12x12 // ARTigo

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ARTigo Hubertus Kohle



ARTIGO – WAS IST DAS?

ARTigo ist ein Social-Tagging-Spiel, bei dem es um die Beschreibung von Kunstwerken bzw. deren Reproduktionen durch Laien (und auch Fachleute) geht („crowdsourcing“). Über das Internet werden ARTigo-Spielern Kunstwerke präsentiert, die sie mit passenden Begriffen annotieren (www.artigo.org). Alles ist hier erlaubt: Angaben zur Farbe, zur Ikonographie, zum Stil oder auch zu Gefühlen, die von den Werken ausgelöst werden. Bedingung dafür, dass die Begriffe als suchbare in die Datenbank aufgenommen werden: Ein zweiter Spieler muss exakt den gleichen Begriff eingeben. Ansonsten unterliegt dieses weitgehend redaktionsfreie Spiel der Gefahr, Opfer von allen möglichen trolls zu werden, die es darauf anlegen, Unsinn zu produzieren. Aber wenn es passt, kann der Spieler Punkte bekommen. Und auch die noch nicht gedoppelten Begriffe werden aufbewahrt und „scharf“ gestellt, also suchbar gemacht, sobald ein zweiter den gleichen eingegeben hat.


WOFÜR IST ES GUT?

Die Frage ist doppelt zu beantworten. Wir als Anbieter einerseits sammeln wertvolle Daten, mit denen unter anderem auch die Wissenschaft eine Schneise in den Wald von Millionen Kunstwerken schlagen kann, um solche herauszufinden, die einem bestimmten Interesse entsprechen. Ein Historiker etwa, der sich für die Französische Revolution interessiert, kann auf diesem Wege zum Beispiel nach „Napoleon“ oder „Robespierre“ suchen und wird viele Beispiele finden. Eine Suche nach Himmel -Wolken liefert wolkenlose Himmel. Aber auch diffusere Anfragen kommen vor, z.B. solche nach Stimmungsbildern. Gerade für solche Suchen eignen sich hervorragend die Daten von Teilnehmern, die nicht im Korsett der wissenschaftlichen Kunstgeschichte befangen sind. Sie als Spieler andererseits lernen Kunstwerke kennen und memorieren diese zusammen mit ihren sogenannten Metadaten, Angaben zum Künstler, zum Titel, zur Datierung und zum Aufbewahrungsort.


WER KANN MITMACHEN?

Alle. Kein Witz. Man muss natürlich in eine Tastatur tippen können. Damit dürften sich grundsätzlich 5- wie 95- jährige angesprochen fühlen. Und man muss einen Internetzugang haben - was inzwischen für 75% aller Deutschen zutrifft. Auch ist es nicht nötig, sich anzumelden, man kann auch völlig ungebunden spielen. Allerdings empfiehlt es sich, ein Konto anzulegen, damit man Punkte sammeln kann. Wir versprechen, die Daten nie mit Ihren persönlichen Angaben weiterzugeben. Wir haben auch eine englische und eine französische Website, langfristig möchten wir natürlich die ganze Weltbevölkerung ansprechen :), gerne nehmen wir Anregungen für die entsprechende Ausgestaltung der Website entgegen! Unsere liebsten Spieler übrigens: diejenigen, die es weitersagen.

IST ARTIGO AUSBEUTUNG?

Eine kniffelige Frage, aber wir würden sie letztlich mit nein beantworten. Sicher, wir lassen unsere Spieler


Daten eingeben, für die man sie auch bezahlen könnte. Da in der Geisteswissenschaft das Geld generell knapp ist, können wir uns das nicht leisten. Aber wir glauben, Ihnen mit ARTigo trotzdem auch etwas zurückgeben zu können: Spaß und Bildung. Übrigens läuft z.B. auch die wikipedia nicht anders: Zehntausende von Schriftstellern verfassen hier teilweise ausführliche Lexikonartikel ohne jede Bezahlung. So wie bei ARTigo machen sie dies auch, um anderen einen Dienst zu erweisen, den sie für nützlich halten. Es gibt Fachleute, die behaupten, dass solche Vorgehensweisen das zukünftige Wirtschaftsleben bestimmen werden.

WER SETZT ARTIGO EIN?

