Russland HEUTE

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www.russland-heute.de

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Mehr Handel

Mehr Orgeln

Irving Berlin aus Tjumen ließ Amerika träumen

Nach 18 Jahren und zähen Verhandlungen tritt Russland der WTO bei. Hat sich der Aufwand gelohnt?

Ein Usbeke baut Möbel – und Orgeln für Kaliningrad

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Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich.

Keine Panik vor dem Winter „Russland versinkt im Schneechaos“ – warum liest man diese Schlagzeile so selten? Weil Russen sich darauf einstellen, dass es sehr viel schneien und äußerst kalt werden kann. Klar, in Moskau bricht der Verkehr jedes Jahr routinemäßig beim ersten Schneefall zusammen, was aber daran liegt, dass die Stadt ohnehin täglich am Rande des Verkehrskollaps taumelt. Wie sich der sibirische Amurtiger gegen Temperaturen von bis zu minus 45 Grad zu schützen weiß, warum das Zauberwort russischer Autofahrer im Winter „Webasta“ heißt und woher die als RussenMütze bekannte „Uschanka“ stammt, erfahren Sie in unserem Winterspezial. Wer gut vorbereitet ist, kann einen kalten und schneereichen Winter auch genießen: Man muss ja nicht gleich den „Walrössern“ nacheifern, jenen Russen, die ihre Körper durch Baden in Eislöchern stählen. Aber wer sich nie nach einer ausgiebigen Banja-Prozedur im Schnee gewälzt hat, der hat Russland nicht verstanden.

Die Demokratie verdienen CHEFREDAKTEUR

E

Streit ums Gas beendet Europa hat den Januar 2009 nicht vergessen: Weil sich Gazprom und die Ukraine nicht auf einen Gaspreis einigen konnten, drehte Moskau dem Nachbarland kurzerhand den Hahn ab. Und weil die Ukraine das wichtigste Transitland auf dem Weg nach Europa ist, wurde bald in Bulgarien und in der Slowakei das Gas knapp.

Was erwartet Europa in diesem Winter? Die Eröffnung der Pipeline Nord Stream stärkt die Position Moskaus gegenüber den Transitländern. Gleichzeitig wandelt sich der Gasmarkt: An die Stelle langfristiger Verträge tritt der Handel auf dem Spotmarkt. SEITE 3

Weg frei fürs Glonass-Navi ITAR-TASS

Wundern Sie sich nicht, wenn Sie auf Ihrem Navi demnächst das Wörtchen „Glonass“ entdecken. Fast drei Jahrzehnte nach dem Projektstart verkündete Russland Ende Oktober, dass nun auch Glonass, das eigene Navigationssystem mit 24 Satelliten, voll funk-

LORI/LEGION MEDIA

Schönes Weiß und verschneite Zwiebeltürmchen – die Sonnenseite des russischen Wintermärchens

POLITIK

Einiges Russland hat bei den Parlamentswahlen weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten, 15 weniger als 2007. Viele Russen wundern sich: Die gelenkte Demokratie lässt Raum für Überraschungen. Doch auch mit der einfachen Mehrheit wird die Partei das Parlament dominieren. Warum die „Duma“ trotzdem die letzte Hoffnung für die russische Demokratie ist, erklärt Wiktor Chamrajew, seit 15 Jahren Parlamentskorrespondent. SEITE 2

POINTIERT

Alexej Knelz

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DUMA-WAHLEN 2011 KEINE ZWEIDRITTELMEHRHEIT FÜR EINIGES RUSSLAND

MAXICK.RU

CORBIS/FOTO SA

Mehr Weiß

ine russische Volksweisheit besagt, dass es nichts umsonst gibt – außer den Käse in der Mausefalle. Will man etwas erreichen, muss man etwas dafür tun. So wie bei den Duma-Wahlen am 4. Dezember. Die Regierungspartei Einiges Russland ist ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament los. Und auch wenn die Wahlbeteiligung mit rund 60 Prozent fast auf dem Niveau der letzten Duma-Wahlen lag: Die Bürger haben etwas getan. Jene, denen 2007 die Parlamentswahlen noch egal waren, gingen 2011 wählen und haben für oppositionelle Parteien gestimmt. Vielleicht weil sie begriffen haben, dass es nichts umsonst gibt, erst recht keine Demokratie? Wir sind gespannt, ob die Opposition ihre gestärkte Rolle im Parlament nutzen wird und wünschen Ihnen Frohe Weihnachten und einen guten Start ins neue Jahr.

INHALT Skolkowo Das russische Silicon Valley WIRTSCHAFT

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Moskau So lässt es sich hier aushalten REISEN

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Abenteuer Inkognito durch die UdSSR PRIVATARCHIV

tionsfähig sei. Das iPhone 4 ortet schon jetzt Glonass-Satelliten, Samsung und Nokia ziehen bald nach. In naher Zukunft soll das System auch ermöglichen, in Not geratene Autofahrer zu orten. SEITE 4

FEUILLETON

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Politik

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Parlament Der Wandel der russischen Staatsduma aus der Sicht eines langjährigen Parlamentskorrespondenten itar-tass

Parlamentarische Windmühlen Seit ihrer Gründung 1993 ringt die Duma, das russische Parlament, um ihr Selbstverständnis. Was haben die 450 Abgeordneten bewegt, was können sie bewegen? Wiktor Chamrajew für russland heute

In den knapp zwanzig Jahren seit ihrer Neugründung hat die russische Staatsduma es nicht verstanden, sich zu einem richtigen Legislativorgan oder doch zumindest einer Institution zu mausern, die für die Interessen des einfachen Bürgers eintritt. Das hat auch seine historischen Gründe: Ihre ersten Gehversuche machte die Duma 1906/07. Damals war sie nur dem Namen nach ein Parlament, die Gesetze erließ weiterhin der Zar. Nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde die Duma vom Kongress der Volksdeputierten abgelöst, der unter dem Diktat der Kommunistischen Partei stand. Bis zur Perestrojka 1985 gab es weder Parteienpluralismus noch parlamentarische Demokratie. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 schossen dann Parteien aller Couleur wie Pilze aus dem Boden. Zehn Jahre rangen Militärs, Oligarchen, Neoliberale und Altkommunisten in der Duma um Macht und Einfluss, während das Land unter Boris Jelzin international an Gewicht und Ansehen verlor und die Bevölkerung verarmte. Dann betrat Wladimir Putin die politische Bühne. Mit ihm wurde alles anders, und doch erinnert

seine Regierungszeit an die politische Landschaft der Vor-JelzinÄra: Wie Frankreich und Amerika hat Russland ein präsidial-parlamentarisches Regierungssystem, Parlament und Präsident werden in getrennten Wahlgängen gewählt. Die Regierung bildet der Präsident, der auch den Ministerpräsidenten vorschlägt. Zwar braucht er für Letzteres die Zustimmung der Duma, doch wird er immer das letzte Wort behalten. Lehnt das Parlament nämlich dreimal einen Kandidaten ab, hat er das Recht, es aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen. Auch neue Gesetze werden in der Präsidialverwaltung ausgearbeitet und dann durch die Regierung beschlossen. Zuvor werden sie der Duma vorgelegt, die ihnen zustimmen oder sie ablehnen kann. Mit der absoluten Mehrheit der PutinPartei Einiges Russland im Parlament ist dieses demokratische Regulativ nicht mehr gegeben. Was zur Folge hat: Heute gehört die Duma zu jenen staatlichen Institutionen, denen die Bevölkerung das geringste Vertrauen entgegenbringt.

Ohne Wirkung und doch einziger Garant für Demokratie

Was passierte, nachdem Jelzin seinen Zögling Putin an die Staatsspitze gehievt hatte? Es kam zu einer Einigung der politischen Elite, die Ende der 90er-Jahre noch tief gespalten war. Das lag am zunehmenden Einfluss der führenden Militär- und Geheimdienstkreise, der Silowiki. Ent-

scheidender waren jedoch die wachsenden Staatseinnahmen durch Öl- und Gasexporte, von denen alle profitierten: die gesamte Bevölkerung, allen voran Politik und Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund hatte Wladimir Putin ein leichtes Spiel. Hinzu kam, dass er sich auf vorteilhafte Weise von seinem Vorgänger Boris Jelzin abhob. Er war jung und dynamisch und erlangte durch seine Volksnähe große Popularität.

Anfang der 90er, als die KPdSU ihr Monopol aufgeben musste, zeigte die Bevölkerung noch Interesse an Parteien. Die Konsolidierung der Eliten gipfelte in der Gründung der ProPutin-Partei Einiges Russland, in der auch die russische Bürokratie eine Heimstatt fand. 2003 und 2007 errang sie sensationelle Wahlerfolge und verfügte zuletzt mit 315 von 450 Sitzen über die verfassungsgebende Mehrheit in der Duma. In den 90er-Jahren sah da die politische Landschaft noch anders aus. Präsident, Regierung und Parlament mussten um jedes Gesetz miteinander feilschen. So gesehen war damals die Duma ein funktionierendes demokratisches Organ. Andererseits war die Bevölkerung über die zum Teil chaotischen Verhältnisse in Regierung und Parlament tief verunsichert.

kommentar

Der russische Wähler will ernst genommen werden Moritz Gathmann

journalist

Einiges Russland hat bei den Parlamentswahlen herbe Verluste hinnehmen müssen: Etwas weniger als 50 Prozent – anstatt der 64,3 von 2007 – erhält jene Partei, die in den letzten Jahren das Funktionieren der Machtvertikale von Wladimir Putin gewährleistete. „Das ist das Resultat echter Demokratie“, hat Präsident Dmitri Medwedjew am Wahlabend gesagt.

Nein, ist es nicht. Jene knapp 50 Prozent der Stimmen kamen zustande trotz der gemeldeten Wahlfälschungen und trotz einer Wahlkampagne, in der die staatseigenen und -nahen Medien von früh bis spät die Verdienste Putins und Medwedjews – und auf regionaler Ebene des Gouverneurs und der Partei Einiges Russland – lobten. Und trotz Drohungen seitens der regionalen Politiker an die Wähler: Würde Einiges Russland geschwächt, bliebe auch das liebe Geld aus Moskau aus.

Viele Menschen sind wählen gegangen, die in den letzten Jahren abgewunken hatten, weil „ohnehin schon alles entschieden“ sei. Eine große Rolle hat auch die Verbreitung des Internets gespielt: Heute gibt es 50 Millionen Nutzer im Land, doppelt so viele wie 2007. Das bedeutet, dass staatlich gesteuerte Medien an Bedeutung verlieren. Die Menschen machen sich ihr eigenes Bild.

Der Autor arbeitet seit 2008 als freier Journalist in Russland.

