joe09 - Blickwechsel

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EDITORIAL

Editorial. Zur Ausgabe. Hier ist es: joe09. Während mich die letzte Ausgabe noch in den Wahnsinn trieb, tausche ich mit dieser verliebte Blicke aus. Vielleicht sollte eine Chefredakteurin mehr Distanz zu ihrer Arbeit wahren, aber möglicherweise ist genau das der wichtigste Teil überhaupt: zu lieben, was man tut. joe09 ist anders als seine Vorgänger. Das liegt nicht nur daran, dass der Art Director sich in Übersee befindet und dank Zeitverschiebung genau dann schläft, wenn ich seinen Rat brauche und umgekehrt. Oder an der Tatsache, dass mein aus dem Amt scheidender Vorgänger immer wieder in den Tiefen des Ostens verschwunden ist – ohne Handy oder Internetempfang. Nein, joe09 grenzt sich diesmal vor allem durch seine Reportagen, Interviews und Berichte ab. Für unser Titelthema „Blickwechsel“ haben wir mehr als nur unsere Blickrichtung geändert. Wir begaben uns in mit Fäkalien beklebte Kanäle und haben dafür unseren Geruchssinn mehr als malträtiert. Wir haben mit einer Autorin gesprochen, die fliehen musste, weil sie über das schrieb, was andere totschweigen. Und wir können nun nachvollziehen, wie es sich anfühlt, ein menschliches Herz in der Hand zu halten. Ein bisschen zumindest. „Blickwechsel“ bedeutet nur auf den ersten Blick, dass wir einzig unsere Perspek­ tive gewechselt haben. Beim zweiten Mal Hinschauen wird klar, dass joe09 voller Menschen ist, die lieben, was sie tun, und dafür Grenzen aller Art überschreiten. Und vielleicht entscheidet sich der ein oder andere Leser dazu, noch einen dritten Blick zu riskieren: Denn es ist alles nur eine Frage des Blickwinkels. Werkbericht. Weg von Fotos und hin zu Illustrationen hieß es bei dieser Ausgabe. Das haben wir geschafft, dank Info-Designerinnen, die selbst dann Ruhe bewahren, wenn sie dasselbe Motiv zum zehnten Mal neu zeichnen müssen. Auch unter den Autoren finden sich neue Gesichter, deren Geschichten wortwörtlich „unter die Haut“ gehen. Und dann gibt es ja noch das leidige Thema der Finanzierung. Blöd, wenn Verantwortliche auf einmal von Erdlöchern verschluckt werden. Oder so ähnlich. Dafür gibt es einen neuen Rekord bei der Speed-Inserat-Beschaffung.

Es gibt Neuigkeiten. Ab dieser Ausgabe wird das joe Magazin allein­ verantwortlich von einer neuen Chefredakteurin geleitet. Schon in den vergangenen Monaten machte sie sich mit ihren Ideen und ihrem Engagement unverzicht­ bar. Ich bin mehr als nur freudig gespannt, wohin sich dieses Magazin mit seiner neuen Chefredak­ teurin entwickeln wird. Letzte, beste Grüße,

Hubertus J. Schwarz

Kontakt: joe@fh-joanneum.at joe.oeh-joanneum.at | joemagazin

Mitmachen. Ein Magazin ist nur so gut wie die Menschen, die daran mitwirken. Unser Team bei der vorliegenden Ausgabe war mehr als nur gut, und das ist etwas, das wir auch weiterhin halten wollen. Vollkommen gleichgültig, ob ihr lieber foto­ grafiert, schreibt, lektoriert oder was auch immer eure Interessen sind: Bedarf an neuen Talenten gibt es immer. Also MACHT MIT! Schreibt ’ne Mail oder sucht joe auf Facebook.

Jennifer Polanz, Chefredakteurin Cover: Tanja Gahr

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INHALT

EDITORIAL INHALT FH LIVE STUDY ABROAD: NEW YORK 24 STUNDEN INTERVIEW: KARL PETER PFEIFFER ÖH JOANNEUM SO SIND WIR: INFORMATIONSDESIGN STANDORTKOLUMNEN EINBLICKE RUNTERGESPÜLT REPORTAGE: KLOSTER SINNVOLL | SINNLOS

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MENSCHEN DAS EXIL IST IHR GEFÄNGNIS HABEMUS MAMAM UNTER SCHAFEN UNTER DIE HAUT DER TRAUM VOM LEBEN IN FREIHEIT KULT ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST ODE TO JOE IMPRESSUM

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Illustration: Tanja Gahr


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New York, New York! Sightseeing-Oase. Shoppingparadies. Hauptstadt des Kommerzes. New York, das ist Lifestyle, Hektik und Sirenengeheule; Broadway, Times Square und Freiheitsstatue. New York ist die Stadt, die niemals schläft. Oder so. Ein Blickwechsel in den Alltag einer Weltmetropole. Text: Christopher Eder Fotos: Thomas Schuller

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er es hier schafft, der schafft es überall. Das sang einst schon Frank Sinatra und machte aus der ehemals größten Stadt der Welt einen Musikhit. Die Melodie klingt nach mehrstündigem Einreiseprozedere und einer turbulenten Taxifahrt nur noch leise in den Ohren, als ich endlich das neue Heim in Manhattans Upper East Side betrete. Das ist er also, der amerikanische Traum. Scheinbar beginnt der für einen österreichischen Studenten in einem spärlich eingerichteten Zimmer auf knappen zehn Quad­ ratmetern. „Wenigstens keine Tiere“, brachte ein Freund die Situation mit Zweckoptimismus auf den Punkt – die Zeit wird zeigen, ob er mit dieser Vorhersage Recht behält. Er ist es auch, der mir bald nach meiner Ankunft ans Herz legt, am Heimweg in der U-Bahn bloß nicht einzuschlafen. Einem Kollegen sei das passiert, einige Stunden später fand er sich in der Endstation inmitten der Bronx wieder. Ohne Wertsachen und der Hälfte seiner Klamotten, dafür aber mit der spannenden Aufgabe, den „Walk of Shame“ antreten zu können. Ich versuche, diesen Ratschlag zu befolgen, als ich mit dem ungewohnten Gefühl, New York erstmals nicht als Tourist zu erkunden, in die Straßenschluchten trete.

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Der ganz normale Wahnsinn. Ehe man sich ver­ sieht, ist man selbst Teil des hektischen Treibens. Und so wird auch relativ bald klar, welches Utensil wohl das wertvollste im New Yorker Alltag ist: Kopfhörer. Dank ihnen ist die Welt für kurze Zeit ausgeblendet, das Gedränge im Express Train Richtung Downtown zur Rush Hour vergessen. Hie und da gibt es dann aber doch Gründe, diese Idylle mit ein wenig Liveaction zu tauschen. Zum Beispiel wenn ein Train Singer die U-Bahn in eine Bühne verwandelt, immer in der Hoffnung, vielleicht doch den richtigen Produzenten zu treffen. Ich höre ihm einige Minuten gedankenverloren zu. In Österreich wäre er wohl ein aussichtsreicher Kandidat für eine Castingshow (sofern seine Vergangenheit tragisch genug ist), hier ist er nur einer unter Tausenden. Zwei Stationen weiter ist die Vorstellung auch schon beendet. Eine junge Frau klatscht zögernd, beendet den Applaus aber mangels Unterstützung schnell wie­ der. Mit den Worten „Remember: Be thankful! This is a day the lord has made!“ verabschiedet sich der Mann und verlässt die U-Bahn. Die Begeisterung beim Publikum hält sich trotzdem in Grenzen. Montag früh scheint dann doch der falsche Zeitpunkt für diese Aufmunter­ung gewesen zu sein.

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Überhaupt laufen die Uhren in dieser Stadt ein we­ nig anders. Öffnungszeiten von Geschäften haben grundsätzlich mit dem Sonnenstand wenig zu tun und Ampel­zeichen bedeuten auch nur, dass das Über­ queren der Straße eher gefährlich (rot) beziehungs­ weise eher ungefährlich (weiß) ist. Riskanter ist da schon der Versuch, sich morgens um eines der Taxis zu streiten, wenn die Züge der U-Bahn wieder einmal stehen bleiben. Mit allen möglichen und unmöglichen Gesten und Tanzchoreografien wird da versucht, die Aufmerksamkeit der Taxifahrer für sich zu gewinnen. Zumindest in meinem Fall mit mäßigem Erfolg – viel­ leicht auch, weil New Yorker an so manches Schau­ spiel gewohnt sind. An Hunderten Ecken versuchen Straßenmusiker ihr Glück und in Warteschlangen nutzen Stand-up Comedians die Gunst der Stunde, Witze für zwei Dollar zu verkaufen, „garantiert ko­ misch“, wie versichert wird. So verwundert es bald auch nicht mehr, wenn ein gut gebauter Mann Mitte 40 seelenruhig am Straßenrand steht – auf seinem Kopf eine ebenso stattliche Katze. Joe und der Geheimdienst. Und dann wird es auf einmal doch wieder hektisch. Schauplatz ist das Café Antonucci, ein kleines italienisches Restaurant, einen Block westlich des Guggenheim Museums. Davor

stehen quer über den Bürgersteig fünf schwarze SUVs mit Regierungskennzeichen und laufendem Motor. Umringt sind sie von einer Horde Schaulustiger und ebenso vielen freundlichen Herren in Schwarz. Ich frage einen Fotografen, wer denn nun im Café sei, worauf dieser nur grinst und ratlos mit der Schulter zuckt. Ein junges Pärchen versucht, das Restaurant zu betreten, und wird von einem der Special Agents minutenlang untersucht. Schließlich zahlt sich die Wartezeit doch aus: Vice President Joe Biden nebst Gattin tritt unter großem Jubel aus dem Restaurant und steigt in einen der Wagen. Er grüßt kurz die Menge, eine Frau ruft „We love you Joe“, dann ist das Schauspiel auch schon wieder vorbei. Es erstaunt, wie schnell dieser alltägliche Wahnsinn zur Routine verkommt. Vom mexikanischen Ange­ stellten im Stamm-Sandwichladen werde ich mit „Take care, brother“ verabschiedet, bevor ich am Nachhauseweg in die U-Bahn Station trete. Wie jeden Tag um diese Uhrzeit wartet bereits eine drei­köpfige Jazzband am Bahnsteig der Fulton Street. Und da ist sie wieder, eine schon fast vergessene Melodie. Ich nehme meine Kopfhörer aus dem Ohr und muss grinsen. Frank Sinatra – New York, New York. Dann schließt sich die U-Bahn Tür.

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24 Stunden Blick wechseln durch Graz Text: Stephanie Schiller & Max Tonsern

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Einen ganzen Tag in Graz verbringen? Kein Problem. Mit unseren Tipps wird dieser Tag zu einem besonders interessanten. Frühstück im stilvollen Café, trostlose Einkaufspassage. Spaziergang am Murufer, atem­be­raubender Ausblick auf den Dächern von Graz. Und ein Ende im Keller. 09.00 Uhr

11.00 Uhr

Café Foyer

Annenpassage

Stilvolles Ambiente, Kaffee um 1,60€ (bis 11:00 Uhr) und ein wohlschmeckender, herzhafter Toast. Dazu der Ausblick auf die Annenstraße, Tische direkt an den Auslagen und gute Musik. Der Kristall­ luster verbreitet angenehm warmes Licht, die Musik perlt aus den Lautsprechern und der Chef, Christian, ist bald dein Kumpel. Unter diesen Umständen lässt es sich gut frühstücken. Und: frag den Chef nach dem Schild in der Toilette. Lustige G’schicht.

Trostlosigkeit und verwaiste Auslagen, kein Stress beim Shoppen und schon gar kein Gedränge vor Sonderangeboten – das ist die Annenpassage! Fake Plugs beim Diskont Piercing Shop? Farbige Fingerlack­ ierungen bei USA Nails? Zahlreiche billige aber trendige Klamotten im Syndikat? Bei Videogames Pilko eine Trash-DVD aussuchen? Noch nie war es so legendär, Erhaltungskon­sument zu sein!

13.00 Uhr

15.00 Uhr

Murufer

Linzbichler

Gemütlich spazieren gehen und dem Rauschen der Mur lauschen? Das geht prima an der Murpromenade! Hier nimmt man am Trubel der Stadt teil, ohne viel zu tun. Nicht nur die neuesten Werke der Grazer GraffittiSzene sind sehenswert, auch die Kletterwand lädt zur sportlichen Betätigung ein. Und wer’s besonders roman­ tisch mag, besucht die Murpromenade des Nachts und sieht ein Spiegel­bild des erleuchteten Graz im Wasser der Mur.

Lust auf etwas Süßes? Dann ist man im Linzbichler goldrichtig. Das kleine Süßwarengeschäft am Franzis­ kaner­platz bietet über 200 Sorten an Schoko­lade und Lebkuchen, zudem Bonbons aus dem altehrwürdigen Zuckerlglas und „Hühner­eier“ mit Haselnuss-MandelPralinén. Und die Trüffeln in Schokolade-Sahne-Masse sind die besten aus ganz Österreich...

16.00 Uhr

Open End

Kastner & Öhler

Music-house

Coffee-Time. Das modern eingerichtete Ristorante La Terazza am Dach des Modehauses Kastner & Öhler ist bekannt für sein besonderes Ambiente. Auf der Dachterrasse kann man neben Kaffees, Aperitifs und kleinen Speisen auch eine einmalige Aussicht über die gesamte Stadt genießen – der perfekte Ort um die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zu absor­ bieren. Kleiner Tipp am Rande: besonders empfehlens­ wert ist das Schokomousse!!!

Alles Gute kommt von unten. Wer noch nie die Treppen zum Music-house hinunter stolperte, hat noch nie ein Graz gesehen, wie es nur die dunkelste Nacht hervor­­­­ bringen kann. Der Name ist Programm, die Musik laut und dröhnend, das Bier günstig und der Fußballtisch meistens besetzt. Bestell drei Marcel, trink die und ver­ abschiede dich von deinen Liebsten. Hier kommen nur die Härtesten her – und lebend wieder hoch.

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Die FH hat

ein Facelifting

gebraucht

Die FH JOANNEUM hat eine neue Department-Struktur. Wofür diese gut ist, wie es um das FH-Budget steht und warum er an die Einführung von Studiengebühren glaubt, erklärt Rektor Karl Peter Pfeiffer. Ein Gespräch über die Zukunft.

