IZ 30 Jubiläumsmagazin

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Sonderausgabe Dezember 2023

Das Jubiläumsmagazin


Jetzt wollen wir auch mal zu Wort kommen! Vielen Dank für Ihre kreativen Glückwünsche zu unserem Jubiläum, Ihre Treue und Ihr Vertrauen in unsere Arbeit. Wir freuen uns auf weitere erfolgreiche Jahre mit Ihnen an unserer Seite! Ihre Immobilien Zeitung

Wir sagen Danke



WIR IHR GEMEINSAM Liebe Geburtstagsgäste, wenn Sie das lesen, dann ist unser Geschenk bei Ihnen angekommen. Denn genau das soll dieses Magazin zum 30. Geburtstag der Immobilien Zeitung sein: ein Geschenk an Sie. Wobei wir hier zum Duzen übergehen möchten. Denn Ihr seid ein wichtiger Teil unseres Jubiläums, ohne Euch wäre dieser Weg nicht möglich gewesen. Wir. Ihr. Gemeinsam. Das ist das Motto, welches dieses Jubiläum einrahmt. Für uns wirkt es sowohl nach außen in die Immobilienwirtschaft als auch ins Innere der IZ. Wie in einem Mosaik erwächst das Gesamtbild erst aus dem Miteinander der vielen individuellen einzelnen Teile. Mosaikartig bildet auch dieses Magazin eine Vielzahl von Themen ab, die uns als Gesellschaft bewegen und erschüttern. Sei es eine Reise zu israelischen Siedlern und Palästinensern im Westjordanland oder sei es der Besuch einer künstlichen Stadt, in der die Bundeswehr den Häuserkampf probt. Wir haben außerdem gelernt, wie schwierig Nachhaltigkeit im eigenen Haus umzusetzen ist oder mit welchen besonderen Herausforderungen queere Flüchtlinge in ihrer Heimat und dann in Deutschland kämpfen müssen. Unsere Kolleg:innen haben die Wüste besucht, sich nach Turkmenistan gewagt, ein Eifeldorf mit 30 Einwohnern ausfindig gemacht sowie Gehirnexperimente durchgeführt. Bei alldem hatten wir natürlich immer die Immobilienbrille auf. Das gedruckte Magazin ist dabei nur ein Element unserer crossmedialen Jubiläumsaktivitäten. Das Onlinespiel Immohochstapler, der Jubiläumsnewsletter IZ Dreißig sowie eine kleine Feier auf der Expo Real gehören ebenfalls dazu. In einem eMagazin könnt Ihr darüber hinaus viele Geschichten noch einmal ganz anders erleben, mit Filmen, Musik und bewegten Bildern. Und Ihr dürft abstimmen, welche der vielen großartig gestalteten Anzeigen in diesem Heft Euch am besten gefällt. Der 30. Geburtstag ist für viele der erste, der richtig weh tut. Bei uns ist das anders. Wir hatten jede Menge Spaß dabei. Ihr nun hoffentlich auch mit dem Ergebnis. Denn dann haben wir wieder etwas gemeinsam. Eure Brigitte Mallmann-Bansa, Chefredakteurin, und Thomas Porten, Herausgeber

P.S.: Dass unser Geschenk Euch tatsächlich erreicht hat, ist übrigens nicht selbstverständlich, wie Ihr an der Geschichte „Wir wollten Sie beschenken“ sehen könnt.

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Fotos groß: Christof Mattes. Mosaikerstellung: makemymosaic.de

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Inhalt Vorwort SEITE 4

Da bringen wir Stefan Merkle in diesem außergewöhnlichen Hotel unter und trotzdem beschwert er sich. Bloß weil er nicht am Flughafen abgeholt wurde, Menschen in der Hotellobby geschlafen haben und er bei 40 Grad Celsius Immobilien fotografieren sollte. Aber so ist das nun mal, wenn man unbedingt nach Aschgabat will. Dafür ist die Architektur in der Hauptstadt Turkmenistans aber auch ziemlich cool.

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Foto: Stefan Merkle

Die weiße Wüstenstadt

Ein Auftrag ganz nach ihrem Geschmack: Janina Stadel geht der Frage nach, was im Gehirn von Immobilienprofis passiert, wenn sie an Immobilien denken. Passiert da überhaupt etwas? Da hilft nur eins: in den Schädel hineinschauen. Und das machen wir mit ganz vielen komplizierten Apparaturen und einem top ausgebildeten Team von Wissenschaftlern. Schließlich wollen wir ja nichts kaputtmachen im Oberstübchen.

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Impressum SEITE 48

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Foto: Christof Mattes

Wo das Herz ist, ist auch das Hirn


50 Jahre JLL Germany.

We’re Giving Back! © 2023 Jones Lang LaSalle IP, Inc. All rights reserved.


Wir bauen auf dem Mars

Foto: Friedhelm Feldhaus

Bis zum Mars wollte Jutta Ochs mit ihrem Rollköfferchen natürlich nicht reisen. Aber bis nach Bremen. Denn dort leben Forscher, die unbedingt auf den roten Planeten wollen und sich sicher sind, dass eine Besiedlung noch zu unseren Lebzeiten passieren kann. Für diesen Tag bauen sie Wohn- und Arbeitsmodule. In anderen Laboren haben Wissenschaftler festgestellt, woraus ein idealer Bauziegel bestehen könnte: nämlich aus Marsstaub, Blut, Schweiß und Urin.

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Ohne Sicherheit kein Zuhause Die Regenbogenflagge zeigt es: Hier geht es um queere, schwule, lesbische, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen. Aber nicht um irgendwelche, sondern um diejenigen, die wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt wurden, geflüchtet sind und in Deutschland eine Heimat suchen. Thorsten Karl hat sie in ihrem neuen Zuhause besucht und gefragt, ob es denn wirklich ein Zuhause ist.

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Die rote Jacke von Ulrich Schüppler täuscht, der rote StudentenNotizblock nicht. Denn für dieses Heft ist er in „grüner“ Mission unterwegs und da musste er noch viel lernen. Wir wollten von ihm wissen, ob und wie wir das Jubiläumsmagazin nachhaltig produzieren können. Das Ergebnis: Die grüne Transformation kann leicht für graue Haare sorgen.

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Foto: Alexadra Stiehl

Warum dieses Magazin nicht nachhaltig ist

Mit seinem T-Shirt landet Thomas Porten natürlich in der Kategorie bunter Vogel. Aber im Vergleich zum Briten Bob bleibt er dann doch ein blasser Typ. Denn der Tausendsassa Bob hat mit eigenen Händen inmitten einer Favela in Rio de Janeiro einen bunten Tempel für Künstler gebaut. Doch wie das mit Trophy-Immobilien halt so ist: Natürlich kommt jemand ums Eck, der sich das Ding unter den Nagel reißen will.

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Foto: Thomas Porten

The Maze


CON GRA TS!

Because it matters.

Das Künstlerhaus Wendenstraße 45 in Hamburg-Hammerbrook

30 Jahre “echter” Immobilienjournalismus – wir sagen Danke.

www.becken.de / www.industria-immobilien.de


Eine Stadt zieht um Was für einen Trubel gab es um die Räumung des Orts Lützerath, der dem Tagebau gewichen ist: Demonstrationen, Verletzte, Fahndung nach Gewalttätern. Das geht auch anders, nämlich schnell, friedlich und mit Unterstützung der Bevölkerung. Kristina Pezzei musste dafür allerdings bis nach Schweden reisen. Dort ziehen nicht nur die Einwohner um für den Bergbau, sondern ihre Häuser gleich mit.

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Foto: Alexander Sell; Fahne: stock.adobe.com, DomLortha

Inhalt

Schlaflos in Berlin

Foto: Christof Mattes

Dass Lars Wiederhold sein Bett selbst bezieht, ist für ihn nichts Neues. Dass er es hinter dem Hauptbahnhof von Berlin in einem Zelt tut, schon. Doch er soll nicht alleine bleiben in seinem luftigen Schlafgemach: Eine Professorin besucht ihn, ein Bausenator ebenfalls, eine Mieterinitiative kommt vorbei, ein paar Immobilienpraktiker gesellen sich hinzu. Warum? Sie sollen über Wohnungsnot und Wohnungspolitik diskutieren und sich dabei die Nacht um die Ohren schlagen. Feldbetten stehen bereit.

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Foto: David Marconcini

ESG-Check für antike Arena Baujahr 30 n. Chr.: Fast 2.000 Jahre steht die Arena di Verona schon. Und sie wird immer noch genutzt. Das Ding müsste unter ESG-Gesichtspunkten doch der Renner sein. Klaus Grimberg fährt mit Checkliste nach Italien und präsentiert das Asset anschließend vor deutschen Investoren. Werden sie kaufen?


Fakten sind keine Frage der Perspektive.

Danke. Für 30 Jahre Durchblick. Durchblick in allen Immobilienfragen hat übrigens auch unsere Beratung.


Im Dorf ist Feierabend

Foto: Christof Mattes

Christoph von Schwanenflug (Mitte) hat alle Einwohner von Scheitenkorb zum Grillfest eingeladen. Das sind genau 30, mehr gibt es einfach nicht. Genauso wenig wie einen Laden oder ein Wirtshaus. Der Strukturwandel treibt die Bewohner tagsüber nach Luxemburg. Erst abends kehren sie in ihre umgebauten Bauernhöfe zurück.

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Ich suche ein Haus

Foto: Christof Mattes

Tausende Tiere müssen jedes Jahr umziehen. Immer bestimmen Frauchen und Herrchen, wo es hingeht. Niemand fragt Hund, Katze, Maus. Das darf nicht sein! Peter Dietz hat den Spieß deshalb mal umgedreht. Nicht er rückt den Maklern bei der Hausbesichtigung auf die Pelle, sondern Hund Max. Dem kannst du nicht mit „top saniertem Altbau“ kommen.

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Friedhelm Feldhaus scheint sich zu fragen, was er hier eigentlich macht. „Hier“ ist ein Schnittpunkt vom 30. Längen- und Breitengrad, zu dem wir ihn passend zu unserem 30. Geburtstag entsandt haben. Genauer: in die ägyptische Wüste ins Wadi an-Natrun. Zu seiner Überraschung landet er in vier Klöstern, in denen seit Jahrhunderten gebaut wird.

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Foto: Friedhelm Feldhaus

Der Bauboom der Mönche

Wichteln kennt jeder: Man gibt irgendetwas her, dafür bekommt man irgendein anderes Geschenk. Das hat Harald Thomeczek zu unserem 30. Geburtstag ebenfalls gemacht. Immobilienprofis aus ganz Deutschland erhalten ein Paket gefüllt mit Sinnvollem und völlig Unbrauchbarem. Zwei Dinge dürfen sie herausnehmen, zwei müssen wieder hinein. Einer schickt das Paket zum nächsten, bis insgesamt 30 Menschen beglückt worden sind. So der prima ausgetüftelte Plan. Er ist komplett gescheitert.

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Foto: Brigitte Mallmann-Bansa

Wir wollten Sie beschenken


// P EO P L E. PA R T N E R. P R O P E R T Y

Weil auch wir das Marktgeschehen genau im Blick haben. Wir gratulieren der Immobilien Zeitung zu ihrem 30-jährigen Jubiläum und zu 30 Jahren konstant hoher Qualität bei der Berichterstattung. Stets am Puls der Zeit zu agieren und die Dynamik des Marktes zu verstehen, genau darauf kommt es heute an – mehr denn je. Der IZ gelingt das seit inzwischen drei Dekaden. Ein Anspruch, dem auch wir Tag für Tag folgen.

ROBERTCSPIES.DE


Inhalt Das mit dem Marschieren klappt bei Volker Thies (links) schon ganz gut. Aber dort, wo er ist, wird weniger marschiert, dafür mehr geschossen. Die Bundeswehr hat sich dafür eine komplette Stadt gebaut, mit Einfamilienhausgebiet, Bauernhöfen, Sakralbau, U-Bahn, Tankstelle, Möbelhaus und sogar Stadion. Hier lernen Soldaten Angriff und Verteidigung in einem „urbanen Umfeld“.

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Foto: Michael Hertstein

Krieg in Schnöggersburg

Mein Land, Dein Land

Foto: Oren Ziv

Der seit Jahrzehnten tobende Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist erneut eskaliert. Sabine Gottschalk war zuvor für uns im Westjordanland. Dort hat sie mit jüdischen Siedlern und palästinensischen Familien gesprochen. Wie wohnen die Menschen in einem Gebiet, wo der Nachbar sagt, dass es sein Land ist – und schlimmstenfalls dafür tötet?

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Am Himmel hoch

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Foto: Laura Kolb

Was lauern dort für dunkle Dinger auf der Wiese hinter Marius Katzmann? Es sind Drohnen, 50 an der Zahl. Denn so viele von den mit kleinen Lampen bestückten Flugobjekten braucht es mindestens, um „IZ 30“ in den Wiesbadener Nachthimmel zu schreiben.


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Hochmeisterplatz, Berlin

JAHRE

Jahrzehntelange Liebe zu Bauwerten – das verbindet. Im Jahr 2023 feiert die Immobilien Zeitung ihr 30. Jubiläum und die BAUWERT AG ihr 40. Jubiläum. Ein Grund, doppelt zu feiern! Beide Unternehmen folgen ihrer Leidenschaft für Immobilien auf ganz eigene Art: die Immobilien Zeitung mit fundierten und spannenden Insights, BAUWERT mit dem Bau wertiger Wohn- und Gewerbeimmobilien an den besten Adressen Berlins und im Berliner Umland.

www.bauwert.de


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Die weiße Wüstenstadt

Im Herzen Asiens liegt eine Stadt aus weißem Marmor: Aschgabat, die Hauptstadt von Turkmenistan. Tausende Gebäude sind mit Platten des schillernden Gesteins verkleidet. Die exzentrischen Vorlieben der turkmenischen Herrscher lassen sich auch sonst überall in der Stadt ablesen. Die Zahnklinik sieht aus wie ein Backenzahn, das Haus der freien Kreativität wie ein Buch und der Flughafen hält den Weltrekord als größtes, in der Form eines Vogels gestaltetes Bauwerk.

Text & Fotos | Stefan Merkle

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Der Bagt Köşgi, der „Palast des Glücks“, ist die Location für Hochzeiten in Aschgabat. Dass in dem 2011 fertiggestellten Komplex auch Scheidungen angemeldet werden können, sehen die Hauptstadtbewohner nicht als Widerspruch, schließlich sei es für manch einen auch ein Glück, wieder frei zu sein. Das dreistufige Bauwerk wird von einem Würfel mit einer Kugel mit einem Durchmesser von 32 Metern gekrönt, auf der die Karte Turkmenistans abgebildet ist. Es gibt mehrere Festsäle, die täglich von Hochzeitsgesellschaften gebucht werden, der edelste davon wartet direkt in dem goldenen Globus auf Gäste. Im Sockel finden sich zudem Geschäfte für Hochzeitskleidung, Hochzeitsdekoration oder die Vermietung von Hochzeitsautos, -schmuck und -stickereien sowie Fotostudios und Schönheitssalons, kurz alles, was die turkmenische Braut wünscht und benötigt. Die Kosten für den „Palast des Glücks“ wurden auf 133 Mio. USD geschätzt, tätig wurde das türkische Bauunternehmen Polimeks. Es gibt auch ein kleines Hotel mit zehn Zimmern, das aber für jede turkmenische Hochzeitsgesellschaft damit viel zu klein geraten ist. Hier werden daher bevorzugt ausländische Touristen einquartiert.

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Vom Präsidentenpalast über Büro- und Wohntürme bis hin zu Supermärkten und sogar Autowerkstätten: Sie alle schimmern in weißem Marmor. Alleine an der 12,6 km langen Hauptstraße Bitarap Türkmenistan Sayolu stehen 170 Gebäude, die mit insgesamt 1.156.818 qm davon verkleidet sind. Hinter den glänzenden Fassaden verbirgt sich allerdings eines der repressivsten Regime der Gegenwart, wie Human Rights Watch urteilt. Bekannt ist darüber im Westen ebenso wenig wie über die weiße Wüstenstadt selbst, denn Turkmenistan gehört aufgrund der herrschenden Diktatur zu den abgeschottetsten Ländern überhaupt.

Das mag Propaganda sein, allerdings sorgte sich Nijasow tatsächlich um das Klima der Hauptstadt. Insbesondere soll den Führer umgetrieben haben, dass die Wüstensonne die Schönheit seiner Untertaninnen allzu schnell verblassen lässt. Neben Marmorfassaden setzte er daher auch auf ein groß angelegtes Aufforstungsprogramm mit Tausenden Bäumen. Die Turkmeninnen helfen mit, indem sie bevorzugt mit Sonnenschirm aus dem Haus gehen. Dazu tragen sie lange bunte Kleider, die sie meist selbst nähen.

Die Geschichte, wie der in aller Welt zusammengetragene weiße Marmor in die Stadt am Rande der Wüste Karakum gelangte, beginnt mit Saparmurat Atajewitsch Nijasow, dem letzten Generalsekretär der Turkmenischen Sowjetrepublik und ersten Präsidenten des Landes nach der Unabhängigkeit im Jahr 1992. Nijasow etablierte in dem Land mit heute knapp sechs Millionen Einwohnern eine Diktatur, die unter seinen Nachfolgern weiter besteht und in einer an fanatischen Diktaturen nicht gerade armen Welt als besonders fanatisch hervorsticht. So belegt der zentralasiatische Staat zum Beispiel im Demokratieindex von Freedom House seit Jahren den letzten Platz, von Kriegsgebieten abgesehen. Selbst Nordkoreanern schreibt der Index mehr politische Rechte und bürgerliche Freiheiten zu. Ganz nebenbei zählt Pjöngjang auch mehr ausländische Touristen als Aschgabat.

Der weiße Marmor muss importiert werden.

Nijasow hatte auch einen Reinheitsfimmel, denn Sauberkeit ist den Turkmenen zumindest in Aschgabat bis heute ein großes Anliegen. In der ganzen Stadt liegt keinerlei Müll herum. Es gibt keine Graffiti, keinen Rost, kein Moos, ja nicht ein einziger Halm des im übrigen Land allgegenwärtigen Kamelgrases drückt sich irgendwo durch den schlaglochfreien Asphalt. Eine Armee von Gärtnern und Straßenkehrern hält alles in Schuss. Die Frauen unter ihnen verhüllen ihre Gesichter vollständig, alles für den Turkmenbaschi, alles für die Schönheit.

Ein Monument für die beliebteste Hunderasse in Turkmenistan, den Alabai.

