder aber, weil die Erziehungsmethoden nicht ihren Überzeugungen entsprechen. Vegetarische Kindergärten werden in der Regel von Gleichgesinnten fre-

quentiert, die ihren Kindern zu Mittag lieber keine Fleischklöße zumuten wollen. „Ein vegetarischer Kindergarten ist nicht gerade ein Profitunternehmen“, sagt Tina Trussowa, Leiterin einer solchen Einrichtung in Moskau. „Es wäre einfacher, wenn ich mir um den Speiseplan keinen Kopf machen müsste. Aber ich spüre, dass es ein gutes Projekt ist. Von klein auf erfahren die Kinder, wie man sich gesund ernährt.“ Noch vor einigen Jahren hat Tina in einem Moskauer Verlag gearbeitet, drei Kinder großgezogen und für ihre Familie Borschtsch und Schweinebraten gekocht. Heute ist sie strenge Vegetarierin. „Seit sechs Jahren esse ich weder Fleisch noch Fisch. Und seit die-

sem Sommer kommt immer mehr Rohkost dazu.“ Das Bekochen ihrer Anvertrauten, Kinder zwischen zwei und vier Jahren, erfordert viel Geschick und Fantasie. Frühstück: grüner Buchweizen, mit kochendem Wasser überbrüht, Kräutertee. Mittagessen: Blumenkohlsuppe, brauner Reis. Zwischenmahlzeit: Dörrobst. So etwa sieht die Speisekarte aus, die täglich in der Kinderkrippe „Tinas Garten“ ausgehängt ist. Dabei ist es gar nicht so leicht, einen ausgewogenen Speiseplan zu erstellen. Tierisches Eiweiß ersetzt Tina durch Mandelmilch. Grüne Cocktails mixt sie aus frischem Koriander, Petersilie, Salat und Bananen. Es ist schwer zu sagen, ob die Kinder solche Kost wirklich toll fin-

„Essen alles, was ich ihnen gebe“ – ein glücklicher Jungvegetarier

den oder nicht. „Sie essen alles, was ich ihnen gebe“, beruhigt die Köchin. „Bisher hat noch keiner nach Fleisch verlangt. Außerdem weiß ich, wer was mag, meine Gruppe ist überschaubar, und ich kann mich jedem ganz persönlich zuwenden.“


Reisen

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Pjatigorsk Die Region um die nordkaukasische Stadt bietet Legenden, Bergquellen und Gastfreundschaft Anreise Von Moskau fliegt man zwei Stunden bis Mineralnyje Wody (MRV), von dort sind es mit dem Taxi 20 Minuten bis Pjatigorsk (Fahrtkosten: 500 Rubel oder 12 Euro). Die Flüge gehen mehrmals täglich. Mit dem Zug ab Moskau muss man 26 Stunden einrechnen.

Unterkunft Das Hotel Beshtau liegt zentral und bietet gewohnten europäischen Standard (www.hotel-beshtau.ru, DZ ca. 100 Euro). Günstiger und etwas rustikaler kommt man im Gästehaus Orlinyje Skaly unter (www.skalykmv.ru, DZ ca. 40 Euro).

Fünf Berge, frische Luft und kaltes, klares Wasser Die Luft ist hier so rein wie der „Kuss eines Kindes“, das wussten schon Tolstoi und Puschkin. Heute schwebt Pjatigorsk zwischen Sowjeterbe und einer ungewissen Zukunft.

Einst erholten sich in Pjatigorsk („Stadt der fünf Berge“) berühmte Gäste wie Lew Tolstoi und Alexander Puschkin. Zu Sowjetzeiten überschwemmten dann jährlich Hunderttausende die Mineralquellen und Sanatorien. Heute sind es bedeutend weniger. Die Konkurrenz ist groß und der Ruf des Nordkaukasus nicht eben gut. Trotzdem wirbt Stadtführerin Tatjana Omeltschenko – vor allem mit der guten Luft, „wie der Kuss eines Kindes“.

Und Omeltschenko erzählt Legenden, die sich um die Berge des Kaukasus ranken. Einst soll ein Volk von Riesen in diesem Erdteil gelebt haben, dessen König Elbrus hieß. Er hatte einen mutigen, starken Sohn namens Beschtau, der das schöne Mädchen Maschtuka liebte. Auf einmal erinnerte sich der alte Vater seiner Jugend und stellte selbst der hübschen Maschtuka nach. Er schickte seinen Sohn in den Krieg – in der Hoffnung, dass er die Schlachten nicht überlebe – und heiratete das Mädchen. Der Sohn aber kam siegreich zurück und spaltete den Kopf des Vaters in zwei Hälften. Darum habe der Berg Elbrus zwei Gipfel, schließt Tatjana Omeltschenko. Die Götter waren so erzürnt über den Streit, dass sie das gesamte Riesen-Volk versteinerten. Es entstanden die mächtigen, über 5000 Meter hohen Kaukasusgipfel. Nur 20 Kilometer von Pjatigorsk entfernt sieht man zwei wettergegerbte Reiter inmitten einer Kuhherde, die sie über das Hochplateau führen, ein paar Hunde helfen ihnen bei der Arbeit. Einige Kilometer weiter überqueren Pferde die Landstraße und bringen die Autos zum Stehen. Immer wieder grasen Tiere am Wegesrand, oft unangebunden. Winters wie sommers erheben sich die schneeweißen Gipfel des Kau-