Interview: Christoph Schattleitner Fotos: Wolfgang Schnuderl

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Die Studiengänge der FH JOANNEUM wurden im Februar in sechs Departments neu organisiert. Warum war diese Neustrukturierung notwendig? Es hat ja vorher schon vier Fachbereiche gegeben. Wir haben ein paar Studien­ gänge umgruppiert und diejenigen zusammengefasst, die inhaltlich gut zusammenpassen. Das heißt, die müssen in der Department Konferenz überlegen: Wo können wir zusammen­ arbeiten? Wie schaffen wir gemeinsame Infrastruktur? Können wir Mitarbeiter gemeinsam einsetzen? - Das große Stichwort heißt Synergie in Lehre und Forschung. Wie wurde die Neustrukturierung von den Studiengängen aufgenommen? Wir haben mit den Leuten gesprochen, ob es wirklich passt. Ganz leicht ist es nicht immer gewesen. Ich glaube, wir haben gute Argumente gefunden, um die Leute zu überzeugen. So wie ich das einschätze funktioniert das sehr gut. Da entstehen Chancen für eine Weiter­ entwicklung. Und was ändert sich konkret für uns Studierende? Spürbar gar nichts. Was sich vielleicht verändert, ist, dass innerhalb eines Departments Wahlfächer aus einem an­ deren Studiengang angeboten werden. Oder dass in einer Vorlesung einmal ein paar Leute mehr drinnen sitzen. Sieht so die Zukunft des Studierens aus, dass Studiengänge zunehmend verschmelzen? Ich würde es anders formulieren. Die FH-Studiengänge sind sehr verschult. Eine Wahlfachmöglichkeit halte ich für eine große Chance für eine individuel­ lere Gestaltung des Studiums. Man könnte auch sagen: Die FH wird Uni-ähnlicher. Nein, das würde ich nicht sagen. Die Departments bieten sich gegen­ seitig Wahlfächer an, das sind neue Chancen. Das ist noch lange nicht Uni-ähnlich, aber ein bisschen selbst­ ständiger zu sein würde ich durchaus spannend finden.

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Versucht die FH durch die Neustrukturierung auch Kosten zu sparen? Wir werden uns dadurch nicht viel er­ sparen. Die Budgets bleiben die glei­ chen wie bisher. Aber der Department­ vorsitzende hat das Gesamtbudget im Auge und kann sich somit überlegen, wo man eventuell etwas einsparen kann, und dadurch neue Möglich­ keiten schafft. Apropos Budget: Das Landesbudget für 2014 ist gekürzt worden und das Bundesbudget für die FH JOANNEUM wird seit vier Jahren nicht mehr an die Inflation angeglichen. Wie lange geht sich das noch aus?

Die goldenen Zeiten für die FH sind vorbei. Wir haben zwar eine super Infrastruktur, aber wir müssen 2014/15 schauen, dass die Mittel erhöht wer­ den, da ja auch die Gehälter steigen. Da sind wir sicher an der Grenze. Die Herausforderung wird es sein, unsere Leistungen so gut zu verkaufen, dass auch die Politik sagt: „Ok, wir geben ein bisschen mehr für die FH, damit diese die Qualität halten kann.“ Günther Riegler, Geschäftsführer der FH, hat in einem ORF-Interview gesagt, dass er das nicht „so dramatisch“ sieht. Sind Sie mit ihm einer Meinung? Dramatisch wäre es dann, wenn wir


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„ Eine Wahlfachmöglichkeit halte ich für eine große Chance für eine individuellere Gestaltung des Studiums.

Leute kündigen müssten oder wenn wir eine gewisse Infrastruktur nicht mehr aufrechterhalten könnten. So lange wir aber diesen Qualitätslevel halten können, ist die Situation erträglich. Was ist Ihre Meinung zur Einführung von Studiengebühren? Ich habe ein sehr ambivalentes Ver­ hältnis zu Studiengebühren. Wenn wir Studiengebühren haben, dann nicht nur für die FHs, sondern für alle. Für mich stellt sich hier die Frage der sozialen Ausgeglichenheit. Ich sehe viele Studierende bei uns, die am Abend kellnern oder am Samstag im Super­ markt Regale schichten. Das

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Wenn ich mich fürchten würde, wäre ich an der falschen Stelle. Ich fürchte mich höchstens vor einem Rottweiler. machen sie nicht, weil‘s so lustig ist, sondern weil sie Geld verdienen müssen. Studieren ist teurer geworden. Sie sind also gegen Studiengebühren. Naja, wenn dann muss es auch ein wirklich gutes Stipendium-System ge­ ben. Auf der anderen Seite, warum soll man es ganz gratis machen? – Einen gewissen Beitrag kann ich mir durch­ aus auch vorstellen, aber 700 Euro im Jahr tun einfach weh. Glauben Sie, dass es in fünf Jahren Studien­ gebühren an der FH JOANNEUM geben wird? Ja. Da wird der Druck kommen.

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Möchte man mit der Neustruktur­ ierung und dem neuen Corporate Design mehr Leute für technische Studien­gänge ansprechen? Die FH hat nach 17 Jahren generell ein Facelifting gebraucht. Neben Maturanten und Co. sprechen wir damit jetzt auch eine andere, wichtige Zielgruppe an: Die Lehrer, die den Schülern dann etwas mit auf den Weg geben. Das ist ganz wichtig, vor allem für die technischen Studiengänge. Sorry, aber Journalismus oder manche Gesundheitsstudiengänge sind zum Beispiel ungefähr zehnfach über­ bucht. Ich wäre schon zufrieden, wenn Elektronik 1½ fach überbucht wäre.

Seit der Gründung sind die Studierendenzahlen immer gestiegen Jetzt droht erstmals der Rückgang. Fürchten Sie sich davor? Wenn ich mich fürchten würde, wäre ich an der falschen Stelle. Ich fürchte mich höchstens vor einem Rottweiler. Aber wie wollen Sie mit dieser Situation umgehen? Wir dürfen das Thema Weiter­bildung nicht unterschätzen. Das ist ein Bereich, den wir in Zukunft und in allen möglichen Bereichen noch stärker ausbauen müssen. Leute, die zum Bei­ spiel zehn Jahre in ihrem Job sind, brauchen vielleicht einen neuen Input in Form von Weiterbildungsangeboten. Da sehe ich Potenzial. Ich glaube, dass wir im Raum Steiermark ein irrsinniges Potenzial im Hochschulwesen haben, wenn wir uns noch besser, z.B. im Rah­ men der steirischen Hochschulkon­ ferenz, abstimmen.


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Service matters ÖH steht für mehr als nur für Österreichische HochschülerInnenschaft. ÖH bedeutet auch Zusammenhalt, Vernetzung und Engagement. Die lokale Vertretung hier an deiner Fachhochschule bringt sich schon jahrelang für die Studierenden ein und trägt zu einem familiären Umfeld bei, in dem sich jeder und jede einbringen darf und soll. In vielen Bereichen deines Alltags an der FH haben wir unsere Finger im Spiel und meist bleibt das unbemerkt. Du kannst dich jederzeit an uns wenden, wir helfen dir, wo wir nur können. Text: Patrick Grill Illustration: Anna Spindler

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FH LIVE ÖH JOANNEUM

Liebe Kollegin, lieber Kollege, mit herausgestreckter Brust behaupte ich, dass die öh joanneum am besten Wege ist, sich in der ÖH-Landschaft zu etablieren. In der letzten Ausgabe konntest du vorab schon unser neues Erscheinungs­ bild kennenlernen, inzwischen haben wir weitere große Schritte nach vorne gemacht. Mit vollem Elan sind wir noch immer darum bemüht, dir ein attraktives Portfolio an Services und Leistungen rund um das Studium an der FH JOANNEUM zu bieten. Unser Ziel ist klar: Bester Service für die besten Studierenden! Solltest du ein Anliegen, Vorschläge, Beschwerden welcher Art auch immer haben, stehe ich gerne persönlich als Ansprechpartner zur Verfügung. Patrick Grill Vorsitzender der öh joanneum

Goodies. Selbstverständlich erhält jeder gerne Ge­ schenke und kleine Andenken. Du wirst dich bald an neuen Goodies und Werbematerial erfreuen können; darunter sind Blöcke, Kugelschreiber, Post-its und auch für Naschkatzen wird etwas dabei sein. Sei gespannt! Team. Wir sind ein Team und Teamwork ist die Quint­­ essenz. Deswegen gibt es auch unsere tollen Rubriken TeamADVENTURE, TeamBILDUNG und TeamSPORT, damit du dein eigenes Team an der FH erweiterst und gemeinsam mit anderen deinen Inte­ ressen nachgehst und dich weiterbildest. Wenn du uns regelmäßig auf unserer Website oeh-joanneum. at oder auf Facebook (facebook.com/oehjoanneum) besuchst, bist du immer über neue Aktionen infor­ miert. Lass es dir nicht entgehen! Mit vollem Einsatz. Wir bringen uns für deine Rechte und dein Geld ein. Zusammen mit anderen ÖHs in Graz und ganz Österreich sind wir stets aktiv am bildungspolitischen Geschehen beteiligt. Ob Stipendien, Mobilitätsscheck oder sonstige Budget­ kürzungen, wir lassen jeden wissen, dass die Studie­ renden der FH JOANNEUM ihr Geld wert sind! Be part of it. Du hast Lust, dich neben deinem Studium für deine Kollegen zu engagieren und über­ nimmst gerne Verantwortung? Dann lass dich bei den kommenden Wahlen als Jahrgangs- oder Studien­ gangsvertreter wählen, denn bereits im Mai heißt es wieder „‘ran an die Wahlzettel“.

Vielleicht willst du aber auch höher hinaus? Du möchtest Sprecher einer unserer Standorte oder sogar Mitglied im FH-Kollegium werden, dem höchsten akademischen Gremium an der FH JOANNEUM? Super! Melde dich einfach bei uns oder besuche uns bei einer unserer Sitzungen. Ebenso kannst du dich bei deiner Studiengangsvertretung melden und er­ kundigen, er oder sie wird dir sicher gute Ratschläge geben können und dich unterstützen. Aber das ist dir noch immer zu wenig? Du willst Teil des Vorsitzteams sein oder sogar in der bundesweiten Vertretung in Österreich aktiv sein? Hier kannst du tolle Erfahrungen und Bekanntschaften in allen Bundesländern und darüber hinaus machen. Außer­ dem erwirbst du auch tolle Kompetenzen unabhängig von deinem Studium, die dir im weiteren Leben von großem Wert sein können. Das war dir jetzt zu viel? Wir sind auch für die kleinste Tätigkeit sehr dankbar; das kann beim Verteilen von Werbemitteln bis hin zum Aufbau von Tischen im Audimax reichen. Wir freuen uns darauf, deine Persönlichkeit in unserer Runde begrüßen zu dürfen und mit dir gemeinsam zu arbeiten!

www.oeh-joanneum.at

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Etwas einfacher machen ist ganz schรถn schwer Text: Christoph Schattleitner Illustration: Tanja Gahr Inhaltlicher Input: Daniel Winter

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Was kommt heraus, wenn man widersprüchliche Fertigkeiten wie Informatik und Design mit einer Brise Psychologie in einem würzigen Eintopf verkocht? Genau, der Studiengang „Informationsdesign“, dessen Absolventen uns unter­bewusst den Alltag erleichtern.

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tellen Sie sich diesen Text mal vor, so wie ich ihn geschrieben habe. Auf einem faden Textverarbeitungsprogramm, 11pt, schwarz auf weiß, in einer Wurscht, nur die Überschrift groß­ zügig mit 12pt und fett. Das einzige grafische Gestaltungsmittel von Journalisten ist der Absatz. Haut nicht jeden vom Hocker, ich weiß. Zum Glück gibt es ja Infodesigner, die aus einer Bleiwüste einen zum Lesen einladenden Text gestalten können. Inoffizielle Haupt­ aufgabe des Berufs: Es soll was „z‘gleich“ schauen. Das ist aber noch nicht alles. Das Arbeitsfeld. Infodesigner findet man überall dort, wo es um Information und deren professionelle Kommunikation und Auf­ bereitung geht. Das kann in der Werbeindustrie genauso wie in Designagenturen oder Medien aller Art sein. Die Besonderheit des Studiengangs im österreichweiten Vergleich ist, dass er zwar breit aufgestellt aber dennoch eher künstlerisch angehaucht ist. Vor allem online kommt es zu ungewöhnlichen Mixturen. Nur dank der Ver­ bindung von rationalem Programmieren und kreativem Design ent­ steht eine anschauliche Website. Ein Designer ohne ausreichende Programmierkenntnisse würde eine Website mit miesem Code ge­stalten, bei einem reinen Programmierer würde die Seite wohl – gelinde gesagt – unästhetisch aussehen. Der Fahrplan. Aber wie wird man überhaupt Infodesigner? Als Grundvoraussetzung gilt ein großzügiges Interesse an Grafik, Design und Technik. Man sollte sich bereits vor dem Studium intensiv mit Bildbearbeitungsprogrammen wie InDesign, Photo­ shop oder Illustrator auseinandergesetzt haben, da man – entgegen verbreiteter Meinung – nicht „Photoshop studiert“, sondern gestal­ terische Konzepte lernt. Zeichnen können ist von Vorteil, aber kein Muss. Bester schulischer Grundstein: HTL oder eine Grafikschule. Damit ist man gut für das Aufnahmeverfahren gerüstet. Die Schwer­ punkte des Studiums sind nicht unumstritten: Kunst und Program­ mieren. Während der Studienzeit meckern die Künstler über das Programmieren und umgekehrt die Programmierer über die Kunst. Erst später merken viele, dass sie vom anderen Bereich profitiert

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haben – eventuell bereits im vierten Semester, in dem die Studierenden eine virtuelle Firma gründen und reelle Aufträge abwickeln. Ein Auslandssemester ist genauso möglich wie der Auslandsaufenthalt für das Pflichtpraktikum im sechsten Semester. Viele Studie­ rende zieht es dafür in Designhauptstädte wie Berlin, München oder New York. Ein Master danach ist für den Berufseinstieg nicht unbedingt notwendig, vor allem dann, wenn man sich während dem Studium einige Referenzen geschaffen hat. Der typische Infodesigner. Wer einmal Infodesign studiert hat, wird Plakate, Benutzerhandbücher und Firmenlogos mit anderen Augen sehen. Auch Fotos, Filme oder Animationen wird man nicht mehr ganz normal konsumieren können, sondern wird diese penibel genau analysieren. Infodesigner haben 24 Stunden lang die typografische Brille auf und scan­ nen innerhalb von Sekunden Format, Laufweite (Ab­ stand zwischen Buchstaben) und Auszeichnung (z.B. fett) einer Schriftart, die sie in den allermeisten Fällen auch zu benennen wissen. Selbstverständlich wissen sie auch um die Bedeutung der Schriftarten. Umso ärgerlicher ist es dann, wenn sie tagtäglich beobach­ ten müssen, wie Leute es falsch machen, oder noch schlimmer: Sie „verschandeln“ die eigene Arbeit, indem sie zum Beispiel das designte Logo verzerren (nur in die Breite/Höhe ziehen). Ein weiterer ziemlich sicherer Hinweis auf einen Infodesigner ist ein MacBook. In keinem anderen Stu­ diengang ist die Apple-Rate so hoch. In Grafik­büros ist Apple Standard. Deren Firmenmotto passt ja auch gut zu Infodesign: „Think different.“ Die Zahl der

„Staubsauger“-Besitzer (Windows-Laptops) hält sich dementsprechend in Grenzen. Die Aufgabe. Designer gestalten nichts, das keine Funktion hat. Es muss – anders als die Kunst – einen Sinn haben. Infodesigner verschönern Dinge, um die Botschaft besser zu transportieren. Die richtige Farb-, Wort- und Bildwahl beeinflusst unsere Wahrnehmung und kann über Lesen oder Weiterblättern entschei­ den. Gutes Informationsdesign macht unseren Alltag einfacher. Warum schaut etwa eine Türklinke zum Drücken anders als jene zum Ziehen aus? Unbewusst identifizieren wir mit einer bestimmten Form eine Funktion. Im besten Fall bemerken wir Design gar nicht (mehr) und verwenden es einfach automatisch. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal eine Tür in die richtige Richtung öffnen ohne das „Drücken/ Ziehen“- Schild gelesen zu haben.