Woher Nijasows Vorliebe für das metamorphe Gestein rührte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Laut seinen Anhängern hat er den Baustoff aufgrund klimatischer Anpassung favorisiert. Marmor reflektiere Sonnenlicht und helfe, Gebäude in Aschgabats heißem und trockenem Klima kühler zu halten, wird berichtet. Auch kursiert die Überlieferung, dahinter stecke bestes betriebswirtschaftliches Kalkül. Schließlich seien Marmorfassaden lange haltbar und pflegeleicht. Der Turkmenbaschi, was mit Führer der Turkmenen übersetzt werden kann, habe mit seiner Vorgabe dem Volk also bares Geld gespart, wird Besuchern des Landes erzählt.

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Eine wahrscheinlichere Diagnose für Nijasows Marmorfetisch ist ein ausgeprägter Hang zum Größenwahn. Das soll bei Wüstenfürsten öfters vorkommen, aber Nijasow hatte auch das Geld, diese Neigung im ganz großen Stil ausleben zu können. Turkmenistan verfügt über eines der weltweit größten Gasvorkommen. Davon ließ der Turkmenbaschi die Kräne tanzen: Während seiner Amtszeit entstanden ganze Stadtviertel im sowjetischen Zuckerbäckerstil mit orientalischem Sahnehäubchen obendrauf – monumental, überbordend, üppig dekoriert, oft mit goldenen Kuppeln. Nie fehlen durfte die Fassade aus weißem Marmor. Um das Gesamtbild abzurunden, mussten auch Straßenlaternen, Bushaltestellen, Geländer und sogar Mülleimer in Weiß gestaltet werden, gerne mit goldenen Elementen in Form eines achteckigen Sterns, ein islamisches Symbol für das Paradies, dem Aschgabat nacheifern sollte.


Vor Nijasows Amtsantritt war Aschgabat ein wenig ansehnliches Provinzstädtchen, nicht mehr als eine Ansammlung von Chruschtschowkas, jener typischen, meist in den 1960er oder 1970er Jahren errichteten sowjetischen Plattenbauten. Von der jahrhundertealten Altstadt war nach einem Erdbeben 1948 nichts mehr geblieben. Das Epizentrum lag direkt unter der Stadt. Nachts um ein Uhr riss der Boden an etlichen Stellen über einen halben Meter auf, die vielen Lehmbauten stürzten ohne Ausnahme in sich zusammen. Turkmenistans Regierung beziffert die Zahl der Opfer jener Nacht mit 176.000, die Sowjetunion schätzte ihre Zahl auf 110.000. Aschgabat hatte damals knapp 200.000 Einwohner. Fest steht, das Stadtgebiet war rund zwei Jahre Sperrgebiet, bis alle Leichen geborgen und die Trümmer geräumt waren. Dabei hatte sich das Land noch nicht davon erholt, dass gerade Hundertausende im Krieg gegen Deutschland gefallen waren. Ein gigantischer Gedenkkomplex am Rande der Stadt erinnert heute an die beiden Schicksalsschläge für das turkmenische Volk. Im Zentrum stehen die Statuen einer weinenden Mutter und eines Stiers, der eine zersplitternde Erde trägt. Der Tag des Bebens, der 6. Oktober, ist ein arbeitsfreier nationaler Gedenktag. Auch Nijasow war eines von vielen Waisenkindern jener Tage. Sein Vater fiel im Zweiten Weltkrieg und seine Mutter befand sich unter den Erdbebenopfern. Als Waise erfuhr er besondere Förderung, was ihm Zugang zu Universitäten in Moskau und dem damaligen Leningrad verschaffte sowie später zu einer Karriere in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verhalf. In Kipchak, seinem Geburtsort etwa 10 km westlich von Aschgabat, baute er seinen Eltern später ein Mausoleum – selbstverständlich aus besonders edlem weißem Marmor. Und weil er schon dabei war, stellte er gleich die größte Moschee Zentralasiens daneben. Die Türkmenbaşy Ruhy Moschee bietet 10.000 Gläubigen Platz. Die Mauern und die vier 91 m hohen Minarette bestehen selbstredend aus weißem Marmor. Im Keller gibt es hunderte Toiletten und Waschbecken für das Wudu, die rituelle Waschung des Islams, alles ebenfalls aus weißem Marmor. Darunter folgt eine Tiefgarage mit Platz für rund 400 Autos. Hier genügte dem Turkmenbaschi allerdings Sichtbeton.

Nijasow hatte die Moschee nicht nur nach sich selbst benannt, er hatte das Innere auch statt mit Suren aus dem Koran mit Weisheiten aus der Ruhnama verziert. Das Buch der Seele, so die Übersetzung aus dem Persischen, stammt angeblich aus seiner Feder. Es ist eine Mischung aus teils frei erfundenen nationalen Mythen und ebensolcher Geschichtsschreibung sowie Lebensweisheiten und Verhaltensregeln. Der Lehrplan an turkmenischen Schulen sah Anfang der Nullerjahre ein Viertel der Zeit für die Lektüre der Ruhnama vor. Staatsbedienstete mussten jeden Samstag darin lesen. Selbst für den Führerschein und für Prüfungen der Hochschulen war Wissen über den Inhalt notwendig. Im Jahr 2005 ließ Nijasow sogar ein Exemplar, eingewickelt in die Staatsflagge, ins Weltall schießen. Es sollte für alle Ewigkeit die Erde umkreisen. Allerdings geht das internationale Committee on Space Research davon aus, dass das Flugobjekt mit der Katalognummer 2005-031C im Jahr 2132 in der Erdatmosphäre verglühen wird.

Den Unabhängigkeitspark schmücken Statuen aus Mythologie und Geschichte.

Die Ruhnama-Verse in der Moschee sind auch ein Sinnbild für die Position des Islams in Turkmenistan. Das Wort des Präsidenten wiegt mehr als das des Propheten. Im Gegensatz zu den Nachbarländern hatten radikale islamische Strömungen in Turkmenistan so keine Chance. Tatsächlich ist der sunnitische Islam in Turkmenistan besonders liberal. Die meisten Frauen tragen das Kopftuch, wenn überhaupt, nur als Hitzeschutz. In den Supermärkten gibt es Schweinefleisch, in Clubs Cocktails und in Biergärten Löwenbräu vom Fass. Bei den Feiern in den für je bis zu 1.000 Gästen ausgelegten Sälen des Hochzeitspalastes, dem Bagt Köşgi, wird in respektablen Mengen dem Wodka zugesprochen. Der 2011 fertiggestellte Komplex besteht aus einem Sockel in Form des achteckigen Sterns, der obere Teil aus einem goldenen Globus mit einem Durchmesser von 32 m. Darin befindet sich der luxuriöseste Saal, der sogenannte Baht Pavilion. Außen wird der Globus an jeder Seite von einem weiteren achteckigen Stern geschmückt, die Ehe ein Paradies. Wer das anders sieht, kann im selben Gebäude auch die Scheidung einreichen.

Die Ertuğrul Gazi Moschee ähnelt der Blauen Moschee in Istanbul. 21


architektonischen Neugestaltung durch die Regierung Turkmenistans wurden auf einer Fläche von 22 qkm in der Hauptstadt Aschgabat 543 neue Gebäude mit 4.513.584 qm weißem Marmor verkleidet“, ist darin nachzulesen. Dabei gibt es keine Bauvorschrift in Sachen Marmor. Doch mit Vorschriften ist das in Turkmenistan so eine Sache. Viele Gesetze liegen nicht schriftlich vor, sondern beruhen auf mündlich geäußerten Wünschen und Vorlieben des Präsidenten. Die Turkmenen sind sehr beflissen, diese zu realisieren.

Buswartehäuschen in Aschgabat: klimatisiert und mit Fernseher bestückt.

Die Ruhnama wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt, meist als Gefallen für den Diktator, um Aufträge zu ergattern. So hat Daimler-Chrysler die deutsche Übersetzung des ersten Teils spendiert und Siemens den zweiten herausgeben lassen. Die französische und die türkische Übersetzung ließ jeweils ein Baukonzern springen: Bouygues mit Sitz in Paris und die Çalık Holding aus Istanbul. Franzosen und Türken dominieren die turkmenische Bauwirtschaft. Der Hochzeitspalast beispielsweise wurde durch das türkische Bauunternehmen Polimeks errichtet. Çalık engagierte sich vor allem bei Infrastrukturprojekten wie Kraftwerken. Bouygues hingegen baute viele der anderen Monumentalbauten, darunter die Türkmenbaşy Ruhy Moschee, die ausgefallenen Ministerialbauten im Regierungsviertel sowie Gebäude der Universität. Auch das Yildiz, ein eiförmiges Luxushotel auf einem Hügel im Südwesten von Aschgabat, wurde von den Franzosen errichtet. Es zahlt sich also aus, sich mit dem Führer der Turkmenen gutzustellen. Das galt weiterhin, nachdem Nijasow 2006 zu seinen Eltern ins Marmormausoleum zog, offiziell aufgrund eines natürlichen Herzversagens. Denn obwohl das schwer zu glauben ist, Nijasows Nachfolger Gurbanguli Malikgulijewitsch Berdimuhamedow legte in Sachen Exzentrik und Bauwut noch eine Schippe drauf. Er hält im Land bis heute die Fäden in der Hand, auch wenn er das Präsidentenamt 2022 an seinen Sohn Serdar übergab. Der Junior darf allenfalls repräsentative Aufgaben übernehmen. Selbst stellte sich Berdimuhamedow jüngst an die Spitze des reformierten Parlaments und ließ sich den Titel Nationaler Führer des turkmenischen Volkes verleihen. Er liebt Titel und hat sich über die Jahre eine ganze Sammlung davon zugelegt. Bevorzugt lässt er sich mit Beschützer (turkmenisch: Arkadag) anreden. Am 25. März 2013 wurde er zudem zum Angesehenen Architekten Turkmenistans erkoren. Das Datum war kein Zufall, denn am selben Tag flog Craig Glenday, der Chefredakteur des Guinness-Buchs der Rekorde, in Aschgabat ein, um dem angesehenen Architekten eine Urkunde zu überreichen. Die erkannte Aschgabat als die Stadt mit den meisten mit weißem Marmor verkleideten Gebäuden der Welt an. „Im Rahmen einer beeindruckenden 22

Vor acht Jahren ließ Berdimuhamedow beispielsweise den staatlichen Fuhrpark weiß umlackieren und begründete dies damit, dass er helle Farben bevorzuge. Damit waren plötzlich alle dunklen Autos faktisch verboten. Die in Aschgabat allgegenwärtigen Verkehrspolizisten, immer auf der Suche nach etwas zusätzlichem Einkommen, erweiterten auf eigene Faust den Bußgeldkatalog. Zum Knöllchen wegen zu dunklem Lack gab es den kostenlosen Rat, sein Gefährt doch umspritzen zu lassen. Der Zoll riet Fahrzeugimporteuren: „Kaufen Sie Autos in weißer Farbe, die Farbe Weiß bringt viel Glück“, berichtet der aus dem europäischen Exil arbeitende oppositionelle Internetblog chrono-tm.org. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass niemand auf die Idee kommt, in Aschgabat einen Bauantrag für einen Neubau mit lila-blassblauer Putzfassade zu stellen. Man will sein Glück schließlich nicht herausfordern in einem Land, in dessen Gefängnissystem Menschen immer wieder spurlos verschwinden.

Auf dem Land werden Kamele für Feiern geschmückt, in der Stadt die Autos.

Eine weitere Vorliebe von Berdimuhamedow sind Weltrekorde und das Guinness-Buch, das mit der irischen Biermarke schon lange nichts mehr zu tun hat, sondern gegen Geld seine Schiedsrichter zur Abnahme von Weltrekorden verschickt. In Berdimuhamedows Turkmenistan waren sie fortan oft zu Gast. Ein eingetragener Rekord ist beispielsweise das größte Riesenrad in einem Gebäude. Es steht im Regierungsviertel und ist Teil des Kulturund Unterhaltungszentrums Alem, einer Art Spielhalle für Kinder mit Boxautos, Kleinspurbahn und eben einem Riesenrad mit 24 Kabinen und 47,60 m Durchmesser. Der gesamte Komplex ist voll klimatisiert, der Präsident wollte, so erklärt ein Aufpasser dem erstaunten Besucher, dass Kinder auch im Sommer einen Ort vorfinden, an dem sie sich unbeschwert von der Wüstenhitze austoben können.


Ein weiterer Weltrekord findet sich auf dem unter Berdimuhamedow für 2,3 Mrd. USD umgestalteten internationalen Flughafen. Das Dach des Terminals, ein Gebäude in Form eines Falkens mit knapp 400 m Schwingenweite, selbstverständlich aus Marmor, ziert das mit 705 qm weltweit größte Gul. So heißen die medaillonartigen Musterelemente der Teppiche aus Zentral- und Westasien. Teppiche und ihre Muster sind ein großes Ding in Turkmenistan. Die Guls der fünf größten Stämme kommen überall in der Architektur Aschgabats vor. Das 2008 fertiggestellte Teppichmuseum mit 5.000 qm Bruttogrundfläche und einem Eingangstor im Stile eines goldenen Teppichs beinhaltet gleich mehrere handgeknüpfte Weltrekorde, darunter das mit 301 qm größte Exemplar. Hier muss auch jeder turkmenische Teppich geprüft werden, der für den streng limitierten Export zugelassen wird. Die Guls sind ebenfalls Teil der Nationalflagge, von der eine lange vom weltweit höchsten freistehenden Flaggenmast wehte, ehe in SaudiArabien ein höherer in die Wüste gepflanzt wurde.

Das Bildungsministerium hat die Form eines aufgeschlagenen Buchs.

Unter Berdimuhamedow entstanden in Aschgabat hunderte weitere Gebäude aus weißem Marmor, darunter zahlreiche monumentale Wohngebäude. Die Preise für die Wohnungen beginnen bei rund 60.000 USD, berichtet ein einheimischer Kenner des Immobilienmarkts. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt bei rund 7.000 USD. Die Regierung gewähre ein zinsloses Darlehen mit 30 Jahren Laufzeit demjenigen, der sich in einen Marmorbau einkaufe. Dennoch könnten sich das die allermeisten Turkmenen nicht leisten, sagt der Experte, der wie alle seine Landsleute seinen Namen keinesfalls in einer ausländischen Publikation lesen möchte. Nur wer in der Gasindustrie arbeite oder in höheren Regierungsdiensten stehe, leiste sich eine Marmorwohnung. Dann allerdinge auch gerne mehrere davon, als Vorsorge für die Kinder und Enkelkinder. Alternative Anlagemöglichkeiten in Manat, der einheimischen Währung, seien rar. So komme es, dass viele Wohnungen noch leer stünden, verkauft seien sie hingegen alle. Die kleine Mittelschicht wohne bevorzugt in den Chruschtschowkas, die es vor der Unabhängigkeit meist als Geschenk der Sowjetunion gegeben hatte. Immerhin, jene Plattenbauten, die an die marmorne Neustadt grenzen, wurden nachträglich mit Marmor verkleidet.

Weitere monumentale Marmorimmobilien entstanden im neuen Klinikviertel. Meist ist ihnen die Fachrichtung bereits anzusehen. Die zentrale Zahnklinik beispielsweise ist einem Backenzahn nachempfunden. Berdimuhamedow, der seine politische Karriere als Leibzahnarzt seines Vorgängers Nijasow begonnen hatte, war persönlich zur Eröffnung gekommen. Das danebenstehende Zentrum für plastische Chirurgie hat die Form eines Handspiegels, die Augenklinik gleicht einem Augapfel und das Gesundheitsministerium selbst ist der Schlange des Äskulapstabs nachempfunden. Trotz allem Prunk: Eine allgemeine Gesundheitsfürsorge gibt es nicht. Ein Arztbesuch ist teuer und viele können sich das nicht leisten. In Aschgabat, wo es sich auch nach westlichen Standards gut leben lässt, kann man schnell vergessen, dass die Mehrheit der Turkmenen das nicht kann. Die meisten kaufen nicht in den hervorragend bestückten Supermärkten und Malls ein, sondern in Läden mit staatlich bezuschussten Lebensmitteln, wo es mitunter zu Angebotsknappheiten kommt. Auftragsknappheit für die Bauwirtschaft und Marmorimporteure gibt esdagegen nicht. Bauschilder in der gesamten Stadt lassen erkennen, dass auch künftig ausschließlich auf Fassaden aus weißem Marmor gesetzt wird. Berdimuhamedow belässt es zudem nicht dabei, das Werk seines Vorgängers in Aschgabat fortzusetzen. Im Jahr 2019 begann einige Kilometer westlich der Hauptstadt der Bau einer weiteren pompösen Marmorstadt. Sie trägt den Namen Arkadag, nach dem Lieblingstitel des Diktators. Hier bremste keine Bürgerinitiative den Baufortschritt. Arkadag genießt den Rechtsstatus „Stadt von staatlicher Bedeutung“. Das bringt es mit sich, dass der Bürgermeister vom Präsidenten ernannt wird und die Stadtverwaltung der zentralen staatlichen Verwaltung untersteht. So wurde der erste, 3,3 Mrd. USD teure Bauabschnitt bereits im März 2023 mit Feuerwerk, Pferdeshows und Tanzvorführungen eröffnet. Im Endausbau könnte die Stadt Heimat für rund 70.000 Einwohner sein. Berdimuhamedow hat die verantwortlichen Stadtplaner angewiesen, Arkadag auf jeden Fall so zu gestalten, dass es für einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde reicht. Man darf also gespannt sein. Ein heißer Tipp für Bauunternehmer: Der zweite Bauabschnitt ist mit 1,5 Mrd. USD veranschlagt. Die Ausschreibung war zu Redaktionsschluss noch nicht erfolgt.

Für einen Disney-Store ist auch das abgeschottete Turkmenistan offen.

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Das Ästhetikzentrum ist in Form eines Handspiegels entworfen und bietet allerlei kosmetische Dienstleistungen.

Die Nationalbibliothek darf eigentlich nicht fotografiert werden. „Unser Präsident schreibt die besten Bücher“, lautet die Antwort einer Einheimischen auf die Frage nach den besten turkmenischen Schriftstellern. Mehr Literatur brauche es nicht. Viele ihrer Landsleute sehen das offenbar ähnlich. Statistiken über die Veröffentlichung von Büchern in Turkmenistan sind nicht verfügbar, und die Nationalbibliographie ist seit Jahren veraltet. Die mit internationalen Systemen nicht durchsuchbare Bibliothek soll dennoch über eine Sammlung von 5 Mio. Objekten verfügen.

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Der internationale Flughafen von Aschgabat „Oguz Han“ wurde 2016 fertiggestellt und ist wie vieles in der Hauptstadt etwas überdimensioniert. Mit einem Budget von 2,3 Mrd. USD errichtete das türkische Bauunternehmen Polimeks das Terminalgebäude in der Form eines Falkens. Der Flughafen kann bis zu 1.600 Passagiere pro Stunde oder rund 14 Mio. Passagiere sowie 200.000 t Fracht pro Jahr abfertigen. Die 3.800 m lange Landebahn ist 60 m breit und speziell für den Betrieb von Großraumflugzeugen wie dem Airbus A380 und der Boeing 747-8 ausgelegt, die den Flughafen aber nicht anfliegen.