hört…

Entdecken Sie Russland von einer neuen Seite

HEIDI BEHA

FÜR RUSSLAND HEUTE

An den steilen Hängen von Pjatigorsk stehen herrschaftliche Sanatorien und aristokratische Villen. Große Vorgärten, säulenverzierte Eingänge und hohe Fenster bezeugen, dass die Architektur Russlands nicht nur Plattenbau kann. Doch der Putz bröckelt, und die Fenster aus dünnem Glas lassen jeden Windhauch durch. Die Bettenburgen für Familien der Eisenbahnarbeiter, der Post und der Kriegsversehrten stehen leer.

Legendenumwobene Berge

Radio

Stimme Russlands Die Frequenzen finden Sie auf

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Ne

ter t e l ws

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Essen & Trinken Gute armenische Küche gibt es im Restaurant Kilikija im Stadtzentrum (Prospekt Kirowa 43a), wo in den Abendstunden auch getanzt wird. Ebenfalls empfehlenswert ist das Restaurant Restorannyj Dworik (Ul. Panagjurischtje 2). LORI/LEGION MEDIA (2)

Mit der Seilbahn geht es auf den Pjatigorsker Hausberg Maschuk.

kasusgebirges wie die versteinerten Riesen, die sie der Legende nach sind. In Pjatigorsk selbst fällt wenig Schnee, die Skigebiete liegen tiefer im Gebirge. Pjatigorsk dagegen gilt als das Tor zum Kaukasus. Bekannt ist das ganze Gebiet für seine heißen Quellen und das Mineralwasser, das aus den Bergen sprudelt. Eine der größten Städte im Nordkaukasus heißt sogar Mineralnyje Wody, was übersetzt Mineralwasser bedeutet.

Hurghada statt Pjatigorsk

In den Hinterhöfen von Pjatigorsk sitzen viele Leute an Tischen mit Wachstischtüchern beisammen. Marina ist eine von ihnen, gebürtige Pjatigorskerin, und liebt ihre Stadt, weil die Menschen offener seien als in Moskau. In den Urlaub fährt sie aber lieber nach Ägypten oder Spanien. „In Russland weiß man nicht, was Service bedeutet“, sagt die 28-Jährige. „In anderen

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Ländern lesen die Angestellten ihren Gästen die Wünsche von den Lippen ab.“ Tatsächlich reißen in den Pjatigorsker Restaurants die Kellner ihren erstaunten Gästen die Teller unter dem letzten Bissen kaukasischer Spezialitäten weg. Wer über solche Sitten lieber schmunzelt als sich ärgert, der kann es in Pjatigorsk aushalten. Denn wenn die bezahlte Höflichkeit auch nicht die gleiche ist wie anderswo, so sind die Menschen, die man auf der Straße nach dem Weg fragt, oder diejenigen, die einen bei Spaziergängen durch die Nebenstraßen aus Neugierde ansprechen, umso herzlicher. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in den Nordkaukasus. Doch in Pjatigorsk und Umgebung sei es friedlich, versichern Kenner der Region. Iwan Suchow schreibt seit zehn Jahren für die Zeitung Moskowskije Nowosti über den Nord-

kaukasus und fährt alle zwei Monate für Recherchen in die Krisenregion. Pjatigorsk klammert er meist aus. „In Pjatigorsk war ich nur ein einziges Mal, und das für eine Konferenz. Es gibt nicht viel zu berichten, weil nichts Spektakuläres passiert“, sagt er. Solche Aussagen sind wie Balsam für die offiziellen Vertreter der strukturschwachen Region Stawropol, zu der Pjatigorsk zählt. Der Tourismus war schon immer ein wichtiger Wirtschaftszweig, der unter schlechten Nachrichten aus der Kaukasusregion leidet.