So bringen Sie Ihren Designer auf die Palme 1

Sagen Sie ihm, er ist nicht kreativ. Ähnliche Ideen gibt es im Internet zu Hauf.

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Wünschen Sie sich „Comic Sans“ als Schriftart. Für die ist das „Aids und Krebs in einem“.

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Mischen Sie verschiedene Schriftarten in einem Satz.

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Wenn er sagt, dass sich manches nunmal leicht wiederholt, drohen Sie ihm, nicht zu bezahlen.

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Schicken Sie Fotos nie im .jpeg-Format an Ihren Designer. Kopieren Sie sie vorher in ein MS Word Dokument. Dieses können die Apple-verrückten Designer entweder nicht öffnen oder schaffen es nicht, das Bild herauszukopieren.

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Egal, um welche Arbeit es sich handelt, diese Frage funktioniert immer: „Kann ich nicht noch einen Regenbogen da rein haben?“

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Fernweh und Gastfreundschaft Text: Anna Felber Illustration: Mac Krebernik

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„Wo ist eigentlich die Blonde von den Diätologen? Schon lang nicht mehr beim Kaffeeautomaten gesehen. Oder beim Fortgehen. Oder beim Einkaufen. Wo steckt die … ?“

n Bad Gleichenberg merkt man sich Gesichter. Beim Einkaufen, beim Fortgehen, auf der FH und in den Wohnheimen sieht man immer die gleichen Studierenden. Obwohl es fast 400 sind. Doch in letzter Zeit wurden viele Blicke mit neuen Bekannten ge­ wechselt. Im Praktikum, Auslandssemester oder mit internationalen Gästen. Viele Studierende kehrten der FH den Rücken und wandten ihre Blicke anderen Orten zu: Fasziniert von Norwegen, der Türkei, Malaysia, Fuerteventura, Neuseeland und vielen an­ deren Ländern absolvierten sie ihr Praktikum oder ein Semester im Ausland. Eine von ihnen ist Elisabeth Auer. Gemeinsam mit zwei Studienkolleginnen war sie in Mombasa, Kenia. In einer Schule für Kinder mit körperlicher oder geis­ tiger Behinderung arbeiteten sie in ihrem Fachbereich Ergotherapie. Für Elisabeth war der Aufenthalt eine sehr schöne Erfahrung: „Die Arbeit mit den Kindern war wunderbar. Sie waren alle so dankbar, wenn man ihnen Zuwendung und Zeit geschenkt hat.“ Mit österreichischen Standards kann man die Lebensumstände in Mombasa kaum vergleichen, vor allem die medizinische Versorgung ist mangelhaft. „Dort gibt es noch Krankheiten, die bei uns gar nicht mehr vorkommen. Zum Beispiel extreme Skoliosen, also seitliche Verkrümmungen der Wirbelsäule.“ Profitiert hat sie von dem Praktikum auf jeden

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Fall, und sie sieht jetzt vieles mit anderen Augen. Der nächste Auslandsaufenthalt ist schon geplant: Elisabeth wird in einer psychiatrischen und einer geriatrischen Einrichtung in Dänemark arbeiten. Bad Gleichenberg ist aber aufgrund der vielen „Ab­ trünnigen“ nicht entvölkert - internationaler Besuch bereicherte die FH im März. Die Studiengänge Diätologie und Soziale Arbeit begrüßten Studierende und Lehrende dieser beiden Fachrichtungen von vier Partnerhochschulen. Gemeinsam mit den Gästen aus Belgien, Spanien, Litauen und Ungarn setzte man sich das Ziel, die Ernährungssituation sozial benachteilig­ ter Gruppen in Österreich zu verbessern. Zusammengearbeitet wurde mit Institutionen wie der Notschlafstelle „Haus Rosalie“ und der Lebenshilfe Feldbach. Das Thema „Ernährung von gesellschaft­ lichen Randgruppen“ wird oft vernachlässigt. Ge­ rade deshalb sind die Ergebnisse dieses Projekts so wertvoll – und nebenbei konnten die Studierenden neue Freundschaften knüpfen und ihr Wissen prak­ tisch anwenden. Erfreulich ist, was bleibt. Die Abtrünnigen kehren früher oder später an die FH zurück und bringen viele neue Eindrücke mit. Und die Gäste können, zurück in ihrer Heimat, von dem kleinen Kurort Bad Gleichen­ berg erzählen. Wo man sich – bei dem regen Aus­ tausch – vielleicht doch nicht alle Gesichter merkt.


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Einblick in Kapfenbergs bunte Studenten-WGs Text: Nadine Motz Illustration: Mac Krebernik

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it „InteGRAZion“ setzt die Steiermark bereits seit ge­ raumer Zeit Zeichen, um auf die Wichtigkeit des Zusammen­ lebens von verschiedensten Nationen aufmerksam zu machen. Gemeint sind hier Menschen, für die die Steiermark als neue Heimat gilt, aber auch solche, die aufgrund eines Auslandssemes­ ters oder anderen Gründen für eine bestimmte Zeit in Österreich leben. Doch nicht nur in Graz findet eine interkulturelle Entwicklung statt. In beinahe jeder Bildungseinrichtung wird gelehrt, wie man mit anderen Kulturen umzugehen hat, um ein pro­ blemloses Miteinander zu garantieren. Auch die FH JOANNEUM in der bei­ nahe 22.000-Einwohner-Stadt Kapfen­ berg zieht immer mehr Studenten aus aller Welt an, um für ein Semester, ein ganzes Bachelor- und/oder Master­ programm zu bleiben. Bei der Ankunft ist der Schock oftmals groß, besonders wenn der vorherige Wohnort eine Millionenstadt war. In Studenten­ heimen und anderen Unterkünften werden die Neulinge gespannt erwar­ tet, um erste Kulturunterschiede zu beobachten und bei Studentenpartys so richtig abzufeiern. Ist die anfängli­ che Euphorie erstmals verpufft, prallen häufig ungleiche Welten aufeinander. Erfahrungsgemäß lernt man sich erst nach einiger Zeit des Zusammenlebens

Integration und Interkulturalität sind Themen, die auch in Kapfenberg aktueller sind denn je. Dennoch gibt es das ein oder andere kleine Problem beim Zusammenleben verschiedener Nationen.

so richtig kennen. Ab diesem Zeitpunkt nehmen die Dinge ihren Lauf und man fragt sich beim Anblick des verdreckten Badezimmers und der merkwürdigen Lebensmittel im Kühlschrank, ob es mit anderen Österreichern nicht einfacher wäre. Lektion daraus: Mund aufma­ chen. Man schlurft morgens um sechs im Schlaf-T-Shirt müde zur Toilette oder kommt leicht bekleidet aus dem Badezimmer, um schnell ins Zimmer zu huschen. Dabei wird man nicht nur vom Mitbewohner, sondern von einer ganzen Gruppe seinesgleichen freudig begrüßt. Später erfährt man, dass es in dieser Kultur normal ist, die Nächte auf engem Raum gemeinschaft­ lich zu verbringen. Rituell sozusagen. Nacht für Nacht. Lektion daraus: Die freizügigen Gewohnheiten besser wieder beim monatlichen Besuch im Elternhaus umsetzen. Sauberkeit und ähnliche Themen sind allerdings nicht nur eine Frage der Kul­ tur, sondern auch der individuellen Per­ sönlichkeit. Es ist auch nichts Neues, dass in vielen Studentenheimen öfters nach verschwundenen Putzplänen ge­ fahndet wird, als dass tatsächlich ge­

putzt wird. Interkulturalität kann aber auch einfach Riesenspaß machen. Spaß in dem Sinne, dass man beobachtet, wie der jeweilige Mitbewohner sein Hühnchen im Wasserkocher zubereitet oder den Fisch für sein Abendmahl di­ rekt auf der Kochplatte brät. Lektion daraus: Lüften. Was sagt uns das? Es ist alles halb so schlimm. Es macht also auch in dem Sinne Spaß, dass man sich gegenseitig kennenlernt, versteht und akzeptiert. Man bildet sich persönlich weiter, indem man über den eigenen Teller­ rand hinausblickt. Jeder, der einmal in einem fremden Land herumgereist ist, und jeder, der bereits Erfolgserlebnis­ se bei der sprachlichen Verständigung hatte, weiß, dass sich all diese Heraus­ forderungen der Integration und Inter­ kulturalität lohnen. Also: Challenge Accepted!

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Illustration: Anna Spindler


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Runter gespült Finsternis, Nässe und erbärmlicher Gestank. Knöcheltief stehe ich in einem Gemisch aus Exkrementen, Urin und anderen Körperflüssigkeiten. Hin und wieder findet ein feuchtes Toilettenpapier den Weg zu meiner Gummistiefelspitze und verfängt sich dort. Das uralte Steingemäuer scheint bereits zu leben: Zwiebelringe, Überreste von Nudeln und Fäkalien sind von einem wuchernden weißen Pelz überzogen. Wo ich bin und wie ich da hingekommen bin – eine Reportage, zehn Meter unter der Erdoberfläche und an der Grenze des Ertragbaren. Text und Fotos: Max Sommer

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eute ist Freitag. Freitag ist normalerweise seinem Auftreten. Jede Anweisung und jeder Hand­ ein guter Tag. Bis lange in den Vormittag griff sind wohlüberlegt. Es scheint ihm zu gefallen, schlafen, keine Vorlesungen an der FH, kein dass ich ihn heute begleite. Klaus ist Kanalarbeiter Stress, keine Mühen. Nicht so heute; mein Wecker klin­ und ich, ich helfe ihm heute bei seiner Arbeit. gelt, es ist fünf Uhr – fünf Uhr morgens, wohlgemerkt. Der allererste Gedanke gilt dem, was mich heute Nachdem ich meinen Overall und meine Gummi­ erwartet. In meinem Magen macht sich ein flaues stiefel angezogen habe, schnappe ich mir noch ein Gefühl breit. Und auch nach einem Kaffee fühle Paar Handschuhe und eine Regenjacke. Draußen ich mich nicht wirklich besser; richtig frühstücken wartet schon Klaus. Mit einer Zigarette im Mund mag ich gleich gar nicht. Mir schwirren die Fragen inspiziert er noch einmal ganz genau sein Fahrzeug. jenes Mannes durch den Kopf, den ich vergangene Es ist Klaus‘ ganzer Stolz, das merkt man. Mit voller Woche traf und der mich auf das heute vorbereiten Begeisterung erklärt er mir, wie was funktioniert und sollte: „Sie sind schon geimpft, oder? Infektionsgefahr in welcher Situation die unterschiedlichen Reinig­ besteht trotzdem, macht Ihnen das was? Und klaus­ ungsdüsen benötigt werden. Voller Enthusiasmus er­ trophobisch veranlagt sind Sie ja wohl auch nicht, zählt er mir von den bis zu 250 bar Druck, mit denen oder? Es ist nicht unbedingt jedermanns Sache, in die Kanalisation zum Teil gereinigt wird. Es ist Zeit 60 mal 90 Zentimeter breiten Schächten, zehn Meter loszulegen, Klaus bittet mich einzusteigen. Als ich die unter der Erde, Reinigungsarbeiten durchzuführen.“ Fahrerkabine betrete, merke ich, in welch persönliche Nein, klaustrophobisch veranlagt bin ich nicht, meine Sphäre ich mich begeben habe. Neben unzähligen alten Begeisterung hält sich aber vorerst noch in Grenzen. und neuen Duftbäumchen finden sich Fotos und Hilft nichts, da muss ich durch! Anziehen, Kamera­ zahlreiche andere persönliche Dinge. Alles hat seine equipment und Schreibblock schnappen und ab in die Ordnung und jeder hat seinen Platz. Neben mir Platz Lagergasse – dort, wo die Kanalreinigung sitzt, direkt genommen hat in der Zwischenzeit auch Adi. Er ist an der Mur, inmitten von Graz. Kein wirklich schöner heute mit von der Partie und einer von den alten Ort, die meisten Grazer kennen ihn unter dem Schlag­ Hasen – 20 Jahre ist er nun bei der Kanalreinigung. wort „Sturzplatz“. 6:15 Uhr ist Schichtbeginn, man Im Außendienst wird prinzipiell im Team gearbeitet wartet bereits auf mich. – dass einer allein unterwegs ist kommt nie vor. Zu groß ist die Gefahr einer Verletzung oder in eine pre­ Der Mann, der auf mich wartet, stellt sich als Klaus käre Situation zu gelangen. Wilfling vor – er befindet sich schon in Arbeitsmontur und begrüßt mich freundlich. Er ist jung und mit 30 Mittlerweile hat das Recycling-Fahrzeug vor den Jahren jünger als ich erwartet hätte. Braune kurze bereits im Vorfeld aufgestellten Warnschildern ge­ Haare, grüne Augen, sportliche Statur und die Hände halten und wir begeben uns auf die Straße. Die ver­ eines Arbeiters – und er ist vif, das merkt man an rostete Spitzhacke kratzt am schweren Kanaldeckel

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Als ich mich über die Öffnung beuge, steigt mir ein Hauch von Verwesung in die Nase.

