ITI Jahrbuch 2019

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RESPEKT UND DIE EINMALIG HINBEKOMMENE NORMALITÄT Du bist Westberliner und hast bereits 1983 für die taz über die Ostberliner Theater geschrieben. Als einer der wenigen hast du die Stadt als Ganzes genutzt. War das der Grundstein deiner interkulturellen Arbeit?

MAT THIAS LILIENTHAL: Ich fand das Theater im Osten einfach viel spannender, das war eine total unbekannte, neue Welt, die wollte ich einfach kennenlernen. Aber klar, die DDR und die BRD waren zwei verschiedene Staaten. Insofern war der Kulturtransfer dazwischen noch komplizierter und beruhte auf dem Missverständnis, dass alle aus der gleichen Kultur kommen. Es gab Ostberliner Dialekt und Westberliner Dialekt und trotzdem funktionierten die wie zwei fremde Sprachen. War das schwer für dich? Total! Als ich im November 1991 an der Volksbühne angefangen habe, war ich unter 285 Leuten an der Volksbühne der einzige Westler. Zumindest fühlte es sich so an. Wenn ein Theater international arbeitet, liegen dem meist Herkunft und Sprachen der Intendant:innen zugrunde. An den Kammerspielen war das nicht so. Es waren zwei verschiedene Ansätze. Einerseits haben etwa 43 Prozent der Münchner:innen einen Migrationshintergrund und das Ensemble eines Stadttheaters sollte ein Spiegel der städtischen Gesellschaft sein. Städte wie Frankfurt, München, Hamburg oder Wien können ganz

stark migrantisch sein, trotzdem ist das Ensemble einer Bühne meist deutschstämmig. Noch schlimmer: man könnte fast den Eindruck haben, dass auf den Schauspielschulen alle blond und blauäugig sind. Aber die Mehrheit der Deutschen ist ja nicht blond und blauäugig. Deshalb haben wir uns selbst unter Druck gesetzt und wollten, dass im Ensemble 40 Prozent aller Mitarbeitenden keinen „bio-deutschen“ Hintergrund haben. Und der zweite Aspekt? Durch meine Arbeit am HAU Hebbel am Ufer und bei den internationalen Festivals hatte sich ein Stamm von Regisseur:innen herausgebildet: Toshiki Okada, Rabih Mroué, Amir Reza Koohestani oder Yael Ronen. Wir haben uns gefragt, wie man sie im Stadttheater, im Ensemble und in den Repertoirebetrieb integrieren kann. Außerdem haben wir 30 Prozent unserer Ressourcen dafür verwendet, freie Arbeiten koproduzieren zu können. Die Münchner Kammerspiele sind finanziell gut ausgestattet. Wenn man da mit Toshiki Okada arbeitet, sollte man es sich leisten, auch Makiko Yamaguchi zu verpflichten, die einerseits aus dem Japanischen dolmetscht, aber auch dramaturgisch arbeitet. Nur so kann die Exaktheit im sprachlichen und kulturellen Transfer gewährleistet werden, die man für die Arbeit braucht und dann auch haben möchte. Ist das Publikum auch migrantischer geworden? Hat sich da durch euren Ansatz etwas verändert?

JAHRBUCH ITI 2019

Yvonne Griesel im Gespräch mit Matthias Lilienthal


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