Anfang der 1990er herrschte noch Aufbruchstimmung. Als die KPdSU ihre Monopolstellung aufgeben musste, zeigte die Bevölkerung großes Interesse an Zukunftsvisionen und den Programmen der einzelnen Parteien. Doch am Ende des Jahrzehnts musste sie begreifen, dass Parlamentsdebatten weder mehr Lohn und Rente noch eine Verbesserung der medizinischen Versorgung gebracht hatten. Ganz im Gegenteil. Über alles, was den Einzelnen betraf, entschieden die direkt gewählten Repräsentanten – Präsident, Gouverneur, Bürgermeister. Der Bürger wandte sich deswegen ohne Wehmut von Parteiendemokratie und Parlamentarismus ab und kehrte zurück zu seinem traditionell paternalistischen Verhältnis zur Obrigkeit. Heute verfügt die Duma zwar über alle Attribute eines Parlaments. Doch gleichen diese einer bloßen Hülle ohne Inhalt. Die Parteifraktionen ähneln Debattierclubs mit einem begrenzten Besucherkreis. Die meisten Abgeordneten lehnen sich untätig zurück und langweilen sich. Andere wirtschaften in die eigene Tasche: Ehemalige Topmanager und Oligarchen begünstigen ihre eigenen Unternehmen, als Anwälte des Volkes taugen sie nicht. Topsportler und andere Prominenz sollen der ansonsten eher tristen Parteienlandschaft zu Glanz verhelfen. Natürlich gibt es auch einige hochqualifizierte und renommierte Fachleute. Sie können zwar nicht die Qualität der Gesetzesentwürfe beeinflussen,

die aus der Präsidialverwaltung stammen, ihnen bleibt aber die Möglichkeit einer Kritik, wobei sie immerhin ihr Gewissen beruhigen. Solcherart Debatten verleihen der Duma zumindest den Anschein eines demokratischen Organs, aber sie bleiben stets ein Kampf gegen Windmühlen. Trotz ihrer Wirkungslosigkeit, trotz verfestigter Strukturen ist die Duma dennoch der einzige Garant für die Demokratie in Russland. Denn bei allem Traditionalismus der russischen Gesellschaft gilt doch, dass die letzten 20 Jahre einiges im Selbstverständnis des Bürgers in Bewegung gesetzt haben. Heute nimmt er sein demokratisches Recht wahr und schreitet zur Wahl. Was vor 25 Jahren noch undenkbar erschien, wird man ihm nicht mehr nehmen können. Deshalb misst die Regierung – von der Opposition als autoritär bezeichnet – dem Wahlergebnis eine so bedeutsame Rolle zu. Wenn weitere Zeit ins Land geht und das Wirtschaftsmodell Russlands sich von den Rohstoffexporten losreißen kann, wird auch die politische Elite nicht mehr ganz so monolithisch agieren. Dieses würde zweifellos die Parteienlandschaft beleben und die Staatsduma vielleicht sogar in ein richtiges Parlament nach westlichem Vorbild verwandeln. Wiktor Chamrajew ist seit 1996 Parlamentskorrespondent, seit 2004 arbeitet er für die unabhängige Tageszeitung Kommersant.

Voraussichtliche Sitzeverteilung


Politik

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

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Energie Die Nord-Stream-Pipeline senkt das Risiko für einen neuerlichen Streit ums Gas

Keine neue Eiszeit für Europa Der Winter ist da, und vor allem osteuropäische Gasimportländer grübeln erneut darüber nach: Ist der Energiebedarf gesichert? Was bringt die Nord-Stream-Pipeline?

kommentar

Gas wird mobil – Russland auch?

natalia timakowa

exklusiv für russland heute

Der Traum vom Monopol

Seit Langem schon ist Gazprom das ukrainische Pipelinesystem, dessen Kontrolle es gerne selbst innehätte, ein Dorn im Auge, und mit Nord Stream hat seine Verhandlungsposition nun an Stringenz gewonnen. Auch in Kiew hat man begriffen, dass dem Monopolisten für gesicherte Exportrouten kein Mittel zu hoch ist. Im November deutete die Gazpromspitze erstmalig an, dass über den Bau einer dritten Röhre diskutiert werde. Diese würde den Transit über ukrainisches Territorium mit den damit verbundenen Kosten redundant machen.

Behrooz Abdolvand

energieexperte

dpa/vostock-photo

Bei der Einweihungsfeier der Nord-Stream-Pipeline am 8. November in Lubmin wirkten Kanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Dmitri Medwedjew enthusiastisch. Flammende Reden wurden gehalten, die Energiechefs beider Seiten gelobten eine rundum vorteilhafte Partnerschaft. Worüber sie hinwegredeten: 2009 gefährdete Russland sein Image als zuverlässiger Lieferant, indem es wegen eines Gasstreits mit der Ukraine Europa zum Frösteln brachte. Nach Eröffnung der ersten NordStream-Röhre war der Energieriese Gazprom seinem erklärten Ziel näher gerückt: nämlich einem Ausschluss sämtlicher Transitrisiken. Gemeint ist die Situation vom Januar 2009. Damals geriet der Transport von russischem Gas durch die Ukraine gänzlich außer Kontrolle. Der westliche Nachbar Russlands bediente sich aus der Röhre, konnte aber die Gaslieferungen nicht bezahlen, weshalb Gazprom demonstrativ das Ventil für seine Gasexporte nach Europa schloss und sich promt harsche Kritik aus der EU anhören musste: Die Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Österreich, Kroatien, Bosnien und Herzegowina hatten einen kalten Winter vor sich. Das Image von Gazprom war schwer angeschlagen. Vor diesem Hintergrund ist Nord Stream für Russland zwar ein kostspieliges, aber lukratives Geschäft. Es kann als sicher gelten, dass Gazprom bis Ende 2012 die Pipeline auf die geplante Kapazität von 55 Milliarden Kubikmetern hochfahren wird. Bis dahin ist auch der zweite Strang von Nord Stream fertiggestellt, und fast 33 Milliarden Kubikmeter Gas werden aus dem ukrainischen Gastransportsystem in die neue Leitung umgelenkt. Dies entspricht einem Drittel des Transitvolumens, über das der Eigentümer des ukrainischen DTS Ukrtransgas (einer Tochterfirma der nationalen Aktiengesellschaft Naftogas) verfügt. Die Transitzahlungen Gazproms an die Ukraine werden entsprechend sinken.

Ein Segen für alle oder energiewirtschaftliche Bürde? Bei der Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline

Das europäische Pipeline-System für Gas aus Russland

Am 8. November wurde im Beisein von Präsident Dmitri Medwedjew und Kanzlerin Angela Merkel die Ostsee-pipeline eröffnet. Erstmals wird damit russisches Erdgas ohne den Transit durch andere Staaten nach Deutschland exportiert. Die Inbetriebnahme der Pipeline stellt einen vorläufigen Höhepunkt der wachsenden Energiekooperation zwischen Deutschland und der Russischen Föderation dar, nachdem die BRD schon zu Sowjetzeiten trotz Widerstands der USA begann, russisches Erdgas zu importieren. Russland erwies sich selbst in Zeiten des Kalten Krieges und nach dem Zerfall der Sowjetunion als zuverlässiger Partner. Erst durch die Konflikte zwischen der Ukraine und Russland kam es zu Liefereinschränkungen. Mit dem Bau der Pipeline sind diese Transitprobleme aus der Welt geschafft. Allerdings muss Russland sich nun auch den veränderten Bedingungen auf dem globalen Gasmarkt anpassen. Der durch die Ölpreisbindung gestiegene Gaspreis führte weltweit zur verstärkten Förderung von unkonventionellem Gas und Flüssigerdgas (LNG). Dadurch und durch die Wirtschaftskrise entstand ein Überangebot auf dem Gasmarkt: Von einem Produzentenwandelte er sich zu einem Verbrauchermarkt. Wickelte man den Erdgashandel früher mit langfristigen Verträgen ab, wird heute verstärkt auf Spotmärkten gehandelt – mit deutlich niedrigeren Preisen. Dieser Trend wird sich halten, da weiter in die Gasförderung investiert wird und die EU zur Diversifizierung die Kapazitäten zum Import von LNG ausbaut. Norwegen hat sich den Bedingungen bereits angepasst und bietet sein Erdgas zunehmend auf dem Spotmarkt an. In den letzten Jahren konnte das Land seinen Marktanteil deutlich zu Lasten von Gazprom ausbauen. Gazprom darf diese veränderten Gegebenheiten im Gashandel nicht verschlafen, wenn es die Vorteile der Ostseepipeline wirklich nutzen will.

Der Autor ist Koordinator des Studiengangs „Caspian Region Environmental and Energy Studies“ an der FU Berlin. Fände zuvor eine Einigung des russischen Konzerns mit der ukrainischen Regierung über das Gasleitungssystem statt, wären die Lieferengpässe nach Europa ohnehin passé. „Die Wirtschaftslage Gazproms ist heute weitaus schlechter als vor dem Gaskonflikt 2009“, sagt Michail Kortschemkin vom Analysehaus East European Gas Analysis mit einem kritischen Blick auf den Konzern. „Noch 2008 wirtschaftete er auf Rekordniveau. Das Unternehmen ging mit den Milliarden locker um. Heute sind seine Erträge weit niedriger, die Investitionen hingegen brechen

alle Rekorde.“ Deshalb seien neuerliche Lieferengpässe so gut wie ausgeschlossen.

Diversifizierung des Marktes

Entscheidend ist auch, dass sich der europäische Gasmarkt in den letzten drei Jahren stark verändert hat. Nach dem Gasstreit im Januar 2009 wurde die EU-Verordnung 715/2009 zur Förderung des „grenzüberschreitenden Gashandels“ und zur Erhöhung der „Flexibilität auf dem Erdgasbinnenmarkt“ erlassen. In dem Dokument werden verschiedene Maßnahmen zur Gewährleistung

der Energieversorgung durch Gas vorgeschlagen: ein innereuropäisches Leitungsnetz, ausreichende grenzüberschreitende „Gasfernleitungskapazitäten“ und die Eingliederung von Flüssigerdgas (LNG) ins Transportsystem. Sollte es also durch Gazprom zu weiteren Engpässen kommen, wird Europa mit Lieferunterbrechungen weit besser fertig als noch 2009, dank alternativer Routen und Lieferanten. Hinzu kommt, dass Gazprom schon jetzt Anteile am europäischen Gasmarkt durch die vermehrten LNG-Lieferungen anderer Länder verloren hat.

Folglich ist Europa in diesem und auch in den nächsten Wintern auf einen zeitweiligen Stillstand der Gaslieferungen besser aufgestellt als noch vor drei Jahren, käme es erneut zu Konflikten zwischen Gazprom und der ukrainischen DTS Ukrtransgas. Der Triumph der Vertragspartner bei der Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline kann also nicht durch Nachrichten über die frierenden östlichen Regionen der EU getrübt werden. Natalia Timakowa schreibt für das unabhängige Magazin RusEnergy.


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Wirtschaft

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Eisenbahn 57 Milliarden Euro will Russland bis 2015 in den Schienenverkehr stecken. Deutsche Technik ist gefragt

Von Schwalben und Wanderfalken Die Russische Bahn baut ihr Streckennetz weiter aus und modernisiert Lokomotiven und Waggons. Neben Siemens kommen auch deutsche Mittelständler zum Zug.

ZAHLEN

85 000

Kilometer lang ist das Schienennetz der Russischen Eisenbahn. In Deutschland kann man nur 33 639 Kilometer mit der Bahn fahren.

SUSANNE SPAHN

FÜR RUSSLAND HEUTE

Milliarden für die Transsib

Davon werden vor allem die Baikal-Amur-Magistrale (BAM) und die Transsibirische Eisenbahn profitieren. Auch die Transportinfrastruktur in den Hafenstädten des Fernen Ostens soll ausgebaut werden. Priorität genießt auch die Erneuerung des Maschinenparks. Hier kommen deutsche Firmen ins

9 800 000 000 Euro will Bahnchef Wladimir Jakunin 2012 in Forschung und Entwicklung des Schienennetzes stecken.

LORI/LEGION MEDIA

Würde man immer geradeaus fahren, käme man zweimal um die Welt und könnte dann noch von Moskau an den Baikalsee rattern. Eine Strecke von 85 000 Kilometern bedient die Russische Eisenbahn Rossijskije Schelesnyje Dorogi (RSchD). Doch obwohl sie mit ihren regionalen Gesellschaften ein gigantisches Netz betreibt, herrscht gerade in entlegenen Gebieten großer Nachholbedarf. Nun kündigte ein RSchD-Sprecher ein milliardenschweres Investitionsprogramm an, 2,4 Billionen Rubel (etwa 57,1 Milliarden Euro) sollen es bis 2015 sein. Für nächstes Jahr seien bereits Projekte im Wert von fast 10 Milliarden Euro geplant.