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Die Architekten des Garagum Hotels ließen sich von der Karakum-Wüste inspirieren, einer der größten Wüsten der Erde. Das Hotel liegt ganz in der Nähe des internationalen Flughafens Aschgabat und nur 10 km vom Stadtzentrum entfernt. Auf 28.573 qm BGF verteilt auf acht Etagen finden sich 87 Zimmer und 102 Betten sowie ein Einkaufszentrum, ein Restaurant mit 150 Sitzplätzen, Tagungsräume, ein Spa und ein Fitnessstudio. Die Regierung ist stets bemüht, internationale Kongresse nach Aschgabat zu holen, wofür die ansonsten mäßig belegten Luxushotels der Hauptstadt konzipiert sind.



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Das Unabhängigkeitsdenkmal steht im Herzen des Unabhängigkeitsparks, einer der größten Grünanlagen von Aschgabat. Errichtet im Jahr 2000 von der türkischen Firma Polimeks, ist es umgeben von Statuen von Persönlichkeiten aus der turkmenischen Geschichte und Mythologie. Die Maße des Monuments verweisen auf das Unabhängigkeitsdatum Turkmenistans, den 27. Oktober 1991, beispielsweise ist die zentrale goldverzierte Säule exakt 91 m hoch. Der Sockelbau erinnert an eine traditionelle Jurte und beinhaltet u.a. ein Museum, das die Geschichte und Unabhängigkeit Turkmenistans zelebriert.

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Die Hochzeitskarawane ist Teil jeder turkmenischen Hochzeitszeremonie. Dabei wird die Braut zur Familie des Bräutigams überführt. Die Braut trägt traditionell ein rotes Kleid aus Keteni, ein besonders farbenfrohes Seidengewebe, dazu einen schweren Umhang mit Teppichelementen und einen ebenso schweren Schleier mit Fasern aus Kamelhaar. Alles ist bestickt mit silbernen oder vergoldeten Amuletten, die vor Unheil aller Art beschützen sollen. Auch die Hochzeitsgäste und der Bräutigam hüllen sich in feines Tuch. Nicht fehlen darf der Papcha, die im Kaukasus und Zentralasien traditionelle Wollmütze.


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Alem, das Universum, ist ein Kultur- und Unterhaltungszentrum im Regierungsviertel. Der kreisrunde Aufbau mit stilisierter Sonne und Strahlen beinhaltet das größte Indoor-Riesenrad der Welt. Das 2012 errichtete Rad ist 75,3 m hoch bei einem Durchmesser von 47,6 m. In seinen 24 geschlossenen Kabinen mit acht Sitzplätzen bietet es Platz für insgesamt 192 Passagiere. Rund 90 Mio. USD hat die Entwicklung durch das italienische Unternehmen SDA Engineering gekostet, besondere Herausforderungen waren der enorme Winddruck auf die Glasfassaden und die Erdbebensicherheit des 150 t schweren Fahrgeschäfts. Auf sechs Etagen des Gesamtkomplexes finden sich zudem eine Bowlinghalle, ein Bankettsaal, ein Kino, Restaurants und eine Spielhalle für Kinder mit etwas in die Jahre gekommenen Spielautomaten, Boxautos und Schmalspurbahn. Wer es sich leisten kann, bringt seine Kinder besonders an den heißen Sommerwochenenden in das vollständig klimatisierte Alem Center.

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Der Neutralitätsbogen ist von Saparmurat Nijasow beauftragt worden. Eine der wenigen positiven Charakteristiken der turkmenischen Diktatoren ist, dass sie im Gegensatz zu vielen ihrer internationalen Berufsgenossen keinerlei kriegerische Ambitionen hegen. Das zentrale Leitbild der Außenpolitik von Nijasow war die permanente Neutralität, welche die Vereinten Nationen am 12. Dezember 1995 auch anerkannten. Der Tag wurde zum nationalen Feiertag erklärt und es wurde ein 95 m hoher Neutralitätsbogen errichtet, mit einer goldenen Statue von Nijasow an der Spitze. Während die Neutralität bis heute Staatsräson ist, ließ sein Nachfolger Gurbanguly Berdimuhamedow das Monument später an den Stadtrand, schon fast in die Wüste, versetzen. Den achtspurigen Boulevard zu dem Bauwerk befährt kaum jemand. Am Fuße halten dennoch rund um die Uhr zwei Soldaten Ehrenwache.

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Das Gesundheitsministerium ist einer Schlange nachempfunden, die sich um den Äskulapstab windet. Vorbild war die Cobra, die in Turkmenistan gerne in Steinhaufen und alten Mauern lebt. Die sonst mit Kritik zurückhaltenden Turkmenen sind mit den dort erbrachten Leistungen nicht zufrieden. Auch Ärzte ohne Grenzen urteilt, dass die Bevölkerung von ihrem Gesundheitssystem, ihrer Regierung und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen werde. Das System, das eigentlich die Gesundheit der Bevölkerung sicherstellen soll, sei vielmehr darauf ausgerichtet, bestehende Probleme zu verschleiern. Ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose, Aids und sexuell übertragbare Infektionen seien im Land zweifellos weiter verbreitet, als es offizielle Zahlen nahelegen. Präsident Berdimuhamedow setzt ohnehin auf Naturheilkunde. Gegen Corona empfahl der studierte Mediziner Steppenraute, ein sedierend bis narkotisch wirkendes Kraut.

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Das eiförmige Hotel Yyldyz wurde 2013 auf persönliche Anregung von Präsident Berdimuhamedow durch das französische Bauunternehmen Bouygues errichtet. Zu deutsch bedeutet der Name Stern. Das opulente Luxushotel trifft auch den Geschmack westlicher Besucher, wie 4,5 Sterne bei Tripadvisor beweisen. Nur das Frühstück wird von vielen als etwas phantasielos bemängelt, was durchaus landestypisch ist. Mit einer beeindruckenden Höhe von 107 m und 19 Stockwerken thront das Yyldyz auf einem Ausläufer des Kopet-Dag-Gebirges, was einen einzigartigen Panoramablick über Aschgabat ermöglicht. Nicht nur das Hotel selbst, sondern auch die Infrastruktur herum wurde sorgfältig geplant. Eine völlig überdimensionierte eigens errichtete Schnellstraße ermöglicht eine staufreie Anfahrt. An dem breiten Kreisverkehr wurden selbst die Straßenlaternen und Abfalleimer an das Design des Hotels angepasst. Die 155 Zimmer, von Standardzimmern bis hin zur opulenten Präsidentensuite, sind im typischen sowjet-orientalischen Neobarock gehalten. Es gibt Pools, Fitness, Konferenzsäle für bis zu 600 Teilnehmer, ein Hotelrestaurant und eine Bar in den obersten Etagen.


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Wo das Herz ist, ist auch das Hirn

Was passiert in den Köpfen, wenn Menschen Immobilien sehen? Und sieht das anders aus, wenn diese beruflich mit Büros, Läden oder Wohnungen zu tun haben? Das lässt sich nur herausfinden, wenn man den Leuten wortwörtlich ins Gehirn schaut. Das haben wir getan. Als Versuchskaninchen für unsere Wissenschaftler stellten sich unter anderem eine Maklerin, ein Investor und der Vorstand einer Wohnungsbaugesellschaft zur Verfügung. Text | Janina Stadel

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Foto: Christof Mattes


Ein ganz leises Fiepen. Mehr ist nicht zu hören. Im Laborkeller der Universität Würzburg nehmen sechs Probanden nacheinander und ohne sich absprechen zu können auf einem Stuhl Platz. Zwei Türen verriegeln die Kammer, so dass keine Geräusche mehr von außen eindringen können. Dann wird das Licht gedimmt. Dass draußen die Sommersonne brennt, bemerken die Testpersonen bestenfalls noch an der stickigen Luft im Labor. In dem abgeschotteten Raum mit niedriger Decke, kaum größer als vier Quadratmeter, sollen sie ihre Aufmerksamkeit nur noch auf eines lenken: Immobilien. Zu diesen haben die sechs Testpersonen ganz unterschiedliche Beziehungen. Drei Probanden beschäftigen sich täglich im Job mit dem Wert und der Ausstattung von Gebäuden. Mit dabei sind Reinhard Walter, CEO von FOM Real Estate, Handelsmaklerin Anna-Claire Griffith von Colliers sowie Igor Christian Bugarski, Vorstandsvorsitzender der Wohnungsbaugesellschaft Noratis. Die anderen drei gehen Berufen außerhalb der Immobilienwirtschaft nach. Es sind Grafiker Richard Gering, Studentin Ina Lemmer sowie Bürokauffrau Kerstin Heinz.

Lesegerät führen. Ein Brett über dem Schoß, das beide Armlehnen des Stuhls miteinander verbindet, verhindert allzu große Bewegungen. Der Sitz ist fest verankert, der Blick geht nach vorne. Dort ist auf Augenhöhe ein Bildschirm in einen Glaskasten eingelassen. Dann flackern in zufälliger Reihenfolge 180 Fotos von Gebäuden aus ganz Deutschland über den Monitor. Sie zeigen moderne Office-Tower genauso wie sanierungsbedürftige Bürohäuser. Mit dabei sind Innenräume im NewWork-Stil mit bunten Sitzsäcken und offen gestalteten Meetingflächen genauso wie Einzelarbeitsplätze, die an typisch deutsche Amtsstuben erinnern. Auf anderen Bildern sind Einfamilienhäuser von Fertighausherstellern zu sehen, Plattenbauten, Altbauvillen oder Visualisierungen von geplanten Wohnanlagen. Dazwischen werden den Probanden immer wieder Kaufhäuser, Shoppingcenter und Luxusboutiquen, Nahversorger mit trister Wandverkleidung und verlassene Fußgängerzonen präsentiert.

Wissenschaftler und die IZ stellten viele Fragen.

Stillsitzen in der engen Versuchskammer.

Für den Versuch werden die Teilnehmer über eine Messhaube mit einer Maschine verbunden. Mehrere Hundert Gramm drücken ihnen während der Tests auf Kopf und Stirn. Ein Gurt umschließt das Kinn und sorgt dafür, dass die Messapparatur nicht verrutscht. Im Nacken hängen mehr als 30 Kabelstränge, die von den Kopfbedeckungen aus in das technische

Welche unterschiedlichen Reaktionen die Immobilien in den Gehirnen der Testpersonen auslösen, wird der Diplompsychologe Johannes Rodrigues herausfinden. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent für differentielle Psychologie und psychologische Diagnostik am Lehrstuhl für Psychologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und wertet die

Foto: Christof Mattes

Foto: Laura Kolb

Der Versuch soll nun zeigen, was in den Köpfen von Menschen vorgeht, wenn sie Bilder von unterschiedlichen Immobilien sehen – und ob diese Reize auf eine besondere Weise verarbeitet werden, wenn sich jemand von Beruf aus mit Gebäuden beschäftigt. Um zu sehen, wie der professionelle Blick das Denken beeinflusst, werden die Reaktionen der Probanden dort gemessen, wo solche persönlichen Einordnungen entstehen: im Gehirn.

Nur für einen kurzen Moment, 350 Millisekunden lang, ist jedes Bild zu sehen. Nicht länger, damit sich kein Gewöhnungseffekt einstellen kann. Das Ende jeder Einblendung wird durch einen grauen Bildschirm markiert, auf dem nur ein kleines Kreuz zu sehen ist, das den Blick weiter auf die Mitte des Monitors lenken soll. Bis zum nächsten Bild vergehen dann nicht einmal zwei Sekunden. Zu wenig Zeit, um richtig über das Gesehene nachdenken zu können. Doch das Hirn arbeitet. Das zeigen die Messergebnisse, die in Echtzeit über die Kabelstränge an die Computer der Wissenschaftler im Nebenraum gesendet werden.

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Foto: Christof Mattes

Daten aus der Versuchskammer aus. Sie stellen elektrische Spannungen dar, die durch Hirnaktivitäten entstehen und an der Kopfhaut gemessen werden. Erfasst werden sie mittels Elektroenzephalografie (EEG). Das Gerät auf den Köpfen der Probanden verfügt dafür über 32 Messelektroden und zwei zusätzliche Referenzelektroden, die selbst leichteste Spannungsschwankungen im Mikrovoltbereich aufzeichnen.

mit Bildreizen. „Aber die Immobilien-Bildauswahl ist harmlos“, versichert Rodrigues. Auch wird vor der Durchführung analysiert, ob die mögliche Erkenntnis durch den Versuch kleinere Folgen wie Kopfschmerzen aufwiegt. Aus Sicherheitsgründen müssen alle Teilnehmer in einem Fragebogen Auskunft über bekannte Ängste und Vorerkrankungen geben und auflisten, welche Medikamente sie einnehmen und wie lange sie in der Nacht zuvor geschlafen haben. Allein 25 Minuten dauert das Anlegen der Elektrodenhaube. Einzig bei einem Probanden sind die beiden Hilfswissenschaftler etwas zügiger fertig. „Wenn jemand dicke Haare hat, geht es meistens schneller“, sagt Student David Mori. „Das fühlt sich jetzt gleich wie ein leichtes Kopfhautpeeling an“, warnt er vor, wenn er ein grünliches Gel durch Öffnungen unter die Kappe spritzt. Es soll die Leitfähigkeit der Elektroden erhöhen. Dafür verteilt er die Paste mit Wattestäbchen und kleinen Holzspachteln auf der Kopfhaut. Und weil das Spuren hinterlässt, waschen sich die Personen aus der Versuchsgruppe im kleinen Waschbecken im Vorraum des Labors nach dem Abnehmen der Elektroden noch die Haare.

Die Probanden bewerteten die Immobilien über eine Punkteskala.

Über EEG-Messungen hat Wissenschaftler Rodrigues zuletzt die Reaktionen von Menschen auf Gesichtsausdrücke anderer untersucht. Aber auch in der Wirtschaftspsychologie fanden Bildertests dieser Art schon Anwendung. Der Automobilhersteller Volvo wollte so bei der Einführung seines Concept Coupés 2013 testen, welche Karosserien welche Kundenkreise ansprechen. Experten aus dem Marketing nutzen vergleichbare Versuchsreihen, um den Wiedererkennungswert von Markenlogos oder Produktverpackungen zu bestimmen.

Die Forscher weisen jeden Probanden darauf hin, dass es sich um einen „Versuch am lebenden Objekt“ handelt. Damit Triggerbilder keine Schocks auslösen, prüfen Ethikkommissionen im Vorfeld jeden Antrag auf Versuche

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Foto: Christof Mattes

An mehr als 30 Graphen, die den Messpunkten auf den Köpfen zugeordnet werden können, lesen Rodrigues und sein Team verschiedene Arten von Spannungswellen ab. Sie schauen auf die Stärke der Ausschläge und halten millisekundengenau den Zeitpunkt fest, an dem Veränderungen in den Kurven einsetzen. So wird sichtbar, welche Gehirnareale beim Einblenden der Bilder besonders aktiv sind. Die Psychologen ziehen auf diese Weise Rückschlüsse darauf, ob die Immobilien auf die Probanden anregend oder entspannend wirken. Und auch wie nachhaltig sich das Hirn mit den Gebäuden beschäftigt. Dafür werten die Wissenschaftler das Verhältnis zwischen den Spannungswellen aus, die immer dann gemessen werden können, wenn ein Proband besonders angestrengt, aufmerksam oder schläfrig ist. Eine zusätzliche Messstelle, die in die linke Gesichtshälfte geklebt wird, hält fest, wann die Probanden ihre Augen öffnen oder schließen. So können die Forscher zwischen Spannungsveränderungen durch Denkvorgänge und durch Bewegungen, etwa bei einem Blinzeln, unterscheiden. Mehr als 45 Minuten lang stehen die Probanden unter dieser besonderen Beobachtung.

Maßnehmen, damit alle Elektroden richtig sitzen.


Foto: Christof Mattes

passiert. „Denn dort können wir visuelle Prozesse und Aufmerksamkeitsprozesse messen“, erklärt er. Wie stark und wie schnell die Spannung im Hirn bei der Einblendung der Bilder steigt oder sinkt, betrachtet er in zwei relevanten Zeitabschnitten. Zunächst nach 189 bis 218 Millisekunden, in der sogenannten Early posterior negativity (EPN)-Phase, in der die Spannung absinkt, wenn eine Verarbeitung von visuellen Reizen einsetzt. „Hieraus kann man ablesen, wie einfach Dinge zu verarbeiten sind oder wie schwer andere im Vergleich dazu zu erkennen sind“, erklärt Rodrigues. Anders ausgedrückt: Je stärker die Spannung sinkt, desto leichter fällt es dem Probanden, das angezeigte Foto zu verstehen. Eine weitere Messung setzt 194 Millisekunden später ein. Dann steigt die Spannung wieder an. „Diese sogenannte P3-Phase zeigt die Aufmerksamkeits- und Bedeutungskomponente“, erklärt Rodrigues. Versucht der Proband, viele Informationen aus einem Bild herauszuziehen – etwa aus persönlichem Interesse –, ist diese Phase durch einen schnellen Spannungsanstieg geprägt. Das Maß der Ausprägung bestimmt Rodrigues, indem er die Messergebnisse mit denen bei anderen gezeigten Bildern vergleicht.

Doch die Wirkung von Immobilien auf das menschliche Gehirn ist bisher kaum erforscht. Literatur zum Thema sucht man in den Fachbibliotheken vergeblich und ohne einen konkreten Nutzen für die eigene Arbeit ist von mehr als zehn angefragten Wissenschaftlern in ganz Deutschland und Österreich nur Rodrigues bereit, den Test vorzunehmen. Einige Universitäten lehnen die Anfrage ab, weil sie keine Tests an Menschen durchführen dürfen. Anderen Laboren fehlt es an Personal. Einige private Forschungsinstitute zeigen sich zwar offen für das Experiment, die Wissenschaftler fordern jedoch neben ihrem Stundenhonorar zusätzliche Forschungsgelder, die sie in andere Projekte stecken könnten.

Das Ansteigen und Absinken sowie die Stärke und Dauer dieser Spannungen lassen also Rückschlüsse darüber zu, wie das Hirn die einzelnen Immobilienbilder verarbeitet, noch bevor ein bewusstes Nachdenken einsetzt. Mit der richtigen Auswertungsmethode können Wissenschaftler wie Rodrigues aus diesen Messwerten Landkarten von Gehirnen erstellen, die genau zeigen, wo und wie stark die elektrische Spannung an der Kopfhaut während einer der beiden Phasen ist. Sichtbar wird so das Phänomen, das landläufig als „der erste Eindruck“ bekannt ist. Foto: Christof Mattes

Gegen das Gel auf der Kopfhaut half am Ende nur Haarewaschen.