Ein Sack voller Sprachen

Bei Tagesausflügen in die Umgebung fährt man an orthodoxen Kirchen und Moscheen vorbei. Von Ortsschild zu Ortsschild wechseln oft Sprache und Kultur. In manchen kaukasischen Schulen werden fünf Sprachen unterrichtet – und zwar nicht Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch und Deutsch, sondern Russisch, Ossetisch, Tscherkessisch, Tschetschenisch und Awarisch. Warum man im Kaukasus so viele verschiedene Sprachen spricht, auch dafür hat Tatjana Omeltschenko eine Legende parat: Als Gott mit einem Sack über die Welt flog und die Sprachen auf die Regionen verteilte, so erzählt sie schmunzelnd, da sei sein Sack an den Bergzipfeln des Kaukasus hängen geblieben und aufgerissen. Heidi Beha ist Lektorin der Robert Bosch Stiftung in Woronesch.

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Meinung

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reflektiert

alles nur gekauft Stepan Patschikow

st Russland die Heimat der Talente? Diese Frage stellen mir häufig ausländische Kollegen in den USA, die über die vielen begabten russischen Entwickler und Ingenieure im Westen staunen. Einige von ihnen wurden weltberühmt – wie der Google-Mitgründer Sergey Brin oder der PayPalErfinder Max Levchin. Allerdings sind Brin wie Levchin keine bewussten Emigranten: Wie viele andere russischstämmige IT-Koryphäen wanderten sie in jungen Jahren aus, auf die Entscheidung ihrer Eltern hin. Aber es zogen auch Hunderttausende russische Softwareentwickler im Erwachsenenalter in die USA, unter ihnen zum Beispiel die beiden legendären Programmierer Arkady Borkovsky, der das Yandex R&D Center in Kalifornien leitet, und Yevgeny Veselov, Chief Scientist bei Microsoft. Die Firma Parascript, auf Softwareerken nu ng ha nd sch r i f tl icher Schecks und Postsendungen sowie auf Programme zur Früherkennung von Krebs spezialisiert, besteht bis heute weitgehend aus russischen Ingenieuren, obwohl der Firmensitz in Boulder, Colorado, liegt. Ich kenne keine Statistik, die talentierte Migranten nach Herkunftsländern sortieren würde. Auch glaube ich nicht, dass Russland in puncto ingenieurstechnische Begabungen andere Staaten übertrifft. Allerdings habe ich eine Erklärung parat, wie es zu dieser Talentekonzentration in der IT-Branche kommen könnte.

In der Gewalt der Ideologie

Fast über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg stand Russland unter dem Regiment einer ideologisierten Diktatur. Jeder, der klug genug war, begriff: Wenn er den Einfluss der Ideologie auf sein Leben minimieren wollte, sollte er seine Laufbahn nicht mit Geschichte, Philosophie, Jura, Literaturwissenschaft oder Politik verbinden, sondern lieber mit einer Naturwissenschaft – Mathematik, Astronomie, Physik oder Chemie,

dmitrij diwin

I

IT-BranchenExperte

Heute ist es angesagt, Banker, Börsenmakler oder Staatsanwalt zu sein – alles, nur kein Wissenschaftler.

Tschulpan Chamatowa hat es auf den Punkt gebracht: „So, wie man leben sollte, kann man in Russland nicht leben.“

wo der ideologische Druck geringer war. Die Intellektuellen konzentrierten sich daher überwiegend auf dem vergleichsweise kleinen Feld der exakten Wissenschaften, was bis heute die Illusion erzeugt, russische Wissenschaftler und Ingenieure seien außergewöhnlich begabt. Als der wissenschaftliche Kommunismus 1990 endgültig von der Bildfläche verschwand und die Ideologisierung der Wissenschaft endete, stürzte sich die talentierte Jugend ins Geschäftsleben – in

Gerichte, Banken und Börsen. Die Wissenschaft blutete aus. Dazu trug auch eine für die Forschung tödliche Politik bei, die Bildung und Wissenschaft im Hinblick auf ihre Finanzierung und – noch wichtiger – ihre Wahrnehmung durch die Gesellschaft in eine Grauzone abschob. Heute ist es in Russland angesagt, Banker, Börsenmakler, Staatsanwalt, Gastronom, Fernsehmoderator, Steuerpolizist oder Zollbeamter zu werden – alles, nur kein Forscher oder Wissenschaftler.

