Intro #175

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Musik

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Latente Erotik, Orientierungslosigkeit als Zeichen der eigenen Freiheit und unerträgliche Spannung wie vor einem Gewitter: Mit ihrem zweiten Album »Two Dancers« perfektionieren die Briten Wild Beasts ihren extravaganten Stil, den sie auf ihrem viel beachteten Debüt »Limbo, Panto« nur angedeutet haben. Peter Flore traf Sänger Hayden Thorpe in Berlin. Foto: Diane Vincent.

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ein, sagt Hayden, es störe ihn nicht, dass es bei Rezensionen und Artikeln über seine Band Wild Beasts immer wieder nur um sein markantes Falsett gehe. Immerhin sei das etwas Besonderes, ein Alleinstellungsmerkmal, das die ohnehin schon entrückte Musik der vier Briten umso schillernder erscheinen ließe. Dass den meisten Leuten vor allem sein markanter Gesang hängen bleibt und die Band bei aller instrumentalen Kunstfertigkeit nur zu gerne auf diesen reduziert wird, ist für den schmächtigen Sänger eher ein Luxusproblem: »Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen [Kendal im Lake District und somit im äußersten Nordwesten Englands], in der unmittelbaren Umgebung gab es nur klassische Männerbands mit lauten Gitarren und machohaftem Auftreten. Das hat mich von vornherein gelangweilt, und wir haben uns als Band relativ früh entschieden, dass wir so nicht sein wollen.« Die Abgrenzung geriet erfolgreich, das erste Album »Limbo, Panto«, 2008 auf Domino veröffentlicht, verkaufte sich zwar nur mäßig, hievte die Band aber doch in den Fokus der Kritiker. Ihr detailverliebter, hypnotischer und gleichsam spannungsgeladener Pop-Entwurf war anders als der der zahllosen UK-Post-Punk- und -New-Wave-Epigonen, die sanft groovenden Songs der Band mit dem unverwechselbaren Gesang schienen sowohl für den Kopfhörer als auch die Tanzfläche gemacht. »Erotic Downbeat Music« schwebte als selbst gewähltes Label über dem Bandsound, und in der Tat herrscht auch auf dem nun erscheinenden Nachfolger »Two Dancers« eine Schwüle und Anspannung wie vor einem reinigenden Sommergewitter: Ein Sturm ist im Kommen, es könnte jeden Moment passieren. Die Band, neben Sänger und Gitarrist Hayden noch Tom Fleming, Benny Little und Chris Talbot, baut in ihren Songs eine fast unerträgliche Spannung auf, zur erwarteten Explosion kommt es aber nicht. Dafür fühlt man sich auf »Two Dancers« in einer merkwürdigen Traumwelt gefangen, in einer Blase, die partout nicht platzen will. Und je länger und aufmerksamer man dem zweiten Album der Briten lauscht, desto mehr wünscht man sich, sich ganz in dieser Welt zu verlieren: Im ätherischen »Hooting And Howling« beispielsweise, der ersten Single, die das eingangs erwähnte Alleinstellungsmerkmal, also Haydens Gesang, gleich noch als Metaebene thematisiert. Oder im durch hypnotischen Chorgesang getragenen »All The King’s Men«, in dem wiederum die dunklen Bariton-Vocals von Gitarrist Tom Fleming den Ton angeben. Die Wild Beasts sind viel zu schlau, um sich bei allem Wiedererkennungswert allein auf die Falsettstimme von

Hayden Thorpe zu verlassen, vielmehr haben sie in Tom Fleming einen perfekten Gegenpart, der dezent, aber effektiv zuweilen eine völlig andere Nuance aufblitzen lässt und so für die nötige Reibung sorgt. Dieses Spiel mit den Gegensätzen ist einer der Hauptkniffe in der Musik der Wild Beasts – auf »Two Dancers« haben sie es nach ihrem starken, aber noch recht unentschlossen wirkenden Debüt perfektioniert, in pointierten und ausgeklügelten Songs, die bei allem Popappeal ungemein sophisticated und experimentell daherkommen: Pop als trojanisches Pferd, der Teufel steckt dabei mal wieder im Detail. Kaum zu glauben, dass »Two Dancers« komplett live aufgenommen wurde: »Wir haben die Songs wirklich ein Jahr lang acht Stunden am Tag geprobt, es sollte alles perfekt sein, denn wir haben einen sehr hohen Anspruch an unsere Musik. Jedes Detail musste sitzen, jedes Gitarrenlick, jede Synkope. Wir sind da wirklich sehr nerdig«, gibt Hayden lachend und etwas schüchtern zu Protokoll. Dass »Two Dancers« bei aller Perfektion trotzdem nicht klinisch, sondern geradezu spontan wie ein ausufernder Jam klingt, muss größte Hochachtung hervorrufen. Sich gehen zu lassen und gleichzeitig nicht die Kontrolle zu verlieren, darum geht es auf »Two Dancers«, wie Thorpe erklärt: »Die meisten Songs besitzen tatsächlich diese leicht beschwipste Stimmung, euphorisiert und vielleicht auch etwas übermütig. Dieser Moment, in dem du dich unendlich frei fühlst und dir für eine Nacht die ganze Welt gehört. Insofern passt auch das Motiv der beiden Tänzer aus dem namensgebenden Track: Tanzen bedeutet immer auch, loszulassen, sich gehen zu lassen – und ist doch ein stark ritualisierter Akt.« Das Bild eines tanzenden Paares, das für einen Moment ganz in seiner eigenen Welt aufgeht und sich in Ekstase tanzt, passt tatsächlich sehr gut auf die vorherrschende Stimmung des Albums – man fühlt sich zuweilen wie im Film »Die Träumer«, ganz eingenommen von schwüler Erotik, Freiheit, Unbekümmertheit – und Kontrollverlust. »Es ist ein sehr hedonistisches Album geworden«, findet auch Thorpe. »Es feiert die eigene Orientierungslosigkeit, die gleichzeitig Freiheit und Schranke sein kann.« Spricht’s, nippt an seinem Kaffee und bedankt sich artig für die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit. Noch so etwas, das auf den ersten Blick partout nicht passen will ...

Wild Beasts Two Dancers CD // Domino / Indigo

Falsett Unnatürlich künstliche männliche Kopfstimme, die nicht nur in der klassischen Musik, sondern auch im Pop oft Verwendung findet: Neil Young, Thom Yorke, Muse-Sänger Matthew Bellamy oder die Bee Gees bedienen sich fast ausschließlich dieses Gesangsstils.

Die Träumer Heißt im Original »The Dreamers« und stammt von Bernardo Bertolucci. Drei junge Menschen leben im Paris von 1968 ihre (sexuelle) Freiheit aus. Sie schauen Filme, reden über Politik und zelebrieren ihre Sexualität – dabei kapseln sie sich mehr und mehr von der Außenwelt ab.


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