Siemens liefert neben modifizierten ICEs inzwischen auch seine Nahverkehrszüge Desiro nach Russland. Spiel: Mit großem Erfolg wird der Schnellzug Sapsan eingesetzt, zu Deutsch „Wanderfalke“. Die an russische Verhältnisse angepassten ICEs pendeln seit 2009 zwischen Moskau und Sankt Petersburg, seit 2010 steuern sie auch Nischnij Nowgorod an. 2006 lieferte Siemens acht Sapsans für 276 Millionen Euro, nun sollen

acht weitere folgen. Auch bei den neuen Regionalzügen sind die Münchner beteiligt. Im Juni unterzeichnete RSchD mit Siemens und der russischen Sinara-Gruppe einen Vertrag über 1200 Waggons des Elektrozuges Desiro, der de n Na me n „L a s t ot sc h k a“ (Schwalbe) tragen wird. Auftragsvolumen: zwei Milliarden Euro. Die Modernisierung der Russischen Eisenbahn bietet auch deutschen Mittelständlern Chancen. Die Berliner Firma Prokonzept lieferte die Technologie für das Wartungswerk des Sapsan in Sankt Petersburg, ein Auftrag über mehr als 20 Millionen Euro,

so Torsten Frühauf, geschäftsführender Direktor. Auch die Moskauer und Sankt Petersburger Metro benötigten Reparaturanlagen, er sei mit den Bahn- und Verkehrsgesellschaften im Gespräch, berichtet Frühauf.

Desiros aus dem Ural

Allerdings will die russische Regierung die Produktion der Züge in Zukunft im Land behalten. Als Beispiel für eine erfolgreiche „Lokalisierung“ nannte Wladimir Putin den Desiro Rus: Laut Vertrag stelle man ein Drittel der Bauteile in Russland her, produziert werde dann fast vollständig

in der Region Swerdlowsk, und zwar im Joint Venture Uralskiye Lokomotivy. Allein Siemens wird zur Erweiterung der Produktionskapazitäten 200 Millionen Euro beisteuern. Schon heute baut der Konzern hier die neue elektronische Güterlokomotive 2ES10. 221 dieser Lokomotiven sollen für insgesamt 1,1 Milliarden Euro montiert werden. Die „Schwalben“ d a ge ge n we r de n vorl äu f i g im K refelder Siemens-Werk produziert.

Lokalisierung gegen Zölle

Bei der Lokalisierung muss auch Prokonzept mitziehen, wenn es den Staatsauftrag für die Wartungstechnik erhalten will. „Mindestens 50 Prozent müssen aus Russland kommen“, so Frühauf. Vor einer vollständigen Verlagerung der Produktion schreckt er indes zurück: „Das Qualitätsmanagement entspricht nicht unserem Standard.“ Deshalb will er „erst mal lose Verbindungen“ zu russischen Unternehmen aufnehmen und „sehen, wie die reale Zusammenarbeit läuft.“ Beim Russlandgeschäft locke „die extrem zahlungsfähige Nachfrage“. Russen seien fixiert auf allermodernste technologische Lösungen. „Sie wollen nicht den Durchschnitt“, so seine Erfahrung. Frühauf baut auch darauf, mit Hilfe der Lokalisierung die Einfuhrzölle umgehen zu können. „Die Abgaben machten die Systeme bisher um 20 bis 30 Prozent teurer.“ In der nächsten Ausgabe Die deutschen Wurzeln der Russischen Eisenbahn

Navigation Nach fast drei Jahrzehnten Entwicklung ist der russische Konkurrent von GPS einsatzbereit

Seit Kurzem ist Glonass online. Mit seinem integrierten Unfallmeldesystem hat das Satellitennavigationssystem insbesondere dem europäischen Galileo einiges voraus. WLAD KUSMITSCHOW FÜR RUSSLAND HEUTE

„Das Satellitennavigationssystem Glonass ist ab jetzt einsatzbereit“, verkündete Wladimir Popowkin, Chef der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos, Ende Oktober. 24 Glonass-Satelliten kreisen heute um die Erde, bis 2015 soll die Zahl auf 30 erhöht werden. Laut Popowkin setzte man dabei auf die Navigation von Katastrophenfrühwarnsystemen, Meteorologie sowie ein landesweites Notrufsystem für Autofahrer. Das bahnbrechende Notrufsystem wurde politisch mit einem wichtigen Schritt vorbereitet: Das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung gab den Auftrag zu einer landesweiten Erfassung des Verkehrsnetzes. Demnach sollen bis 2014 alle Daten des Geoinformationssystems (GIS) öffentlich gemacht werden, das heißt Pläne von Städten, Straßen und sonstigen Verkehrswegen. Bisher wurden diese teilweise geheim gehalten.

Die Idee hinter dem Notfallsystem: Jedes Auto mit einem Glonass-Navi sendet bei einem Unfall automatisch einen Hilferuf an den nächsten Notdienst. Gleichzeitig fördert der Staat Glonass-kompatible Endgeräte: Ab dem 1. Januar 2012 wird eine Einfuhrsteuer in Höhe von 25 Prozent auf Geräte erhoben, die nicht Glonass-kompatibel sind. Davon betroffen sind Smartphones, Laptops und Tablet-PCs.

Kompatible Geräte von Apple, Samsung und Nokia

Der erste Mobilfunkhersteller ist im Boot. Das iPhone 4S von Apple kann nebst GPS auch russische Satelliten orten. Samsung hat ein App unter dem Namen High Fidelity Position herausgebracht, das ebenfalls GlonassEmpfang ermöglicht. Ende November unterschrieb das finnische Unternehmen Nokia eine Absichtserklärung mit NIS, dem russischen Hardware-Lieferanten der Glonass-Technologie. „Das schafft die Basis für die effiziente Einführung des Navigationssystems auf den internationalen Verbrauchermärkten“, erklärte NIS-Generaldirektor Alexander Gurko. Nokia soll die neuen Kunden auf

der Produktebene unterstützen. Von der Diversifi zierung werde der Endverbraucher profitieren, sagen die Entwickler: Ein Navi oder Smartphone, das auf Glonass und GPS anspringt, kann seine Position durch den Zugriff auf mehrere Satelliten exakter bestimmen. Von großer Relevanz sei das etwa in den Häuserschluchten von Großstädten, wo der GPS-Empfang häufig beeinträchtigt ist. Die Herstellungskosten Glonasskompatibler Geräte sind gering, denn schon heute setzen viele Unternehmen auf Chips des US-Herstellers Qualcomm, der beide Systeme unterstützt. Die Hersteller müssen lediglich die entsprechende Software entwickeln.

Glonass gegen oder mit GPS?

Die Technik von GPS und Glonass ist praktisch identisch, wobei das russische System weniger störanfällig ist. Im Gegensatz zu GPS überträgt es die Signale auf verschiedenen Frequenzen, fährt schneller hoch und ortet zügiger den Empfänger. Dem europäischen Konkurrenten Galileo ist das russische Navigationssystem um zwanzig Jahre voraus: Gegenwärtig sind erst zwei

RIA NOVOSTI

Glonass - bessere Ortung für Navi und Handy

Nach einer Pleitenserie wurde am 24. November der vorläufig letzte Glonass-Satellit in den Orbit befördert. Bis 2020 will Russland weitere sieben Milliarden Euro in das Satellitennetz investieren.

Mit 24 Statelliten in die Erdumlaufbahn Als die Amerikaner 1974 den ersten GPS-Militärsatelliten in die Umlaufbahn schickten, begann die Sowjetunion hektisch, ein eigenes Navigationssystem zu entwickeln. Der erste Glonass-Satellit (Globales Satellitennavigationssystem) startete 1982. 13 Jahre später deckte das System mit 24 Satelliten den ganzen Globus ab. Nach dem Zusammenbruch der Sow-

jetunion fehlte es an Mitteln für die Instandhaltung. Die Satellitengruppe schrumpfte auf sechs, bis im August 2001 das Glonass-Projekt mit staatlicher Förderung neu aufgerollt wurde. Zu dem weltweiten Netz kamen schrittweise neue Satelliten dazu. Im Oktober diesen Jahres verkündete Roskosmos-Chef Wladimir Popowkin ihre Einsatzbereitschaft.

in europäischer Zusammenarbeit entwickelte Galileo-Satelliten auf Probeflug in der Erdumlaufbahn. Bis 2020 soll das europäische Positionierungssystem voll einsatzfähig sein, so ist es jedenfalls von der Europäischen Weltraumorga-

nisation ESA geplant. – Dann, wenn Russen und Amerikaner wahrscheinlich die Positionierungsgenauigkeit ihrer Satelliten von derzeit mehreren Metern auf 90 Zentimeter hochgeschraubt haben.


Wirtschaft

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Forschung Skolkowo vor den Toren Moskaus soll den Austausch unter Wissenschaftlern in Schwung bringen

Forscher aller Länder vereinigt euch

tino künzel

für russland heute

Man schrieb das Jahr 1984, als Russlands größte IT-Erfolgsgeschichte ihren Lauf nahm. Der Moskauer Programmierer Alexej Paschitnow erfand einen bunten, fesselnden Zeitvertreib: Als Nebenprodukt seiner Arbeit für die Akademie der Wissenschaften modellierte er Kästchenreihen, die

auf dem Bildschirm von oben nach unten rieselten und richtig zusammengesetzt werden wollten. Die Software erfreut sich bis heute großer Beliebtheit. Ihr Name ist Tetris. Ob ausgerechnet ein Computerspiel als leuchtendes Beispiel für technischen Fortschritt fungieren kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Doch international konkurrenzfähig ist ansonsten nicht vieles, was in Russland entsteht.

Erzwungene Modernisierung

Jetzt ist es die Regierung, die schöpferischen Geistern aus Wirt-

Vorgaben für ausländische Bewerber Wer sich in Skolkowo niederlassen möchte, muss auf elektronischem Wege ein Innovationsprojekt einreichen. Von Antragstellern wird ein Businessplan erwartet, der überzeugend darlegt, worin das Innovative an dem Projekt besteht und wie es kommerziell umgesetzt werden soll. Außerdem sind zwei Gutachten eines externen wissenschaftlichen Konsultanten und eines ausländischen Fürsprechers vorzulegen. Das soll helfen, Kreativität im stillen Kämmerlein ohne konkrete Vorstellungen bezüglich ihrer Realisierbarkeit vorzubeugen. Die Projektanträge werden der Expertenkommission des betreffenden Clusters zugeleitet, die aus Russen und Ausländern besteht. Um ein maximal

Wirtschaftskalender Lesen sie mehr über die russische Wirtschaft auf

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schaft und Wissenschaft gleich eine ganze Stadt bauen lässt, um den Modernisierungsprozess in Gang zu setzen – zunächst auf 600 Hektar Fläche westlich von Moskau. Im Innovationszentrum Skolkowo sollen in den nächsten Jahren Arbeitsplätze für 30 000 Menschen entstehen, von denen die Hälfte vor Ort auch mit Wohnungen versorgt wird. Dieses russische Silicon Valley im Kleinformat, so die Entwürfe, gliedert sich in fünf Stadtbezirke. Sie entsprechen den fünf Forschungs- und Industriezweigen der Modernisierungsagenda, die Präsident Dmitri Medwejdew bereits 2009 be-

12. Dezember, IHK München, 9 Uhr

Der Grundstein für das Innovationszentrum wurde vor einem Jahr gelegt, zu sehen ist auf dem Gelände nahe des Moskauer Autobahnrings bisher kaum etwas, und selbst Mitarbeiter des Fonds Skolkowo räumen hinter vorgehaltener Hand ein, den Weg dorthin nur vom Hörensagen zu kennen. Doch schon Mitte 2012 soll das erste Gebäude, der „Cube“, bezugsfertig sein. Es wird Verwaltungssitz der Stiftung sein, die bisher exterritorial agiert. Die Spitzenämter im Innovationszentrum sind paritätisch mit Russen und Ausländern besetzt. Der Stiftungsrat wird von Wiktor Wekselberg, Besitzer der russischschweizerischen Renova Holding, und von Intel-Chef Craig Barrett

Auch Kritiker machen mit

Skolkowo ruft jedoch auch Kritiker auf den Plan. Der Oligarch Michail Prochorow kritisiert, dass alles Geld nur in ein einziges Projekt fließe: Auch Wissenschaft müsse konkurrieren, sagte er jüngst der Zeitung Kommersant, man hätte lieber zehn solcher Zentren finanzieren sollen. „Skolkowo ist doch genau das Gegenteil des von unten gewachsenen Silicon Valley“, meint auch Georgij Patschikow, Gründer des Software-Unternehmens Parallel Graphics. „In Russland lohnt es sich nicht, erfolgreich zu sein, weil morgen schon alles anders sein kann.“ Die Idee sei aber zweifellos richtig, deshalb habe auch er einen Antrag gestellt. Tino Künzel ist Redakteur der Moskauer Deutschen Zeitung.