Und es fehlen alle Anzeichen dafür, dass die wissenschaftliche Forschung in nächster Zeit gesundet. Und falls doch, wird sie dann noch international gefragt sein? Diese Frage stellen sich heute russische Forscher, wenn sie ihrer Heimat den Rücken kehren. Ihnen ist klar, dass ihre Möglichkeiten in Russland beschränkt sind. Die rohstofforientierte Wirtschaft macht der Bildung und Wissenschaft den Garaus, genauer gesagt diejenigen, die die gesamte Wirtschaft Russlands auf Öl- und Gasexporte ausgerichtet haben. Um es in Russland zu etwas zu bringen, müssten die Talentierten auf Schritt und Tritt ihr Gewissen verleugnen und moralische Zugeständnisse machen. Auch die politische Fragwürdigkeit des Landes im Allgemeinen und seine Führungselite im Besonderen macht ihnen zu schaffen, ist die Vertikale des politischen Systems doch dem Wesen nach feudal: Je mehr im Dunstkreis der Macht einer steht, desto größer sind seine Chancen, sein Einfluss und die Wahrscheinlichkeit, daraus Kapital zu schlagen. Russlands legale Forbes-Milliardäre wie fragliche Superreiche sind allesamt mit der politischen Vertikale verbandelt. Tschulpan Chamatowa, großartige Schauspielerin und Mitinitiatorin der Kinderkrebshilfe Podari Schisn (Schenke Leben) brachte es einmal auf den Punkt: „So, wie man leben sollte, kann man in Russland nicht leben.“ Die Zukunft der russischen ITBranche steht deswegen auf der Kippe, brauchen die gegenwärtigen Machthaber doch vor allem Spezialisten, die Erdöl pumpen oder Dienste an jenen leisten sollen, die Erdöl pumpen. Alles andere glaubt man kaufen zu können – auch Nachwuchstalente. Der Autor, Mathematiker und ehemals leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, gründete einst mit seinem Bruder Georgi Patschikow den ersten Computerclub Russlands, die Firmen ParaGraph (1989) und Evernote (2005). Heute lebt er in New York.

Leserbriefe Nachtrag zum Freien Russisch-Deutschen Institut für Publizistik Der Beitrag „Gegen die Schere im Kopf“, S. 12 der letzten Ausgabe, schließt mit den Zeilen: „Das Institut (gemeint das Freie RussischDeutsche Institut für Publizistik – Anmerkung der Redaktion) verfügt über kein eigenes Budget, nutzt aber Räumlichkeiten und Infrastruktur der JournalismusFakultät.“

Diese Informationen sind falsch, denn das FRDIP wird durch den eigens für das Institut gegründeten deutschen Förderverein unterstützt, der durch seine Beistellungen in Deutschland die Arbeit des Instituts ermöglicht. Dazu gehören die regelmäßige Entsendung deutscher Dozenten, die Veranstaltungen wissen-

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schaftlicher Konferenzen, die Herausgabe wissenschaftlicher Publikationen, Praktika und Studienreisen. Das FRDIP wird paritätisch geleitet von einer russischen Direktorin und einem ebenfalls von der journalistischen Fakultät eingesetzten, ehrenamtlich tätigen Direktor von deutscher Seite.

Die Integration des FRDIP in die journalistische Fakultät findet ihren Ausdruck in der Qualifizierung des Instituts als Internationalem Zentrum. Prof. Dr. Jens Wendland, Direktor des Freien RussischDeutschen Instituts für Publizistik von deutscher Seite

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114

Scheinriesen in der Presse Der Ulenspiegel

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Zeitzeuge

er mit BILD im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten, sagt AxelSpringer-Vorstandschef Mathias Döpfner über das umstrittene Boulevard-Blatt aus seinem Hause. Nun zeichnen sich die BILD-Macher bisweilen durch eine Ehrlichkeit aus, die anderen Medien abgeht. Denn es ist nicht nur die Bildzeitung, die Realitäten konstruiert und dann wieder einreißt. Das Auf und Ab des Lifts ist Bestandteil der modernen Mediengesellschaft und kann Popstars genauso treffen wie Politiker. Aufgabe der Medien ist es, uns Dinge zu zeigen und zu deuten, zu denen wir keinen Zugang haben. Wir können nicht anders, als uns darauf verlassen, dass diese Bilder nicht allzu verzerrt sind. Am größten ist die Abhängigkeit, wenn es um das Ausland geht. Wir kennen häufig weder die Mentalität des Volkes, noch die Sprache. Wir müssen also den Vermittlern glauben, uns darauf verlassen, dass sie nicht manipulieren wollen und sich auch nicht manipulieren lassen. Doch zahlreich sind die Versuchungen bei der Auslandsberichterstattung. Wer alte Klischees bedient, erntet beifälliges Nicken: „Hab ich schon immer gewusst!“ Wer überzeichnet, erzeugt Spannung. Wer differenziert, verwirrt und langweilt nur. Wladimir Putin als Dämon der Macht, ein Ivan der Schreckliche. Moskau, Kreml, KGB – läuft dem deutschen Leser nicht schon beim Klang dieser Worte ein Schauder über den Rücken? Ist dieser Popanz aber erst einmal aufgeblasen, kann man die Luft nach Belieben auch wieder herauslassen. Der allmächtige Putin schwächelt. Wie immer zeigt die englischsprachige Presse uns den Weg und macht Putin ganz klein: „Russla nds u nglaubl icher Schrumpfpremier“ titelte die Europa-Ausgabe des Time Magazins vom 5. März. Im Jahr 2007 wählte Time ihn noch zum Mann des Jahres. Schwächer denn je sei er nun, und das sei gefährlich für alle. Es ist kleinlich, dass Putins Pressesprecher Dmitri Peskow diesen Titel als „russophob“ kritisiert. Positiv denken! Soll er sich doch freuen, dass sich T i me ei nen starken P uti n wünscht. Und als Medienprofi sollte er wissen, dass die LiftRegel auch russische Politiker betreffen kann. Der Autor ist Experte für russisch-deutsche Spiegelungen.

Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Ilja Owtscharenko; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Theater Das Projekt „Bürger Poet“ hat das Genre der Satire über die Mächtigen wiederbelebt

Mutbürgerliche Poeten Das Fernsehformat „Bürger Poet“ hat Hunderttausende Anhänger – weil es das Regime desakralisiert. Doch nach der Präsidentschaftswahl ist erst einmal Schluss.

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LESENSWERT

Das weite Land hinter Putin

MORITZ GATHMANN

Russland war ein anderes Land, als vor einem Jahr die erste Folge von „Bürger Poet“ auf dem unabhängigen, vor allem im Internet zu empfangenden Fernsehkanal Doschd (Regen) ausgestrahlt wurde. Da stand der Schauspieler Michail Jefremow: mit verschränkten Armen, gekleidet im Stil des 19. Jahrhunderts, auf der Nase einen Zwicker, im Hintergrund ein zerknittertes Plakat des Dichters Nikolaj Nekrassow, den er dieses Mal imitierte. In witzigen Reimen stimmt er ein Loblied auf Natalja Wassiljewa an, Pressesprecherin jenes Moskauer Gerichts, das Michail Chodorkowskij gerade zum zweiten Mal verurteilt hatte. Die Frau hatte in einem Interview erklärt, dass auf den Richter Druck ausgeübt worden war: „Wir Männer haben Ehre und Gewissen versoffen / das russische Weib Natascha Wassiljewa hat alles erzählt, sie lässt uns hoffen.“ Es war die Geburtsstunde von „Graschdanin Poet“ (Bürger Poet), das Video wurde innerhalb weniger Stunden zum begehrtesten Link des russischen Internets. Was wohl auch an seinen drei Machern liegt: Der 44-jährige Dmitrij Bykow, Schriftsteller und bissig-humorvollster Kolumnist der Moskauer Publizistik, schreibt die Verse. Vorgetragen werden sie von Schauspieler Michail Jefremow, 48, in Moskauer Kreisen als eingefleischter Oppositioneller bekannt – und als einer, der sich für

KOMMERSANT (2)

FÜR RUSSLAND HEUTE

Die heilige Kuh geschlachtet – Poet Bykow, Produzent Wassiljew, Schauspieler Jefremow

keinen Skandal zu schade ist. Produzent ist der 54-jährige Andrej Wassiljew, langjähriger Chefredakteur der unabhängigen Tageszeitung Kommersant.

Was darf Satire?

Die drei ernteten fast ausschließlich Beifall: Bissige Satire über das Putin-Regime hatten die Russen schmerzlich vermisst. Für den bekannten Journalisten Jurij Saprykin war „Bürger Poet“ der letzte Zufluchtsort der Opposition: Entmachtet von den herrschenden Eliten konnte sie nun immerhin über sie lachen. Andere sahen in der Sendung eine Fortsetzung der Serie „Puppen“. Im Stil von „Hurra Deutschland“ hatte diese seit 1994 Politiker und Oligarchen verlacht. 2002, unter P räsident P utin, w u rde sie abgesetzt. Dem bewährten Konzept bleiben Bykow, Jefremow und Wassiljew nun seit 48 Folgen treu: Jefremow imitiert einen Dichter – von

Sein oder Schein Durch ihre satirischen Eskapaden witzelten sich die Bürgerpoeten in den YouTube-Klickparaden nach oben. Später tourten sie durchs Land – auch wenn ihre Gagen mit bis zu 35 000 Euro pro Auftritt nicht gerade bescheiden kalkuliert waren. Groß war die Entrüstung, als die drei Kreativköpfe auf der Firmenfeier des Oligarchen Wiktor Wechselberg auftraten – eines Mannes, der wie kein anderer dem von ihnen verspotteten Regime nahesteht.