entlang, bis sie in ein Loch einrastet. Zentimeter­ dickes Sediment löst sich, als Klaus den Deckel an­ hebt. „Pass gut auf, wenn du da hinuntersteigst! Es ist rutschig und überall kleben Fäkalien, schau, dass du nicht mit dem Kopf die Wand berührst.“ Er grinst mich an, steigt ins Loch und weg ist er. „Frei“, hör ich ihn schreien – damit gibt er mir das Zeichen, dass er am unteren Ende angekommen ist und ich nach­ steigen kann. Als ich mich über die Öffnung beuge, steigt mir ein Hauch von Verwesung in die Nase. Es geht los – ich steige in das Loch. Mein Herz schlägt nun so laut, dass ich meine, es in der Kanalisation nachhallen zu hören. Mit meinen Händen fasse ich die Griffe, die in die Kanalmauer eingearbeitet wur­ den. Schritt für Schritt, Handgriff um Handgriff geht es abwärts. Finsternis, Nässe und erbärmlicher Ge­ stank. Ein Atemzug, dann beschließe ich ausschließ­ lich über den Mund zu atmen. So verschone ich zwar meinen Geruchssinn, im selben Moment jedoch macht sich ein äußerst merkwürdiger Geschmack in meinem Mund breit. Von oben kommt auch schon mein Werkzeug: eine Spritzdüse die alles sauber be­ kommt – sowohl die Wände, als auch jenen Bereich, wo das Wasser rinnt, oder gerade eben nicht rinnt. Unter vollem Körpereinsatz stemme ich mich gegen den Rückschlag der Düse, es sind immerhin 80 bar. „Mit diesem Wasserstrahl kannst du einen Ziegel zer­ teilen“, meint Klaus sichtlich begeistert. „Passt du aber kurz nicht auf, haust du dir den Schädl ein“. Daraufhin nimmt er das Gerät selbst und macht weiter, wo ich aufgehört hatte.

sauber. Verstopfungen durch Schotter und Laub sind beseitigt und das feuchte Toilettenpapier kann wie­ der ungehindert seinen Weg durch die Kanalisation antreten. „Früher“, sagt der sonst so ruhige Adi auf einmal, „da war vieles anders. Von Infektionsgefahr und Schutzimpfungen hat keiner gesprochen. Nach jedem Kanalgang gab es ein gut gefülltes Stamperl Schnaps und die Geschichte war erledigt. Ein paar hart gesottene Kollegen sollen sogar da unten gejaus­ net haben.“ „Apropos, wir müssen bald Mittag ha­ ben“, meint Klaus und blickt amüsiert auf eine Nudel, die gerade daher geschwommen kommt. „Hier unten kennst du die Tageszeit, ohne eine Uhr dabei zu haben. Irgendwann zu Mittag kommen die Überreste der Nudelsuppe daher. Wenn es dann zum Haupt­ gang geht, sieht man die Fettaugen auf der Wasser­ oberfläche glänzen. Haben die Leute fertig gegessen, gibt es einen Kaffee, das riecht man dann am Sud, der in die Leitungen gekippt wird.“

Ich müsste übertreiben, wenn ich nach all den Anek­ doten Hunger bekommen hätte – Zeit für die Mit­ tagspause ist es trotzdem und Klaus schickt mich wieder hoch. Oben angekommen kneifen wir beide die Augen zusammen, die Sonne blendet fürchterlich, tut aber gut. „Für heute ist es genug“, sagt Klaus und zieht die Handschuhe aus. Wie viel Meter Kanal an einem Tag gereinigt werden können, hängt ganz vom Grad der Verschmutzung ab. Heute hatten wir Glück – wir kamen schnell voran und es gab keinerlei Schwierigkeiten. Ich sehe Klaus an und sage zu ihm, dass ich mir bis heute nichts unter dem Beruf „Fertig“, sagt er und lässt Adi die Düse hochzie­ „Kanalarbeiter“ vorstellen hätte können. Klaus sagt hen. Die Lichtkegel unserer Stirnlampen erfassen darauf, während er den schweren Kanaldeckel über tausende kleine Wasserpartikel, die nun in der Luft die Öffnung schiebt: „Die Leute nehmen uns nicht herumschweben. Die 80 bar haben ihre Arbeit gut wahr, aber wenn uns keiner kennt, dann wissen wir, verrichtet, das sieht man: Dort, wo vorher zenti­ dass wir gute Arbeit leisten.“ Und mit einem lauten meterdick Schmutz klebte, ist der Beton blank und Donnern fällt der Deckel in die Versenkung.

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i Die franziskanischen Orden gehen auf Franz von Assisi (1181/82 – 1226) zurück, der mit seiner Lebensweise das Vorbild für die Orden lieferte, auch wenn er selbst nie Mitglied war. Im Hochmittelalter entwickelte sich die Gemeinschaft zu einem der vier großen Bettelorden. Heute gibt es weltweit ungefähr 16.000 franziskanische Ordensbrüder, davon rund 130 in der Österreichischen Provinz (Österreich und Südtirol).

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Seine Familie sind ein Dutzend Männer zwischen Studium und Pensionsreife, sein Zuhause ist ein mittelalterliches Kloster. Seinen Lebensweg hat er zwischen Beruf und Berufung gefunden. Zu Besuch bei einem Ordensmann.

„Jeder hat seinen eigenen Vogel“ Text und Fotos: Clemens Wolf

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wei rote Designerstühle, ein moderner Kaffeetisch, eine Nespresso-Maschine im angrenzenden Kämmerchen – nicht unbedingt die Einrichtung, die man im Aussprachezimmer eines Klosters erwarten würde. Am Tisch steht eine halb herunter­ gebrannte Kerze mit Heiligenbild. Sie fügt sich hier schon eher ins Bild, genau wie der Mann im braunen Ordensgewand, der auf einem der Stühle Platz genommen hat und vorsichtig an seinem damp­ fenden Kaffee nippt. Normalerweise finden hier seelsorgerische Gespräche statt. An diesem Freitagvormittag erzählt allerdings nicht ein anderer aus seinem Leben, sondern der Ordensmann selbst. Die Rolle ist sichtlich ungewohnt für Tobias Koszogovits. Als das Gespräch darauf kommt, warum er dem Franziskanerorden beige­ treten ist, wird er nachdenklich. „Das ist eine Frage, die ich nicht so gern beantworte“, meint er. Und setzt nach: „Man könnte sagen, ich bin ein Spätberufener“, als sei damit alles erklärt. Doch nach einer kurzen Pause erzählt er weiter: Tobias kommt ursprünglich aus Eisenstadt, nach der Matura ging er nach Wien, um zu studieren. Daraus wurde nichts, er begann in einem Kino zu jobben. Acht Jahre hielt er durch. Dann, mit 31, fiel ihm das sprichwörtliche Dach auf den Kopf. „Ich hab gemerkt: Mir fehlt was Wesentliches im Leben.“ Tobias Koszogovits suchte Rat, suchte eine Erklärung. Beides fand er nicht – bis er schließlich bei den Wiener Franziskanern landete: „Ich hab plötzlich einen Weg erkannt. Binnen zwei Monaten war der Entschluss gefasst, in den Orden einzutreten.“ Ein Leben als Franziskaner, das bedeutet ein Leben in Gehor­ sam, Keuschheit und Armut. Oder in anderen Worten: ein Leben ohne Sex und eigenes Einkommen. Denn was ein Franziskaner im Brotberuf verdient, gehört dem Orden. „Aber jeder von uns hat, was er für Beruf und Leben braucht“, meint Tobias Koszogovits. „Armut kann man außerdem auch als Geisteshaltung ver­stehen:

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Das heißt beispielsweise, nicht immer im Mittelpunkt zu stehen“. 13 Brüder leben derzeit in der Grazer Ordensnieder­ lassung, Koszogovits eingeschlossen: „Vom Koch bis zum Universitätslektor ist alles dabei. Jeder hat seinen eigenen Vogel, wenn man es so will. In dieser Vielfalt versuchen wir Gemeinschaft zu leben.“ Gemeinschaft zu leben ist Auftrag und Lebensprinzip für alle Fran­ ziskaner. Das zeigt sich schon in der Organisation des Ordens, die weitgehend auf hierarchische Strukturen verzichtet. Aber auch im täglichen Leben wird das Gemeinschaftsprinzip spürbar: Morgens, mittags und abends wird nach Möglichkeit gemeinsam gebetet und gegessen. „Das ist eine geschützte Struktur“, sagt Tobias Koszogovits, „da kann man sich anhalten“. Trotzdem bleibe die Realität oft hinter den Zielen zu­ rück, die man sich steckt. Gerade, wenn es um das Gemeinschaftsleben geht, sei viel mehr möglich. Es scheitert, wie auch außerhalb der Klostermauern so oft, am Alltagstrott. Beim Mittagsgebet im Oratorium, dem Gebetsraum des Klosters, haben sich heute nur fünf der 13 Brüder versammelt. Der Rest ist außer Haus oder beschäftigt. Der Gemeinschaftscharakter kommt trotzdem durch: Einmal betet der älteste Bruder vor, einmal ein Junior, also ein Bruder in Ausbildung.

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Beim anschließenden Mittagessen greifen alle mit an. „Wir sind wie eine normale Familie. Mit einer Aus­ nahme vielleicht: Es ist für jeden einzelnen leichter, sich zurückzuziehen“, erklärt Bruder Tobias zwischen Suppe und Palatschinkenauflauf. Familie, Gemeinschaft – diese Begriffe fallen oft. Mehr als einmal an diesem Tag spricht Tobias Koszogovits auch davon, wie dieses Leben in der Gemeinschaft und seine Strukturen Halt geben. „Habit und Haus geben einen Rahmen vor, darunter stecken Leute wie jeder andere.“ Die Franziskaner seien keine Heiligen und das Ordensleben nichts „Besseres“. „Es gibt mehrere Berufungen: Familie, Single-Dasein oder eben Gemeinschaft. Jeder fin­ det sich in einem von diesen Wegen.“ Und wirklich macht es den Eindruck, als hätte Tobias Koszogovits kein Leben aufgegeben, als er in den Orden eintrat, sondern eines gefunden: „Ich war überzeugt, dass es der richtige Weg ist, ohne viel nach links oder rechts zu schauen“.


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Sinnvoll& Sinnlos

Einmal die Welt mit anderen Augen sehen - viele träumen davon, doch nur wenige tun es. Dabei kann es so einfach sein!

Text: Andreas Leitner Illustration: Carina Lex

Durch die rosarote Brille

Im Sankt Nimmerleinstal

Seit es Instagram gibt, sind wir alle tolle Fotografen! Unsere Bilder, in mühevoller Detailarbeit mit dem richtigen Filter versehen, gaukeln uns eine bessere Welt vor. Wer sein Leben in dieser Welt verbringen möchte, der braucht „Instaglasses“, eine Brille, die dir alles aus dem Insta-Way of Life zeigt. Derzeit gibt’s die leider nur als Studie, aber wer weiß? >>> www.markusgerke.com

Die Facebook-Sucht stiehlt dir nicht nur die dringend benötigte Lernzeit, sondern auch die „echten“ Freunde? Du vergisst den Geburtstag der Großmutter, weil sie nicht auf Facebook ist? Dann wird’s Zeit für einen Perspektivenwechsel und ein neues soziales Netzwerk. Der geeignete Kandidat: das überaus erfolglose Sankt Onlein! Warum? Weil da niemand ist, der dich ablenken könnte! >>> www.sanktonlein.at

Warnung: Informationsgehalt gleich Null

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Unsere Augen sind unser Fenster in die reale Welt. Blöd nur, dass sie sich immer wieder einen Scherz mit uns erlauben und uns Dinge zeigen, die gar nicht da sind. Oder auch einiges verschleiern, das sehr wohl da sein sollte! Wer im Gegenzug einmal seinen Augen einen Streich spielen will, ist hier goldrichtig. Besonders beein­ druckend sind die Kippbilder!

Der einfachste Weg, die Welt aus den Augen eines anderen zu sehen, ist das Betrachten von Fotografien. Einige davon erwecken mit wunderschönen Sonnenuntergängen die Sehnsucht, andere lassen einen stundenlang über den Sinn des Lebens nachdenken. Manche bilden auch (fast) nackte Frauen ab und regen andere Sinne an. Was haben sie aber alle gemeinsam? Du findest sie auf Flickr!

>>> www.optische-taeuschungen.net

>>> www.flickr.com

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Illustration: Lilly Mรถrz


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Das Exil ist ihr Gefängnis Sie hat alles aufgegeben: ihre Karriere als Physikerin oder Schriftstellerin und sogar ihre Heimat. Weil sie nicht schwieg, sondern vom Leben türkischer Mädchen, Häftlinge und Kurden erzählte. Heute wandert Asli Erdoğan über den Grazer Schloßberg und fühlt sich gefangen. Als Asylschreiberin im Exil. Text: Sonja Radkohl Fotos: Wolfgang Schnuderl

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Der letzte Schnee tropft vom Uhrturm. Touristen beugen sich tief über die Balustrade, um den besten Blick über Graz zu erhaschen und genießen die Idylle. Hier lebt Asli Erdoğan. Noch vor etwas über einem Jahr war sie Kolumnistin in der Türkei, setzte sich für die Unterdrückten ein und wurde dafür selbst bedroht. Heute ist sie Asylschreiberin in Graz; ihr Leben beschränkt sich auf den Schloß­ berg und sie ist machtlos. Von Idylle keine Spur. Am Türkenbrunnen, welcher der Legende nach von osmanischen Häftlingen gegraben wurde, hält sie inne und wirft einen Blick hinein. „Er erinnert mich daran, wie fremd ich hier bin. Wie unerwünscht.“ In Freiheit gefangen. Erdoğan schaffte es 15 Jahre zuvor als Physikerin ans Schweizer CERN. Dort arbeitete sie 14 Stunden am Tag, allein die Nächte blieben ihr und in denen schrieb sie ihren ersten Roman. In „Die Stadt mit der roten Pelerine“, ihrem zweiten Buch, tauchte sie ins Rio der tausendundeins Kulturen ab und be­ schloss, sich ausschließlich der Literatur zu widmen. Dann aber traf sie die Realität wie ein Schwall kalten Wassers: „Ich habe mich scheiden lassen und brauchte dringend Geld. Also nahm ich einen Job bei ,Radikal‘ an.“ „Radikal“ ist eine linksorientierte türkische Tageszeitung. Erdoğans Kolumne nannte sich „Die Anderen“ und handelte von den Ausgeschlossenen, den Nicht-Erwünschten, den Fremden. „Für diese Entscheidung habe ich einen hohen Preis bezahlt.“ Den schwarzen Rucksack auf den Schultern und den Kopf leicht gegen die Kälte gesenkt verlässt Erdoğan den Schloßberg. In einer Kurve, an denen Häftlinge sich von ihren Familien verabschieden mussten, hält sie inne. Ihr Lächeln ist schwer zu deuten. „Ich fühle mich im Exil wie eine Gefangene. Alle sagen: ,In Europa bist du frei, du kannst hingehen, wo immer du willst.‘ Aber wenn man weiß, dass man an einen kleinen Punkt in der Welt nicht hinkann, dann wird der Rest zu einer Zelle.“ Früher berichtete sie von Gefangenen, heute fühlt sie sich selbst als solche. Worte, wie Schüsse in die Brust. „In einer meiner Kolumnen erzählte ich die Geschichte von drei Mädchen.“ Die jungen Kur­ dinnen, alle unter 18, wurden von Soldaten vergewaltigt. Nur eine traute sich damit an die Öffentlichkeit zu gehen. „Ich erzähle im­ mer aus der Perspektive der Opfer.“ Sie hebt die gestreckten Arme, presst die Lippen zusammen und zielt auf die Brust ihres Gegen­ übers. Mit einem leisen „Pow“ feuert sie die imaginäre Waffe. „Mit meinen Texten habe ich nur einen Schuss. Ich ziele auf das Herz der