Und auch beim Umfang des Tests haben viele Forscher Bedenken. Sie streben danach, allgemeingültige Aussagen zur Fragestellung treffen zu können. „Das Thema eignet sich wohl eher für eine Promotionsarbeit“, winkt ein Neurowissenschaftler aus Berlin ab. Er rechnet mit mehreren Jahren Zeitaufwand für die Vorbereitung und die Durchführung. Sechs unterschiedliche Teilnehmer reichen ihm wie vielen seiner Kollegen nicht aus. Stattdessen schwebt ihm ein Querschnitt durch die gesamte Bevölkerung vor, die von mindestens 60, noch besser 100 Testpersonen abgebildet werden soll. Rodrigues, zu dem der Kontakt über ein Institut für Neuroökonomie entstand, legt den Versuch dagegen als qualitative Studie an und betrachtet dafür bei jeder einzelnen Person, wie sich ihre Hirnaktivitäten bei der Konfrontation mit Immobilienbildern verändern. Der Blick des Forschers fällt dabei auf die posterioren Messungen – also auf das, was am Hinterkopf

Versuchsleiter Johannes Rodrigues (rechts) mit seinem Team.

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erhielten als diejenigen, die außerhalb ihres Budgets lagen. Kerstin Heinz vergab viele Punkte für leere statt volle Fußgängerzonen, was Immobilienprofis zunächst merkwürdig erscheinen dürfte. Die Nachbefragung ergab, dass sie grundsätzlich versucht, Menschenmassen zu meiden, und statt volle Läden zu besuchen lieber online shoppt. Foto: Christof Mattes

Weil der je nach Kontext unterschiedlich ausfallen kann, werden den Probanden in einer zweiten Versuchsreihe Zuordnungsaufgaben gestellt. Sie bekommen drei Bilderpakete gezeigt, die Fotos von verschiedenen Immobilienarten enthalten. In der ersten Runde müssen sie einen Knopf immer dann drücken, wenn sie ein Bürogebäude erkennen, anschließend sollen sie auf Wohnungen reagieren und dann auf Einzelhandelsimmobilien. Wie viele Einordnungen korrekt waren, spielt für den Versuch keine Rolle. Ausgewertet wurden nur die Reaktionen im Hirn. Und das ist laut den Wissenschaftlern eindeutiger zu beurteilen, wenn die Probanden die visuellen Reize auf ein vorgegebenes Thema filtern. Nach einer kurzen Pause folgt ein weiterer Test. Die gleichen Bilder werden noch einmal in gemischter Reihenfolge präsentiert. Doch statt des grauen Trennbilds blinkt im Anschluss eine Skala auf. Über eine Zahlentastatur sollen die Probanden den Gebäuden jetzt zwischen einem und neun Punkten zuordnen und damit ausdrücken, ob sie die dargestellte Szene als positiv (hohe Punktzahl) oder negativ (niedrige Punktzahl) beurteilen. Zwar können sie sich für die Entscheidung so viel Zeit lassen, wie sie wollen, doch weil die Bilder auch in diesem Durchgang nur 350 Millisekunden lang zu sehen sind, handelt es sich um Affekt-Bewertungen. Als Kontrollbilder werden zusätzlich 30 Motive aus der Bilddatenbank International Affective Picture System (IAPS) gezeigt. Sie gelten als standardisiert in der Psychologie, weil ihre Zuordnung zu Empfindungen in zahlreichen Studien immer wieder an Teilnehmern unterschiedlicher Altersgruppen und aus verschiedenen kulturellen Kontexten abgefragt wurde. Zwischen die Immobilien schleichen sich also Landschaftsmotive und Urlaubsbilder, ein Foto von einem Verkehrsunfall und Darstellungen von Umweltverschmutzung und Naturkatastrophen. Die gemessenen Hirnaktivitäten lassen bei diesen Szenen auf die Empfindungen bei den Probanden schließen. Die Abgrenzung zwischen positiver und negativer Bewertung fällt bei den Immobilienbildern jedoch weniger trennscharf aus, weshalb sich Rodrigues mit Aussagen zu klar messbaren Emotionen auf die Gebäudefotos zurückhalten will. Dennoch lassen die Affekt-Bewertungen Rückschlüsse auf unterschiedliche und zum Teil unbewusste Strategien beim Betrachten und Bewerten der Gebäudebilder zu, die teilweise als emotionale Reaktionen interpretiert werden können. Mit dem Fokus auf eine bestimmte Gebäudeart verarbeitete das Hirn bei einigen Teilnehmern ganze Bildergruppen deutlich anders als die übrigen. Bei den Probanden, die nicht in der Immobilienbranche tätig sind, spielte dabei der aktuelle persönliche Bezug zu den Immobilien aus Nutzersicht eine große Rolle. Bei Studentin Ina Lemmer lag beispielsweise der Fokus aufgrund von privaten Umzugsplänen auf Wohnimmobilien. Bei der Punktevergabe zeigte sich, dass leistbare Wohnungen deutlich mehr Punkte

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Unter ständiger Beobachtung während des Experiments.

Bei den Immobilienprofis fanden die Wissenschaftler die wenigsten Anzeichen für Emotionen bei genau den Assetklassen, auf denen ihre jeweiligen Schwerpunkte lagen. Hier wurden die Fotos quasi professionell verarbeitet. So gibt es von Reinhard Walter besonders viele Punkte, also eine positive Bewertung für große Büroimmobilien. Sie erinnern ihn an das Portfolio des eigenen Unternehmens. Ähnlich ist es bei Igor Christian Bugarski. Im Punkteranking führen Neubauwohnungen mit einfachen Fassaden. Das sind genau diejenigen Objekte, mit denen er sein Geld verdient. Bei Einzelhandelsmaklerin Griffith läuft das Hirn bei klassischen Handelsobjekten auf Hochtouren, aber auch bei Immobilien anderer Arten – sofern sie in ihnen Potenziale für Handelsflächen erkennt. Weil aber auch die Immobilienprofis außerhalb ihres Berufs eigene Wohnvorlieben haben, heben sich die Hirnaktivitäten beim Wohnen in den Durchschnittsergebnissen aller Probanden stärker ab als bei Einzelhandelsoder Büroimmobilien. Da zeigt sich häufig auch mehr Emotionalität. So finden sich auf dem Smartphone von Bugarski beispielsweise mehrere Tausend Wohnungsfotos gespeichert. Sie dienen ihm als Inspiration für die Gestaltung des eigenen privaten Wohnraums und haben wenig mit den beruflichen Favoriten zu tun. Das Hirn ist eben dort, wo auch das Herz schlägt.



Reinhard Walter

Als Reinhard Walter die Versuchskappe aufgesetzt wird, will er alles ganz genau wissen. Noch bevor alle Elektroden richtig angebracht sind, lässt sein Blick nicht mehr von dem Monitor vor ihm ab. Dort, wo später im Versuch die Bilder von Immobilien zu sehen sein werden, leuchten während der Verkabelung erste Darstellungen seines Gehirns. Sie zeigen an, welche Elektroden schon Signale senden, und stellen diese in Graphen so dar, wie es später die Wissenschaftler im Nebenraum sehen können. Walter lässt sich alles erklären. „Wenn Sie jetzt die Augen kurz schließen, müsste man einen Ausschlag sehen können“, kommentiert Hilfswissenschaftlerin Paulina Dupont-Christ beim Anbringen der Gesichtselektrode. Walter blinzelt einige Male hintereinander und kontrolliert mehrfach, ob es auf dem Messbild wirklich zu Veränderungen kommt.

Foto: Universität Würzburg

CEO FOM Real Estate

Schon kurz nachdem Reinhard Walter auf den Bildern eine Büroimmobilie entdeckt hat, nimmt die Spannung an seinem Hinterkopf ab. Schon nach wenigen Millisekunden sind auf seinen Messbildern nur noch zwei kleine Spannungsfelder an den Seiten zu sehen, die sich als rote Kleckse in der Grafik zeigen. Die Wissenschaftler deuten das als ein Zeichen der schnellen Verarbeitung im Gehirn. Sie ist darauf zurückzuführen, dass sich Walter im Beruf intensiv mit Büroimmobilien beschäftigt und sie schnell im Kopf einordnen kann.

Weise besonders heraussticht. Es kann sein, dass ihm diese Art von Gebäuden sehr bekannt ist“, beschreibt Rodrigues die Hirnreaktion, ohne zu wissen, dass Walter einen beruflichen Schwerpunkt bei Büros hat.

Foto: Janina Stadel

Der gelernte Rechtsanwalt leitet seit mehr als 25 Jahren als CEO die FOM Real Estate. „Wir haben schon sehr viele Büroimmobilien entwickelt“, löst Walter nach dem Test auf. Als Beispiele nennt er das Microsoft Headquarter und die Ten Towers in München sowie die Berliner AllianzZentrale, „also Gebäude mit zum Teil über 50.000 Quadratmetern Fläche“, erklärt er stolz.

Genauso konzentriert bleibt der 69-Jährige, als der eigentliche Versuch startet. Auf Büroimmobilien reagiert sein Gehirn besonders früh. Wenn die Bilder eingeblendet werden, sinkt die Spannung im Hinterkopf, der Reiz wird also direkt aufgenommen. Doch im Gegensatz zu anderen Immobilienarten steigt die Spannung anschließend kaum mehr an. „Bürogebäude scheinen etwas zu sein, was für ihn in irgendeiner

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Als er die gezeigten Gebäude auf einer Skala bewerten soll, sind es vor allem die großen, denen er viele Punkte gibt, also die, die ihn an das Portfolio des eigenen Unternehmens erinnern. Obwohl er die Knöpfe im Affekt drückt, reizt er die Punkteskala vollständig aus. Die Zuordnung zu den Kategorien „positiv“ und „negativ“ sind sehr differenziert, weil ihm in der Kürze der Zeit viele Details auffallen, die er in seine Spontanbewertung einfließen lässt.

Ein ganz anderes Bild zeigt sich in seinen Reaktionen auf Wohnimmobilien. Diese bewertet er sehr viel weniger differenziert – obwohl sein Hirn diese Reize sehr viel länger verarbeitet. Seine Ergebnisse sprechen dafür, dass er sie mit einem weniger professionellen und stattdessen mit einem emotionalen Blick betrachtet. Ähnlich sieht es bei den Einzelhandelsimmobilien aus, die die stärksten und längsten Hirnreaktionen bei Walter auslösen – obwohl FOM Real Estate auch Einzelhandelsimmobilien im Portfolio hat. Für Walter ist jedoch sofort klar, dass er die Mehrheit der Läden auf den Fotos nicht mit seinem Beruf in Verbindung bringt. „Was mir da gezeigt wurde, waren im Wesentlichen Geschäfte in der Innenstadt und in Randlagen. Es waren kaum große Einkaufszentren dabei“, fasst er zusammen. „Das, womit ich es beruflich zu tun habe, sind hingegen großvolumige Entwicklungen. Mit den Immobilien auf den Bildern sind die nicht zu vergleichen“, lautet seine eigene Erklärung dafür, warum die Hirnreaktionen auf die Handelsimmobilien länger andauern.


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Anna-Claire Griffith

Immobilienmaklerin bei Colliers

Mit Ladenlokalen im gesamten Rhein-MainGebiet beschäftigt sich die Immobilienmaklerin im Job täglich, seitdem sie vor zwölf Jahren als Quereinsteigerin zu Colliers kam. Als Head of Retail Letting in Frankfurt hält sie nach passenden Läden für internationale Kunden Ausschau und sucht umgekehrt Mieter für leer stehende Einzelhandelsflächen. Zu diesem Job sei sie durch Zufall kommen, ausschlaggebend war ihre Beziehung zu Frankfurt als Einkaufsstadt. „Ich war als Kind schon viel in Frankfurt unterwegs. Ich kannte die Shoppinglage in der Stadt also sehr gut“, sagt sie.

Foto: Universität Würzburg

Als Anna-Claire Griffith in der Versuchskammer den Knopf immer dann drücken soll, wenn ihr eine Einzelhandelsimmobilie präsentiert wird, erkennt Rodrigues an den Daten sofort: „Sie konzentriert sich sehr gut auf die Aufgabe.“ Die Messgraphen schlagen sehr früh und sehr viel stärker aus als bei den anderen Aufgaben. „Das war einfach mein Stichwort“, kommentiert die Immobilienmaklerin bei der Nachbesprechung mit einem Lachen. Als Anna-Claire Griffith sich auf die verschiedenen Immobilienarten im Versuch konzentrieren soll, bündelt sie ihre Energie auf Einzelhandelsimmobilien. Die Aufgabe, mögliche Verkaufsflächen in den Bildern zu suchen, sorgt für hohe Hirnaktivität. Die Suche nach Wohnimmobilien beschäftigt die Maklerin hingegen deutlich weniger. Sobald sie ein passendes Gebäude gefunden hat, schwindet ihre Konzentration und damit verschwinden auch die roten Einfärbungen, die den Wissenschaftlern hohe Spannungen anzeigen. Die Wohnhäuser beschäftigen sie also nicht weiter.

Als sie während des Experiments aus einem Paket von 60 gemischten Bildern immer diejenigen finden und per Knopfdruck markieren soll, die Einzelhandelsimmobilien zeigen, läuft ihr Hirn aber nicht nur auf Hochtouren, wenn sie fündig wird. Auch die gezeigten Wohn- und Bürogebäude lösen bei ihr unter der Prämisse, eine Verkaufsfläche zu finden, stärkere Reaktionen im Gehirn aus. Das Stichwort „Einzelhandel“ lässt sie kreativ werden.

Foto: Christof Mattes

„Ich habe bei den Bildern gar nicht mehr darauf geschaut, was wirklich drin ist, sondern was drin sein könnte“, beschreibt Griffith im Nachgespräch, „Viele Bürogebäude in Metropol städten werden in den letzten Jahren für die Öffentlichkeit geöffnet, indem Einzelhandelsflächen in den unteren Stockwerken geschaffen werden. Der Shopping- und der BusinessDistrict rücken so immer näher zusammen“, sagt sie und erklärt, dass sich dadurch für sie als Maklerin ganz neue Möglichkeiten eröffnen, Flächen zur Vermietung zu vermitteln.

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Ihr gefalle diese Belebung der Städte, an der sie gerne mitwirken will. Ihr Blick fiel bei dem Test deshalb immer zuerst auf die Erdgeschosse. Besondere Aufmerksamkeit weckten Fotos, bei denen Fenster nicht verdeckt und Scheiben nicht abgeklebt waren. „So kann man erahnen, was man daraus machen könnte“, erklärt sie. Wenn nur wenig Umfeld zu erkennen war, konzentrierte sich die Maklerin sogar auf Spiegelungen in den Schaufensterscheiben, um Informationen über die Lage und die Belebtheit des Umfelds zu bekommen. Dabei bewertete sie die Läden, die sie in A-Lagen vermutete oder bei denen sie viel mögliche Laufkundschaft erahnte, als besonders gut – weil diese ihre Kunden ansprechen würden. Privat, das gibt sie offen zu, ist sie jedoch selten auf den großen Shoppingmeilen unterwegs. Dann bevorzugt sie kleine Boutiquen und ausgefallene Läden, und zwar am liebsten in Städten, die sie noch nicht kennt. Auch VintageBoutiquen nennt sie als Ziel. Von diesen gab es in unserem Test jedoch keine.


Richard Gering

Ob er seine Aufmerksamkeit auf Wohn-, Bürooder Einzelhandelsimmobilien lenken soll, sorgt bei Richard Gering zunächst für keinen messbaren Unterschied. Egal welches Bild er eingeblendet bekommt, jedes Mal steigt die elektrische Spannung während der Reizverarbeitung stark an und lässt einen roten Balkon auf seiner Hirnkarte erscheinen, der sich quer über den Kopf erstreckt. In der Auswertung spricht dieses Phänomen zunächst für eine hohe Konzentration, die der 28-Jährige an diesem Vormittag mit in die Versuchskammer bringt. Keines der drei Themen präferiert er bewusst, stattdessen nimmt er jede Aufgabe, die ihm gestellt wird, mit der gleichen Nüchternheit an.

Foto: Universität Würzburg

Grafiker

Wenn Richard Gering ein neues Foto angezeigt bekommt, steigt die Spannung im Hinterkopf stark an. Auf den Monitoren wird das durch einen roten Balken am Hinterkopf erkennbar. Weil dies bei allen Immobilienarten in ähnlichem Ausmaß geschieht wie hier, als er bewusst nach Wohngebäuden sucht, gehen die Psychologen bei der Auswertung davon aus, dass er sich sehr gut auf die Aufgaben konzentrieren konnte und keine Immobiliengattung von vornherein bevorzugt hat.

Foto: Janina Stadel

Wissenschaftler entstehen, unterscheiden sich stark von denen, die seine Hirnreaktionen auf Einzelhandelsimmobilien abbilden.