Neben dem Institut für Kunstgeschichte und demjenigen für Informatik der LMU München, die das Spiel für die Sammlung von Beschreibungsdaten einsetzen, mit denen man später nach Bildern suchen kann, haben sich inzwischen verschiedene Museen entschlossen, ARTigo für ihr eigenes Museumsmarketing zu verwen-


den. Die Kunsthalle Karlsruhe etwa lässt mit ARTigo ihre eigenen Bilder annotieren und schenkt dem monatlichen Highscorer ein Buch aus eigener Produktion. Es besteht die begründete Hoffnung, dass ARTigo auch dazu beitragen kann, die Besucherzahlen vor Ort zu steigern. Museen nämlich sind vor allem auf eines angewiesen: dass man sie kennt und dass man weiß, was sich in ihnen befindet. So gesehen gehört ARTigo zu den social media, die zur Zeit an allen möglichen Ecken und Enden das gesellschaftliche Leben verändern.

WAS KANN MAN MIT DEN DATEN ANSTELLEN?

Wie gesagt, in erster Linie wollen wir die Suchbarkeit von Bilddatenbanken verbessern. Damit ist schon viel für eine digital organisierte Kunstgeschichte gewonnen. Darüber hinaus aber ergeben sich Perspektiven der Datenanalyse, die wir uns am Anfang gar nicht vorstellen konnten. Z.B. ist es sehr interessant zu untersuchen, ob unterschiedlich sozialisierte Menschen eventuell auch unterschiedlich annotieren. Dass Frauen anders


beschreiben als Männer, wird man nachvollziehen können. Auch, dass Kinder anders taggen als Erwachsene. Interessant aber ist der Unterschied zwischen kulturell unterschiedlich geformten Individuen. So schauen Asiaten ganz anders auf Bilder als Europäer - und die Vermutung wäre, dass sich das auch in der Reihenfolge der tags ausdrückt. Ein spannendes Wissenschaftsgebiet, das unbedingt weiter ausgelotet werden sollte. Natürlich immer unter strengen Datenschutz-Bedingungen.

UND WAS NOCH?

Neben dem Aufschluss, den man aus dem Spiel über die Identität der beschreibenden Individuen erlangen kann, ergeben sich aber auch Möglichkeiten, Eigenheiten der beschriebenen Kunstwerke zu ermitteln, die aus der Menge der Annotationen resultieren. So glauben Informatiker etwa, dass man aus der Analyse der Annotationen auf den Stil schließen kann, dem das beschriebene Kunstwerk angehört. Wohlgemerkt ohne,


dass dieser Stil als explizite Beschreibung vorliegt. Interessant ist auch die Vermutung, dass die Reihenfolge der tags auf die Identität der Kunstwerke schließen lassen könnte: Wozu etwa wird ein Werk gehören, dass am Anfang mit „blau“, „dynamisch“ und „Diagonale“ annotiert wird? Genau, es wird ein abstraktes sein, denn ein gegenständliches Bild, das durchaus die gleichen Eigenschaften haben könnte, wird anfänglich bestimmt eher mit „Pferd“, „Barock“ und „Reiter“ annotiert werden.

ARTIGO ET AL.

Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, haben wir verschiedene Versionen des Spiels aufgelegt, die für Abwechslung sorgen. Bei ARTigo taboo dürfen Sie nur Begriffe eingeben, die noch nicht verwendet wurden, um Punkte zu bekommen. Bei karido sind Sie aufgrund der Spiellogik angehalten, besonders präzise Begriffe zu verwenden, also etwa nicht einfach nur „Frau“, sondern „Maria“, nicht „Bibel“, sondern „Neues Testa-


ment“. Ganz schräg ist das ARTigo Quiz, mit dem wir versuchen, den Ansatz des berühmten Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin empirisch zu begründen. Und es spricht nichts dagegen, in Zukunft auch noch weitere Spielversionen zu schalten.

LITERATUR Tim Haarmann, Zocken für die Forschung, in: Die Zeit vom 21.9.2013 (http://www.zeit.de/2013/38/citizen-science-eyewire-seti) Hubertus Kohle, Kunstgeschichte goes Social Media. Laien optimieren eine Bilddatenbank – mit einem digitalen Spiel, in: Aviso. Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern, 3/2011, S. 37-43 (http://www.km.bayern.de/download/9324_aviso_2011_3.pdf) Mia Ridge, Crowdsourcing our cultural heritage, Ashgate 2014 Holger Simon, ARTigo, in: Kunstchronik 2008/11, S. 570f.

DER AUTOR

Hubertus Kohle ist Professor für Kunstgeschichte an der LMU München.


ARTIGO

DIE SERIE 12X12 WIRD HERAUSGEGEBEN VON DEN KULTURKONSORTEN

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