MAG 01: Jenufa

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Musik 25

Die geniale Stelle Aus dem Scherzo der ersten Sinfonie von Robert Schumann

J

eder kennt die «schönen Stellen» in Werken grosser Komponisten. Oft sind es kurze, manchmal etwas längere Passagen, die dem Hörer sofort auffallen, sei es eine besonders gelungene melodische Linie, sei es eine harmonische Wendung, die sich sofort einprägt oder auch ein einzigartiger, origineller, bis dahin nicht gehörter Instrumentationseffekt. Oft sind es solche Stellen, in denen sich die Genialität des Komponisten und seine unerschöpfliche Kreativität zeigen. Und dann gibt es noch die anderen schönen oder auch genialen Stellen, die dem Hörer nicht sofort auffallen, die er aber um so mehr lieben lernt, je besser er das Werk kennt. Sie setzen oft nicht so sehr auf den äusserlich überwältigenden Effekt, sind stiller, vielleicht in sich versunkener und entfalten ihren Reiz erst ganz, wenn man sie im Gesamtzusammenhang des Werkes hört, zu dem sie gehören. So eine geniale Stelle, die ich ganz besonders liebe, fi ndet et sich im Scherzo von Robert Schumanns Sinfonie Nr. 1, die als Frühlingssinfonie ie bezeichnet wird. Diesen Namen trägt sie durchaus zu Recht, denn als Schumann sie im Frühjahr 1841 in nur wenigen Tagen, von einem wahren Schaffensrausch gepackt, niederschrieb, war dies nicht nur für Schumann der Durchbruch zur lange gesuchten grossen Form, sondern auch das erste Aufkeimen einer ganz neuen sinfonischen Konzeption, die Beethovens Erbe aufnahm und auf originelle Weise weiterführte.

Der Komponist selbst nannte die Coda des Scherzos die schwierigste Passage der ganzen Sinfonie, was schon darauf hindeutet, dass diese Stelle aus dem Rahmen fällt. Und tatsächlich fasst sie mit wenigen Strichen zusammen, was das Neuartige an Schumanns Sinfonik ist. Das sehr energische, rhythmisch pointierte Scherzo in d-Moll wird zweimal von spitzbübischen Trios unterbrochen. Nach dem zweiten Trio erwartet der Hörer die Wiederkehr des Hauptteils, und dies scheint zunächst auch zu geschehen. Aber dann kommt die Überraschung: Schon nach kurzer Zeit wendet sich die Tonart nach D-Dur und schon der zweite Teil des Scherzo-Themas gewinnt einen ganz neuen Klang. Aber damit nicht genug: Es folgt nun eine kurze Passage von seltsam verschatteter, melancholische Lyrik, die die scheinbare Gedankenlosigkeit des ersten Trios in Frage stellt. Aber schon ändert sich der Ton erneut, in wieder sehr viel rascherem Tempo – «Quasi Presto» – mit einer wie «verwaschen» wirkenden Rhythmik wird alles plötzlich weggewischt. Es ist als würde Wasser auf ein Aquarell geschüttet, über das wir uns gerade liebevoll gebeugt hatten. Das Ende? Noch einmal der Gedanke eines schönen Traums in D-Dur. Und eine ebenso enigmatische wie unvergessliche Zusammenfassung des Einzigartigen dieser zutiefst romantischen Sinfonie in nur wenig mehr als 40 Takten: Robert Schumann in seiner Bestform! Fabio Luisi


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