Die fünf Innovationscluster von Skolkowo

unbefangenes Urteil zu erreichen, erfolgt die Prüfung zunächst anonym ohne Nennung des Absenders. Bewerber teilen sich in drei Kategorien, je nach Größe des Unternehmens. Start-ups können bis zu 700 000 Euro an Fördergeldern für ihr Projekt bekommen, bei 30 Prozent Eigenanteil. Mittelständischen Unternehmen winken bis zu 3,5 Millionen Euro, Großunternehmen sogar über vier Millionen Euro, bei jeweils 50 Prozent Eigenbeteiligung. Firmen, die den Zuschlag erhalten, können und müssen ihren Sitz nach Skolkowo verlegen, wenn das Innovationszentrum seinen Betrieb aufnimmt. Nach jetzigem Stand ist das am 1. Januar 2014 der Fall.

Seminar Interkulturelles training

Dort, wo Ideen blühen

geleitet. Dem Wissenschaftsbeirat stehen Schores Alfjorow (Physik-Nobelpreis 2000) und Roger David Kornberg (Chemie-Nobelpreis 2006) vor. Schon einmal gab es eine ähnliche Idee in Russland: „Wissenschaftsstädte“ wie Obninsk oder Dubna aus Zeiten des Kalten Krieges, die jedoch bis heute ein Geist der Geheimhaltung umweht. Skolkowo, auf der grünen Wiese errichtet, soll anders sei: weltoffen, kooperativ, kommerziell. Neben russischen Unternehmen sind schon mehr als 20 namhafte westliche Partner im Boot, große Unternehmen wie Microsoft, Nokia, Cisco. Sie wollen auf unterschiedliche Weise im Innovationszentrum tätig werden. Siemens, traditionell stark in Russland engagiert, beziffert die Höhe seiner geplanten Investitionen auf 40 Millionen Euro und will sich an Forschungsprojekten in vier der fünf Cluster beteiligen. Außerdem sei man auch an einer Verbesserung der Infrastruktur interessiert, so Alexander Awerjanow, Skolkowo-Projektleiter bei Siemens Russland.

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Vor einem Jahr wurde der Grundstein für ein gigantisches Forschungszentrum gelegt. In fünf Kernbereichen bietet Skolkowo Wissenschaft und Industrie eine neue Heimat.

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Westliches Management für russische Manager: die Skolkowo Business School

nannt hatte: Biomedizin, Energietechnologien, IT, Kernkraft und Raumfahrt. In Skolkowo werden daraus sogenannte Cluster. Das Projekt lässt sich der Staat allein von 2011 bis 2013 rund 54 Milliarden Rubel kosten, umgerechnet 1,3 Milliarden Euro. Noch einmal so viel soll die Privatwirtschaft beisteuern. Seit Anfang des Jahres gingen bei der Stiftung Skolkowo, die das Vorhaben realisiert, bereits mehr als 4000 Anträge von russischen Firmen ein, die sich dem Projekt anschließen wollen. 1000 wurden bisher bearbeitet, 215 davon positiv bewertet. Mit der Zusage sind Fördermittel in unterschiedlicher Höhe sowie erhebliche Vergünstigungen verbunden, die schon heute in Kraft treten. Unter anderem werden eventuelle Einfuhrzölle zurückerstattet. Man biete „äußerst vorteilhafte Bedingungen“, sagt Roman Romanowskij, der im Fonds für die Großkunden zuständig ist. Die Firmen – im Businessjargon der Verantwortlichen als „Residenten“ bezeichnet – verpflichten sich im Gegenzug, nach Skolkowo umzuziehen, sobald dort die nötige Infrastruktur vorhanden ist.

konferenz Modernisierung in Russland – Chancen für Unternehmen

messe Interplastica 2012

Landwirtschaft Where the margin is 2012

24.-27. Januar, Moskau, Expozentrum

31. Januar, Moskau, hotel Radisson

13. Januar, nikko hotel, Düsseldorf

Für jene, die in Russland einsteigen wollen, aber nicht wissen wie. Wie sollen die Verhandlungen verlaufen, damit die Zusammenarbeit gelingt? Wie unterscheiden sich Werte und Rituale der Russen von unseren?

Was bedeutet der Trend zur Lokalisierung der Produktion für deutsche Firmen? Was wird aus der Modernisierung nach den Präsidentschaftswahlen? Darüber diskutieren Experten und in Russland tätige Unternehmer.

Große Wachstumschancen hat der Bereich Kunststoffe und Kautschuk in Russland. Zeitgleich mit der „Interplastica“ findet am gleichen Ort die „Upakovka“, die Messe der Verpackungsindustrie statt.

Vor Beginn der Landwirtschaftssaison versammelt das Forum wichtige Vertreter aus Politik und Saatgutproduktion sowie Agrarproduzenten und -investoren, um die Perspektiven des russischen Agrarsektors zu bewerten.

›› muenchen.ihk.de

›› duesseldorf.ihk.de

›› interplastica.de

›› ikar.ru/wherethemarginis


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Das Thema

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

der winter in russland weiSSe pracht oder eisige herausforderung? wie russen mit dem klima im land fertig werden

sibirisch herb oder: Wie kalt ist richtig kalt? letztes Jahr minus 72 Grad (!) gemessen wurden. Der Winter prägt alle Lebensbereiche, ist aber für die Menschen so alltäglich, dass sie ihn gelassen aufnehmen. Wir servieren Ihnen einige Kostproben von der russischen Lebenswelt zur kalten Jahreszeit.

Lebenswelten

Mobilität Der russische Winter fordert Räumdienste wie Pkw-Besitzer

Autofahrer rüsten sich gegen den Schnee

„Ich geh mal eben in die Banja, heizt du solange die Petschka und den Samowar?“, könnte ein typisch russischer Satz noch vor 50 Jahren gelautet haben. Die Banja ist die russische Sauna, Petschka ein großer Steinofen, wie es ihn früher in jeder Isba, dem russischen Holzhäuschen, gegeben hat. Der Samowar ist ein riesiger Teekessel und zugleich Symbol russischer Gastfreundschaft. Mit zunehmender Urbanisierung schwanden jedoch die Traditionen, der sowjetische Städtebau gab ihnen den Rest. Im heutigen Russland wird nur zentral geheizt, individuelle Regler für die Heizkörper gibt es nicht. Angenehmes Raumklima schafft man sich durch offene Fenster bei klirrender Kälte. Die Wohnungen sind überheizt, trockene Heizungsluft ist ein landesweites Problem, das die Hersteller von Luftbefeuchtern reich gemacht hat. Ein Feldversuch von Bosch und Siemens in Russland hat gezeigt, dass sich durch moderne Heizungsund Isolierungstechnik bis zu 80 Prozent der Heizkosten einsparen lassen. Trotzdem sei das Modell „Zentralheizung“ das einzig mögliche: Damit die Leitungen nicht gefrieren, wird das Warmwasser in Kraftwerken vorgeheizt und per Überlandleitung direkt in die Haushalte gepumpt. Die Konsequenzen dürfen die Russen im Sommer buchstäblich aus-baden: Wegen Wartungsarbeiten an den Leitungen wird das Warmwasser für bis zu drei Wochen abgestellt. (ali)

„Hast du Webasta?“ – diese Frage bekommen Autobesitzer von Parkwächtern zu hören, wenn sie ihr Fahrzeug über Nacht im Freien abstellen wollen. Gemeint sind die Standheizungen der deutschen Firma Webasto, ohne die ein Kaltstart bei minus 35 Grad unmöglich wird. Alle Winterreifen sind zwangsläufig mit Spikes versehen. Hinzu kommen riesige Mengen an Scheibenwischwasser: An einem Wintertag liegt der Verbrauch bei einem Fünf-Liter-Kanister, den man an jeder Straßenecke nachkaufen kann. Manche Autofahrer helfen sich anders: Sie bauen einen extra Wassertank ins Auto. (ali)

itar-tass

Winterlicher Alltag in Moskau: Eine Schneepflug-Armada räumt die Straßen der Hauptstadt.

Winter am Flughafen: Jede Maschine wird vor dem Abflug enteist.

Dampfkompositionen von Heizkraftwerken in Kemerowo

Mit rund 150 Metern und 75 000 PS gehören sie weltweit zu den größten und leistungsstärksten Schiffen: Seit 1957 befreien die neun russischen Atomeisbrecher die Nordostpassage – den Seeweg von Europa nach Japan – vom Packeis, damit Transportschiffe durchfahren können. Die „Arktika“ brach 1977 sogar bis zum Nordpol durch – als erstes Schiff der Welt.

reuters/vostock-photo

Russische Atomeisbrecher – die Giganten des Nordpolarmeeres

itar-tass

Wenn es in Russland wintert, dann richtig: Im November 2010 waren die Temperaturen innerhalb von 24 Stunden von über null auf minus 20 Grad gesunken. Der vorletzte Winter war sogar noch härter: Das Thermometer zeigte einen Temperaturdurchschnitt von minus 28 Grad Celsius. Es war so kalt wie seit 60 Jahren nicht mehr. In Moskau dauert der Winter rund vier Monate. In dieser Zeit schneit es ungefähr 50 Tage. Pro Nacht kommen bis zu 40 Zentimeter Neuschnee herunter – eine Herausforderung für den städtischen Winterdienst. Mit den Schneefällen fahren die Schneepflüge los. „Drei bis fünf Zentimeter Neuschnee sind kein Problem, das ist für uns Routine“, sagt Pjotr Birjukow, Leiter der Wirtschaftsabteilung der Stadt Moskau, die den Winterdienst organisiert. Komplizierter werde es erst bei heftigen, lang anhaltenden Schneefällen, dann fahren die Schneepflüge im Akkord alle zehn Minuten. Ein Pflug räumt pro Stunde rund zwölf Kilometer frei. Und seine verdienstvolle Nebentätigkeit: Er erfasst die Schlaglöcher auf der Fahrbahn und übermittelt ihre Position elektronisch ans Straßenbauamt. Die Pflüge schieben den Schnee zum Straßenrand, wo die Haufen auf Kipplaster verladen und zu einer der 200 „Schneeschmelzen“ gebracht werden. Bis zu 300 Tonnen am Tag kann eine Anlage zu Wasser machen. Der Unterhalt der Schneepflug-Armada kostet die Stadt über zwölf Millionen Euro im Jahr. Entsprechend teuer ist der Winter für den russischen Autofahrer.

photoxpress

In Deutschland herrscht Verkehrschaos bei fünf Zentimetern Neuschnee, in Russland wird’s erst bei 40 Zentimetern brenzlig.