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Leser und manchmal treffe ich mitten hinein.“ Dabei sie sich hier wohl fühlt, weil die Bedienung sie kennt musste sie höllisch aufpassen, dass dieser Schuss nicht und sie nicht abschätzig mustert. „Ich spreche nicht danebenging. Denn wer in der Türkei „Soldaten“ Deutsch und sehe nicht einheimisch aus. Sogar eine und „vergewaltigen“ schreibt, ohne es beweisen zu Katze fühlt es, wenn sie nicht willkommen ist.“ können, für den bedeuten diese zwei Worte drei Jahre Haft. Und das in Gefängnissen, die rund 35.000 Gelbe Sterne. Die Machthaber ließen sich natürlich Gefangene mehr beherbergen als sie sollten und in nicht von einer jungen Kolumnistin auf der Nase denen Frauen zur Abschreckung vergewaltigt werden. herumtanzen. „An einer schmalen Stelle der Straße „Das Schlauste, was ich in meiner Karriere als Schrift­ überholte mich einmal ein weißes Auto in rasendem stellerin tat, war, mir jede einzelne Passage des türki­ Tempo.“ Wieder erzählen ihre Hände und stoßen schen Gesetzbuches einzuprägen – so konnte ich dem fast ein Glas um: Das Auto schnitt ihr den Weg ab, Gefängnis bis jetzt entgehen. Sie spielen das demokra­ bremste scharf und ein Mann mit dunkler Sonnen­ tische Spiel so gut.“ Mit „sie“ meint Erdoğan die der­ brille stieg aus. Er zog eine Waffe aus seiner Jacken­ zeitige Regierungspartei AKP unter Tayyip Erdoğan. tasche und hielt sie ihr an den Kopf. „Alles, woran Diese Partei stand von 2002-2007 für Öffnung und ich denken konnte, waren die Bilder in den Zeitungen. Modernisierung der Türkei. Als die Opposition an Ich, am Boden liegend, das kurze Sommerkleid Macht gewann war damit aber Schluss. Verhaftet, hochgerutscht und überall um mich verschüttete sagt Erdoğan, wird heute jeder: „Studenten, die bei Milch vom Einkauf.“ Was sich anhört wie aus einem Demonstrationen mitmarschieren oder Anwälte, die schlechten Mafia-Film passierte Erdoğan wirklich. Kurden vor Gericht verteidigten. Sie bekommen zehn Nur dass der Mann die Waffe nicht abfeuerte, son­ Jahre wegen ,terroristischer Aktivitäten‘.“ Dann lässt dern nach ein paar Augenblicken, für sie eine kleine Erdoğan ihre Arme sinken und rührt in ihrem Kaffee. Ewigkeit, wieder einstieg, wendete und davonbrauste. Direkt am Schloßberg liegt das „Café König“, das sie „Die radikalste Feder bei ,Radikal‘“ nannte man sie fast täglich besucht. Nicht, weil die Wiener Melange insgeheim. Bis sie gefeuert wurde. „Daraufhin machte hier besser wäre als anderswo in Graz, sondern weil ich einen großen Fehler.“

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Sie übernahm eine Kolumne in der klei­ nen kurdischen Tageszeitung „Özgür Gündem“, deutsch „freie Agenda“, wo bis heute 80 der angestellten Jour­ nalisten ermordet wurden. Erdoğans Vorgänger war einer davon. „Manche sagen, ich sei eine Masochistin. Aber ich glaube, wenn jemand leidet, dann muss ich mit ihm leiden. Wenn jemand gezwungen wird, einen gelben Stern zu tragen, dann trage ich ihn mit ihm.“ Doch in den darauffolgenden Monaten wurden Journalisten noch massiver be­ droht und Erdoğan verließ das Land

gerade noch rechtzeitig: Am ersten De­ zember 2011 reiste sie als Stadtschrei­ berin nach Zürich. Am 21. Dezember löste eine Polizeirazzia die Zeitung auf und nahm 40 ihrer Kollegen gefangen. Heute schreibt Erdoğan weiter für die neu gegründete „Özgür Gündem“, doch ist es nicht mehr dasselbe: „Ich fühle mich feige. Über die Furcht vor Pistolen, vor Gewalt, vor Vergewalti­ gung bin ich hinausgewachsen, denn diese Dinge sind real. Doch ich habe unbeschreiblich große Angst vor dem

Gefängnis.“ Trotzdem will sie heute nur noch eines: nach Hause. „Tagsüber male ich mir aus, wie es wäre, einfach in das Flugzeug zu steigen.“ Nachts träumt sie, wie sich die Flugzeugtü­ ren öffnen und die Handschellen zu­ schnappen. Wann sie also zurück kann, ist ungewiss. Diese Gefühle verarbeitet sie in Texten, doch ist das Exil eines jener Dinge, für die die Sprache nicht ausreicht. „Ein Gefühl wie ein zu lang andauerndes, zu schmerzhaftes Er­ sticken, ein Tod auf Raten, während dein Herz beharrlich weiter schlägt.“

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Es gibt ein altes Gerücht, das besagt, im Mittelalter habe sich eine Frau als Mann ausgegeben und sei so bis zum Amt des Papstes aufgestiegen. Die Sage berichtet weiter, dass diese Frau schwanger wurde und ein Kind gebar. Heute sind sich die meisten Historiker darüber einig, dass diese Geschichte ins Reich der Legenden gehört. Aber was, wenn doch mehr dahinter steckte – eine Liveschaltung zur Stunde der Geburt.

A Text: Hubertus J. Schwarz Illustration: Lilly Mörz

Am Rande eines Herzinfarktes und vor herrischen Auftritt hatte er sich vor ei­ den Türen des allerheiligsten Schlaf­ nem Jahr gegen die Mitbewerber um gemachs. Krampfhaft versucht die den Stuhl Petri durchgesetzt. Vielleicht enorme Gestalt Haltung zu wahren. auch, weil sich die konkurrierenden Darius di Rezzi, der Leibarzt des Paps­ Kardinäle das Amt des Papstes ge­ tes, ringt nach Atem. Er hat die Strecke genseitig noch viel weniger gönnten, von seinem Quartier bis zum Flügel des als einem unbekannten Bischof aus Pontifex in Rekordgeschwindigkeit zu­ der Provinz. Johannes war als Über­ rückgelegt und das zu einer Uhrzeit, zu gangslösung gedacht, bis sich eine der der sonst nur sein Schnarchorgan eine streitenden Parteien um das Pontifikat nennenswerte Aktivität entfaltet. Der gegen die anderen durchsetzen würde. Dienstbote, der ihn aus seinem Schlum­ Bisher hatte er sich jedoch als fähiges mer gerissen und her gelotst hatte, und gerechtes Oberhaupt der Christen­ hüllt sich weiter in beeindruckend heit erwiesen. Armenhäuser wurden störrisches Schweigen. Ein hektischer errichtet und die Steuern gesenkt. Un­ Blick den Gang hinab. Dann öffnet ter seiner Führung wurden auch die der Diener ohne viel Federlesens die Aquädukte Roms wieder instand ge­ Tür, gerade soweit, um das Ungetüm setzt. Die Ewige Stadt befand sich seit von Leibarzt hindurch zu bugsieren dem Amtsantritt JohannesVIII. auf und schließt sie augenblicklich wieder dem Weg der Läuterung. Und nie hatte hinter Di Rezzi. Auf der anderen Seite der Papst Schwäche gezeigt. Bis jetzt. herrscht schummriges Licht. Das Bett „Nein Dottore, mir geht es nicht beson­ des Papstes wirkt übergroß, beinahe ders. Hat mein Diener euch berichtet?“. einschüchternd. „Eure Heiligkeit?“ Di Entnervt hebt Di Rezzi die Schultern. Rezzi zögert. Dann kommt Bewegung „Kein Wort wird mir gesagt! Ich wur­ in den Berg aus Decken, Polstern und de aus meinem Schlaf gerissen und wie Laken. „Eure Heiligkeit, könnt Ihr ein störrisches Maultier zu Euch ge­ mich hören?“ Der Deckenberg stöhnt. führt.“ Er überspielt seine Nervosität „Eure Heiligkeit, hört Ihr mich?“ Nun mit der gewohnten Portion aufgesetz­ fragt er schon beinahe rabiat. „Um ten Griesgrams. „Was also fehlt Eurer Himmelswillen, ja. Und nun hört auf Heiligkeit?“ Bevor Johannes antwor­ zu brüllen!“ antwortet der Decken­ ten kann, schiebt sich der Leibdiener berg. Di Rezzi schluckt. „Wie ist das und Schlüsselherr des Pontifex durch Befinden Eurer Exzellenz?“ Mühsam die Tür. Sergius Caparragi, ein Mann kommt das Gesicht des Papstes unter von geringem Wuchs, den er aber mit den Polstern hervor. Schweißperlen seinem großen Einfluss mehr als wett stehen auf den schönen, glatten Zügen macht. Hinter ihm versuchen einige rot des Heiligen Vaters. Er ist von un­ gewandete Gestalten noch einen Blick bestimmbarem Alter und zierlicher ins Innere des Zimmers zu erhaschen, Gestalt. Aber durch seinen ansonsten bevor das Schloss zuschnappt. „Ah,

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Di Rezzi, was Sie jetzt erfahren, das müssen wir mit allerhöchster Vorsicht behandeln. Ich möchte, dass Sie dem Heiligen Vater beim Blute Christi und allen Heiligen schwören, dass Ihre Lippen versiegelt bleiben. Caparragi. Gut, dass Ihr da seid. Was geht hier vor?“ Auch Di Rezzi hatte die mittlerweile eingetroffenen Kardinäle bemerkt. Langsam dämmert ihm, dass hier etwas ganz und gar nicht mit rech­ ten Dingen zugeht. Bei einer einfachen Magenverstimmung pflegten die Ver­ treter der Christenheit nicht vor der Tür des Pontifex auf Neuigkeiten über seinen Stuhlgang zu lauern. Schlüssel­ herr und Papst tauschen vielsagende Blicke. Di Rezzi wirft den seinen von einem zum anderen und wartet auf eine Antwort. Schließlich hebt Caparragi an: „Di Rezzi, was Sie jetzt erfahren, das müssen wir mit allerhöchster Vor­ sicht behandeln. Ich möchte, dass Sie dem Heiligen Vater beim Blute Christi und allen Heiligen schwören, dass Ihre Lippen versiegelt bleiben. Jetzt und immerdar!“ Ohne recht zu begreifen, nickt der Leibarzt. Caparragi tritt an die Seite des Bettes. „Es begann heute bei der Prozession zur Lateranbasi­ lika.“ Er bedeutet Di Rezzi näher zu kommen. Der tut wie ihm geheißen und beide blicken einen Moment hinab auf das blasse, schweißfeuchte Gesicht des Heiligen Vaters. Johannes nickt schwach. Dann schlägt der Leibdiener die Decken zurück. Die Gruppe sensationslüsterner Wür­ denträger vor dem Schlafgemach des Papstes ist inzwischen auf mehr als zwei Dutzend Kardinäle angewach­

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sen. Dazu kommen einige Bischöfe, er nicht in der Lage, das Bild in einen Abgesandte, etliche einfache Priester, logischen Zusammenhang zu bringen. ein Bettelmönch aus Genua und der Schwangerschaft und Papstwürde, für Küchenchef mit seinen Gehilfen. Sie den Leibarzt sind diese beiden Kom­ alle geifern danach zu erfahren, was ponenten so unvereinbar wie Feuer hinter der Tür zu den päpstlichen und Wasser. Und dennoch liegt deren Gemächern vor sich geht. Als der Ca­ Verschmelzung hier vor ihm und spot­ parragi den Kopf aus der Tür streckt, tet jeglicher Konvention. Ein Papst in drängt sich sogleich ein kardinalroter, den Wehen. Ein schwangerer Vater der morbid neugieriger Pfuhl aus Leibern Christenheit. Plötzlich bäumt Johan­ um ihn. Nicht eben freudig überrascht nes sich auf und unterdrückt nur mit mustert er die Meute verhinderter Mühe einen Schrei. Die Wehe bricht Paparazzi. Die Paparazzi schauen den Bann. Di Rezzi verdrängt alles Zö­ ebenso unverblümt zurück. „Leichen­ gernde aus seinem Handeln. Der Arzt fledderer, elende...“ murrt er düster. in ihm übernimmt das Ruder. Er sinkt Freilich nur so laut, dass man ihn noch an der Bettstatt des Papstes nieder und vor den Palastmauern deutlich hören beginnt den Mutter­ bauch abzutasten. kann, aber doch so leise, dass man Über die Schulter ruft er Caparragi glauben könnte, sich verhört zu haben. zu, als sei dieser ein einfacher Diener: Caparragi, ein Meister des Stadionflüs­ „Bringt frische Laken und Wasser!“ terns. „Du da, Bursche!“ Er fixiert Und zu dem stöhnenden Häuflein einen debil dreinblickenden Bediens­ Elend: „Ihr müsst pressen, wenn die teten um die Vierzig. „Geh und hol Wehe kommt, eure Heil... konzentriert saubere Tücher und eine Schüssel voll Euch auf das Pressen.“ Stöhnend Wasser. Sauberes Wasser. Beeil dich!“ sinkt der Körper zurück in die Kissen. Und bevor noch jemand das Wort an Di Rezzi fährt fort, den Unterleib zu ihn richten kann, hat er die Tür schon untersuchen. „Ich spüre keine Druck­ wieder ins Schloss gehämmert. punkte oder Verhärtungen, das Kind liegt in der rechten Lage und...“ Der Di Rezzi starrt auf das leichte Unter­ Schrei der nächsten Wehe unterbricht kleid des Papstes. Ungläubig und ohne den Arzt. Die Frau drückt den Rücken zu begreifen, was es hier vor sich hat. Er durch. Dann folgt Wehe auf Wehe, sieht den schwer atmenden Leib. Und Schrei auf Schrei, bis sich zwischen er sieht den prallen, hochschwangeren die Laute der Mutter ein weiterer Bauch, der den Stoff des Nachthemdes mischt. Das Neugeborene begrüßt die spannt. Trotz des Offensicht­lichen ist Szenerie, in die es da hineingerutscht