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FOTOGRAFIE „GENERATION PUTIN“ VON ANNA SKLADMANN AB 4. MÄRZ, BERLIN, GALERIE GANG OF BERLIN, TORSTRASSE 119

Tschukowskij bis Edgar Allan Poe und Bykow verarbeitet in überspr udelnder Wor tak robatik aktuelle Ereignisse, ob das Gurkenimportverbot aus der EU oder die Weigerung Putins, an Fernsehdebatten mit Präsidentschaftskandidaten teilzunehmen. Nicht treu blieb dem Format allerdings der Sender Doschd. Schon nach der sechsten Folge – einer Polemik Putins gegen Medwedjew – gingen die Ansichten von Künstlern und Sendeverant-

diesen von Passivität und Zynismus geprägten Geisteszustand zu brechen, zögen sie durchs Land. Erfahren die Menschen von Jefremow und Bykow aber wirklich etwas Neues? Natürlich nicht: Die Autoren umspielen nur Fakten, die jenen, die es wissen wollen, hinlänglich bekannt sind, ob die unrechtmäßige Verurteilung von Michail Chodorkowskij, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Putin und Medwedjew oder die mögliche Ausweitung des arabischen Frühlings auf Russland.

Die Menschen tragen nun in Form von Plakaten jene Botschaft hinaus auf die Straße: Niemand ist unantastbar.

Das Ende der Ikone Putin

wortlichen darüber auseinander, was Satire darf. Der Streit machte die Sendung nur noch populärer: Der Radiosender Echo Moskwy und das Onlineportal F5 übernahmen das Projekt, und jede neue Folge wurde wöchentlich von Hunderttausenden gesehen. Nach einigen Auftritten in Moskau ging das Gespann letzten Herbst auf Tournee durch die Provinz und musste herbe Kritik einstecken, als bekannt wurde, dass es von Oligarch und Präsidentenherausforderer Michail Prochorow gesponsert wird. Bykow reagierte offensiv in einem Zeitungsbeitrag: „Wer hat das in Auftrag gegeben? Wer bezahlt euch? Handelt ihr vielleicht im Auftrag des Kreml?“, bekomme er überall zu hören. Für ihn seien das Symptome einer kranken Gesellschaft, die Putins Regime hervorgebracht habe. „‚Wer hat euch das erlaubt?‘, fragt man uns. Wir antworten: ‚Niemand, wir haben nicht gefragt!‘“ Und genau, um

Vielmehr spricht „Bürger Poet“ jenen Menschen aus der Seele, die derzeit auf die Straße gehen. Zwölf lange Jahre haben die Staatsmedien ihnen Wladimir Putin geradezu als Ikone vorgeführt. Bykows Gedichte wirken da wie Gegengift. Folge für Folge arbeiten sie von Neuem an einer Desakralisierung des Regimes – holen Putin vom Thron, aber auch Medwedjew, Geheimdienstler, Staatsanwälte und Richter. Ja, man dürfe, man müsse über die beiden höchsten Amtsträger des Landes lachen, spricht der Bürger-Poet. In diesem Sinne haben Bykow, Jefremow und Wassiljew den Weg bereitet für die Proteste der letzten Monate. Aus dem Internet, dem Radio, aus den Theatern des Landes tragen die Menschen nun in Form von Plakaten jene Botschaft hinaus auf die Straße: Niemand ist unantastbar, auch nicht Wladimir Putin. Und es ist nur folgerichtig, dass Bykow zu den Demonstrationen kommt und der Poet mit dem Bürger am 5. März, einen Tag nach den Präsidentschaftswahlen, zum letzten Mal in Moskau auftritt. „Danach wird es eine andere Realität geben, und dafür brauchen wir ein neues Projekt“, hat Bykow gesagt.

THEATER DER MEISTER UND MARGARITA

FILM GLÜCKSRITTERINNEN

9. UND 16. MÄRZ, LANDESTHEATER TÜBINGEN

14. MÄRZ, MÜNCHEN, KINO NEUES MONOPOL, IN ANWESENHEIT DER REGISSEURIN

Skladmann porträtiert in ihrem Projekt Russen, die 1991, im Jahr des Zerfalls der Sowjetunion, geboren wurden. In den dazugehörigen Interviews erzählen die 20-Jährigen ohne Umschweife, was sie von ihrem Land halten.

Glauben und Wissenschaft, Gott und Teufel, Gut und Böse, Liebe und Tod sind die großen Themen dieses satirischen, witzigen, politisch subversiven Bilderbogens. Der Roman von Michail Bulgakow (1891-1940) besitzt in Russland Kultstatus.

Katja Fedulova porträtiert in ihrem Dokumentarfilm fünf Russinnen, die in den 90ern nach Deutschland kamen. Sehr unterschiedliche Lebensläufe und ein tiefer Einblick in die russische Seele.