DPA/vostock-photo

Den Frost im Juli ausbaden

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Januar bei plus 15 Grad liegt. So zum Beispiel in Sotschi, das sich mit Nizza den Breitengrad teilt. Die Sotschianer werden von den Russen anderer Regionen beneidet, am meisten wohl von den 470 Einwohnern der kleinen Ortschaft Oimjakon in Jakutien, in der vor-

Wenn wir das Wort „Russland“ hören, assoziieren wir „sibirische Temperaturen“. Ja, in Russland kann es richtig kalt sein; auch wenn sein Klima von der Polarbis zur subtropischen Zone an der Schwarzmeerküste reicht, wo die durchschnittliche Temperatur im


Das Thema

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Natur

Mit langem Fell und dickem Speck gegen Kälte Wildlife Foundation (WWF) mit Unterstützung der russischen Regierung, die Raubkatze wieder anzusiedeln. Viele Russen hörten zum ersten Mal, dass es in ihrem Land überhaupt Leoparden gibt, als das Tier vor einem Jahr zum Maskottchen für die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi bestimmt wurde. Ähnlich wie der Amurtiger zeichnet sich der Kaukasische Leopard durch seine große Anpassungsfähigkeit aus: Denn die Winter in den Bergen des Kaukasus sind sehr kalt und schneereich, die Sommer trocken und heiß. (mga)

AFP/eastnews

F1Online/Vostock-photo

Der Sibirische Tiger, auch bekannt als Amurtiger, ist nicht nur der größte seiner Spezies, sondern auch der einzige, dessen Lebensraum von Schnee und Eis geprägt ist. Bis zu minus 45 Grad können die Temperaturen am Fluss Amur im Fernen Osten Russlands fallen. Vor dem Kältetod schützen den Tiger ein dickes, langes Fell und eine fünf Zentimeter dicke Fettschicht. Schutzlos ausgeliefert ist er dagegen dem Menschen: In den unruhigen Zeiten nach der Oktoberrevolution wurde er fast ausgerottet. Heute leben wieder knapp 500 Exemplare im Grenzgebiet zwischen Russland, China und Nordkorea, aber sein Lebensraum schrumpft von Tag zu Tag, und er bleibt weiterhin auf der Liste der gefährdeten Arten. Weitaus seltener ist der Kaukasische Leopard, der lange als ausgestorben galt: Erst 2003 wurde im Kaukasus ein Exemplar wiederentdeckt, das vermutlich aus dem Iran eingewandert war. Seitdem versucht die World

Freizeit Russen trotzen Schnee und Eis nicht nur – sie haben auch ihren Spaß daran

Fröhliches Eisbaden bei minus 20 Grad man Erwachsene im Wald beim Langlauf. Und lässt der neureiche Geschäftsmann mit seinem Maybach im Alltag den Rentner im Lada links liegen – in der Loipe sind sie alle gleich: Nicht selten ist es hier der Rentner auf seinen sowjetischen Holzbrettern, der die Jüngeren auf Fiberglas lässig abhängt. Mit in den Wald nimmt man üblicherweise eine Thermoskanne und dampfenden Tee, aber auch ein Flachmann mag gegen die Kälte im Einzelfall nützlich sein. Russische Männer auf der Flucht vor dem Lärm dieser Welt findet man auf zugefrorenen Seen: Mit

Moritz Gathmann

Zwei „Walross“-Weibchen in der freien Wildbahn bei Krasnojarsk

Mode: vorbereitet auf den Frost Wareschki: Fäustlinge wurden von den Warägern nach Russland gebracht, daher ihr Name „Wareschki“. Halten warm und werden gerne von Omas für ihre Enkelkinder gestrickt.

AFP/eastnews

Alle Jahre wieder: Reparaturen an alten Heizkörpern

Der wichtigste Tag im Leben eines echten Walrosses ist der 19. Januar: „Morsch“, also Walross, nennen sich jene Russen, die fest davon überzeugt sind, dass regelmäßiges Baden in Eislöchern den menschlichen Körper stählt. Und jene Nacht im Januar ist eine ganz besondere: Am 19., so glauben die russisch-orthodoxen Christen, wurde Jesus getauft. Alljährlich warten gegen Mitternacht ein paar Dutzend, in Moskau schon mal einige Tausend Walrosse darauf, dass die Priester Flüsse und Seen weihen, und stürzen sich dann in die Fluten. Entgegen aller Befürchtungen kam es selbst im vorletzten Winter, als die Temperaturen in Moskau unter 20 Grad fielen, zu keinen nennenswerten Zwischenfällen. Zur Not stehen Sanitäter des Rettungsdienstes bereit. Äußerst selten erfriert jemand im Eisloch, man muss eben die Regeln kennen: dreimal untertauchen, abrubbeln und dann warm anziehen oder noch besser: in die Banja gehen. Wobei wir bei der nächsten Lieblingsbeschäftigung der Russen im Winter wären: Die Besonderheit der Banja besteht im Zusammenspiel von Temperaturen zwischen 80 und 100 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit. Zwar wird die Sauna das ganze Jahr über genutzt, aber das Bad im Eisloch zwischen den einzelnen Gängen gibt den Extrakick. Bei Gelegenheit unbedingt ausprobieren! Während Kinder zur kalten Jahreszeit Schlitten fahren und in ihre Schlittschuhe steigen, trifft

reuters/vostock-photo

russland heute

Idylle mit Isba und Samowaren

speziellen Eisbohrern bahnen sie sich den Zugang zum Wasser. Dick eingemummelt, gerne auch im Zelt, warten sie bei heftigem Frost und Schnee stundenlang vor den 20 Zentimeter breiten Löchern, in der Hoffnung, dass doch noch ein Fisch aus der Winterstarre er wacht und anbeißt. Vorsicht: „Na, schon was gefangen?“ oder ähnliche Versuche, mit Eisanglern ins Gespräch zu kommen, werden bestenfalls mit einem grimmigen Gesichtsausdruck beantwortet. Angler sind nicht gesprächig und vor allem keine Eisangler.

getty images/fotobank

„Russkij Extrim“, die Vorliebe der Russen für Vergnügungen mit dem besonderen Kick, zeigt sich besonders im Winter. Unbeschadet aber bleibt nur, wer sich an die Regeln hält.

Der russische Volkssport Rodeln

Walenki: Aus Schafwolle gefilzt, schützen Walenki auch vor Temperaturen unter minus 30 Grad. Allerdings sind sie nicht wasserdicht und haben keine Sohle, weshalb man sie mit Ga-

loschen trägt. Jedes Jahr werden in Russland viereinhalb Millionen dieser Filzstiefel hergestellt. Uschanka: Die Mütze mit dem ausklappbaren Ohrenschutz („Uschi“Ohren) ist das Symbol der Russen schlechthin. Heute gibt es Uschankas in allen Varianten: vom einfachen Kunstpelz bis zur Edelausführung aus Zobel.


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Zeitgeschichte

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corbis/foto sa

Biografie Irving Berlin emigrierte aus dem Zarenreich in die USA und wurde zur lebenden Legende des Broadway

Broadway-Aufführung des Musical-Klassikers „White Christmas“

Die Melodien der jüdischen Emigranten, die vor dem Pogrom-Mob in Russland geflohen waren, ähnelten erstaunlich der in Mode gekommenen „schwarzen“ Musik. Deshalb verunglimpfte die NaziPropaganda der 1930er-Jahre den neuen Jazz auch als „Neger- und Judengefiedel“.

Komponieren ohne Noten

Er brachte den Broadway zum Tanzen und schenkte den Amerikanern den Traum von einer weißen Weihnacht. Geboren wurde Irving Berlin 1888 in der sibirischen Provinz.

bekannte Broadway-Komponist Jerome Kern später sagte: „Irving Berlin hat keinen Platz in der amerikanischen Musik. Irving Berlin ist die amerikanische Musik.“

Jüdisch-russische Emigranten am Broadway

Jelena Fedotowa SMENA magazin

Im Russland des 19. Jahrhunderts konnte schon ein unvorsichtiges Wort antisemitische Übergriffe nach sich ziehen. Ein Pogrom in der weißrussischen Kleinstadt Tolotschin, wohin die Beilins aus Tjumen umgezogen waren, veranlasste Moses und Lena Beilin 1893, mit ihren sieben Kindern die beschwerliche Emigration nach Amerika zu wagen.

Inoffizielle Nationalhymne

„God Bless America“, Berlins nächster großer Hit im Jahr 1938, wurde gar zu einer Art inoffizieller Nationalhymne der USA. Ende der 50er brachte Irving Berlin noch mehrere erfolgreiche Broadway-Musicals auf die Bühne, doch bald begann Amerika, die Hüften kreisen zu lassen wie Elvis Presley, kaufte wie besessen die Debütalben Bob Dylans und sang mit den Beatles „Yeah, yeah, yeah“. Berlins Stern sank, er passte nicht mehr zum Rock’n’Roll der 1960erJahre. „Ich bin sehr glücklich, dass Amerika meinen Vater nicht vergessen hat. Er ist Fleisch und Blut der amerikanischen Kultur“, sagte seine Tochter Linda Emmet viele Jahre später. In den 1990ern besuchte sie den Geburtsort ihres Vaters. Auf einem Jazz-Festival wurden in Tjumen einige seiner Songs gespielt. – Wei l sich Tjumen ebenfalls an Irving Berlin erinnert, wenn auch nur in Gestalt einiger weniger MusikEnthusiasten. Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift Smena.

Der Jazz und die russischen Emigranten

getty images/fotobank; vostock-photo

AP

Vor hundert Jahren gab es in den Cafés von New York weder Lautsprecher, aus denen Indie-Pop oder Progressive House schallten, noch Plasmafernseher, die Fashion TV zeigten. Die Musik kam von Kellnern, den Singing Waiters, und Caféhausbetreiber wetteiferten um die besten Interpreten. Der Besitzer des Pelham war in jenem Jahr 1902 verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Hit, die Besucher wanderten schon zur Konkurrenz ab. Die Musik lieferte der Hauspianist, doch es fehlte an einem passenden Text. Aber wozu hatte er gerade einen jungen Burschen als Singing Waiter eingestellt? Der neue Song „Marie from Sunny Italy“ holte nicht nur das Publikum ins Pelham zurück, sondern er wurde ein solcher Erfolg, dass ihn gleich ein Musikverlag druckte. Der singende Kellner erhielt sein erstes Honorar – und einen neuen Namen, der zur Legende werden sollte. Das Lied besang zwar eine Maria aus dem sonnigen Italien, doch der Texter stammte aus dem westsibirischen Tjumen. Ein Schreibfehler auf dem Titelblatt der Druckfassung machte aus Beilin „Berlin“, jenen Mann, von dem der

Würde jemand ein Lexikon aller am Broadway erfolgreichen Juden russischer Abstammung erstellen, käme dabei ein dicker Wälzer heraus: Der aus einer russisch-jüdischen Familie stammende King of Swing, Benny Goodman, wuchs noch heran, als Amerika den litauischen Entertainer Al Jolson zum Liebling des Showbusiness erkor. Morris Gershovitz, Vater von George Gershwin, war ein bekannter Petersburger Waffenschmied, doch hätten seine Kinder dort niemals eine solide Ausbildung erhalten, denn ein Gesetz begrenzte den Zugang jüdischer Bewerber zu mittleren und höheren Bildungsanstalten.

corbis/foto sa

„I’m dreaming of a white Christmas“

Irving Berlins gesamte musikalische Bildung stammte aus einigen Besuchen der Synagoge, in der sich sein Vater als Kantor etwas hinzuverdiente. Als der junge Irving das erste Honorar in Höhe von 37 Cent in den Händen hielt, beschloss er, sich ernsthaft als Texter zu versuchen und seine Songs Komponisten anzubieten. Doch die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit befriedigten ihn nicht. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Musik selbst zu schreiben. Allerdings konnte er weder Noten lesen noch besonders gut Klavier spielen. Die Vertonungen der ersten Lieder diktierte Berlin dem Komponisten Arthur Johnson. Seine wichtigsten Songs aber schrieb Helmy Kresa nieder, langjährige Sekretärin. 1911 landete Irving Berlin mit „Alexander’s Ragtime Band“ seinen ersten Hit, den Jazz-Größen wie Al Jolson, Louis Armstrong oder Ray Charles später in ihr Repertoire aufnahmen. Und auch nach seiner Rückkehr aus der Armee blieb dem Komponisten der Erfolg treu. Er gründete einen Musikverlag, eröffnete am Broadway das Theater The Music Box und gehörte zu den Initiatoren der ASCAP, der US-amerikanischen Verwertungsgesellschaft für Musikprodukte. Zwei tragische Todesfälle überschatteten Berlins Erfolg: eine

Woche nach der Hochzeitsreise starb seine Frau Dorothy, in der Weihnachtsnacht des Jahres 1928 sein Sohn. Eines Tages kam Berlin in sein Büro gehastet und rief der Sekretärin zu: „Schreib das auf. Ich habe gerade mein allerbestes Lied im Kopf.“ Und Helmy Kresa brachte „White Christmas“ zu Papier, jenes Lied von der glücklichen Weihnacht, die dem Komponisten seit dem Tod seines Sohnes nicht mehr beschieden war. „I’m dreaming of a white Christmas“ ist bis heute das beliebteste Weihnachtslied Amerikas.