Doch sobald er die Bilder angesehen hat, ändert sich die Situation. Die Einzelhandelsimmobilien schiebt sein Hirn schnell von sich. Nach der Einblendung lässt die Spannung kontinuierlich nach, bis sie nicht mehr vom EEG-Gerät erfasst werden kann. Anders sieht es bei den Wohnhäusern aus. Sie lassen ihn nicht so schnell wieder los. Obwohl sie für ihn schon nicht mehr zu sehen sind, können noch mehrere Spannungsanstiege in seinem Hirn gemessen werden. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass er noch lange versucht, Informationen aus den Fotos zu ziehen, um sie mit bereits vorhandenem Wissen zu verknüpfen. Die Kurven, die dadurch auf den Monitoren der

Tatsächlich beschäftigt sich der 28-Jährige in den Wochen rund um den Versuchstag intensiv mit der eigenen Wohnsituation. „Ich richte mich gerne ein“, erklärt er. Dekorieren zähle zu seinen Hobbys, denn es sei ihm wichtig, sich in den eigenen vier Wänden wohlzufühlen. Dafür achte er auf die Ästhetik von Einrichtungsgegenständen. Seit einiger Zeit mache er sich aber auch verstärkt Gedanken über sein Wohnumfeld. „Ich lebe im Moment eher ländlich etwas außerhalb von Mainz“, erzählt er, „langfristig würde ich aber lieber in die Stadt umziehen.“ Die Kisten habe er zwar noch nicht gepackt, doch er hält die Augen nach Stadtwohnungen offen. Sie sind es auch, die von ihm in der Bewertungsaufgabe die meisten Punkte bekommen – insbesondere Mehrfamilienhäuser sprechen ihn an. Er erkennt sie vor allem an der Anordnung von Balkonen. „Die springen mir immer ins Auge, weil für mich selbst nur eine Wohnung mit Balkon in Frage käme.“

Und auch beim Thema Büro hat er klare Vorstellungen von seinen Wünschen. Er verbringt in seinem Beruf als Grafiker im Marketing viele Stunden am Schreibtisch – sowohl bei seinem Arbeitgeber als auch zuhause im Homeoffice. Bei der Beurteilung von Arbeitsplätzen steht bei ihm weniger die optische Gestaltung im Vordergrund. Stattdessen beurteilt er die Innenansichten nach der Anzahl von Schreibtischen. „Ich habe in der Vergangenheit in unterschiedlichen Konstellationen in Büros gearbeitet. Dadurch weiß ich aus Erfahrung, dass es mit zu vielen Leuten in einem Raum schnell zu laut werden kann.“ Großraumbüros erhalten bei seinen Bewertungen daher nur wenig Punkte. In seinem Gehirn fallen die Reaktionen auf die Büros deutlich schwächer aus als die auf Wohngebäude. Weil er bei Innenansichten zuerst auf Einrichtungsgegenstände schaut, fällt es ihm schwer, Büros mit Sitzsäcken und Pflanzen von Wohnzimmern zu unterscheiden und die Bilder in der kurzen Zeit einer Gebäudeart zuzuordnen. Dabei war das Thema Arbeitswelt bei ihm zuletzt sehr präsent im Kopf: Er wechselte einige Wochen nach dem Experiment seinen Job. 43


Ina Lemmer

Studentin Ina Lemmer ist mit 22 Jahren die jüngste der sechs Versuchsteilnehmer. Das kann Psychologe Rodrigues sogar aus den Daten ablesen, die das EEG-Gerät bei ihrem Testdurchlauf aufnimmt. Er weiß aus Erfahrung, dass die Messkurven an einigen Stellen Besonderheiten aufweisen können, die auf das Alter der Probanden zurückzuführen sind. So nimmt bei Lemmer die elektrische Spannung, die am Hinterkopf gemessen wird, einige Millisekunden lang immer wieder zu und ab, nachdem die Bilder auf dem Bildschirm vor ihr wieder verschwunden sind und sie nur noch auf den neutralen einfarbigen Hintergrund schaut. „Das Hirn versucht noch sehr, alles zu optimieren“, erklärt Rodrigues, warum das Hirn bei jungen Menschen seine Aktivitäten nach der Aufnahme von visuellen Reizen mehrfach wieder verstärkt.

Foto: Universität Würzburg

Studentin

Wenn Ina Lemmer sich Darstellungen von Wohngebäuden anschaut, zeigen orange und rote Flächen hohe elektrische Spannungen an ihrem Hinterkopf. Sie steigen auch nach der Bildeinblendung immer wieder kurz an, weil ihr Hirn versucht, aus diesen Bildern besonders viele Informationen zu gewinnen.

Foto: Janina Stadel

phase stark zunimmt und deutlich länger anhält als bei der Verarbeitung von Einzelhandels- oder Büroimmobilien. Obwohl ihr diese Bilder nicht länger oder häufiger ausgespielt wurden als die von anderen Gebäudearten, kann Lemmer sich im Anschluss an das Experiment noch an deutlich mehr Details von den dargestellten Wohnimmobilien erinnern. Die Anordnung von Balkonen, Begrünungen und Gartenmöbeln kann sie genau beschreiben.

Besonders stark zeigt sich dieses Phänomen bei Lemmer, wenn ihr Wohnimmobilien gezeigt werden. Rodrigues vermutet mit Blick auf ihre Messdaten, dass sie versucht, aus diesen Bildern besonders viele Informationen zu ziehen und sie unbewusst mit vorhandenem Wissen abgleicht, bevor sie sie in ihrem Gedächtnis einordnet und abspeichert. In den Auswertungsbögen leuchtet eine große rote Fläche am Hinterkopf, weil die gemessene Spannung während der Verarbeitungs-

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„Ich habe mir bei jedem Bild überlegt, ob ich da einziehen würde“, berichtet die Probandin. Dabei hat sie die Immobilien nicht nur nach ihrem persönlichen Geschmack beurteilt, sondern auch danach, ob sie sie sich leisten könnte. Nur wenige Monate vor der Durchführung des Experiments wurde sie Bewohnerin einer Wiesbadener Studenten-WG. Die Mitbewohner wechselten nach ihrem Einzug noch einmal durch. Die gemeinsam genutzten Räume mussten in den Wochen rund um das Experiment umgestaltet werden, damit sich alle wohlfühlen. In ihrem Alltag war das Thema Wohnen also besonders präsent.

Eine Dauerlösung soll das Leben in der Wohngemeinschaft für die Studentin nicht sein. „Ein Eigenheim kann ich mir in den nächsten Jahren aber nicht leisten“, weiß sie. „Eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus vielleicht in einem Vorort, wäre aber ein gutes Mittelmaß zwischen dem ländlichen Leben bei meinen Eltern und dem Trubel in der Stadt.“ Während der CoronaLockdowns verbrachte sie ihre Zeit überwiegend in ihrem Elternhaus in der Umgebung von Marburg, weil sie Mietkosten sparen wollte. Genau diese Vorstellungen spiegeln sich auch in den Bewertungspunkten wider, die Lemmer im Experiment den Wohnhäusern zugeordnet hat. Immobilien, die sie aus Kostengründen für einen eigenen Einzug in den kommenden Jahren für sich ausschloss, bewertete sie negativer als Häuser, deren Mieten sie nach ihrem Berufseinstieg in die Medienbranche für bezahlbar hielt und die sie an die Architektur an ihrem jetzigen Wohnort erinnerten.


HAPPY BIRTHDAY zu erstklassigem Immobilien-Journalismus wünscht Panattoni.

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Igor Christian Bugarski Vorstandsvorsitzender Noratis

Foto: Universität Würzburg

Schon als Igor Christian Bugarski das Treppenhaus zum Laborkeller betritt, ist er sich sicher, dass Immobilien eine starke Wirkung auf ihn haben. „Gebäude wie diese erinnern mich an meine eigene Studienzeit. Da werde ich ganz emotional“, schwärmt er. Doch das Erste, was den Wissenschaftlern während seines Tests auf den Monitoren auffällt, sind keine starken Emotionen, sondern Thedawellen, die im Laufe der Sitzung in immer stärkerer Ausprägung zu sehen sind. Dabei handelt es sich um Spannungswellen im Frequenzbereich von vier bis acht Hertz. Sie treten vermehrt bei einsetzender Müdigkeit auf. Beim Bestimmen von Wohnhäusern gibt sich Igor Christian Bugarski besonders viel Mühe. Wird ihm während dieses Tests ein Büro- oder Geschäftsgebäude angezeigt, ist die Aufgabe für ihn jedoch schnell erledigt. Weil er nicht länger versucht, sich Details von diesen Fotos zu merken, werden vom EEG-Gerät nur noch gelbe, grüne und blaue Felder in seinem Hirn dargestellt. Sie zeigen, dass die elektrische Spannung am gesamten Kopf nachlässt.

Foto: Janina Stadel

gebäuden am schnellsten ein. Zudem hält die Spannung am längsten an. Bugarskis Hirn läuft beim Thema Wohnungen auf Hochtouren.

Tatsächlich hat Bugarski beim Start seines Tests schon einen ganzen Arbeitstag als Vorstandsvorsitzender der Wohnungsbaugesellschaft Noratis hinter sich und eine Autofahrt vom Firmensitz in Eschborn nach Würzburg. Seine Aufmerksamkeit für Wohngebäude leidet unter der späten Uhrzeit jedoch nicht, wie die Wissenschaftler bestätigen können. Rodrigues erkennt bei dem 48-Jährigen eine „schnelle Auffassungsgabe für visuelle Reize“ und spricht sogar von „Hinweisen auf Expertenwissen“, als er Bugarskis Ergebnisse auswertet. Die P3-Phase, in der die Probanden dem Gesehenen eine persönliche Bedeutung zuweisen, setzt beim Betrachten von Wohn-

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Und das tut es auch außerhalb der Versuchsreihe. Wohngebäude beherrschten Bugarskis Alltag schon, bevor er 2011 als Gesellschafter bei Noratis einstieg. Sein erstes Haus kaufte er mit 24. Den Bezug zu dieser Immobilie hat er nie verloren. „Da wohnt heute meine Mutter drin“, sagt er. Schon als Kind habe er sich dafür interessiert, wie andere Menschen leben, und in Wohnhäusern auf die Beleuchtung, Wandfarben und Gerüche geachtet. Das mache er bis heute. Mehr als 15.000 Fotos von Gebäude- und Einrichtungsdetails hat er auf seinem Handy gesammelt. Sie dienen ihm privat als Inspiration für die Gestaltung seines eigenen Altbauhauses. Im Laufe der Jahre habe er gelernt, dass aufwendig eingerichtete Wohnungen nicht immer gemütlich sind und in einem Zuhause auch dann eine angenehme Atmosphäre aufkommen kann, wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Diese Erkenntnis spiegelt sich in den Affekt-

Bewertungen wider, die Bugarski bei den Wohnimmobilien im Test vorgenommen hat. Im Vergleich zu anderen Assetklassen hat er den Wohnhäusern deutlich häufiger hohe Punktzahlen zugeordnet. Die Häuser, die er am positivsten bewertete, entsprechen jedoch nicht seiner eigenen privaten Wohnumgebung. Die meisten Punkte verteilte er stattdessen an Neubauwohnungen mit schlichten Fassaden. Er beschreibt sie als „effizient gebaut“. Eben mit diesen Wohnungen verdiene er sein Geld. „Zum Teil geschieht es unbewusst, aber die Menschen mögen es praktisch.“ Mit alten Parkettböden verbinden seine Mieter hingegen aufwendige Pflege und mit hohen Decken im Altbau hohe Heizkosten. Wohnungen mit diesen Merkmalen lehnen sie im Gegensatz zu Bugarski deshalb häufig ab. „Ich habe, ohne es zu merken, Häuser gut bewertet, die für mich beruflich passen“, stellt er im Nachhinein fest. Aus der Teilnahme am Versuch zieht er für sich ein persönliches Fazit: „Meine berufliche Rolle kann ich nicht eliminieren. Mein eigener Geschmack und die berufliche Sicht sind völlig verquickt.“


Kerstin Heinz

Während Bürokauffrau Kerstin Heinz in der Versuchskammer sitzt, macht sich ein Graph auf den Monitoren besonders häufig bemerkbar. Er gibt die Messungen von der Elektrode in ihrem Gesicht wieder und zeigt: Die 33-Jährige blinzelt häufig und lässt ihre Augen immer wieder für einen kurzen Moment geschlossen. Dadurch findet sie kleine Phasen der Entspannung und kann sich so bis zum Ende des Tests gleichmäßig konzentrieren. Die Aufmerksamkeit braucht sie vor allem bei den gezeigten Einzelhandelsimmobilien. „Viele von diesen Bildern waren sehr unübersichtlich“, sagt sie nach dem Experiment und beschreibt Markenlogos, Sonnenschirme von Gastronomien und Werbebanner in den Schaufenstern als störend. „Da muss man sich ja erst einmal zurechtfinden.“

Foto: Janina Stadel

Die Reizüberfrachtung macht sich bei ihren Messungen bemerkbar. Eine hohe elektrische Spannung ist noch deutlich erkennbar, als die Bilder schon lange wieder ausgeblendet sind. Während bei Bildern von anderen Immobilienarten kurz nach dem Verschwinden der Bilder nur noch kleine gelbe und orange Flecken auf der Darstellung ihres Hirns zu sehen sind, bleibt der

Foto: Universität Würzburg

Bürokauffrau

Die Bilder von Einzelhandelsimmobilien haben bei Kerstin Heinz ein besonders hohes Maß an Konzentration ausgelöst. Um die Fotos mit vielen Details wie Schriftzügen, Schaufenstern und Werbebannern richtig analysieren zu können, musste sie sich stark anstrengen, was zu einer hohen messbaren Spannung am Hinterkopf führte. In der Grafik setzt diese sich durch rote Markierungen klar von der niedrigen Spannung am Vorderkopf ab.

Hinterkopf bei den Einkaufshäusern noch lange rot eingefärbt. Um aus den Bildern vor der Speicherung im Gedächtnis genügend Informationen zu ziehen, braucht sie also besonders viel Zeit. Anders ausgedrückt, die Einzelhandelsimmobilien strengen sie an. Das prägt ihre subjektiven Bewertungen der Gebäude. Große Shopping- und Fachmarktzentren mit viel Reklame und großen Schriftzügen an den Fassaden bewertet sie mit wenigen Punkten. Kaufhäuser mit schlichten Fassaden, deren Schaufenster einheitlich bestückt sind, bewertet sie hingegen besonders gut. Auch Fotos aus leeren Fußgängerzonen sprechen sie mehr an als die anderen Teilnehmer. Der Grund: Sie selbst meidet beim Einkaufen Menschenmassen. Stattdessen bestellt sie Kleidung und Alltagsprodukte häufig online, um sie in Ruhe zuhause an- und ausprobieren zu können. Sie meidet Geschäfte mit engen Gängen und achtet darauf, Besorgungen im Supermarkt nie zu Stoßzeiten erledigen zu müssen.

Durch ihre hohe Konzentration auf die Aufgaben im Experiment liegt bei ihr die längste Zeitspanne zwischen der Reizaufnahme und der abschließenden Verarbeitung. Auf Wohnimmobilien setzen jedoch deutlich frühere Reaktionen ein. Im Gegensatz zu den Einzelhandelsimmobilien tut sich ihr Gehirn mit der Verarbeitung dieser Reize besonders leicht. Und auch bei ihren Affekt-Bewertungen zeigen sich Muster, die auf schnelle und eindeutige Entscheidungen hinweisen. Auffällig im Abgleich mit ihren Bewertungen ist, dass sie auch bei den Wohngebäuden auf eine übersichtliche Architektur achtet. Positive Bewertungen verteilt sie dabei an Mehrfamilienhäuser und kleine Häuser gleichermaßen, wobei Altbauvillen mit schmuckvollen Fassaden und ausgefallenen Balkongeländern bei ihr nur mittelmäßig und somit schlechter als bei den anderen abschneiden.

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Das Marshabitat wird über Solarpaneele mit Energie versorgt. 50


Wir bauen auf dem

Mars Text | Jutta Ochs

Da steht ein Mensch, mit mächtigen Stiefeln in rötlichem Gestein und Staub. Er verharrt einen Moment, legt seinen behelmten Kopf in den Nacken, blickt hoch ins Universum. Sein Kopf dreht sich zu einem silberfarbenen Modul, sein irdisches Herz klopft und klopft, er atmet heftiger in seiner Kopfkapsel. Vielleicht denkt er an seinen Pionier-Ahnen und dessen „small step“, der ein großer Schritt für die Menschheit war. Dann besteigt er das erste Mal die unterste Stufe der metallenen Trittleiter und sieht sein neues Zuhause auf dem Mars. Foto: Joris Wegner, Universität Bremen

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Foto: ÖWF (Florian Voggeneder)

Bauziegel aus Blut, Schweiß, Urin und Staub.

Analog-Astronaut Stefan Dobrovolny mit dem omanischen „Water Explorer Experiment“.

Er ist der erste Mensch, der den Mars betritt und in dessen roter, weiter Wüste steht. Ein halbes Jahr dauerte die Reise bis dorthin. Ein „Ich will zurück!“ ist keine Option mehr, denn dieser Mensch wird erst einmal bleiben und in einem Habitat aus Wohn- und Arbeitsmodulen leben. Diese Szene ist mittlerweile keine Vision für irgendwann mehr, sondern ein realistisches Szenario. Es ist die jetzige Generation, die den Weg bereitet. Sie arbeitet weltweit an Wohnungsbaumodellen und Baustoffen für die Extrembedingungen des roten Planeten. Noch in den 2030er Jahren, so hat es die US-Raumfahrtorganisation Nasa angekündigt, werden Menschen auf eine Mission zum je nach Planetenkonstellation zwischen 56 und 401 Millionen Kilometer entfernten Mars geschickt. Sie brauchen eine lebensfreundliche Unterkunft in einer lebensfeindlichen Umgebung. Das wird die Keimzelle sein für die Vision des Wohnens auf dem Mars. An einer solchen Keimzelle arbeiten Forscher zum Beispiel in Bremen. Den Moment der ersten extraterrestrischen Besiedelung können die Mitglieder des Projekts Humans on Mars am Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (Zarm) der dortigen Universität ziemlich gut imitieren. Der Marsboden, das Gestein und der eisenoxydfarbene Horizont sind Nachbildungen aus Styropor, PVC und Papier. Gefertigt für ein

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Theater-Bühnenbild und dann den Marsforschern überlassen. Das künftige Heim, das aus mehreren verbundenen, zylinderförmigen Modulen besteht, steht als Miniaturanlage Mamba (Moon and Mars Base Analog) in der Halle des Zarm. Das sieben Meter hohe Großmodul aus Aluminimum macht das Leben und Arbeiten auf dem Mars schon heute erfahrbar. Christiane Heinicke, Ingenieurin, Physikerin und Koordinatorin von Humans on Mars, und ihre Mitarbeiterin Vanessa Röttger zeigen Besuchern gerne die Anlage. Es geht eine Trittleiter hoch zur Eingangsluke des Großmoduls. Wer von der Raumfahrt träumt und sich mit Star Trek und Nachrichten über die amerikanischen und europäischen Raumfahrtorganisationen Nasa und Esa weiterbildete, dem steigt der Blutdruck. Als würde die eigene, irdische Dimension verlassen und eine neue Welt betreten. Die vollständige Mamba-Anlage für sechs Personen besteht aus zwei Schleusen und sechs Modulen, verbunden miteinander über kleine Korridoreinheiten. Fenster sind vorgesehen, aber schwierig. Denn trotz solcher Gucklöcher muss der Schutz vor Weltraumstrahlung erhalten bleiben. Die Arbeits- und Freizeitmodule sind in zwei getrennten Strängen des Habitats geplant, um die Lebensbereiche auf den wenigen Quadratmetern trennen zu können.


Foto: Friedhelm Feldhaus

Foto: Friedhelm Feldhaus

Das Bremer Modul fürs Wohnen und Arbeiten auf dem Mars.

Der Mars-Arbeitsplatz im Innern.

Das Arbeitsmodul, in dem möglichst viel Labor zum Forschen untergebracht wird, ist zweigeschossig. Eine steile schmale Leiter führt hoch in eine Art Pausenraum, beispielhaft möbliert mit grünen Sitzsäcken und einem Feldbett. Es ist überall eng, sehr eng. Die eingeschossigen Wohnmodule haben deshalb hohe Decken, um dieses Engegefühl zu mildern. An der Schnittstelle zwischen dem wissenschaftlichen Labor und dem Freizeitmodul befindet sich ein kleines Gewächshaus. Die Pflanzen dienen der Nahrungsversorgung, der Sauerstoffproduktion und für Experimente. Im Schlafmodul hat jeder Bewohner sein eigenes Quartier. Diese Möglichkeit zum Rückzug ist „enorm wichtig“, sagt Heinicke. Schlechte Laune könne „hochgradig ansteckend wirken“.

