MAG 01: Jenufa

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handeln, als ob sie von einer Obsession erfasst wären. Ich habe das Gefühl, Jenůfa ist wie für mich gemacht. Mich reizt es sehr, mich mit starken Frauenschicksalen aus der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Ich kann mich in diese unglücklichen Frauen besser hineinversetzen als in die meisten männlichen Figuren, obwohl ich natürlich aus einem männlichen Blickwinkel auf sie schaue. Alle drei Frauen in diesem Stück sind sehr viel rätselhafter als die Männer: Jenůfa, die Küsterin, die Jenůfas Stiefmutter ist, und die Alte Buryja, die Jenůfas Grossmutter ist. Bei Janáček ist die Geschichte um Jenůfa, die von ihrem Geliebten Steva ein uneheliches Kind bekommt, das von der Küsterin getötet wird, in einer engen, von starren Moralvorstellungen bestimmten mährischen Dorfge­ meinschaft angesiedelt. Sie haben sich für eine andere Situation entschieden und übersetzen die Opernhand­ lung in eine heutige Gesellschaft. Kann das funktionie­ ren? Ist die Handlung nicht von den ursprünglich vor­ gesehenen gesellschaftlichen Umständen abhängig? Ich kann doch heute nicht mehr über das Leben in einem mährischen Dorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzählen. Das ist für uns so weit weg wie der Mars bei Ray Bradbury!

Wir haben das Motiv der sozialen Armut von dem Stück abgezogen wie eine Haut – und was darunter zum Vorschein kommt, ist noch interessanter.

Wir wollen uns doch mit den Figuren auf der Bühne identifizieren. Die Geschichte muss glaubwürdig sein. Deshalb wird ein mährisches Dorf nicht funktionieren, das ist eine alte Struktur, die es so nicht mehr gibt. Alles, was passiert, würde man dann damit rechtfertigen, dass es irgendwo weit weg im Osten stattfindet und uns nicht betrifft. Folklore wird es bei uns nur in der Musik geben, nicht auf der Bühne. Wie bei einem prächtigen, reich verzierten Gebäude möchte ich alle Verzierungen wegnehmen und nur das Skelett des Gebäudes übrig lassen, um zu sehen, wie es gebaut ist. Mit Skelett meine ich in unserem Zusammenhang die Beziehungen der Figuren zueinander. Deshalb hat mir immer der zweite und dritte Akt am besten gefallen, denn die folkloristischen Ele-

mente werden weniger, und es kommt das zum Vorschein, was zu zeigen Janáčeks Stärke ist – die Leidenschaften der Figuren. Wenn wir diese ganze äussere Hülle wegnehmen, stellen wir fest, dass wir heute den gleichen Leidenschaften unterworfen sind wie die Helden Janáčeks. Wir haben das Motiv der sozialen Armut von dem Stück abgezogen wie eine Haut – und was darunter zum Vorschein kommt, ist noch interessanter. Denn je tiefer wir unsere Verletzungen in uns vergraben, desto traumatischer werden sie. Sie sind ein Regisseur, der intensiv an der Psychologie der Figuren arbeitet und Text und Musik sehr genau im Hinblick darauf analysiert, was diese Figuren motiviert. In den Proben tasten Sie sich in das Innere der Figuren vor. Was steht am Anfang dieser Annäherung? Der Ausgangspunkt ist für mich immer, einen Ort zu entwerfen, der zugleich auch ein dramaturgisches Gerüst vorgibt. In Jenůfa ist dies ein Haus, in dem drei Frauen aus drei verschiedenen Generationen zusammenleben. Männer haben zu dieser Welt schon lange keinen Zutritt mehr, obwohl sich die Frauen alle nach Glück und Zärtlichkeit sehnen. Was die Psychologie der Figuren angeht, so habe ich am Text und an der Musik nichts geändert – aber die dramaturgische Motivation für das, was die Figuren zum Ausdruck bringen, ist in vielen Momenten eine andere. Für mich gibt es in diesem Werk keinen einzigen überflüssigen Klang, und kein Klang existiert nur aufgrund der musikalischen Struktur. Alles hat immer eine Beziehung zum Drama. Ich analysiere die musikalische Linie, Veränderungen im Tempo, einen lauten Akkord im Orchester im Bezug auf die Handlung. Ich stelle den Darstellern Aufgaben wie zum Beispiel: Diese Phrase drückt nicht die Wahrheit aus; oder: Mit diesem Text versuchst du, dein Gegenüber zu verwirren; oder: Du singst diese Phrase, um zu verschleiern, was du wirklich denkst. Wir


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