Zu Berlins Melodien tanzten Broadway-Stars wie Eleanor Powell und Fred Astaire.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts flohen Hunderttausende russischer Juden aus dem Zarenreich und hinterließen ihre Spuren im amerikanischen Jazz: Der Sänger Al Jolson, Bandleader Raymond Scott, George Gershwin und der Komponist der „Westside Story“ Leonard Bernstein, Benny Goodman

und der Saxophonist Stan Getz sind nur die bekanntesten. Auch ein anderer wäre ohne russisch-jüdische Hilfe womöglich nicht zu jenem großartigen Musiker geworden: Louis Armstrong bekam seine erste Trompete von den nach New Orleans ausgewanderten Karnofskys.


Reisen

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

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Moskau Russen und Ausländer erklären die Vorzüge der Megapolis, die auf den ersten Blick so abweisend wirkt

Wie man mit Moskau klarkommt Moskau ist laut, anstrengend und gefährlich: Die Straßen der Stadt gehören den Autos. Moskau ist neureich und teuer, aber sicher keine „Stadt des Lächelns“. Oder doch? KATHRIN ALDENHOFF FÜR RUSSLAND HEUTE

Alle 40 Sekunden eine U-Bahn

VITALI RASKALOV

In Moskau wird nicht gelebt, in Moskau wird gearbeitet: Die Taxifahrer und Gastarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken sind hier, um Geld zu verdienen. Die Auslandsdeutschen leben in einem eigenen Distrikt, abgeschirmt von der Außenwelt. Auch die Moskauer selbst kapseln sich in ihren Domizilen ab. Wenn sie einkaufen oder spazieren gehen, laufen sie immer die gleichen Wege ab. Alle, die in Moskau heimisch sind, nutzen die Stadt so, wie sie ist, ohne etwas an ihr ändern zu wollen. Marina Schamidowa aus Belgorod kam vor fünf Jahren zum Studieren hierher. „Es ist anstrengend, jeder hat es eilig. Dafür kann ich um zwei Uhr nachts noch einkaufen gehen. Der pulsierende Rhythmus und die Hektik stimulieren mich, und ich liebe das Moskauer Nachtleben“, sagt sie. Aber kann sie von der Vielfalt als Studentin mit wenig Geld überhaupt profitieren? „Die Stadt ist wirklich sehr teuer“, gibt die 22-Jährige zu. Die Mieten seien hoch und ein Coffee to go koste so viel wie ein Café au lait auf der ChampsÉlysées. „Aber man verdient dreimal mehr als in der Provinz.

mental und sehr teuer vorgestellt. Und genauso ist sie“, sagt Michael Gordian. Der 27-jährige Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau findet die Stadt auf den ersten Blick nicht schön, aber au f regend u nd „irgendwie wild“. Hier könne es passieren, dass einem abends auf dem Gehweg ein Auto entgegenkommt und einen fast überfährt. Aber ebenso, dass man im Club von einem Moskauer Ehepaar auf ein Gläschen Wein eingeladen wird, um vom Leben in Deutschland zu erzählen.

Faszinierendes Chaos: Blick vom Moskwa City-Wolkenkratzer

Nimm Moskau so, wie es ist, und du wirst es lieben“, lacht Marina und steigt eilig in die Metro, um es rechtzeitig zu einem ihrer drei Studentenjobs zu schaffen. Wer als Ausländer nach Moskau kommt, den erwartet Kälte, menschlich und klimatisch. Im Sommer kann es aber bis zu 40 Grad heiß werden, und die Moskowiter sind gar nicht so mürrisch, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Wer sich zu lächeln traut, bekommt meistens auch ein Lächeln zurück. Vielleicht nicht gerade von der uniformierten Dame am Me-

troschalter, aber auf jeden Fall von der Piroggenverkäuferin auf der Straße.

in der Architektur: riesige Plätze, pompöse Gebäudekomplexe, ambitionierte Wolkenkratzerprojekte wie Moscow City. Die Größe, die Deutsche vielleicht als russische Weltmachtsansprüche identifizieren, ist dem Russen Alltag. Sein Land ist eben riesig, und daher sind auch sechsspurige Einbahnstraßen normal. Unwohl fühlt er sich schon eher in München oder Baden-Baden, seinen erklärten Lieblingsreisezielen in Deutschland, weil dort „alles so klein und eng“ ist. „Ich hatte mir die Stadt laut, monu-

Immer schön höflich bleiben

„Ich habe mir angewöhnt, immer besonders höflich zu bleiben. Meistens tauen die unfreundlichen Kassiererinnen in den Supermärkten dann auf“, sagt Lena Edich, die 33-jährige Projektleiterin des Deutsch-Russischen Forums. Moskau, das ist die Schnittstelle zwischen Ost und West. Seine Dimensionen zeigen sich vor allem

„Die Stadt macht Spaß, wenn man sich nicht einschüchtern lässt, in der Metro auch mal zurückschubst und sich auf Neues einlässt“, sagt Gordian, „im Supermarkt zum Beispiel nicht nur die überteuerten Westprodukte kauft, sondern auch einmal die leckeren und günstigen Lebensmittel aus Russland.“ Und der Tipp für das Moskauer Nachtleben: „Wodka in Karaffen.“ Dann fühle man sich gleich russischer. Moskau ist auch die Stadt der unzähligen Theater, der kleinen Clubs mit Livekonzerten; eine europäische Stadt, deren Zentrum kunterbunte Kirchen schmücken, als seien sie dem Morgenland entsprungen; in der alle 40 Sekunden eine U-Bahn fährt und es von allem zu viel und gleichzeitig zu wenig gibt; wo das Leben pulsiert und beinahe alles möglich ist – wenn man dazu bereit ist. Kathrin Aldenhoff ist ifa-Redakteurin bei der Moskauer Deutschen Zeitung.

Wenn sich wohlsituierte Moskauer von der Großstadt erholen wollen, ist Baden-Baden häufig das Reiseziel Nummer eins. Was macht die deutsche Idylle so anziehend für sie?

„Baden-Baden steht für Russen auf Platz sieben der beliebtesten Reiseziele in Deutschland“, sagt Alexander Turtschenko, Geschäftsführer von Tschaika Tours, das sich auf Reisen in die Bundesrepublik spezialisiert hat. Von allen deutschen Kleinstädten sei es aber die Nummer eins. Und das bereits seit 200 Jahren. Der Baden-Baden-Boom ging 1793 los, als die schöne Luise von Baden

den russischen Thronfolger Alexander I. ehelichte. Das Paar zog ins kalte Sankt Petersburg, verbrachte aber die Sommerfrische in Baden-Baden. Daraufhin entdeckte auch die heimische Aristokratie das Zarenparadies. Dem Vorbild des jungen Paares folgend, reisten viele Fürstengeschlechter zum neumodischen deutschen Kurort, was dazu führte, dass auch bald in Russland Ähnliches zu finden war: Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden Kurorte wie Pjatigorsk und Mineralnyje Wody im Kaukasus. Und weil es für diese Art von Wellness im Russischen kein Wort gab, übernahm man gleich den deutschen Begriff: Kurort heißt nämlich auch auf Russisch „Kurort“.

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Wenn die russische Literatur Deutschland sagt, dann meinte sie Baden-Baden, zumindest gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Alle waren sie hier zur Kur und beschrieben ihre Eindrücke in Büchern, die heute längst zu den Klassikern zählen: Gogol, Tolstoi, Schukowski, Dostojewski, Turgenjew, Tschechow. In BadenBaden arbeitete Gogol an seinen „Toten Seelen“ und Dostojewski verewigte die Stadt als Roulettenburg in „Der Spieler“, nachdem er sein Vermögen im Casino gelassen hatte. Während der Sowjetdiktatur haben leselustige Russen die Schauplätze jener Werke zu einer Traumwelt hochstilisiert. Heute dienen sie vielen Unternehmern als Geschäftsmodell. Zum

Buntes Russland: Das Bild des Tages auf Facebook

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Einmal in Baden-Baden spielen und Dostojewski begegnen

Gut essen, leger aussehen, elegant tanzen im Ballsaal des Kurhauses. Diese Traumwelt animierte Igor Rothmann zu einer Geschäftsidee.

Beispiel Igor Rothmann, der 1998 aus Kischinjow nach Deutschland kam: „Anfangs habe ich mich so durchgeschlagen, dann wurde ich selbstständig.“ Er vermittelt Kurreisen und renommierte Ärzte an zahlungskräftige Landsleute. Obwohl das Geschäft floriert, blickt er zurück in den Osten: „Wir kön-

nen die hiesige Lebensqualität auch in Russland etablieren.“ Mit deutschen Geschäftspartnern baut er deshalb ein „Deutsches Dorf“ und einen Vergnügungspark in der Region Krasnodar – gleich in der Nähe der ersten Kurorty und von Sotschi, wo 2014 die Olympiade stattfinden wird.