Dann ist da noch die Frage nach der Toilette: Eine Sanitäreinheit bewahrt alles, was sich in ihr ansammelt. Wer den Film „Der Marsianer – Rettet Mark Watney“ mit Matt Damon gesehen hat, der ahnt, dass die Hinterlassenschaften luftdicht verpackt und zur Düngung gelagert werden. Es gibt Menschen, die das alles aushalten wollen.

In den Wohneinheiten geht es viel ums gute Gefühl, in der Laboreinheit um möglichst viel Forschung und Analyse. Luftdruck, CO2, Feuchtigkeit und Sauerstoffgehalt werden ständig kontrolliert und koordiniert. Eine sogenannte Glovebox, ein Kasten mit zwei Löchern und Sicherheitshandschuhen, dient Versuchen mit gefährlichen Materialien. Kleine Pakete mit Marsstaub liegen bereit. Da bislang noch kein Material direkt vom Mars auf die Erde transportiert worden ist, wurde dieser künstlich hergestellt. Die Basis dafür bilden Daten, die Mars-Rover wie Curiosity und Perseverance zur Erde funkten. Die Nachbildung ist jedoch so echt, dass es verboten ist, den künstlichen Marsstaub außerhalb von Laborbedingungen zu erfühlen. Elemente des sehr feinen Staubs setzen sich in der Lunge fest und können tödlich sein. Zudem darf das Material, das aussieht wie eine Probe von einem ockerfarbenen Sandstrand, nicht durch Außenkontakt verunreinigt werden.

„Ich zum Beispiel“, sagt Christiane Heinicke. Sie will ohne Wenn und Aber auf den Mars. Die 37-Jährige war schon Terranautin in irdischen Testhabitaten für Mond und Mars. Davon gibt es weltweit ein gutes Dutzend, „doch sie wurden vor allem für die Erde gebaut: In ihnen werden der psychische Zustand der Bewohner untersucht, zudem organisatorische Abläufe und vereinzelte technische Systeme“, weiß Heinicke. „Keine einzige heute existierende Station könnte allerdings den Bedingungen auf dem Mond oder Mars standhalten.“ Anders als Mamba. Die Anlage ist keine Fiktion und kein Was-wäre-wenn, sondern konkret an sämtlichen bekannten Realitäten auf Mars und Mond ausgerichtet. Diese unterscheiden sich deutlich von den Umweltbedingungen auf der Erde. So gibt es kaum Atmosphäre, die mittlere Temperatur liegt bei etwa minus 63 °C (Erde: plus 14 °C), der Luftdruck bei 0,00636 Bar (Erde: 1 Bar), und die Anziehungskraft beträgt nur ein Drittel der irdischen. Mambas Zylinderform dient deshalb dazu, dem Druckunterschied zwischen innen und außen besser standzuhalten. Ein kastenförmiges Haus könnte das weniger gut. Der Außendurchmesser ist mit 5,20 m so gewählt, dass sich das Modul in einer Rakete transportieren lässt. Als Referenz dienen die Maße der Module der Internationalen Raumstation ISS. Großes Augenmerk wird zudem auf den Schutz der Bewohner gelegt, denn anders als auf der Erde bewahrt auf dem Mars kein Magnetfeld und keine schützende Atmosphäre den Körper vor Mikrometeoriten-Einschlag und der DNA-zersetzenden Weltraumstrahlung. 53


Foto: Enna Bartlett

Mit einer Erstunterkunft auf dem Mars ist es allerdings nicht getan. Es muss vor Ort Wohnraum gebaut werden und dafür braucht es Baumaterial. Dieses kann wegen des gigantischen Zeit- und Kostenaufwands nicht komplett von der Erde bis zum Mars transportiert werden. Der Aufwand für den Transport eines einzelnen Ziegels wird, alle denkbaren Kosten inklusive, auf etwa 2 Millionen US-Dollar geschätzt. Das gilt auch für Rohmaterial, aus dem sich zum Beispiel in einem 3D-Drucker Bauteile fertigen lassen könnten. Die Wissenschaftler der Universität Manchester fanden bei der Suche nach Alternativen eine ungewöhnliche Lösung: Sie zapfen den Menschen an. Die Forscher entwickelten ein Material, das aus Marsstaub und menschlichen Körperflüssigkeiten wie Blut, Schweiß, Tränen und Urin hergestellt wird. Gut, dass die Sanitäreinheit alles aufbewahrt. Einer der beteiligten Wissenschaftler vom Future Biomanufacturing Research Hub des Manchester Institute of Biotechnology ist Aled Roberts. Er und sein Team gaben ihrer Forschung den griffigen Namen „Blood, Sweat and Tears“ (Blut, Schweiß und Tränen) – nach der berühmten Durchhalte-Rede von Winston Churchill an seine Landsleute im Zweiten Weltkrieg. In Anlehnung ans englische Wort für Beton – Concrete – tauften die Forscher ihre Substanz Astrocrete. Um das Astrocrete anzurühren, braucht es neben dem Regolith genannten lockeren Gestein von der Marsoberfläche das im Blut vorkommende Protein Humanalbumin sowie Harnstoff. Letzterer ist in Urin, Tränen oder Schweiß enthalten. Blutalbumin sorgt im Körper dafür, dass das Blut in den Blutgefäßen gehalten wird und nicht durch Osmose aus den Zellwänden der Gefäße austritt. Es bindet Wasser und klebt. Schon vor Jahrhunderten wurde Blut deshalb als Baustoff verwendet, belegt sei etwa Tierblut in einer Art Zement, den die Azteken mischten. „Es ist aufregend, dass die Lösung einer großen Herausforderung des Weltraumzeitalters womöglich von mittelalterlicher Technologie inspiriert wurde“, sagt Roberts.

Aled D. Roberts forscht in Manchester am Marsbeton.

Foto: Enna Bartlett

Zunächst nutzten die Forscher nur nachgebildeten Marsstaub und Blutalbumin. Das Material wies Druckfestigkeiten von bis zu 25 MPa (Megapascal) auf, was etwa den Werten von Beton (typischerweise 20 bis 32 MPa) entspricht. Dann fanden sie heraus, dass Harnstoff die Druckfestigkeit noch einmal deutlich erhöht. Das Material aus Albumin, Staub und Harnstoff hat demnach eine Druckfestigkeit von fast 40 MPa – und das ist sogar stabiler als üblicher Beton.

Künstlicher Marsstaub wird mit Urin angereichert.

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Foto: Hi-SEAS, Christine Heinicke

Kaum Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt.

Test einer Marskolonie auf dem Vulkan Mauna Loa auf Hawaii.

Laut Roberts könnte eine Crew von sechs Astronauten mit ihrem Rezept innerhalb von zwei Jahren etwa 500 Kilogramm Astrocrete produzieren. Wird die Substanz in Form von Ziegeln aus Marsstaub genutzt, reiche die von einem einzigen Astronauten produzierte Menge an Astrocrete aus, eine Marskolonie um die Behausung für jeweils eine Person zu erweitern. „Wissenschaftler haben schon zuvor versucht, Technologien zu entwickeln, um betonähnliche Materialien auf der Marsoberfläche zu produzieren. Aber wir kamen bislang nie darauf, dass die Antwort die ganze Zeit in uns steckte, und zwar wörtlich“, bemerkt Roberts augenzwinkernd. Eine Ermüdungs- und Haltbarkeitsbewertung unter simulierten Marsbedingungen steht allerdings noch aus und die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen einer kontinuierlichen Plasmaspende in einer Umgebung mit reduzierter Schwerkraft müssen noch untersucht werden. Nach Alternativen wird parallel geforscht, zum Beispiel an Kartoffelstärke als Astrocrete-Bindemittel. „Trotzdem glauben wir, dass dieser Baustoff aus betonähnlichen Biokompositen eine bedeutende Rolle in einer entstehenden Marskolonie spielen könnte, bis er durch andere Technologien ersetzt werden kann.“ Christiane Heinicke gibt allerdings zu bedenken, dass man derzeit noch zu wenig über das langfristige Verhalten von 3D-gedruckten Baustoffen unter Marsbedingungen wisse, „um das Leben von Astronauten diesen Baustoffen anvertrauen zu können.“

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Geübt und simuliert wird das Marsleben aber zunächst auf der Erde. Heinicke selbst war 2020 Teil einer fünfköpfigen Forschergruppe, die 365 Tage am Hang des Vulkans Mauna Loa auf Hawaii im Auftrag der Nasa in einem Habitat wohnte. Trink- und Kochwasser waren streng rationiert. Die einzige Kontaktmöglichkeit mit der Außenwelt bestand aus E-Mails, die in jede Richtung 20 Minuten verzögert wurden, um die Übertragung zwischen Erde und Mars nachzuempfinden. „Die psychische Belastung ist natürlich enorm während dieser Zeit“, sagt Heinicke. „Auf der anderen Seite hatten wir einen so engen Zusammenhalt zwischen manchen Crew-Mitgliedern, wie man ihn auf der Erde nicht kennt.“ Die Kuppel in der Hawaii-Simulation hatte elf Meter im Durchmesser und im Erdgeschoss gab es eine sehr hohe Decke, „die uns sprichwörtlich nicht auf den Kopf gefallen ist“. Eine große Sorge treibt alle Beteiligten mit Blick auf eine Marsmission ständig um: Was passiert, wenn vor Ort etwas schiefgeht? Technische Defekte könnten die Geräte lahmlegen, Kontaminationen müssen einkalkuliert werden, vielleicht bricht ein Feuer aus. „Man kann bei Feuer ja nicht einfach rauslaufen“, so Heinicke. Wenn also ein Modul brennt, muss es möglich sein, dass die Menschen sich zu einem anderen Modul retten können.


Köhler ist normalerweise als Expertin für Wetter- und Klimadaten beim Baskischen Zentrum für Klimawandel tätig. Mars und Mond aber lassen sie nicht los. Sie würde wie Christiane Heinicke „jederzeit“ zu beiden aufbrechen. Lieber zum Mond, weil von ihm aus die Erde zu beobachten wäre. Die Unwirtlichkeit im All schreckt sie nicht: „Ich glaube, beim Sehen der einfarbigen ‚Marsianschen‘ Wüste wäre ich eher überwältigt von der Natur.“ Trotz der Lebensfeindlichkeit des Mars sind die Wissenschaftler überzeugt, dass sich der Aufwand ihrer Forschungen lohnt. Auch weil sich dadurch die Erde besser verstehen lässt, zum Beispiel hinsichtlich des Klimawandels. Denn der Mars war vor ca. 3,7 Mrd. Jahren selbst ein habitabler, also „belebbarer“ Planet.

Würden „jederzeit“ auf den Mars: Analog-Astronautin Carmen Köhler ...

... und die Bremer Physikerin und Ingenieurin Christiane Heinicke.

Gelebt hat die Crew in Zweier-Wohnmodulen. „Die Chance, einmal allein zu sein“, wenn die Mitbewohnerin zu Experimenten außerhalb unterwegs war, beschreibt Köhler auch für die Kurzmission als wesentlich für das Gelingen des engen Zusammenlebens. Als wichtig habe sich auch ein „gutes Dusch- und Sauberkeitsgefühl“ herausgestellt. Wasser ist im All kostbar. Die Mission experimentierte mit einer Art Aerosol-Dusche.

Erkenntnisse dazu liefert das Team der Esa-Mission Mars Express. Ein Orbiter, der seit 20 Jahren mit Spezialkamera den Planeten umkreist und dabei unaufhörlich jedes Detail von dessen Atmosphäre, Oberfläche und Untergründe erforscht. Zu sehen sind dann Mars-Wolken, windgeformte Grate und Rillen, Sinkhöhlen an den Flanken kolossaler Vulkane bis hin zu Einschlagskratern und tektonischen Verwerfungen, Flusskanäle, alte Lavabecken und offenbar vereiste Polkappen, also Wasser. Der mögliche zukünftige Baugrund für Wohnen und Arbeiten kann also beinahe live betrachtet werden.

Foto: Friedhelm Feldhaus

Foto: ÖWF (Florian Voggeneder)

Carmen Köhler kennt das Mars-Gefühl ebenfalls. Die 42-jährige Mathematikerin und promovierte Physikerin hat an zwei Missionen des österreichischen Weltraumforums (ÖWF) auf dem Kaunatal-Gletscher und in der Wüste von Oman in der Dhofar-Region teilgenommen. Erwartet wird, dass die Menschen es auf dem Mars nicht nur mit Wüsten und Ebenen, sondern auch mit Gletscherformationen zu tun haben werden. Eine solche Analog-Astronauten-Mission ist auf zwei bis vier Wochen angelegt und widmet sich vor allem Material- und Instrumententests. Da werden Dinge wie das Steuern von Experimenten oder Reparaturen mit den stark behindernden Handschuhen des Raumanzugs ausprobiert. Der Raumanzug selbst wiegt bereits rund 48 Kilo.

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Mars Express hat wesentlich zu der Erkenntnis beigetragen, dass es auf dem Mars einst viel flüssiges Wasser und eine so ausgestaltete Atmosphäre gab, dass Leben dort möglich war. „Zu einem Zeitpunkt, als auch die klimatischen Bedingungen auf der Erde dieses zuließen“, wie Daniela Tischler, Planetologin am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und Mitglied des Mars-Express-Teams, schildert. Ein zu schwaches Magnetfeld hat, vereinfacht ausgedrückt, die Atmosphäre des Mars weitgehend weggerissen und Wüste hinterlassen. Die Erde dagegen konnte ihre lebensfreundliche Atmosphäre erhalten. Der Mars hat also einen extremen Klimawandel hinter sich. Von ihm, so das Mars-Express-Team, sei deshalb sehr viel über die Erde und über die Frühzeit des Sonnensystems zu lernen. Dass nicht nur Orbiter und Rover, sondern menschliche Wissenschaftler vor Ort diese Phänomene erforschen, wäre daher ein Traum für alle Planetologen.

Wie realistisch ein Moon-Village und ein Mars-Village in absehbarer Zukunft sind, darüber gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Ulrich Walter, ehemaliger Astronaut und Professor am Lehrstuhl für Raumfahrttechnik der Technischen Universität München, bleibt wortkarg: „Die Frage ‘Wird man in Zukunft auf dem Mond oder Mars wohnen, also langfristig leben?‘, lässt sich einfach beantworten: Nein.“ Er gehört zur Gruppe derjenigen, darunter auch Mitglieder des Mars-Express-Teams, die eher eine zeitweilige Besiedelung von Mond und Mars zu reinen Forschungszwecken vermuten. Das könnte 2050 sein, schätzt Daniela Tischler.

Foto: ÖWF (Claudia Stix)

Christiane Heinicke ergänzt: „Es geht auch um konkrete technologische Entwicklungen, die zwar für den Mars angestoßen werden, aber auf der Erde eingesetzt werden können. Das Leben auf dem Mars erfordert in

vielerlei Hinsicht ein Umdenken, für das hier auf der Erde der Leidensdruck noch nicht hoch genug ist: Wenn wir es schaffen, auf dem Mars zu überleben, haben wir hier auf der Erde eine bessere Chance, echte Nachhaltigkeit zu erreichen. Das reicht von der Wiederaufbereitung von Luft und Wasser und effizienter Nutzung von Sonnenenergie bis hin zur Produktion von Nahrungsmitteln mit eingeschränkten Ressourcen und dem Vermeiden bzw. Wiederverwenden von vermeintlichen Abfällen.“

Mitglieder des Mission Support Centers des Österreichischen Weltraumforums (ÖWF).

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Wir gratulieren der Immobilien Zeitung zum 30. Jubiläum und freuen uns auf weitere Jahre erfolgreiche Partnerschaft.

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Zwei Jubiläen, ein Grund zum Feiern! Liebe Immobilien Zeitung, herzlichen Glückwunsch zum 30-jährigen Jubiläum! Wir sagen herzlichen Dank für drei Jahrzehnte kompetente Berichterstattung und das professionelle Miteinander. Wir freuen uns auf die nächsten 30 Jahre Fachjournalismus für die Immobilienwirtschaft. Auch wir feiern in diesem Jahr runden Geburtstag und danken allen, die uns auf unserer 100-jährigen Reise begleitet haben. Lassen Sie uns gemeinsam auch die nächsten Jahre in der Immobilienbranche gestalten!

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Foto: ÖWF (Florian Voggeneder)

Was passiert, wenn vor Ort etwas schiefgeht?

Luftaufnahme der Amadee-18 Basisstation.

Anders denken diejenigen, die konkret am Thema Wohnraum tüfteln. „Ich bin mir sicher“, sagt Heinicke, „dass es bald eine Basis auf dem Mond geben wird. Das kann in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten passieren. Die Entwicklung geht dahin, dass die Menschen andere Planeten bevölkern werden, zunächst den Mond, vielleicht den Mars und noch weiter hinaus. Der Mond im ersten Schritt ist da schon sehr realistisch.“ Auch die Marsbaustoffexperten in Manchester forschen mit der Überzeugung, dass sie eine künftige Marskolonie mit vorbereiten. „Sie wird kommen!“ Die MondArtemis-Missionen von Nasa und Esa, gestartet am 1. November 2022, können als eine Art Mars-Testlauf betrachtet werden.

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Der weltberühmte, mittlerweile verstorbene Astrophysiker Stephen Hawking hatte 2017 nachdrücklich die außerirdische Lebensraumerforschung empfohlen: „Wir haben nicht mehr genug Platz und die einzigen Orte, an die wir gehen können, sind andere Planeten.“ Diverse irdische Katastrophen, Asteroideneinschlag oder schlichtweg Überbevölkerung könnten die Menschheit dazu zwingen, extraterrestrische Siedlungen zu schaffen. Oder wie Hawking sagte: „Uns im Weltall auszubreiten könnte das Einzige sein, was uns vor uns selbst rettet.“


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OHNE Sicherheit KEIN Zuhause

Sie sind die Minderheit in der Minderheit. Verfolgt im eigenen Land und verstoßen von der eigenen Familie. Sie begeben sich auf die Flucht nach Deutschland. Hier erhoffen sie sich Sicherheit und eine gute Zukunft.

Die Rede ist von Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung flüchten müssen. Sechs von ihnen beschreiben uns den langen Weg, der sie von der verlorenen Heimat über eine sichere Unterkunft vielleicht zu einem neuen Zuhause führt.

Text Thorsten Karl 62


Foto: Amin Khelghat

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Foto: Imago / Sylvio Dittrich

Stockbetten im Übergangswohnheim Dresden-Sporbitz.