› gangofberlin.com

› landestheater-tuebingen.de

› gluecksritterinnen.de

Da konnte es einer nicht mehr hören: „Was die Zeitungen schrieben, auch was ich selbst schrieb, ähnelte zu oft meinen Deklinationstabellen: Putin, Putina, Putinu, Putina, Putinym, Putine.“ Jens Mühling, Journalist beim Berliner Tagesspiegel, erbat sich ein Jahr Urlaub und machte sich auf den Weg nach Russland. Natürlich war es nicht sein erster Ausflug nach Osten: Mühling hat nach der Jahrtausendwende zwei Jahre bei der Moskauer Deutschen Zeitung gearbeitet. Das Ergebnis seiner langen Reisen ist keine der typischen Abrechnungen, die Journalisten am Ende ihrer Korrespondentenzeit in Russland verfassen (zuletzt besonders radikal Luke Harding „Mafia State“), sondern eine brillante Beschreibung des Gemütszustandes eines Landes. Nicht nur stilistisch wandelt hier einer in den Fußstapfen von Patrick Leigh Fermor: Mühling fährt scheinbar planlos von Ort zu Ort, mit Bussen, Elektritschkas und billigen Zugfahrkarten. Den Menschen auf seinem Weg begegnet er mit Respekt, egal wie verrückt sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Mühling hat Altgläubige in Sibirien getroffen, überzeugte Kommunisten in Kiew, einen Petersburger, der glaubt, der letzte Nachfahre der Romanows zu sein, und einen Wissenschaftler, der Rasputins Penis in Formalin aufbewahrt. All diese Menschen verbindet ein fester, manchmal tragischer Glaube, und jeder glaubt an etwas anderes. Das Ende der Sowjetunion hat diese Orientierungslosigkeit hinterlassen. An Putin glaubt in Mühlings Buch übrigens keiner. Jens Mühling: Mein russisches Abenteuer Verlag Dumont, 300 Seiten, Hardcover Erscheinungsdatum: 14. März Moritz Gathmann

empfiehlt


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Porträt

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Fotografie Jurij Kosyrjew ist mit Reportagen aus Kriegsgebieten zu einem der renommiertesten Fotografen geworden

Die Menschen hinter den News Jurij Kosyrjew hat einen gefährlichen Job. Er zieht mit libyschen Rebellen durch die Wüste, fotografiert Taliban und Dissidenten. Und bleibt dabei fast unsichtbar. ANNA NEMZOWA, MORITZ GATHMANN FÜR RUSSLAND HEUTE

Wenn Bilder um die Welt gehen JURIJ KOSYRJEW_NOOR

Pakistan, Februar 2006: Die siebenjährige Insha Afsar in einem Lager für Opfer des Erdbebens vom 8. Oktober 2005 in Muzaffarabad, Kashmir. Das Mädchen hatte beim Zusammensturz ihres Familienhauses ein Bein verloren. Dieses Foto von Jurij Kosyrjew ging 2006 um die Welt. Daraufhin luden wohlhabende Amerikaner Insha zur Behandlung in die USA ein. In Kürze bekommt sie eine neue Prothese.

BIOGRAFIE GEBURTSORT: MOSKAU ALTER: 48 BERUF: KRIEGSFOTOGRAF

Die Kriegsfotografie

Jurij Kosyrjew studierte Journalismus an der Moskauer Universität und begann 1990 seine Arbeit als Fotoreporter, zunächst in den Krisengebieten der ehemaligen Sowjetunion, dann in Afghanistan und im Irak. 2011 wurde er für seine Fotoreportagen über den arabischen Frühling mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet, im Februar wählte ihn „Pictures of the Year International“ zum Fotografen des Jahres 2011. Der Bürgerkrieg in Libyen und im Jemen und die Revolution in Ägypten sind an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. „Es gab wenig glückliche Minuten. Ich bin erwachsener geworden“, sagt Kosyrjew.

In den 90er-Jahren traf Kosyrjew jenen Fotografen, der seinem Schaffen die maßgebliche Richtung geben sollte: Jewgenij Chaldej, berühmt geworden für sein Bild eines russischen Soldaten, der am 2. Mai 1945 auf dem Berliner Reichstag die sowjetische Flagge hisst. Fünf Jahre lang assistierte ihm Kosyrjew, half beim Entwickeln seiner Filme, trug seine Taschen. „Chaldej vermittelte mir das meiste Wissen über unseren Beruf“, sagt er, „keine Universität kann einem beibringen, wie wichtig es ist, immer wieder an dieselben Orte zurückzukehren, um den Gang der Geschichte zu dokumentieren.“ Chaldej schenkte ihm auch seine erste Kamera: eine Leica, mit der er noch im Zweiten Weltkrieg fotografiert hatte. 2001 dokumentierte Kosyrjew den Fall der Taliban in Afghanistan,

Er blickt mit großen, wachen Augen in die Welt, und es entstehen taktvolle, einfühlsame Geschichten.