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Meinung

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Russland international WTO-Beitritt

ein steiniger Weg mit happy end Es ist eine unendliche Geschichte, die im Dezember hoffentlich ein glückliches Ende findet: 18 Jahre verhandelte Russland über einen Beitritt zur Welthandelsorganisati-

on (WTO). In den 90ern war es die desolate finanzielle Lage des Landes, die den Beitritt verhinderte, in den letzten Jahren die komplizierten Beziehungen zur Ukra-

jetzt oder nie Andrej Netschajew

R

finanzexperte

ussland steht zum wiederholten Male an der Schwelle zur Welthandelsorganisation (WTO). Zum wiederholten Male, weil wir bereits zum dritten oder vierten Mal den Fuß heben, um diese Schwelle zu überschreiten. In der Vergangenheit wurde die Tür jedoch immer im entscheidenden Moment zugeschlagen, obwohl alle amerikanischen Präsidenten seit Bill Clinton ihre konstruktive Unterstützung zugesagt hatten. Unser Chefunterhändler bei den Verhandlungen mit der WTO, Maxim Medwedkow, erklärte Mitte 2005 erstmalig, dass es im Dezember desselben Jahres mit dem Beitritt so weit sei. Mittlerweile neigt sich das Jahr 2011 dem Ende zu, und wieder einmal geht es um diese schicksalhafte Entscheidung. Wohl kaum eine andere Frage der Wirtschaftspolitik hat im letzten Jahrzehnt so viel Staub aufgewirbelt. Den Anhän-

gern eines Beitritts wurde unterstellt, sie würden damit die Wirtschaft Russlands in den Ruin treiben. Versuchen w ir ein mal vollkommen nüchtern, alle Vorund Nachteile aufzuzählen. Mit dem Beitritt in die WTO wird Russland sich von allen zollpolitischen Instrumenten wie etwa Schutzzöllen auf Importautos verabschieden. Und zugleich drastisch die Einflussnahme der Behörden auf ausländische Investitionen und Importe drosseln. Diese jahrelange Praxis hat die einheimische Automobilindustrie allerdings nicht vor ihrem Kollaps bewahrt. Ein günstiges Investitionsklima schafft man nicht durch die künstliche Steuerung des Wettbewerbs. Solche Art Restriktionen sind eine ernsthafte Krankheit der russischen Wirtschaft. Wer Investoren locken will, muss vielmehr Eigentumsrechte schützen (einschließlich der Rechte am geistigen Eigentum), die Unabhängigkeit und Kompetenz der Judikative gewährleisten, die „staatliche Schutzgelderpressung“ in Form

ine, zu Georgien und den USA. Am 15. Dezember soll der WTO-Beitritt unterzeichnet werden. Das Land verpflichtet sich damit, im Laufe der nächsten sieben

der aktuellen Steuergesetzgebung abschaffen, den Bürokratiedruck auf Wirtschaft und Bürger senken und wirkungsvolle Maßnahmen gegen die omnipräsente Korruption ergreifen. Mit dem WTO-Beitritt wird durch günstigere Importbedingungen die Konkurrenz in einigen Wirtschaftsbereichen dramatisch zunehmen. Das kommt Verbrauchern und Produzenten zugute. Gleichzeitig werden sich die Rahmenbedingungen für den Export und unsere Investitionen im In- und Ausland verbessern – eine wesentliche Voraussetzung, wenn es um die Modernisierung des Landes geht. Die Auflagen für einen Beitritt, die uns in den letzten Verhandlungsrunden genannt wurden,

Jahre die Einfuhrzölle zu senken. Kritiker warnen vor katastrophalen Folgen für viele russische Unternehmen, die dann nicht mehr konkurrenzfähig seien.

sind durchaus moderat. Das zulässige Subventionsniveau für die Landwirtschaft etwa ist höher als derzeit bei uns. Den geforderten Schutz des geistigen Eigentums brauchen wir wie die Luft zum Atmen. Ohne Einigung speziell in diesem Punkt bleiben alle Gespräche über Modernisierung und einen Zugang zu den Außenmärkten mit Hightechprodukten hohles Geschwätz. Der unmittelbare Gewinn aus einem Beitritt wäre übrigens gar nicht so hoch – es wird geschätzt, dass gerade einmal ein paar Milliarden eingespart werden können. Nutznießer sind vor allem die Metallindustrie, Mineraldüngerproduzenten und Getreideexporteure. Langfristig schafft der Beitritt zur WTO jedoch günstigere

Bedingungen für den Maschinenbau und andere Hersteller forschungsintensiver und weltmarktorientierter Produkte. Aber der entscheidende Vorteil liegt nicht im materiellen Nutzen, sondern in der Möglichkeit, an der Ausarbeitung von Grundregeln der Weltwirtschaft und des Handels mitzuwirken. Es ist kein Zufall, dass die Liste der WTO-Mitgliedsländer mit der der UNO nahezu identisch ist. Niemand will aus dieser Organisation austreten, im Gegenteil – viele Staaten der Welt haben sich auf eine Mitgliedschaft beworben.

selbst große Unternehmen daran, in allen Teilen des Landes Fuß zu fassen, weil die Bürokraten in den Regionen lokale Unternehmen gegen Konkurrenz von außen schützen. Das hat zur Folge, dass viele inländisch produzierte Waren von hoher Qualität nicht überall angeboten werden können. Zwei Jahrzehnte nach dem Beginn der Marktreformen gibt es noch immer nur eine Handvoll landesweit bekannter Markenartikel „Made in Russia“. Hinzu kommt die beachtliche Kapitalflucht ins Ausland. Die russische Zentralbank schätzt, dass die Kapitalabwanderung dieses Jahr 70 Milliarden Dollar erreichen wird. Das sind seit Mitte der Neunzigerjahre rund eine Billion Dollar.

Mehr als die Meistbegünstigung im Ausland, also eine Gleichberechtigung aller Handelspartner, bräuchte die russische Wirtschaft den Status der Meistbegünstigung im eigenen Land. Es wäre kontraproduktiv, Russland zu diesem Zeitpunkt mit seiner noch in den Kinderschuhen steckenden Marktwirtschaft in die WTO zu drängen. Es könnte dann zu wirtschaftlichen Turbulenzen und Auflösungstendenzen kommen, die nur vergleichbar wären mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ob sich die politischen Eliten noch besinnen?

Andrej Netschajew ist Präsident der Bank Russische Finanzvereinigung. 1992 bis 1993 war er Wirtschaftsminister.

Felix Gorjunow

wirtschaftsjournalist

N

ach 18-jährigem Verhandlungsmarathon scheint es Mitte Dezember 2011 so weit zu sein: Die Russische Föderation wird in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen. Auf dem Weg dorthin wurden den Verhandlungspartnern bereits eine Menge Zugeständnisse abgerungen, darunter die „Meistbegünstigungsklausel“, die russischen Waren den Zugang zu den internationalen Märkten erleichtert. Als Vollmitglied der WTO ist Russland dann auch bei Streitentscheidungsverfahren beteiligt (Dispute Settlement Body). Eine Mitgliedschaft würde ausländische Investoren ins Land locken und umgekehrt die Chancen für russische Investitionen in WTOLändern verbessern. Doch für die russische Wirtschaft könnte die WTO-Mitgliedschaft nicht nur ein Segen sein. Zum einen geht es mit Russlands pro-

duktbezogenem Export kontinuierlich bergab. Seit 20 Jahren redet der Kreml davon, die Wirtschaft zu modernisieren und auf Innovationen zu setzen. Aber noch immer ist die Hauptsäule der russischen Ökonomie die Rohstoffindustrie. Die Einnahmen aus Ölexporten decken die Hälfte des nationalen Budgets, was das Land in eine gefährliche Abhängigkeit zum globalen Energiemarkt bringt. Wenn man jetzt der WTO beitritt, wird man in der internationalen Arbeitsteilung womöglich nur noch als Rohstofflieferant wahrgenommen. Zum anderen erklärte Ministerpräsident Putin im letzten Sommer, Russland brauche die Mitgliedschaft, um den jährlichen Verlusten von 2,5 Milliarden Dollar beim Export entgegenzusteuern. Besonders betroffen sind die Großunternehmen der Stahl-, Eisen- und Metallindustrie. Weniger profitabel wäre ein Beitritt für den Großteil der russischen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen sowie für die Land-

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sergej jolkin

noch zu früh

wirtschaft. Denn ein WTO-Regelwerk sieht demnächst die Streichung von staatlichen Subventionen vor, ohne die die Unternehmen nicht wettbewerbsfähig sind. Drittens: Staatsfeind Nummer eins ist und bleibt die Korruption. Schätzungen zufolge übersteigt die Summe an Bestechungsgeldern die staatlichen Steuereinnahmen. Das kaum vorstellbare Maß an Korruption beschert russischen Unternehmen sozusagen eine doppelte Besteuerung, die sie im internen und globalen Wettbewerb aus der Bahn wirft. Außerdem werden die Unternehmen zur leichten Beute für Bürokraten und bestechliche Gesetzeshüter, die ihren Anteil dazu verwenden, beide Augen zuzudrücken. Diese allgemeine Praxis hindert

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Felix Gorjunow schreibt seit 30 Jahren über das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen sowie die WTO.

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Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

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Dokumentation Wagemutige Ostdeutsche durchquerten mit dem Rucksack illegal die Sowjetunion – ein Reisebuch Abend am Baikal: Uwe Wirthwein und seine Freundin übernachten auf dem Eis.

PRIVAT ARCHIV (8)

Anfang der 70er fuhr man noch mit dem D auf der Heckscheibe zum Schwarzen Meer.

Unerkannt durch Freundesland Von wegen sozialistische Brudervölker: Vor der Wende durften DDR-Bürger nicht auf eigene Faust durch die Sowjetunion reisen. Wer es trotzdem tat, erlebte Abenteuer. ULRIKE GRUSKA

FÜR RUSSLAND HEUTE

Die Idee stammte aus einem DDRComic und war ebenso reizvoll wie waghalsig: Fix und Fax, zwei freche Mäuse, basteln sich darin aus Langeweile einen Segelschlitten und haben einen Heidenspaß, damit über’s Eis zu brausen. Als Kind liebte Uwe Wirthwein diese Geschichte. Als 27-Jähriger wollte er sie selbst erleben. Er überredete Freunde, das abenteuerliche Gefährt nachzubauen und auszuprobieren – und zwar auf dem Baikalsee, dem fernen Sehnsuchtsort, an den Ostdeutsche auf eigene Faust eigentlich gar nicht hinfahren durften. So kam es, dass im Sommer 1988 fünf junge Männer aus Dresden Nylonballen über die Grenze schmuggelten, sich mit 36 Kilogramm schweren Rucksäcken bis nach Sibirien durchschlugen, dort Bäume fällten und schließlich einen riesigen Segler mit fünf Meter langem Mast aufs Eis des Baikal setzten. Sie reisten „Unerkannt durch Freundesland“ (UdF)

und waren damit Teil einer Bewegung, von der bis zum Ende der DDR nur Eingeweihte wussten. Hunderte junger Leute entflohen der räumlichen Enge ihres Landes in den 70er- und 80er-Jahren durch Schlupflöcher im bürokratischen System. Sie erklommen im Kaukasus schroffe Gipfel, erkundeten märchenhaft fremde Republiken in Zentralasien, streiften wochenlang durch sibirische Weiten – irgendwie illegal, aber von überforderten Behörden oft nur halbherzig aufgehalten. Reisen in die Sowjetunion waren damals offiziellen Gruppen vorbehalten und für den Individualtourismus tabu. Doch seit dem Prager Frühling 1968 kam ein Transitvisum zur Anwendung, das eine Durchreise durch die UdSSR erlaubte, um die unruhige Tschechoslowakei zu umgehen. Nie wieder abgeschafft, wurde es für viele junge Menschen zur Eintrittskarte in ein Land, das sich verheißungsvoll über elf Zeitzonen ausdehnte. Wer es schaffte, nach der Einreise „von der offiziellen Route abzuhauen und ins Landesinnere zu gelangen, konnte sich danach relativ frei bewegen“, erinnert sich UdF’ler Frank Böttcher. Zusammen mit der Dokumentarfilmerin Conny Klauß hat der Berliner Verleger ein wunderbares

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KULTURKALENDER ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

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Buch herausgegeben, das die Erinnerungen der waghalsigen Reisenden versammelt. Halb Reisetagebuch, halb Geschichtsdokument, zeigt es mit Liebe zum Detail und zahlreichen Fotos, was herauskam, wenn DDR-Bürger die Parole von der deutsch-sowjetischen Freundschaft wörtlich nahmen. Nahezu einhellig berichten sie von überschwänglicher Herzlichkeit, von offenen Armen, mit denen sie allerorts aufgenommen wurden. Sie erzählen von Milizionären, die in Verhören ratlose Fragen stellten und anschließend Fahrkarten in den nächsten Verwaltungsbezirk organisierten, um die unliebsamen Wanderer möglichst schnell loszuwerden. Und sie brachten Fotos mit, die ganz und gar nicht zum Bild von der UdSSR als kommunistischem Paradies passten: zerfallene Wohnhäuser, bettelnde Rentner, zusammengeflickte Traktoren. Ein Großteil der UdF-Reisenden waren Bergsteiger, die sich mit Ausrüstung der „Marke Eigenbau“ auf den Weg ins Gebirge machten. Sie schnitten sich Isomatten aus Fußboden-Isolierstoff zurecht, nähten Schlafsäcke aus westlichen Katalogen nach und verfassten die Delegierungsschreiben für ihre Expeditionen selbst. Andere interessierten sich weni-