Queeren, schwulen, lesbischen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen steht in Deutschland der Schutz durch Asyl zu, wenn sie in ihrem Heimatland aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Wie viele mit dieser Begründung Asyl beantragen, ist nicht bekannt, da ihre Zahl nicht erhoben wird. „Das liegt daran, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sie unter der Kategorie ,Geschlechtsspezifische Verfolgung‘ subsumiert“, erklärt der Lesben- und Schwulenverband e.V. in Köln. „Darunter fallen auch weitere Formen von Verfolgung, beispielsweise Zwangsheirat, Femizid oder weibliche Genitalverstümmelung.“

Finanzielle Motive spielen in den von uns nachfolgend geschilderten Fluchtgeschichten keine Rolle. Im Gegenteil. Die meisten haben sich hierzulande wirtschaftlich schlechter gestellt, als sie es in ihrem Heimatland waren. So berichtet Tarlan, dass mit seinem in Aserbaidschan erworbenen Master of Marketing und Management in Deutschland wegen seiner nicht ausreichenden Deutschkenntnisse nichts mehr anzufangen war. Meri erzählt, dass sie ihr in Eriwan mit dem Bachelor abgeschlossenes Studium der Zahnmedizin hier nicht fortsetzen konnte, weil ihr Abschluss nicht anerkannt wurde. Sie müssen eine neue Ausbildung beginnen oder sich als ungelernte Hilfskräfte verdingen.

Knapp 70 Staaten weltweit stellen gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe. Die Folgen reichen je nach Land von Geldstrafen über körperliche Misshandlungen bis hin zur Todesstrafe. Die Betroffenen werden von der Gesellschaft geächtet. Viele erleben Gewalt oder Erpressung, sie verlieren ihre Arbeit oder ihre Wohnung. Oft werden sie nicht einmal von der eigenen Familie unterstützt. Stattdessen werden sie dort Opfer von offener Verachtung oder körperlicher wie psychischer Gewalt. Viele Geflüchtete erzählen die gleiche Geschichte: Familienmitglieder haben sie verprügelt und eingesperrt, ihre Handys kontrolliert oder sie zur Heirat gezwungen.

Bevor es so weit ist, gilt es, die Hürden der Bürokratie zu überwinden. Jeder Geflüchtete benötigt zunächst einen Status, der es ihm erlaubt, sich überhaupt in Deutschland aufzuhalten. Das kann eine Duldung, eine Anerkennung für eine befristete Zeit oder der sogenannte subsidiäre Schutz sein. Ohne einen solchen Status gibt es weder Deutschkurse, noch können sie einer geregelten Arbeit nachgehen. Sie dürfen selbst den Landkreis, in dem sie registriert sind, nicht verlassen. An eine eigene Wohnung ist zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken.

Die meisten büßen die heimatliche Geborgenheit und Sicherheit mit dem Ende ihrer Kindheit ein, sobald sie sich zu ihrer Sexualität bekennen. Von einem Tag auf den anderen verlieren sie nicht nur die Liebe ihrer Familie, sondern auch die Freunde und das komplette soziale Umfeld. Dieser Bruch ist einer der häufigsten Auslöser für eine Flucht. Nach ihrem Coming-out verhielten sich die Eltern von Nour aus Syrien regelrecht wie „Monster“. Meri aus Armenien wurde von ihren Kommilitonen an der Universität bespuckt. Ray und Xhino aus Albanien erzählen, wie sie von ihren früheren Freunden verprügelt wurden. Am Ende sehen sie alle nur einen Ausweg: Das Leben in ihrer Heimat zu tauschen gegen ein Leben in einem fremden, aber sicheren Land – Deutschland.

Gerade der subsidiäre Schutz spielt für viele der Hilfesuchenden eine große Rolle. Häufig stammen sie aus Ländern, die als sichere Herkunftsstaaten definiert werden. Diese Liste wurde 1993 im deutschen Asylrecht eingeführt und enthält Staaten, von denen der Gesetzgeber ausgeht, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet. Wer aus einem solchen Land kommt, für den ist die Anerkennung schwierig. Als sicheres Land gilt zum Beispiel Albanien, weswegen Ray und Xhino beinahe wieder dorthin abgeschoben worden wären. Kürzlich wurden Moldau und Georgien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Dabei gab es beim diesjährigen Christopher Street Day in Tiflis zahlreiche Verletzte durch mutmaßlich staatlich geduldete Schlägertrupps. Die FDP hat den Vorschlag eingebracht, Alge-

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rien, Tunesien und Marokko in diese Liste aufzunehmen, obwohl auch dort Homosexuelle verfolgt werden. In solchen Fällen kann der subsidiäre Schutz greifen: Wer aus einem sicheren Herkunftsland kommt, aber „stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass ihm bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ein ,ernsthafter Schaden‘ droht, hat Anspruch auf subsidiären Schutz“. Eine Sonderregelung, die eintritt, wenn weder Flüchtlingsschutz noch Asyl gewährt werden kann.

Einige Bundesländer wie Hessen oder Berlin haben für Menschen, die aufgrund ihrer Sexualität verfolgt werden, eigene, geschützte Unterkünfte. Wer bei der ersten Untersuchung seinen Fluchtgrund glaubhaft machen konnte, wird nach dem Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung dort untergebracht. Hessen verfügt über drei solche Safe Places: Frankfurt, Wiesbaden und Darmstadt.

Foto: Imago / Funke Foto Services

Die Stadt Wiesbaden nutzt dafür eine ehemalige Kaserne der US-Streitkräfte in einem Vorort der Landeshauptstadt. Dort steht für die homosexuellen Geflüchteten eine abgetrennte Einheit mit zwölf Betten in mehreren Zimmern zur Verfügung. In den meisten Räumen werden vier Personen in Stockbetten untergebracht, in einigen wenigen Zimmer sind es nur zwei. Eine Gemeinschaftsküche, ein Bad und zwei Toiletten gehören zur Unterkunft. Während die Bleibe für manche eine relativ kurze Übergangsstation in ein besseres, eigenbestimmtes Leben ist, wohnen andere seit Jahren dort.

Foto: Imago / Funke Foto Services

Haben die homosexuellen Geflüchteten Deutschland erreicht, sind die Bundesländer für sie zuständig. Diese prüfen, ob der angegebene Fluchtgrund tatsächlich vorliegt. Die Behörden durchsuchen das Gepäck nach Fotos und sie beschlagnahmen Handys, um „eindeutige“ Bilder als Beweise zu sichern. Im Internet werden die Profile daraufhin überprüft, ob sie den Fluchtgrund stützen. Gleiches gilt für die Historie in Suchmaschinen.

Container wie in hier Hattingen haben sich für Unterkünfte bewährt.

Der Alltag hier ist nicht konfliktfrei. Denn auf engstem Raum treffen die unterschiedlichsten Mentalitäten, Religionen, Alters- und Geschlechtergruppen aufeinander. „Man muss berücksichtigen, dass dort alle bereits eine Flucht und traumatische Erlebnisse in ihren Heimatländern hinter sich haben“, sagt eine frühere Mitarbeiterin, die bei der Wiesbadener Aids-Hilfe für die Betreuung der Geflüchteten zuständig war. Sprachbarrieren und die Unsicherheit über die Zukunft in einem fremden Land sorgen dafür, dass die Stimmung in der Wohnung oft angespannt ist. Und die „normalen Geflüchteten“ bringen genau das Verhalten, das die queeren Menschen aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben hat, mit in die neue Unterkunft. Sie veranstalten bei den Homosexuellen im selben Gebäude „regelmäßig Zoff“, sagt die ehemalige Mitarbeiterin. „Die wissen natürlich, was das für eine Wohnung ist.“ Die besondere Situation der Rainbow Refugees genannten Geflüchteten hat spezielle Formen der informellen Hilfe hervorgebracht. Das bundesweite Projekt „Fluchtgrund Queer – Queer Refugees Deutschland“ stellt den Schutzsuchenden hauptamtliche sowie hunderte ehrenamtliche Helfer zur Verfügung. Sie unterstützen bei der Unterbringung, bei Gängen zu Behörden und Ärzten und sie organisieren Übersetzer. Sie führen Spendenaktionen durch, vor allem aber bieten sie den Betroffenen individuelle Hilfe an. Damit aus dem Gefühl der Sicherheit heraus irgendwann auch das Gefühl erwächst, ein neues Zuhause gefunden zu haben.

Die Flüchtlingsunterkunft Krausestraße Hamburg.

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Tani Tani rutscht auf der beigen Leder-Chaiselongue hin und her und strahlt. „Das ist mein Lieblingsplatz“, sagt der Nigerianer. Das recht exklusive Sitzmöbel steht in einer Maisonettewohnung im Frankfurter Stadtteil Rödelheim und gehört, wie auch die Wohnung, Tom und Chris. Das Paar hat Tani 2021 aufgenommen, nachdem er in Wiesbaden versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Er wollte lieber verbluten als zurück nach Italien, ins Flüchtlingslager mit syrischen und afghanischen Männern, die den schwulen Schwarzen immer wieder verprügelten.

Das gute Leben endet mit dem Tag, als ein Wächter der Gated Community im gemeinsamen Schlafzimmer steht. „Wir waren auf einer Feier und hatten vergessen, die Tür zu verriegeln.“ Die Entdeckung ihrer Beziehung zwingt die beiden Männer zur sofortigen Flucht. Homosexualität ist in Nigeria seit 1901 verboten. Das Gesetz, das noch die britische Besatzungsmacht verabschiedet hatte, ist in der Gesellschaft so verankert, dass immer wieder schwule Männer auf der Straße zu Tode geprügelt werden.

Laut dem Dublin-III-Abkommen ist Italien für die Flüchtlinge zuständig, die dort zum ersten Mal den Fuß auf EU-Boden setzen. Das tat Tani zusammen mit etwa 120 anderen Geflüchteten, als ihr Schlauchboot an der italienischen Küste anlandete. Tani, der eigentlich Tanimola heißt, stammt aus einem 200-Seelen-Dorf im westafrikanischen Nigeria. Als er zehn Jahre alt ist, verunglücken sein Vater und seine Mutter mit dem Auto tödlich. Als ältester Sohn hätte Tani in der Familie den Platz seines Vaters übernehmen sollen. Doch die Zweitfrau setzt den Jungen vor die Tür. Tani lebt fortan auf der Straße und hält sich mit Haareschneiden über Wasser. Der Großbauer, für den Tanis Vater arbeitete, findet den Jungen schließlich und nimmt ihn mit in sein komfortables Haus in einer Gated Community. Dort wächst Tani zum jungen Mann heran. Er fühlt sich geliebt und beschützt. „Der Großbauer hat sich dann in mich verliebt und ich hatte auch Gefühle für ihn“, sagt Tani.

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Chris, Tani und Tom (v.l.): Zu einer Familie zusammengewachsen.


„Wir sind in Unterhosen zum Auto meines Freundes gerannt und nach Norden gefahren“, erzählt Tani. Von der Grenze aus wollen sie auf der Ladefläche eines Lkw weiter bis ans Mittelmeer. „Ich bin auf den Lkw aufgesprungen, als er anfuhr“, berichtet Tani. „Mein Freund ist aber abgerutscht. Ich habe Blut gesehen und etwas Weißes, das aus seinem Kopf kam.“ Tränen stehen ihm im Gesicht. „Ich konnte nichts machen. Der Lkw fuhr ja einfach weiter und als er irgendwann hielt und ich mit dem Fahrer sprechen konnte, waren wir zu weit, um umzudrehen.“ Tani gelangt allein auf der Ladefläche bis nach Algerien. Dort arbeitet er in einer Autowaschstraße, bis er genug Geld zusammen hat, um einen der zahlreichen Schleuser bezahlen zu können. Er schafft es schließlich über das Mittelmeer. Tani steigt in einen Zug nach Deutschland, auch um den Schlägen der anderen im italienischen Flüchtlingslager zu entgehen. Ein Ticket hat er nicht. Er lacht: „Ich bin schwarzgefahren!“ Eigentlich will er nach Köln, denn im Internet hat er gelesen, dass dort viele Schwule leben. Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schickt ihn nach Wiesbaden, die Landeshauptstadt Hessens. Das Land tut viel, um homosexuelle Geflüchtete zu schützen. Es gibt drei anonyme „Safe Places“ für Menschen, die wegen ihrer Sexualität im Heimatland verfolgt werden. Doch weil Hessen für Tani aufgrund des Dublin-Abkommens nicht zuständig ist, will ihn die Polizei mitnehmen und wieder nach Italien zurückschicken. Tani rammt sich ein Messer in den Bauch.

Der verletzte Mann kommt zunächst in eine Wiesbadener Klinik und dann in die Psychiatrie. Die Angst vor der Polizei bleibt. Sie ist so groß, dass Tani nicht mehr schlafen kann. Darum wandert er jede Nacht durch die Stadt. Morgens kehrt er zurück in die Unterkunft, wäscht sich und legt sich aufs Bett. Eine sichere Bleibe ist das nicht. Helfer in Wiesbaden vermitteln den damals 32-Jährigen dann an ihre Freunde Tom und Chris in Frankfurt. Dort, so ihre Hoffnung, würde ihn die Polizei nicht vermuten. Ein freies Zimmer, das normalerweise an Messegäste vermietet wird, wird Tanis erstes Zuhause in Europa – für mindestens 18 Monate. Denn laut dem Dublin-III-Abkommen fällt ein Geflüchteter, der belegen kann, dass er eine bestimmte Zeit in einem Drittland verbracht hat, in die Zuständigkeit dieses Drittlands. Anderthalb Jahre verbringt Tani in Frankfurt und wächst mit Tom und Chris zu einer kleinen Familie zusammen. Sie zahlen ihm Deutschkurse an der Frankfurter Goethe-Uni, sodass er schließlich den Hauptschulabschluss nachmacht. Nach den 18 Monaten in Frankfurt kann Tani einen Asylantrag in Deutschland stellen, der relativ schnell bewilligt wird. Kürzlich hat er eine Ausbildung als Altenpfleger begonnen. Bei unserem Gespräch fragt er, zu welcher Altersvorsorge ich ihm raten würde. Tani scheint endgültig in Deutschland angekommen zu sein.

„Das ist mein Lieblingsplatz.“

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Nour Es ist die teuerste Reise im Leben von Nour. Rund 15.000 Dollar muss sie bezahlen, um nach Deutschland zu kommen. Die Reise endet am Frankfurter Flughafen, wo der Schleuser die Syrerin absetzt. Im Gespräch mit der 43-Jährigen wird schnell klar: Hier passen die vorgefassten Meinungen über Geflüchtete nicht. Es ist nicht die Rede von Schlauchbooten auf dem Mittelmeer oder Armut und Elend. Nour gehört zur syrischen Oberschicht.

Als Nour 25 Jahre alt ist, zwingen die Eltern sie zur Heirat. Während der vier Jahre, die sie mit ihrem Ehemann zusammen ist, hat sie ein Verhältnis mit einer Frau. „Mein Mann war ein bisschen wie ein kleiner Hund. Er lief mir immer hinterher. Er war sehr, sehr reich und hat mich wirklich geliebt.“ Nour lächelt: „Er wusste, dass ich auf Frauen stehe, aber er hatte kein Problem damit.“

Geboren im syrischen Homs, zieht sie mit zwei Jahren zusammen mit der Familie nach Kuweit. „Unser Leben war exzellent, ich hatte eine wunderbare Kindheit.“ Nour schließt die Highschool ab und geht dann nach Syrien, um dort zu studieren. Nach ihren Abschluss beginnt sie mit dem Reisen. Am liebsten war sie im Libanon. „Dort sind die Menschen gegenüber der LGBT-Community sehr aufgeschlossen.“

Als Nour ihre Homosexualität vor den Eltern öffentlich macht, weil sie sich scheiden lassen will, ändert sich die Situation. Ihre Eltern blocken Nours Konto und nehmen ihre Papiere an sich. Sie versuchen, sie zuhause einzusperren. „Jeden Tag Geschrei und Schläge. Sie überprüften mein Handy. Ich durfte weder Frauen noch Männer treffen. Sie wurden wie Monster zu mir. Meine ganze Familie waren plötzlich andere Menschen.“ Auch die Freundin trennt sich von ihr.

Dass Nour Frauen anziehend findet, weiß sie bereits sehr früh. „Das war auch meiner Familie irgendwie klar. Aber sie schoben das in ihren Köpfen beiseite, suchten trotzdem einen Ehemann für mich. Seit ich 20 Jahre alt war, kamen Eltern zu uns nach Hause und präsentierten uns ihre Söhne.“ Die Kriterien für die Wahl des künftigen Ehemanns waren dabei sehr einfach: „Er musste reich sein und eine gute Bildung haben“, erklärt Nour, „Es musste zwar auch religiös passen, aber vor allem ging es ums Geld.“

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Es gelingt Nour, nach Dubai zu entkommen. Das Geld dafür hat sie vorher gespart und versteckt. „Zunächst habe ich in einer WG gelebt. Wir waren 15 Mädchen in einer Wohnung, zu fünft oder zu sechst in einem Zimmer.“ Der Schlafplatz kostet rund 200 Euro. „15 mal 200 Euro Miete waren natürlich für den Vermieter ein gutes Geschäft.“


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Neun Jahre lang arbeitet sie für Hyundai in Dubai. Irgendwann kann sie sich eine eigene Wohnung leisten. „Das war die beste Zeit meines Lebens. Ich hatte eine schöne Wohnung, ein teures Auto und ich habe beim Einkaufen nie auf den Preis schauen müssen.“ Ihr Visum muss allerdings jedes Jahr erneuert werden und ihr Chef setzt sie dabei unter Druck. Sie soll dem muslimischen Frauenbild entsprechen. „Er war sehr religiös und ich nicht. Er ahnte auch, dass ich lesbisch bin. Deshalb wollte er mich loswerden und verlängerte meinen Vertrag schließlich nicht mehr. Ohne Arbeit müssen Ausländer Dubai nach wenigen Wochen verlassen. Nach Syrien konnte ich nicht zurück. Ich habe dort zu viel Schlimmes erlebt.“ Zudem hat sie inzwischen eine Partnerin gefunden, „und wir wollten heiraten. Also beschlossen wir, nach Deutschland zu gehen.“

„Ich bin in meinem Leben oft genug umgezogen.“

Kurz vor dem geplanten Fluchttermin trennt sich die Freundin von ihr. Nour muss nun alleine los. „Meine Familie hat im Syrienkrieg alles verloren. Ihnen wurden die Wohnungen genommen, mein Vater war ohne Arbeit und meine Mutter bekam Krebs. Also habe ich mein ganzes Geld, das ich in Dubai verdient hatte, der Familie gegeben.“ Die letzten 15.000 Dollar behält sie für den Schleuser. „Am Flughafen ging ich sofort zur Polizei.“ Bei der Anhörung am Flughafen erzählt sie, dass sie lesbisch ist. „Dann folgte eine unwürdige Untersuchung aller meiner Körperöffnungen. Ich wollte schreien. Das war so schlimm, ich werde das nie vergessen!“

Trotzdem bereut Nour die Entscheidung nicht. „Deutschland war meine erste Wahl. Ich mag die Deutschen. Sie sind ehrliche, gute Menschen.“ Inzwischen arbeitet sie in der Automobilindustrie. Sie hat auch eine kleine Zweizimmerwohnung in einem Wiesbadener Vorort gefunden. Die Einrichtung ist bescheiden: ein Sofa, ein Sessel und ein Bett, aber viele Bilder aus Deutschland und von ihrer Familie. Und natürlich ihre Hanteln, mit denen sie täglich trainiert. „Ich fühle mich hier in Wiesbaden zuhause und ich will nicht mehr wegziehen. Ich bin in meinem Leben oft genug umgezogen.“

„Ich mag die Deutschen. Sie sind ehrliche, gute Menschen.“ 70


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IZ 30_JUBILÄUMSAUSGABE


Tarlan „Ich habe mich bestimmt schon für über 200 Wohnungen beworben“, sagt Tarlan. „Die letzten habe ich mir gar nicht mehr angeschaut und der Maklerin einfach nur meine Unterlagen in die Hand gedrückt. Ich würde alles nehmen.“ Seit gut drei Jahren wohnt der Aserbaidschaner in einer privaten Flüchtlingsunterkunft in Niedernhausen. Dort lebt er in einem rund neun Quadratmeter großen Zimmer. Küche und Bad teilt er sich mit allen anderen auf der Etage. „Es ist sehr sauber hier. Täglich kommt ein Reinigungsunternehmen. Nur die Toilettentür lässt sich seit Monaten nicht abschließen. Da gibt es immer mal Überraschungsbesuch“, meint Tarlan.