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kommt, mit reichlich Dezibel. Di Rezzi greift sich das plärrende Würmchen und nabelt es von seiner Mutter ab. Johanna liegt schwer atmend in den zerknitter­ ten Laken. Ihr Blick verfolgt dabei jede Bewegung der beiden Männer, wie durch einen Schleier. Di Rezzi, ganz routinierte Hebamme, nickt den Neuankömm­ ling zufrieden ab, schlägt ihn in ein Tuch und lässt das Paket in sehnsüchtig ausgestreckte Arme wandern. Johanna strahlt schwach. Für einen Moment ist sie nur noch Mutter eines Kindes. Und Papst. Caparragi und Di Rezzi blicken sich ernst an. Beide wissen, was nun folgen muss. Beide ahnen, dass dies alles verändern wird. Nur über die Frage, wer von ih­ nen die Büchse der Pandora öffnen soll, sind sie sich noch uneins. Dann gibt sich der Leibarzt einen Ruck. Mit drei großen Schritten Die Legende um die Päpstin Johanna durchmisst er den Raum, öffnet das Schloss und sieht sich unvermittelt Die Legende um die Päpstin Johanna Die Authentizität dieser Berichte dem Moloch aus rotge­ wandeten wird seit dem 13. Jahrhundert über­ ist stark umstritten. Zumal es keine Würdenträgern gegenüber. Er liefert. Zum ersten Mal berichtet der zeitgenössischen Quellen gibt und sich drückt die Tür sanft hinter sich ins Dominikaner Jean de Mailly um 1225 die Autoren nur auf Jahrhunderte alte Schloss. Die Kardinäle, Diener und von einem weiblichen Papst. Erzählungen stützen konnten. Abgesandten verfolgen jede seiner Regungen. Di Rezzi blickt über die Der päpstliche Kaplan Martin Der Ursprung der Johannafabel wird Menge, dann breitet er die Arme von Troppau schreibt in seiner auf verschiedene Faktoren zurückge­ aus: „Es ist ein Mädchen.“ Chronik der Päpste 1277 von führt. Die Bekanntesten sind: einer Päpstin Johanna. - Satire auf den als „weibisch“ geltenden Papst Johannes VIII. Das Schicksal Johannas variiert - Der Name einer römischen Gasse von Version zu Version. In manchen „Vicus Papessa“, die allerdings auch wird Johanna hingerichtet, in nach einer alten italienischen anderen Abschriften abgesetzt Familie mit gleichem Namen und zur Buße verurteilt. benannt sein könnte. - Die Weihschrift in der Gasse Das Kind wird einmal als Junge und „P.P.P.P.P.P.“ angeblich für „Petre, späterer Bischof von Ostia, dann Pater Patrum, Papisse Prodito Partum wieder als Mädchen mit den Namen (Petrus, Vater der Väter, enthülle die Anges oder Gilberta bezeichnet. Niederkunft des weiblichen Papstes)“.

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Unter Schafen Business-Lunch, Kundenbetreuung, Teambuilding-Seminare? Dar체ber kann Hans Breuer nur mitleidig l채cheln. In einer sich scheinbar immer schneller drehenden Welt hat er sein Dasein ganz einem der urspr체nglichsten Berufe verschrieben, der Wandersch채ferei. Nebenbei ist er auch noch Liedermacher.

Text: Maria Steinwender Illustration: Anna Spindler

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Als erstes fällt einem der Hut auf. Ein imposantes Gebilde aus gelbem Filz, so groß wie ein Wagenrad, die Krempe breit genug, um im Fall eines Wolken­ bruchs jeweils links und rechts einer weiteren Person Unterstand zu bieten. Wie eine Insel ragt Hans Breuer aus einem scheinbar endlosen Meer rotbrauner und schwarzer Hügel. Er ist der einzige Wanderschäfer Österreichs und mit seiner 110 Schafe umfassenden Herde zu jeder Jahreszeit unterwegs.

Der Wiener, der sein Metier in Deutschland ge­ lernt hat, zieht mit seinen Tieren durch den Osten Österreichs. Immer auf der Suche nach dem nächsten Weideplatz für seine hungrige Schar. Unterstützung bekommt er dabei von drei Hunden und seiner Frau, die den Weidezaun für das Nachtlager der Tiere auf­ stellt. Warum aber lässt Breuer für seine Schafe nicht einfach einen Stall mit angrenzender Koppel bauen? Wozu das Herumziehen mit der Herde? Der Schäfer ist nicht als Sohn eines Bauern, also ohne den Besitz von Ländereien auf die Welt gekommen. Als Wanderschäfer kann man von den zuvor bereits ge­ nutzten Weideflächen leben, wenn man zur richtigen Jahreszeit in der richtigen Gegend ist. Anscheinend sind wir das gerade: in Schachern bei Hartberg. Es gibt wunderschönes Klee-Gras und kaum Schnee. Bergsteigen mit Herde und Handy. „HoppHopp!“, ruft der Schäfer. Die Herde setzt sich erneut in Bewegung. Durch den Wald gelangen wir auf eine

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Weide. Die letzten Sonnenstrahlen strecken sich über die verschneiten Gipfel. Blökend verteilen sich die Schafe auf der Grünfläche. Eine Hündin treibt die Lämmchen an den Waldrand, wo sie unter den über­ hängenden Ästen windgeschützt grasen können. Von den Bergen zieht ein kalter Wind her, der Schnee mit sich bringt. Für Hans Breuer ein Zeichen, mit seinen Tieren in größere Höhen zu steigen. „Bei einer Wanderschäferei geht man auf Winterweide“, erklärt er. Das bedeutet, dass er im Winter besonders viel unterwegs sein muss – schließlich wächst kein Gras mehr nach. Er hält sich mit seiner Herde bei jedem Bauern nur ein paar Stunden auf und zieht danach weiter. Wenn am Berg der Schneefall einsetzt, ist es ihm möglich, innerhalb von ein, zwei Stunden ins Tal zu gelangen, wo der Schnee meist ausbleibt. Plötzlich durchschneidet ein unerwartetes Geräusch die beinahe malerische Idylle: Das Handy des Schäfers läutet, er fischt es aus der Tasche seines Lodenman­ tels. Ein befreundeter Schäfer bittet um Rat, in seiner Herde grassiert eine ihm unbekannte Erkrankung. Hans Breuer hört kurz zu und fällt ein fachmänni­ sches Urteil: Abwarten. Die Sache vergeht von selbst, nachdem die Tiere sich dagegen immunisiert haben. So handhabt es Breuer mit fast allen Krankheiten, die ihm im Laufe seines Schäfer-Daseins untergekom­ men sind. Doch dank der natürlichen Lebensweise der Herde treten kaum Erkrankungen unter den Tieren auf.


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Wintermond und Schäfermusik. Es ist bereits finster und an der Zeit, zu der Weide zu wechseln, die der Schäfer als Nachtlager für seine Herde aus­ gewählt hat. Die Geräusche der Schafe hallen durch die sternenklare Winternacht. Die Lämmer rufen in hoher Tonlage aufgeregt nach ihren Müttern, um nur ja nicht auf der Strecke zu bleiben. Die älteren Tiere erwidern ein tiefes, ruhiges Blöken. Wie ein steter Klangteppich schweben die Laute der Schafe über das nebelverhangene Tal. Dem Volksglauben nach ist jedes Lebewesen mit einer Art musikalischem Gehör gesegnet. Ebenso ist Hans Breuer fest davon überzeugt, dass die Tiere sich von

seinen Gesängen beeinflussen lassen. Bei sommer­ lichen Bergaufstiegen motiviert er seine Herde mit Liedern, damit ihnen die Wanderung nicht all­ zu schwer fällt. Hans Breuer hörte vor 30 Jahren erstmals Jiddisches Liedgut. Er war davon so ange­ tan, dass er sich die jiddische Sprache aneignete und begann, selbst Lieder zu schreiben. Auch als NichtMitglied der Schafherde ist es möglich, in den Genuss von Hans Breuers Gesängen zu kommen, er veran­ staltet oft Konzerte mit befreundeten Musikern. Das Blöken und Drängen der Tiere verstärkt sich, als vereinzelt Äpfel in der Wiese liegen und alle etwas von der unerwarteten Feinkost abbekommen wollen.

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Auch der Schäfer steckt ein paar Exemplare ein. „Es ist keine Schande, arm zu sein. Es ist keine Schande, hungrig zu sein. Ich bin gegen diese Kultur, in der jeder so tun muss als ob er zur Schickeria gehört. Ich versuche, dem zu entkommen und das auch weiter­ zugeben.“ Dem trägt er insofern Rechnung, indem man ihn für Workshops in Schulen oder Kindergärten buchen kann. Wolle als Unfallschutz. Als wir auf die nächste Weide wechseln, treiben wir die Schafe für eine längere Strecke auf einem Wegabschnitt, der an einer Straße liegt. Der eisige Asphalt glitzert im Mondlicht. Aus der Ferne nähert sich mit überhöhter Geschwindig­ keit ein Auto. Der Fahrer scheint die Tiere nicht zu bemerken. Zu spät. Das Auto knallt in die ‚Schluss­ lichter‘ der Herde. Wie durch ein Wunder ist dennoch nichts passiert. Alle Schafe sind heil und setzen empört

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blökend die Wanderung fort. „Die Tiere sind sehr robust, und Wolle ist ein zusätzlicher Stoß­dämpfer“, erklärt Breuer. „Der Nachteil ist, dass Verletzungen erst sehr spät oder gar nicht sichtbar werden. Die Hinterläufe sollte man nach so einem Zusammen­ stoß unbedingt kontrollieren... Und die Vernunft mancher Autofahrer ebenso“, grummelt er. Bevor sich unsere Wege in der Nähe von Vorau trennen, holt Hans Breuer einen der Äpfel aus seiner Tasche, die er vorhin aufgesammelt hat. Er teilt ihn mit sei­ nem Taschenmesser in zwei Hälften, eine davon ist für mich. „Hier, Original-Schäferjause als Wegzeh­ rung“, sagt er lachend, bevor er mit seiner Herde im angrenzenden Waldstück verschwindet.


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Unter die Haut Hirnschlag. Das Leben der Frau ist zu Ende, das ihres Körpers nicht. Was passiert mit einem Menschen, nachdem er für tot erklärt worden ist und als Spender dienen soll? Von pochenden Herzen, weißen Kitteln und weinenden Ärzten – Ein Erfahrungsbericht. Text: Hubertus J. Schwarz Illustration: Tanja Gahr

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ls mir der Assistenzarzt das Notfall-Handy in die Hand drückte, dachte ich mir nicht viel. Gut, dann ist er halt für zwei Stun­ den weg. Was soll in der Zeit schon pas­ sieren? Zwanzig Minuten später rief mich eine der Arzthelferinnen aus dem Krankenhaus an. Ich solle kommen, so­ fort. Es stehe ein Explantations­eingriff an, also die Operation an einem eigent­ lich toten Körper, mit dem Ziel noch intakte Organe für andere Patienten zu retten. Solche Operationen kommen seltener vor, als es die Unfallstatistiken oder Todesanzeigen vermuten lassen, denn vor allem Autounfälle hinter­ lassen meist nur zerstörte Körper, die nicht als Spender infrage kommen. Dass ich nun in meiner ersten Woche als Hospitantin im Krankenhaus bei einem solchen Eingriff assistieren kann, ist Zufall. Andere Ärzte erleben so etwas über Jahre hinweg nicht. Eile ist geboten. Als ich beim Kranken­ haus ankomme, wird der Körper einer Frau in den Operations­ saal der Chirurgie geliefert. Ihr Gehirn ist durch eine Blutung völlig zerstört. Nur Minuten zuvor hatte ein Notarzt die Schäden für irreversibel erklärt. Warum sie gerade an diesem Tag ein Hirnschlag traf, was die letzten Ge­ danken der Frau waren, was sie heute noch vorhatte – ich weiß es nicht. Jetzt zählt nur die Zeit. Fälle, wie der dieser Frau, sind für die Krankenhäuser ein Segen, denn die Körper sind nach einer Hirnblutung noch intakt und können als Spender dienen. Die Organe der Frau sollen nun das Leben anderer

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Menschen retten. Das gelingt aber nur, solange das Herz-Kreislaufsystem wei­ terarbeitet. Empfängt der Körper keine Informationen mehr aus dem Gehirn, schaltet er früher oder später auch ab. Deshalb ist Eile angesagt. Nackte Tatsachen. Der Körper der Frau wird ausgezogen und gewaschen. Sie ist 48 Jahre alt, untersetzt. Nicht hässlich, aber auch nicht wirklich schön. Unauffällig würde wohl am bes­ ten passen; auf der Straße wäre sie mir nicht aufgefallen. Aber jetzt stehe ich direkt an ihrer Seite. Spüre die Wärme, die der Körper noch immer ausstrahlt. Der Operationstisch unterscheidet sich nicht von jenem, auf dem Patienten aus dem Krankenhaus behandelt wer­ den. Mit abgespreizten Armen wird der Körper auf den Rücken gedreht. So kann das Ärzteteam an die Organe ge­ langen, die wir explantieren wollen. Ihr Kopf ist abgedeckt, niemand soll und will das Gesicht der Frau sehen, die wir aufschneiden werden. Auf der einen Seite versuchen wir mit so wenig Emo­ tion wie möglich zu arbeiten, gleichzei­ tig aber ist es wichtig, dass wir nicht vergessen, einen beinahe noch leben­ den Menschen vor uns zu haben. Ich versuche nicht daran zu denken, dass die Frau noch vor nicht einmal zwei Stunden gelebt, gedacht, empfunden hat. Völlig nackt liegt sie vor mir auf dem Tisch. Ihre Scham seit Wochen nicht rasiert. Ob Sie einen Freund hatte oder einen Mann? Unter Drogen. Obwohl das Gehirn der Frau nicht mehr funktioniert, wird

Sie mit Opiaten behandelt. Denn auch ohne die Steuerzentrale im Kopf kön­ nen noch immer Reflexe ausgelöst werden und ein zuckender Körper, während der Arzt das Skalpell ansetzt, ist hinderlich. Auch deshalb ist ein Anästhesist über den gesamten Zeit­ raum der Operation an der Seite der Frau. Er hält das Herz-KreislaufSystem am Laufen, damit der Körper weiterlebt und die Organe nicht abster­ ben. Auch überwacht er die Körper­ funktionen und den Blutdruck. Sobald dieser fällt, gibt er Alarm. Auch im Tod muss die Patientin behandelt werden, als wäre sie am Leben. Verletzt einer der Ärzte den Körper versehentlich, muss erst die Blutung gestillt werden, bevor die Ärzte weiter arbeiten dürfen. Dass die Patientin schon tot ist, spielt keine Rolle. Das ist nicht nur ein Ge­ bot des Ärzte-Kodex, sondern sogar gesetzlich vorgeschrieben. Die Ehre des Menschen ist unantastbar und deshalb muss auch ein Körper, dem die Organe entnommen werden, noch mit so viel Respekt wie nur möglich behandelt werden. Der erste Schnitt. Als der leitende Arzt das Skalpell ansetzt, wird es nicht plötzlich besonders still. Ich halte auch nicht andächtig den Atem an oder bin aufgeregt. Der „Grey‘s-Anatomyemotion-shitstorm“ bleibt aus. Dazu passiert alles zu schnell, routiniert und ohne Pathos. Die einzelnen Elemente des Eingriffs sind den geübten Ärzten in Fleisch und Blut übergegangen. Der erste Schnitt geht tief. Vom Brustbein abwärts wird der Torso aufgetrennt.