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ger für die Fünftausender als für die Menschen jenseits der Grenze. Ekkehard Maaß, der zur Gitarre Lieder von Wolf Biermann und Bulat Okudschawa sang, besuchte auf seinen ausgedehnten Fahrten häufig Dissidenten. In Tiflis ließ er sich von Regisseur Sergei Paradschanow bewirten, in Kirgisien traf er Tschingis Aitmatow, der ihn als offiziell linientreuer Schriftsteller mit muslimischen Gebeten überraschte. Der Thüringer Pfarrer Gernot Friedrich wiederum fuhr etliche Male in die UdSSR, um versteckte deutsche Gemeinden mit Bibeln zu versorgen. Außer der Schmuggelware hatte er meist nur ein Stück Seife und zwei Hemden in einem Stoffbeutel dabei. Eines eint diese Menschen, so unterschiedlich ihre Motive und Interessen auch gewesen sein mögen: Sie haben (Reise-)Freiheit nicht gefordert, sondern sie sich einfach genommen – und gerade deswegen sind sie vielleicht so weit gekommen. Cornelia Klauß und Frank Böttcher (Hg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich, Lukas-Verlag 2011. 444 Seiten, 24,90 Euro

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1 – Halsbrecherische Expedition zum Pik Lenin (2734 Meter) in Tadschikistan 2 – Sehnsuchtsziel in Zentralasien: Irgenwie muss es doch nach Taschkent gehen. 3 – In Usbekistan wartet an jeder Ecke eine Einladung zum Tee. 4 – Vom Stiefel bis zum Steigeisen war die Ausrüstung „Marke Eigenbau“. 5 – Gut getarnt mit linientreuer Zeitung: UdF-Tourist in Moskau 6 – Ruhepause mit atemberaubendem Blick über die Gipfel des Pamir-Gebirges

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FILM WYSSOZKI

DISKUSSION RUSSISCHE PARLAMENTSWAHL

KLASSIK GERGIEVS SCHOSTAKOWITSCH

AB 1. DEZEMBER, BUNDESWEIT

13. DEZEMBER, BERLIN, HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG, 19 UHR

21./22. DEZEMBER, MÜNCHEN, PHILHARMONIE, 20 UHR

Ungeliebt von den Behörden, vergöttert von den Menschen – das war Wladimir Wyssozki, Schauspieler und Sänger voll Leidenschaft und Lebenslust. 31 Jahre nach seinem Tod nun „Wyssozki“ in Blockbuster-Manier.

Wie demokratisch waren die Wahlen? Informationen aus erster Hand gibt es bei einer Diskussion mit dem Wahlbeobachter Aleksandr Buzin und dem Politologen Nikolaj Petrow.

Dirigent Valery Gergiev ist mit seinem eigenwilligen Stil schon Legende. Mit den Münchner Philharmonikern präsentiert er die 5. und 14. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch.

› wyssozki.de

› boell.de/calendar/

› gergievs-schostakowitsch.de

empfiehlt


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Porträt

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Unternehmer Wie es dazu kam, dass ein Usbeke die Hauptorgel im Dom von Kaliningrad rekonstruierte

Die Orgel und „andere Möbeln“ Wie jeder außergewöhnliche Mensch hat Maks Ibragimow seine spezielle Weltanschauung und ist dabei stolz auf das, was er mit eigenen Händen schafft. Hören wir ihm einfach zu.

NAME: MAKS IBRAGIMOW ALTER: 56 BERUF: MÖBELKÜNSTLER

Ibragimow absolvierte eine Kunstfachschule in Taschkent, dann kam er in die Armee nach Kaliningrad. Hier gründete er 1992 die Möbelfabrik MAKSICK, die in Russland zu den besten Adressen für handgearbeitete Edelmöbel gehört. 2008 restaurierte seine Firma die Orgel im Königsberger Dom.

Frag einen russischen Unternehmer: „Wie geht’s dir?“ Und er wird antworten: „Beschissen.“ Obwohl er erfolgreich ist. de Schicht im Stich lässt. Sechs sind zu viel, weil das auf Kosten der Qualität geht. Wenn man etwas selbst macht, bekommt man den größten Kick. Erst ist nichts da, dann hast du eine Idee, und plötzlich kommt was dabei raus. Du verkaufst es und hoppla! – schon hast du Geld. Das versuche ich auch meinem Sohn zu erklären. Einmal hat ein Lokalsender meine Erfolgsstory verfi lmt. Ich hatte damals eine lange Mähne und war ganz in Leder. Ein Rocker also. Die TV-Leute wollten wissen, welche Musik sie einspielen sollen. „Die Neunte von Schostakowitsch“, antwortete ich. Die waren vielleicht geschockt. Nach ihrem Weltbild hatte ich als Mittelasiat ungebildet zu sein. Aber meine Frau Lena ist professionelle Musikerin, Koloratur-Sopranistin. Sie können sich nicht vorstellen, wie sie das Lied der Olga aus „Russalka“ interpretiert. Manchmal träume ich, dass Lena in Begleitung eines Symphonieorchesters den Song von „The Dark Side of the Moon“ als Backround-Vokalistin von der Bühne schreit, wie Liza Strike bei Gilmour: „U-u-uaaaa!“ Aber Lena will nicht. In Moskau hat man mir einen Preis als Russlands bester Manager aus-

Pink Floyd und „Russalka“

Bevor ich anfing, Möbel zu entwerfen, hatte ich alles Mögliche gemacht: Hosen und Kleider genäht, sieben Jahre als Einfrierer auf Fischtrawlern gearbeitet, dann als Maler auf dem Bau. Unter den Abfallstoffen gab es viele Holzspanplatten. Mit einem befreundeten Zimmermann schreinerten wir daraus Essecken. Die ersten Sofas hab ich selbst zugeschnitten, genäht und bezogen. Die waren vielleicht hässlich! Man muss aber alles von Grund auf gelernt haben, wenn man einen Betrieb führen will. Irgendwann fand ich gewöhnliche Sofas zu langweilig. Ich wollte in die Oberliga – handgemachte Luxusmöbel. Anfang der 90er schickte ich meine Mitarbeiter ins Ausland. Die Schreiner nach Italien und die Näher nach Holland. Wir besuchten eine Möbelfabrik in Florenz und sahen ihnen bei der Arbeit zu. Nach drei Monaten konnten wir es genauso. Ein Arbeiter muss pro Schicht fünf Armlehnen machen. Vier sind zu wenig, weil er die nachfolgen-

gehändigt. Putin und alle anderen waren da. Also sagte ich von der Bühne: „Frag einen russischen Unternehmer: ‚Wie geht’s dir?‘, und er wird antworten: ‚Beschissen.‘ Obwohl er erfolgreich ist. Als würde man ihn auf der Stelle einsperren, sagte er, es liefe gut. Wir müssen aufhören, uns selbst schlecht zu reden. Dann wird auch das BIP wachsen. Investitionen sind in Russland sekundär.“ Manchmal denke ich, dass ich mein ganzes Leben träume. Gleich wach ich auf und muss den Maulesel einspannen.

Lernen von Europa

Dass man mich als ungehobelten asiatischen Klotz ansieht, ist nicht das Schlimmste in diesem Leben. In Usbekistan nennt man die Russen „Schweineohren“. Solche Leute gibt es überall. Ich spreche bis heute kein perfektes Russisch. Kann vorkommen, dass ich „andere Möbeln“ sage. Absichtlich. Die Leute fragen bei der Telefonauskunft: „Ich hab seinen Namen vergessen. Er kommt aus Asien und macht Sofas.“ Die Auskunft gibt meine Nummer weiter. Das nenne ich berühmt. Immanuel Kant arbeitete einst in der Wallenrodtschen Bibliothek. Ein großer Philosoph, dessen Werk ich sehr schätze. Auch die Bibliothek haben wir restauriert. Wenn ich Besuch habe, zeige ich gern diese Arbeit. Dann stelle ich meine S-Klasse in der Nähe von Kants Grab ab, wo meist viele deutsche Touristen sind, die mich ganz irritiert anblicken: ihr Land, ihr

MAXICK.RU

JAN LIESKE

Der Dom verleiht Kaliningrad heute wieder sein unverwechselbares Gesicht. Aber nach 1944, als die Engländer ihn zerbombt hatten, war hier 60 Jahre lang eine Steinwüste. Wir sind da zum Pinkeln hingegangen. Die Orgelakustik machten die Deutschen, die Fassade ist von uns. 8250 Orgelpfeifen, 12 Register. Davor hat der Initiator des Wiederaufbaus zwei Monate lang auf mich eingeredet. Warum ausgerechnet auf mich, ich mache doch Möbel! Doch dann hat mich die Potsdamer Firma Schuke nach Deutschland eingeladen und mir ihre Orgeln gezeigt. Sie haben mich überzeugt. Ein phänomenales Instrument ist dabei herausgekommen. Als Erstes haben wir dann „Sweet Child in Time“ von Deep Purple drauf ausprobiert. Das hat alle umgehauen! Ich bin Usbeke aus dem Dorf Bergalik bei Taschkent, das gibt’s nicht mal auf der Landkarte. Nach der vierten Klasse steckte mich mein Vater in ein Internat für Kunsterziehung. In unserer kinderreichen Familie gab’s wenig zu essen, und dort wurde man einigermaßen versorgt. Nach der Fachschule musste ich zur Armee. Ich kam in eine Raketeneinheit bei Kaliningrad. Weil ich aber dauernd riesige LeninPorträts nachmalen musste, habe ich nie eine Rakete aus der Nähe gesehen. Nach dem Dienst beschloss ich zu bleiben. Nun lebe ich schon 35 Jahre hier.

BIOGRAFIE

Wie ein Phönix aus der Asche Der Königsberger Dom erhielt 2008 eine neue Chor- und eine Hauptorgel. Der Prospekt der Hauptorgel, von Ibragimows Firma gefertigt, orientiert sich weitgehend an dem Original von 1721, jedoch mit einigen Änderungen:

Der preußische Adler wurde durch einen Phönix ersetzt, die Mittelfigur „David mit der Harfe“ durch eine Madonna. Auch der preußische Adler im Königsberger Stadtwappen wurde durch einen russischen ausgetauscht.

Grab, ihr Auto – und dann so einer wie ich mit seiner asiatischen Visage. Herrlich! Der Kaliningrader ist mehr Europäer als Russe. Die Jungen reisen nach Europa und lernen, wie es laufen sollte. Als man den Gouverneur verjagte, wurde niemand geschlagen oder verhaftet. Selbst die Bullen sagten: „Wir haben Demokratie.“ Manchmal stell ich mir 1938 vor. Kommt ein Hellseher in eine Kö-

nigsberger Kneipe und verkündet: „1944 wird die Stadt von den Engländern zerbombt, aber zu Beginn des nächsten Jahrhunderts wird ein Usbeke nach Russisch Königsberg kommen und die Dom-Orgel restaurieren!“ Sie hätten diesen Fantasten garantiert mit Bierkrügen beworfen. Maks’ Gedankengänge notierte und ordnete Igor Najdjonow für das Magazin Russki Reportjor.

PHOTOXPRESS

Russlands Medien und wie sie funktionieren Wahlen am 4. März 2012: Wer wird wieder Präsident?

1. Februar 2012


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