lebte dann fast acht Jahre als Fotograf der Zeitschrift TIME in Bagdad. Dann kehrte er nach Moskau zurück, es war aber nur ein erzwungener Wartezustand. Reportagen aus Friedensgebieten sind seine Sache nicht – der Krieg ist eine Droge, von der er bis heute nicht loskommt. „Ich muss mich im Zentrum der Geschehnisse befinden – und mit der Zeit verstehe ich, was vor sich geht“, sagt er. Kosyrjew hat einige Kollegen verloren − wie seine Freunde Chris Hondros und Tim Hetherington, die im April 2011 getötet wurden, als sie im libyschen Misrata fotografierten. Man könnte sich fragen, warum der 48-Jährige weiterhin sein Leben aufs Spiel setzt. Aber wer sieht, wie erstaun-

lich komponiert seine Bilder wirken trotz der Extrembedingungen, unter denen sie aufgenommen wurden, versteht auch, dass Kosyrjew dort hingehört. Er blickt mit großen, wachen Augen in die Welt, und es entstehen taktvolle, einfühlsame Geschichten. Im Dezember 2010 spülte es ihn in den vor dem Kollaps stehenden Jemen. Arabisch versteht er nicht, den Jemen versteht er nicht, und man merkt den Fotos an, dass da einer ohne Orientierung durch die Straßen zieht, mit dem Gefühl, dass er jederzeit scheitern und sterben könnte. Aus seinen Bildern spricht der nahende Bürgerkrieg: Gruppen düsterer Männer, die in der Abenddämmerung Khatblätter kauen, verschleierte

AP

ITAR-TASS

Wer verstehen will, wie Jurij Kosyrjews Bilder entstehen, muss mit ihm gearbeitet haben. Der schmale, kleine Kosyrjew ist ein Schattenmann. Mit seiner Kamera schließt er sich unbemerkt den Menschen an, die er fotografiert, huscht ihnen hinterher, bis sie vergessen, dass da überhaupt einer mit Kamera ist. Und dann entstehen Bilder, die ganz nah am Geschehen dran sind. Vielleicht ist sein Schattendasein die Erklärung dafür, dass der 1963 in Moskau geborene Fotograf noch am Leben ist, hat er doch die letzten 20 Jahre fast ausschließlich in Krisen- und Kriegsgebieten verbracht: In Tschetschenien, Südossetien, Afghanistan, im Irak, zuletzt im Jemen und in Libyen war er dabei, um mit seiner Kamera die Schicksale hinter den News zu erzählen. Kosyrjew ist mit seinen Fotografien zu einem der weltweit renommiertesten Kriegsreporter geworden. Dabei machte er nach einem Journalistikstudium seine ersten fotografischen Gehversuche unter Walerij Arutjunow, Mitglied eines sowjetischen Dissidentenzirkels. Bald begann Kosyrjew, das Leben der Dissidenten in ihren kleinen Wohnungen oder besetzten Häusern zu dokumentieren. Doch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zerbrachen auch diese Kreise, und der junge Fotograf reiste nach Armenien, Moldawien, Tadschikistan und Georgien, um die Kriege zu dokumentieren, die der Zerfall des Staatsgebildes nach sich zog.

Rebellen in Libyen: 1. Preis beim World Press Photo 2011 für Kosyrjew

Frauen beim Schwimmen oder ein trauriger Mann mit einem riesigen Fisch über der Schulter. Im letzten Frühjahr zog Kosyrjew zwei Monate lang mit den Aufständischen durch Libyen, bis sie schließlich Muammar Gaddafi stürzten. Für eines seiner Bilder aus Libyen hat er gerade seinen siebten World Press Photo Award erhalten. Kosyrjew gehört der Bildagentur NOOR an, die elf Fotografen aus acht Ländern vereint und sich der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit verschrieben hat. Deswegen ist es ihm auch wichtig, von den Kindern zu erzählen, die es dank seiner Bilder zu retten gelang. Stanley Greene, einer der Gründer von NOOR, sagte einmal: „Jurij hat bei der Bildberichterstattung aus Konfliktzonen die Messlatte immer höher gelegt. Er hat uns immer wieder dazu gebracht, noch einmal zu überdenken, wie wir unsere Geschichten machen. Er ist zwar politischer Kriegsfotograf, aber zugleich stecken seine Bilder wie bei keinem anderen voller Poesie … Er hat das Zeug, einer der größten Kriegsberichterstatter der Welt zu werden.“ „Auszeichnungen und Galerien bedeuten mir nichts“, sagt Jurij Kosyrjew von sich selbst. „Es geht darum: Als Fotograf hast du die Gelegenheit, den Menschen eine Stimme zu verleihen. Du nimmst ein Foto auf, du nennst die Person, du dokumentierst die geschichtlichen Ereignisse deiner Zeit.“

SHUTTERSTOCK

Thema des Monats – Frauen in Russland Ihre gesellschaftliche Stellung nach der Sowjetemanzipation

4. April 2012


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