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Man nennt das eine Sternotomie. Dann arbeitet sich der leitende Arzt weiter vor. Ich reiche ihm die Instru­ mente, nach denen er verlangt, halte dort Haut und Fleisch auseinander oder klemme Arterien ab, um das Blut im Körper zu halten. Es ist wie ein umgekehrtes Puzzle. Der First-look. Schicht für Schicht werden Mus­ kelflächen freigeschnitten. Dann die Bauchlappen nach außen gelegt. Man kann die Leber erkennen. Jetzt kommt es zu einem medizinischen Showdown, dem sogenannten First-Look. Der erste Blick auf ei­ nes der Körperteile, das explantiert werden soll. Das Urteil des Arztes ist ernüchternd, die Hülle der Leber bedeckt mit Tumoransätzen. Sie ist nicht als Spender­ leber geeignet. Dabei waren Leberwerte und Ultra­ schalluntersuchung unauffällig und vielversprechend.

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Aber die Voruntersuchungen sind nicht ausschlag­ gebend, oft kann man nur mit bloßem Auge erkennen, ob das Organ für einen neuen Körper geeignet ist. Das sieht nun auch die Ärztin des Patienten, für den die Leber gedacht war. Sie war extra gekommen, um zu assistieren und das Organ dann persönlich mitneh­ men zu können. Die Frustration ist ihr ins Gesicht ge­ schrieben. Tränen der Wut und Enttäuschung laufen der Ärztin über die Wangen, als sie aus dem OP stürmt. Ihr Patient wartet nun schon über zwei Jahre auf eine neue Leber und sie mit ihm. Es ist nicht unge­ wöhnlich, dass früher oder später die Objektivität auf der Strecke bleibt, wenn man über Jahre hinweg einen kranken Menschen betreut. Gefühlsausbrüche dieser Art sind dennoch unprofessionell. Aber gut, damit hab ich dann auch meinen Grey‘s-Anatomy-Moment bekommen. Geplatzte Adern. Während ich ihr noch nach­ schaue, gibt der Anästhesist Alarm. Der Blutdruck sinkt. Jetzt dringt auch Blut aus dem offenen Torso. Wir unterbrechen und suchen nach der Ursache des Druckabfalls. Irgendwann haben wir eine kleine ab­ getrennte Ader entdeckt. Erst als sie abgebunden und die Blutung gestillt ist, können wir weiter machen. Allerdings nicht lange, trotz des Zwischenfalls ist das Ärzteteam, das sich das Herz der Frau holen sollte, verspätet. Wir kühlen den Körper, um die Organe nicht weiter zu strapazieren, während wir warten. Ein Herz geht auf die Reise. Endlich treffen die Innsbrucker Ärzte ein. Nun geht alles ganz schnell. Wir reanimieren den Körper. Das Herz wird freige­ legt. Aorta und Arterien abgetrennt. Das Herz vor­ sichtig und von mehreren Händen aus dem Körper genommen. Aber dann ist niemand da, der es ent­ gegen nehmen könnte. Nur ich. Jetzt kommt er, der Moment in dem ich nun doch andächtig im OP stehe,

Die Frustration ist ihr ins Gesicht geschrieben. Tränen der Wut und Ent­täuschung laufen der Ärztin über die Wangen, als sie aus dem OP stürmt.

den Atem anhalte und mir das eigene Herz in die Hose rutscht, während ich in meinen Händen das andere pochende Leben halte. Trotz der Kühlung ist das Herz noch warm. Ein starker Muskel mit einer gesunden und fehlerfreien Struktur. Das Herz einer Frau, die heute Morgen noch aufgestanden ist und ihren Tag geplant hat. Jetzt liegt ihre Hülle hier vor mir und ihr Herz pocht zwischen meinen Fingern – ein surrealer Augenblick. Erleichterung macht sich breit, als ich es in die vorbereitete Kühlbox lege und der Verschluss zuschnappt. Geschafft. Die Innsbrucker machen sich so rasch wie sie gekom­ men waren wieder auf den Weg. Ein Flug ist gechartert. Das Herz reist mit, im Handgepäck. Keiner der Ärzte möchte die kostbare Fracht aus den Augen lassen. Was die anderen Passagiere wohl denken würden, wenn sie wüssten, was in dem Kühlbehälter ist? Es ist aus. Nach acht Stunden neigt sich die Opera­ tion ihrem Ende zu. Die Eingeweide, die wir aus dem Körper genommen hatten, um an die beiden Nieren zu gelangen, müssen wieder in den offenen Torso. Die Flüssigkeiten, die beim Explantieren der Nieren ausgeronnen sind, werden abgesaugt. Zum Schluss darf ich den Körper zunähen. Es ist anstrengend aber befriedigend. Wenn man stundenlang etwas zer­ stört, tut es gut, ein sauberes Umfeld zu hinterlas­ sen. Als der Körper der Frau aus dem Saal gerollt wird, rutscht das Tuch von ihrem Kopf. Für einen Sekunden­ bruchteil kann ich ihr Gesicht erkennen. Ich bin mir fast sicher, dass es entspannt war.

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Traum

Der vom Leben in

Freiheit Die in Sri Lanka geborene Kinkini M. lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr mit ihrer Familie in Österreich. Als sie zwölf Jahre alt war, änderte sich ihr Leben schlagartig: Jahrelange Kontrollen und Verbote prägten von nun an ihren Alltag. Grund dafür ist ihre Kultur, nach welcher Mädchen ab dem Zeitpunkt ihrer ersten Menstruation als erwachsene Frau gelten. Nachdem ihre Eltern von ihrem österreichischen Freund erfuhren, sollte sie in Sri Lanka zwangsverheiratet werden. An diesem Tag entschied sie sich, ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Für die heute 21-Jährige war es ein Schritt in die Freiheit. Text: Sandra Schieder Fotos: Lilly Mörz

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„ „Der einzige Fehler, den ich gemacht habe, war, dass ich einen Freund hatte. Und dass ich ein Mädchen bin.“

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Kinkini M. hat die Ehre ihrer Familie verletzt. Es war ein Telefonat, das die Situation zum Eskalieren brachte. Ein Telefonat mit ihrem bis zu diesem Zeit­ punkt geheim gehaltenen Freund über gemeinsame Zukunftspläne. Kinkini wusste nicht, dass ihre Mutter sie belauschte. Wenige Minuten später kam ihr Vater rasend ins Zimmer, schmiss das Telefon zu Boden und schlug auf sie ein. Nicht zum ersten Mal wurde ihr Vater gewalttätig, bereits Jahre zuvor musste sie aufgrund der Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, rund zehn Tage im Krankenhaus verbringen. Aber an diesem Abend im Juni 2012 beschließt sie Wider­ stand zu leisten, und ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Ausbildung in Österreich und Heirat in Sri Lanka. Kinkinis Eltern, die beide aus Sri Lanka sind, lebten schon einige Jahre vor ihrer Geburt in Österreich. Als ihre Mutter mit ihr schwanger wurde, ging sie zurück nach Sri Lanka. Kinkini war zwei Jahre alt, als sie und ihre Mutter wieder zurück nach Öster­ reich kamen. Ein Haus in Gratkorn wurde ihr neues Zuhause. Der Plan ihrer Eltern war es, dass sie in Österreich aufwächst, eine Ausbildung macht und dabei möglichst wenig soziale Kontakte pflegt. Für das Ansehen der Familie sollte sie Medizin studieren und dann in Sri Lanka arbeiten und heiraten. Arran­ gierte Ehen sind in Sri Lanka fester Bestandteil der Kultur. Während im städtischen Gebiet bereits west­ liche Ansichten Einzug gefunden haben, leben die Menschen am Land auch heute noch nach einem sehr

konservativen Weltbild. Die Gründe für eine Zwangs­ heirat sind vielfältig. Oft geht es bei der Partnerwahl darum, die eigene Kultur und Identität zu bewahren. Manchmal möchte man die eigene Tochter, die in westlichen Kulturkreisen aufgewachsen ist und sich nicht den alten Traditionen fügen will, disziplinieren. In Kinkinis Familie gibt es sogenannte „Proposals“ – das ist eine spezielle Form des Heiratsvorschlags. Vor der Hochzeit suchen die Eltern äußerst genau nach dem für die Tochter „geeignetsten Ehepartner“. Doch Kinkini wollte nicht so leben, identifizierte sich mit europäischer Kultur und träumte von Freiheit. Elterliche Kontrolle rund um die Uhr. Kinkini und ihr um drei Jahre jüngerer Bruder Kasun wuchsen zweisprachig auf und hatten eine schöne, unbeschwer­ te Kindheit. „Wenn ich zu Hause war, war Sri Lanka im Verhalten angesagt. Sobald ich das Haus verlassen habe, war ich westlich im Denken“, erinnert sie sich zurück. Doch ihr Leben änderte sich schlagartig, als sie ungefähr zwölf Jahre alt war. „Sobald ein Mädchen in unserer Kultur ihre erste Menstruation bekommt, ist sie eine erwachsene Frau. Und ab diesem Moment hat man ein komplett anderes Leben.“ Ab diesem Tag war sie kein Kind mehr und konnte nicht mehr frei das Haus verlassen und Freunde besuchen, sondern wurde von ihren Eltern rund um die Uhr kontrolliert. Sie musste kochen, waschen, putzen, zu Elternsprechta­ gen ihres Bruders gehen, Arzt- und Amtsbesuche er­ ledigen. Kinkini beneidete ihre Freunde, Schulkollegen und Nachbarskinder für deren unbeschwertes Leben. Mit 14 lernte sie im Urlaub einen Jungen aus Sri Lanka kennen und die beiden führten eine Fernbe­ ziehung. Als ihre Eltern ihren Laptop durchsuchten und E-Mails entdeckten, flog diese auf. Daraufhin schlug ihr Vater sie krankenhausreif. „Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, ich kannte meinen Vater nur als liebevollen Vater.“ In Anwesenheit einer Sozialarbeiterin und eines Psychologen durften ihre Eltern sie im Krankenhaus besuchen. Ihr Vater drohte ihr auf Singhalesisch, dass sie auf der Straße weiter­ leben könne, wenn sie sich nicht füge. Aus Angst auf der Straße oder in einem betreuten Jugendwohnheim leben zu müssen, entschied sie sich wieder mit zu

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ihren Eltern zu gehen. Doch ihr Leben wurde noch schlimmer. Ihr Laptop und ihr Handy wurden ihr weg­ genommen, sie bekam kein Taschengeld mehr und durfte ihre Freunde nicht mehr sehen. Regelmä­ ßige Kontrollen ihres Stundenplanes und ihres Zim­ mers standen an der Tagesordnung. Das Haus durfte sie nur noch verlassen, um zur Schule zu gehen. Erste Heiratsvorschläge mit 16. Den Versuch Wider­ stand zu leisten riskierte sie nie. „Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr in die Schule darf oder nach Sri Lanka zurück muss. Ich hatte mich an mein kleines Gefängnis zu Hause gewöhnt.“ Besonders schlimm war es für sie, dass sie nirgends mitreden konnte. Ihre Freundinnen gingen fort, ins Kino oder auf Konzerte. „Zu dieser Zeit war ich sehr verzwei­ felt und spielte mit dem Gedanken meinem Leben ein Ende zu setzen.“ Im Gegensatz zu ihr hatte ihr um drei Jahre jüngere Bruder alle Freiheiten. „Er hat alles bekommen. Und das, obwohl er die Schule und einige Jobs geschmissen hat, raucht und sämtliche Alkohol­ exzesse hinter sich hat.“ Ihre Eltern haben ihn immer verteidigt, obwohl sie seine Fehler offensichtlich ge­ sehen haben. „Der einzige Fehler, den ich gemacht habe, war, dass ich einen Freund hatte. Und dass ich ein Mädchen bin.“

Dass sie nach Sri Lanka zurückgehen, dort arbeiten und heiraten sollte, wusste sie lange nicht. Als sie 16 war, kamen die ersten Heiratsvorschläge. Das Phäno­ men einer Zwangsheirat ist nicht auf eine bestimmte Religion oder Kultur beschränkt. In Kinkinis Familie handelt es sich nicht um religiöse, sondern um kulturelle Hintergründe. Sie sagte ihnen, dass sie nicht heiraten wolle, doch sie ließen nicht locker. Der Bruch mit Tradition, Gehorsam und Kultur. Im ersten Jahr nach der Matura schaffte sie den Auf­ nahme­­test zur Medizinprüfung nicht und studierte Molekularbiologie um das Jahr zu überbrücken. Ein Jahr später begann sie ihr Medizinstudium. Zu dieser Zeit lernte sie den heute 24-jährigen Benny, einen österreichischen Freund ihres Bruders, kennen. Die beiden verliebten sich ineinander und führten eine geheime Beziehung. „Mein Leben hat mit meiner Be­ ziehung zu Benny begonnen“, erzählt sie und strahlt dabei über ihr gesamtes Gesicht. In Benny, seinem jüngeren Bruder David und seiner Mutter Elisabeth hat sie eine Ersatzfamilie gefunden. „Das Familienge­ fühl, das ich nie hatte, habe ich in seiner Familie ge­ funden.“ Schon nach wenigen Monaten beschlossen die beiden, eine gemeinsame Wohnung zu suchen. In einem Telefonat planten sie, mit dem Tag an dem

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Er zeigte mir ein Foto und sagte: Entweder du nimmst diesen Mann oder du gehst für immer.

Kinkini auszieht, auch ihre Beziehung bekannt zu geben. Dann hörte Benny nur mehr das Telefon zu Boden fallen. Im nächsten Moment brach die Ver­ bindung ab. Benny wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, und klingelte kurze Zeit später bei Kinkini zu Hause. Ihr Vater wollte das Geschehene vertuschen und befahl Kinkini, ihre Verletzungen mit Kleidung zu überdecken. Nachdem ihre Eltern über die Be­ ziehung und Umzugspläne Bescheid wussten, stimmte ihr Vater den Plänen zu. Seine einzige Bedingung: In dieser Nacht müsse sie noch zu Hause bleiben, dann dürfe sie gehen. „Ich wusste sofort, dass irgend­etwas nicht stimmt, ich nicht so einfach davonkomme und hatte wirklich Todesängste.“ Aus diesem Grund blieb ihr Freund Benny über Nacht und schlief im Wohnzimmer. Mitten in der Nacht riss ihr Vater die Zimmertür auf und stellte sie vor die Wahl. „Er zeigte mir ein Foto und sagte: ‚Entweder du nimmst diesen Mann oder du gehst für immer.’“ Die Hochzeitsvor­ bereitungen waren bereits in vollem Gange. Sie hätte ihr Studium abbrechen, ihre Beziehung beenden und direkt nach Sri Lanka fliegen sollen. Doch in dieser Juninacht bricht sie mit der Tradition, dem Gehor­ sam und ihrer Kultur und nimmt ihre Zukunft selbst in die Hand. „Dieses ‚Nein’ war das erste und beste Nein meines Lebens“, ist sie überzeugt und bereut ihre Entscheidung nicht. Am nächsten Morgen lud sie gemeinsam mit Benny und ihren drei besten Freun­ dinnen Elli, Gabi und Anna ihre Sachen in einen

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Transporter. Am 14. Juni 2012 hat Kinkini ihre Eltern das letzte Mal gesehen. Ein neues Leben in Freiheit. Drohungen in Form von Nachrichten und Anrufen prägten in den nächsten Wochen ihren Alltag. „Sie haben mich als europäische Hure bezeichnet und mir gedroht, mich umzubrin­ gen.“ Nachdem sie den Kontakt zu ihrem Bruder ab­ gebrochen und ihre Telefonnummer gewechselt hatte, hatten die Drohungen ein Ende. Doch an ihr Leben in Freiheit musste sie sich erst gewöhnen. „Ich habe endlich gewusst, was es heißt zu leben und was Frei­ zeit bedeutet. Das war wie ein Befreiungsschlag für mich. Ich konnte einfach ganz spontan die Wohnung verlassen und einen Kaffee trinken gehen.“ Und bereits jetzt schmiedet sie Zukunftspläne. „Ich wollte von Anfang an selbst Medizin studieren. In diesem Punkt waren meine Eltern und ich uns einig“, sagt sie. Wenn sie mit dem Studium fertig ist, möchte sie Frauen helfen, die in der gleichen Situation sind, in der sie war. „Denn ich weiß, was das bedeutet und wie schwer es ist da rauszukommen. Die meisten Mädchen und Frauen leben dahin und akzeptieren ihr Schicksal.“ Beim Ansehen von alten Familien­ fotos bekommt sie gemischte Gefühle. „Natürlich bin ich manchmal traurig, aber es gibt keinen Weg zurück.“ Heute geht es ihr gut. „Im Endeffekt ist es die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Ich studiere in Mindeststudienzeit und bin überglücklich mit Benny. Meine Geschichte ist unsere Geschichte.“


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Sonne, Mond und Sterne Text & Foto: Max Sommer

Dass Designer ihr ganz persönliches Verhältnis zu ihren Werken haben, ist gemeinhin bekannt. Doch was, wenn nicht nur der Betrachter des Designs in den Bann gezogen werden soll, sondern auch die Designerstücke untereinander in Kontakt treten? Was aufs Erste wirr und ziemlich verrückt klingt, ist das Erfolgskonzept von Brigitte Sommer, Leuchtendesignerin aus Wien.

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er die Designwerkstatt „Sommerlicht“ in der Lerchenfelderstraße 53 in Wien betritt, der findet sich in einer gemütlichen, ja fast familiären Atmosphäre wieder: Das warme Licht dutzender Leuchten erhellt den mit weißen Natur­ papierbögen abgetrennten Präsentationsraum. Die Lampenschirme zu meiner Linken erinnern an Sonne, Mond und Sterne; wenn ich nach rechts blicke, sehe ich ein Ufo und einen Harlekin. Hinter dem Trenn­ element huscht ein Schatten unentwegt hin und her. Ich mache einen Schritt hinter die halbdurchsichtige Wand und begrüße die rothaarige Designerin Brigitte Sommer, die mir mit leuchtenden Augen und einem freundlichen „Hallo“ ihre Hand entgegenstreckt. „Haben dich meine Leuchten schon begrüßt?“, fragt sie mich und blickt mir mit einem Schmunzeln ins Gesicht. Nicht so recht wissend, was ich antworten soll, schüttle ich den Kopf und frage höflich nach, wen ich denn übersehen hätte. „Weißt du, meine Leuchten sind nicht nur Leuchten, vielmehr sind sie Figuren. Ebenso wenig stehen sie einfach nur im Raum herum. Sie treten in Kontakt mit ihren Betrachtern und unter­ einander – das ist es, was ihnen ihren Charme ver­ leiht.“ Und wirklich, wie sie dastehen und ihre Leuch­ tenschirme neigen, als würden sie sich anblicken, hat wirklich etwas sehr Figurenhaftes. Sie wirken, ziehen mich in den Bann und beanspruchen meine gesamte Aufmerksamkeit. Ich merke nicht ein­ mal, dass Brigitte längst nicht mehr neben mir steht. Aus der kleinen Küche höre ich sie „Kaffee?“ rufen. Fünf Minuten später sitze ich mit ihr an einem klei­ nen Tisch in der noch kleineren Küche und trinke einen Espresso. Sie erzählt vom harten Einstieg in die Selbstständigkeit, von ihrem Anspruch an gutes Design und wie sie sich tagtäglich in ihrer Branche behauptet. Behauptet hat sie sich mittlerweile tatsächlich – nicht nur, weil sie ihren festen Kundenstamm hat und immer mehr Menschen ihr einzigartiges Design entdecken, sondern auch, weil sie das zum Beruf gemacht hat, was sie liebt. Nachdem ich mich verabschiedet habe und die Tür hinter mir schließe, blicke ich noch einmal zurück ins Schaufenster und es scheint mir, als würden mir auch die Leuchten ein leises „Auf Wiedersehen“ zuflüstern.

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Illustration: Anna Spindler


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Ich sehe was, was du nicht siehst Text: Jennifer Polanz Illustration: Tanja Gahr

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Bei einem Opernbesuch meinen wir alles zu sehen, was wichtig ist: das Bühnenbild und die Darsteller. Aber unser Sichtfeld ist begrenzt – und das gewollt. Das Treiben im Orchestergraben reduzieren wir auf die Musik, und achten kaum auf die Menschen neben uns. Nicht jedoch heute. Ein Blickwechsel.

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anche Menschen lieben es im Mittel­ punkt der Aufmerksamkeit zu stehen, doch in den meisten Fällen ist es ihnen un­ angenehm, wenn sie beobachtet werden. An diesem Abend fällt es allerdings niemandem auf, dass jemand aus dem Hintergrund sie im Auge behält. Ich habe mich unter dem vordersten Teil der Bühne positioniert, sitze somit im Halbschatten des Orchester­grabens und bin praktisch unsichtbar. Denn heute möchte ich mich nicht wie die anderen Besucher hauptsächlich auf das Bühnengeschehen konzentrie­ ren. Ich möchte das sehen, was ansonsten nur un­ terbewusst aufgenommen wird: Die Reaktion des Publikums und das Geschehen im Orchestergraben. Eröffnung. Der Dirigent leckt sich mit der Zungen­ spitze über die Lippen, bevor er die Arme hebt und die Operette „Gasparone“ eröffnet. Kleine Lampen erhellen die Notenblätter der Musiker, die sich routi­ niert durch die Ouverture spielen. Vor mir bearbeiten drei ältere Männer ihre Bässe, während neben mir ein junger Mann mit beinahe kindlicher Begeisterung in die Tasten eines Pianinos schlägt. Ein jeder ist für einen kurzen Moment in seiner eigenen Welt – genauso wie das Publikum, das verzückt dem Geschehen auf der Bühne folgt. Nur ich in meiner Rolle als Beobachterin bin davon ausgeschlossen. Lautes Poltern über meinem Kopf kündigt den Auf­ tritt des Räuberhauptmanns Gasparone an. Die Ouvertüre ist beendet, hier und da erhebt sich ein Orchestermitglied neugierig, um einen besseren Blick auf die Bühne zu erhaschen. Die meisten Personen im Orchestergraben folgen dem Stück auch weiter­ hin aufmerksam: Ihre Köpfe sind nach oben gerichtet

und immer wieder muss jemand ein Lachen unter­ drücken. Die Gesichtsausdrücke in den ersten zwei Publikumsreihen, die ich im dämmrigen Licht noch erkennen kann, wirken beinahe ident: konzentrierte Blicke und ein leichtes, entspanntes Lächeln. TriTraTralala. Wenn man nicht mitbekommt, was sich hinter einem abspielt und nur nach dem Gehörten gehen kann, kreiert man sich schnell seine eigene Version des Stückes. Meine erinnert mich an ein Kas­ perltheater. Als einer der Bürger mit überschlagender Stimme: „Er ist Gaaaasparone! Ich muss sofort zum Bürgermeister!“ ruft, stelle ich mir viel mehr einen schreienden Pezi-Bären vor: „Es ist das Krokodil! Ich muss sofort zum Kasperl!“ Es ist generell schwierig, dem Stück inhaltlich zu folgen. Das Orchester über­ tönt immer wieder die Stimmen der Darsteller; wie sehr ich eigentlich von Bildern abhängig bin, wird mir spätestens jetzt bewusst. Daher richte ich mei­ ne Aufmerksamkeit wieder auf die Musiker. Alleine dem Dirigenten könnte ich ewig zusehen: Völlig mitge­rissen von der Musik wippt er auf und ab und es scheint beinahe so, als würde er tanzen. In den kurzen Pausen wischt er sich mit einem weißen Tuch den Schweiß von der Stirn und befeuchtet sich gleich dar­ auf wieder die Lippen. In diesen wenigen Momenten wirkt er fast ein wenig verloren. Vorbei. Als das Stück vorbei ist, werden anerkennende Blicke zwischen den applaudierenden Zusehern aus­ getauscht. Das Orchester erhebt und verneigt sich, und ehe ich mich versehe, ist der Graben leer. Und ich? Auch wenn mir der Blick auf die Bühne verwehrt war, gesehen habe ich trotzdem genug.

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KULT

Ode to

joe „Freude schöner Götterfunken, Töchter im Delirium. Wir betreten voll betrunken, Himmlische, dein Jungferntum.“ – Ob Ludwig van Beethoven es als Erfolg betrachten würde, was heute zur Musik seiner „Neunten“ gesungen wird, ist fraglich. Aber nicht nur Schönheit liegt im Auge des Betrachters – Ähnliches lässt sich auch über Erfolg sagen. Text: Clemens Wolf Illustration: Tanja Gahr

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KULT

A

uf neun Symphonien hat es Ludwig van Beet­ hoven im Leben gebracht. Naja, fast: Eine zehnte hat er noch begonnen, er sollte sie jedoch nicht mehr zu Ende schreiben. Gemessen da­ ran, wie viele Symphonien ich mein geistiges Eigen nennen kann (null, und daran wird sich wohl leider nicht mehr viel ändern), ist Beethoven mit neun (und ein paar Zerquetschten) rein quantitativ schon mal ziemlich erfolgreich. Gemessen an seinem Zeitge­ nossen Wolferl Mozart kann er allerdings einpacken: Der gute Wolfgang Amadeus hat es nämlich auf über 60 Symphonien geschafft.

er hatte die lästige Angewohnheit, seine Komposi­ tionen in die Tischplatten der Wiener Heurigen zu schnitzen. Andererseits: Erfolg liegt ja im Auge des Betrachters. Seine Taubheit hat Beethoven nicht nur erspart, das Gezeter der Wirtsleute zu hören, sondern auch Mozarts 60 Symphonien. Erfolg hatte W.A. mit ihnen zwar sicher; und auch heute sind sie noch gern gehört. Aber – keine einzige Mozart’sche Symphonie ist so erfolgreich wie Beethoven’s Neunte: Die hat es nämlich immerhin zur offiziellen Europa-Hymne ge­ schafft. Das war wohl im wahrsten Sinne des Wortes ein unerhörter Erfolg für Ludwig van Beethoven.

Ludwig der Loser? Ein großer Gewinner dürfte Beet­ hoven jedenfalls nicht gewesen sein. Als er seine „Neunte“ komponierte, war er bereits seit mehreren Jahren taub – statt Ruhm und Ehre wurden ihm zu Leb­ zeiten zweifelhafte Spitznamen zuteil. Als „Terrischer von Heiligenstadt“ war er zum Beispiel bei den Wirtsleuten Wiens verschrien – die wenig charmante Bezeichnung dürfte er sich aber verdient haben: Denn

Erfolgreich dürfte die „Ode an die Freude“ aber trotzdem auch in seinen Augen gewesen sein. Denn so ist das eben mit dem Erfolg: Oft ist er eine Frage des Blickwinkels. Dass ich keine neun Symphonien (ja nicht mal eine einzige) geschrieben habe, sollte ich daher wohl auch nicht als Misserfolg betrachten: Ich mag zwar keine „Ode to joy“ zustande bringen, dafür aber diese „Ode to joe“.

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