In Baku studiert Tarlan Management und Marketing. Kurz nach dem Abschluss als Master erfahren seine Eltern durch die Polizei von der Homosexualität ihres Sohnes. Daraufhin schließen sie ihn zuhause ein – und wollen ihn zur Heirat mit einer Frau zwingen. „Natürlich wurde ich von meinem Vater geschlagen“, sagt er. „Aber das war ich schon seit der Kindheit gewohnt.“

Der 33-Jährige stammt aus Baku und kam vor gut fünf Jahren nach Deutschland. Bis zu seinem achten Lebensjahr lebten seine Eltern mit ihren zwei Kindern in der Wohnung der Oma. „Das war eine Vierzimmerwohnung. Wir bekamen für uns zusammen allerdings nur ein Zimmer, Küche und etwas Flur. Oma hatte drei Zimmer. Ihr gefiel es nicht, dass meine Mutter und mein Vater verheiratet sind. Sonst hätte sie uns vielleicht mehr Platz gegeben.“

„Bald werde ich Sandalen mit Socken tragen und Schweinshaxe essen.“

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Tarlan ist damals mit einem Mann liiert. Das Paar entscheidet sich 2018 dazu, gemeinsam aus dem Land zu fliehen. „Nach Deutschland wollten wir, weil meine Tante in Bayern wohnt. Ich war ganz sicher, dass sie mich unterstützen würde. Sie ist ein liberaler Mensch.“ Tarlans Mutter gibt ihrem Sohn das Geld für die Flucht. „Sie liebt mich, aber sie hatte Angst, dass mein Vater oder mein Onkel mir etwas antun würden.“ Mit dem Zug geht es über Russland und Weißrussland nach Deutschland.

Schließlich findet Tarlan einen Job bei der Post am Frankfurter Flughafen. Nach gut einem Jahr schlägt ihn sein Vorgesetzter für eine Beförderung vor. „Jetzt bin ich Teamkoordinator – und Master in Marketing und Management“, lacht Tarlan. Wie viele andere Einwanderer aus Ländern, deren Abschlüsse hierzulande nicht anerkannt werden, ist er für den Job in Deutschland überqualifiziert. Beschweren will er sich trotzdem nicht, er verdient ein durchaus ansehnliches Gehalt.

Statt bei der Tante wohnen zu können, schickt sie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jedoch ins Taunusstädtchen Bad Schwalbach. „Das war eine Katastrophe, weil wir in einem Raum mit Iranern und Afghanen untergebracht waren“, sagt Tarlan. „Wir bekamen zwar keine Prügel, obwohl sie wussten, dass wir schwul sind. Sie wollten uns allerdings zum Sex mit ihnen zwingen.“ Nach einigen Monaten in der Gemeinschaftsunterkunft verliert Tarlan seinen Partner. „Er hat einen anderen Mann gefunden und lebt jetzt mit ihm zusammen.“

Inzwischen hat Tarlan die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. „Dann werde ich auch Sandalen mit Socken tragen und Schweinshaxe essen“, schmunzelt er. Vorher möchte er aber aus dem Flüchtlingsheim ausziehen. Seit über einem Jahr bewirbt er sich deshalb auf Wohnungsanzeigen im Rhein-Main-Gebiet.

Tarlan landet im nächsten Flüchtlingsheim, in Niedernhausen, rund 30 km entfernt von Wiesbaden. Weil er neben seiner Muttersprache und Deutsch auch Türkisch und Russisch spricht, kann er andere Geflüchtete bei Behördengängen unterstützen. Als Dank dafür erhält er ein Zimmer für sich allein. „Normalerweise sollten drei Leute in dem kleinen Raum wohnen.“ Ein Zuhause ist es dennoch über die Jahre nicht geworden: „Es ist okay hier, aber nicht mehr.“

Ende August haben die vielen Bewerbungen endlich Erfolg. Er bekommt den Zuschlag für eine kleine Zweizimmerwohnung in der Frankfurter City für eine Miete von 850 Euro kalt. Das Erdgeschoss teilen sich eine Dönerbude und ein Sexshop. „Das ist mir echt egal“, sagt er. „Hauptsache eine eigene Wohnung.“

„Ich habe mich bestimmt schon für über 200 Wohnungen beworben.“

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Meri Meri, die 32jährige Armenierin, empfängt uns in einer Zweizimmerwohnung in einem Wiesbadener Wohnblock. Die Wände sind vollgehängt mit Regenbogenfahnen, Bildern aus ihrer Heimat und Meris selbstgemachten Werken. Meri integriert aus Ton modellierte weibliche Geschlechtsorgane in ihre Bilder. „Am besten fühle ich mich dort, wo ich malen kann, wo ich ganz alleine bin, wenn ich das will“, lächelt Meri. Als wir über ihre Flucht reden, verschwindet die Freude. Hektisch zündet sie sich eine Zigarette an. Geboren ist Meri in Armeniens Hauptstadt Eriwan. Sie studiert Zahnmedizin, 2017, auf halber Strecke zum MasterAbschluss, muss sie flüchten. Ein Jahr lang schwärmte sie damals schon für eine Kommilitonin. „Dann habe ich es ihr gestanden, aber das war nicht so klug. Sie hat es an der Uni weitererzählt und meine Kommilitonen sind mir gegenüber sehr aggressiv geworden.“ Meri schaut aus dem Fenster. „Ich bin sehr froh, dass das inzwischen so weit weg ist, dass ich darüber reden kann.“ Meri weiß, dass sie in ihrer Heimat keine Zukunft mehr hat. Um anderswo leben und Geld verdienen zu können, beschließt sie, als Au-pair nach Deutschland zu gehen. „Asyl war für mich eigentlich nur die letzte Option.“ Bei einer Familie in Solingen findet Meri eine Anstellung. Doch es kommt zum Streit, hauptsächlich wegen des Rauchens, sagt Meri. „Ich wusste nicht, dass das in der Familie verboten war. Die Familie fuhr in die Osterferien und sagte mir, dass ich verschwunden sein soll, wenn sie wiederkommen.“

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Letztlich bleibt ihr doch nur der Asylantrag – und eine jahrelange Odyssee auf der Suche nach einem Zuhause. „Ich kannte in Deutschland nur einen einzigen Menschen. Der lebte in Glückstadt, dort bin ich dann hingefahren und habe den Asylantrag gestellt.“ Aus dem schleswig-holsteinischen Glückstadt wird Meri von den Behörden weiter nach Trier geschickt – eine Begründung für die Reise durch die halbe Republik habe sie nicht bekommen. Drei weitere Stationen in Rheinland-Pfalz folgen, bis sie nach einigen Wochen in einer Unterkunft in Mainz landet. Dort bringen sie Meri mit drei anderen Armenierinnen in einem Zimmer unter. Das ist üblich und soll dazu beitragen, dass sich die Geflüchteten über die Traumata der Flucht austauschen können. Doch unter den Landsleuten spricht sich schnell der Grund für Meris Flucht herum. „Man merkt das unter Armeniern einfach, wenn jemand anders ist. Da hat es schon genügt, dass ich rauche. Mädchen rauchen nicht.“ Auf dem Weg zum Speisesaal wird sie bespuckt. „Es hat mir das Gefühl gegeben, als sei ich immer noch in Armenien“, sagt Meri. „Das hat mich psychisch sehr belastet.“


„Ich fühle mich hier schon sehr, sehr wohl.“ Immerhin bekommt sie in Mainz einen Ausbildungsplatz als zahmedi zinische Fachangestellte, die Ausbildung kann aber wegen der CovidPandemie nicht fortgesetzt werden. Im hessischen Wiesbaden findet Meri eine neue Stelle. Der Umzug ins benachbarte Bundesland hat sich gelohnt: Anfang August schließt sie ihre Ausbildung mit der Note „gut” ab.

Mit ihrer Aufenthaltserlaubnis in der Hand feiert Meri in der hessischen Landeshauptstadt dann ihr zweites Coming-out. Auf dem Christopher Street Day steht sie als Vertreterin der Rainbow Refugees auf der Bühne und organisiert einen Stammtisch für homosexuelle Geflüchtete in Wiesbaden. Stolz zeigt sie ihre Regenbogenfahne, auf der alle ihre Freundinnen und Freunde unterschrieben haben. „Die nehme ich auf jeden CSD mit“, sagt sie. „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr nachher auch darauf unterschreiben.“ In Wiesbaden und Mainz lernte Meri Menschen kennen, die ihre sexuelle Identität weder bedrohlich noch abstoßend empfinden. Schließlich erhält sie eine Wohnung zur Untermiete. Mit einem richtigen Vertrag. Selbst mitgebracht hat sie nur ein kaputtes Bett und einen gemütlichen Sessel, Schrank und Schreibtisch kommen später dazu. „Die sind aber auch kaputt, weil ich die selbst zusammengebastelt habe“, berichtet Meri. Ganz hat sie das Ziel, ein neues Zuhause zu finden, noch nicht erreicht. „Ich bin immer noch unterwegs zu dem Ort, an dem ich einmal wohnen möchte“, sagt Meri. „Aber ich fühle mich hier schon sehr, sehr wohl.“

„Mädchen rauchen nicht.“

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Vor den Fenstern der Düsseldorfer Altbauwohnung von Xhino und seinem Ehemann Ray tobt sich ein Sommergewitter aus. Die beiden jungen Männer stammen aus Albanien und haben sich dort beim Studium zum Geologie-Ingenieur kennengelernt. „Zunächst waren wir Freunde“, berichtet Xhino. Aus dem gemeinsamen Lernen wird mehr – sie verlieben sich ineinander, posten ihr Glück auf Facebook. Das ist ein Fehler, denn so werden die Kommilitonen auf die homosexuelle Beziehung aufmerksam. „Dann sind wir an der Uni beleidigt und geschlagen worden. Die Polizei hat uns nur ausgelacht, geholfen hat sie uns nicht.“ Als Rays Eltern die Blessuren in seinem Gesicht bemerken und den Grund für die Prügel erfahren, kommt es zum Bruch. Ray muss das Elternhaus verlassen, zieht zu Xhino, der bei seiner Tante lebt. „Sie hat uns unterstützt und uns auch das Geld für die Flucht gegeben“, erinnert sich Xhino. Ihr Ziel ist Köln, hier wollen sie ihr Studium in Deutschland fortsetzen. Am 17. August 2015 um Mitternacht, nach 40 Stunden Fahrt, hält der Bus schließlich am Hauptbahnhof. „Das Erste, was ich gesehen habe, war der riesige Dom, der Bahnhof und die vielen Busse. Das hat mir Angst gemacht, weil es so viel Trubel und eine so große Kirche in Albanien nicht gibt“, erzählt Ray. „Wir haben uns erst auch nicht getraut, mit Fremden zu reden, weil wir gehört hatten, dass wir wieder zurückgeschickt werden, wenn man uns erwischt.“

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Foto: Amin Khelghat

Xhino und Ray

Der Taxifahrer fährt sie zum nächsten Asylzentrum in Köln. Von dort geht es zum zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach Dortmund und von dort aus am selben Tag noch nach Düsseldorf. Ihre erste Unterkunft in Deutschland ist das Wohnheim im ehemaligen Finanzamt in der Roßstraße. „Da war es ganz okay. Es gab morgens und abends Toastbrot und mittags die Reste vom Vortag aus den Altenheimen“, erzählt Ray. „Ich habe in der Kleiderkammer des Flüchtlingsheims geholfen“, berichtet er weiter. „Eines Tages gab jemand Kleidung und Schuhe ab. Wir kamen ins Gespräch und er bot an, uns kostenlos die Haare zu schneiden.“ Daniel heißt der Besucher, er ist Friseur und sein Salon Kinky Cutters liegt nur wenige hundert Meter vom Wohnheim entfernt. Aus dem Haarschnitt wird eine Freundschaft. Als Xhino und Ray Übergriffe in der Unterkunft befürchten, bringt er die beiden mit Zustimmung der zuständigen Behörden in seiner Mansarde unter. Zwei Jahre leben sie dort. Das unbeheizte Zimmer unter dem Dach, das sie mit der Weihnachtsdeko für den Friseursalon teilen, ist der erste sichere Platz seit Beginn ihrer Flucht.


Um die beiden zu integrieren, bietet Daniel ihnen eine Ausbildung in seinem Salon an. „Dass wir die Erlaubnis für diese Ausbildung bekommen haben, war eigentlich ein organisatorischer Fehler der zuständigen Behörde.“ Denn kurze Zeit später wird ihnen mitgeteilt, dass sie abgeschoben werden sollen. Daniel startet mit einigen Freunden eine Spendenaktion, um im Abschiebeverfahren eine Anwältin bezahlen zu können. Die Abschiebung kann schließlich verhindert werden und Xhino bringt seine Ausbildung als Jahrgangsbester zu Ende, Ray als Zweitbester.

„Wir sind hier zuhause.“

„Die Polizei hat uns nicht geholfen.“

kommt eigenes dazu. Beide sind inzwischen an der Düsseldorfer Uni eingeschrieben. Xhino studiert Sozialwissenschaften, Ray Biologie. Er will später promovieren. „Wir sind hier zuhause“, sagt Xhino, „aber jetzt müssen wir dringend mit unserem Hund Gassi gehen!“ Das Gewitter hat sich längst verzogen. Der Himmel klart auf.

Foto: Amin Khelghat

Deutlich schwieriger gestaltet sich die Suche der beiden nach einer bezahlbaren Wohnung in der Landeshauptstadt. „Wir haben uns in der Mansarde zwar sicher gefühlt, aber es gab keine Küche und auch kein Bad. Nach zwei Jahren war klar, dass es so nicht weitergehen konnte.“ Nach Monaten erfolglosen Suchens wird in Daniels Haus eine Wohnung frei. Er kann die Altbauwohnung mieten und an Xhino und Ray als Untermieter weitergeben. Hier findet das Paar seine erste eigene Bleibe. „Die Möbel wurden uns anfangs alle geschenkt, auch die Küche“, sagt Ray. Nach und nach

Foto: Amin Khelghat

Mittlerweile sind beide in Düsseldorf heimisch geworden. Die Ausbildung machte sich vor allen Dingen bei den Sprachkenntnissen äußerst positiv bemerkbar. „Nirgendwo kann man besser eine Sprache lernen als in einem Friseursalon. Man muss ja den ganzen Tag mit den Kund:innen reden“, erklärt Xhino. Auch miteinander sprechen sie nur deutsch. „Aber wenn wir streiten, dann auf Albanisch“, lacht Ray. Mittlerweile sind sie verheiratet.

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Warum dieses Magazin nicht nachhaltig ist Ein Klimatagebuch von IZ-Redakteur Ulrich Schüppler

Bild: iStock.com / MrJub, Bearb.: Markus Völcker

Die Idee für diese Reportage klang einfach und einleuchtend: Schreibe darüber, wie unser Jubiläumsmagazin klimaneutral werden könnte. Doch es stellte sich heraus, dass der Weg voller Hürden ist. Sie reichen von einer unzureichenden Datenbasis über falsche Kompensationsversprechen bis hin zu viel zu kurz greifenden Nachhaltigkeitsstrategien. Wir stellen fest, unsere Ziele sind nicht ambitioniert genug und ihre Erreichung wird noch lange dauern.

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Text | Ulrich Schüppler

Dezember 2022

Januar 2023

Na, das wird Spaß machen!

Alles Betrüger

Ich sitze auf meinem Sofa und lausche Hank Green. Nein, keinem Musiker. Green ist ein Wissenschafts-Nerd mit Hornbrille und war schon Influencer, als dieses Wort in Deutschland noch unbekannt war. Mit jugendlicher Frische, trotz seiner 42 Jahre, erklärt er auf Youtube-Kanälen wie SciShow wissenschaftliche Themen so, dass auch ein technischer Laie wie ich sie versteht. Zum Beispiel den Klimawandel und was wir dagegen tun können. Weil er dabei eine unbändig gute Laune versprüht, dient er mir nicht nur als Erklärbär, sondern hellt meine Stimmung auf. Die ist nämlich nicht gut.

Ich habe zugestimmt. Dem Vorschlag, meine ich. Ich soll herauskriegen, wie wir aus unseren Jubiläumsmagazin ein nachhaltiges Produkt machen könnten. Mit nachhaltig, darauf einige ich mich mit unserer Chefredakteurin Brigitte, ist CO2-neutral gemeint. Ich muss das nicht allein tun, ich darf eine Arbeitsgruppe gründen. Die Ergebnisse soll ich fürs Jubiläumsmagazin dokumentieren.

Denn tags zuvor habe ich auf einem Panel von Matrics mitdiskutiert, der Nachwuchssparte des Bewerterverbands RICS. Es ging um Nachhaltigkeit in der Immobilienwirtschaft und darum, wie sie sich finanzieren lässt. Mauricio Vargas, Finanzexperte der Umweltorganisation Greenpeace, meinte dazu, dass der Staat einen CO2-Preis erheben müsste, der den Schaden der Emissionen realistisch abbildet. Dann hätten alle einen Anreiz, energieeffizienter zu werden, und die Politik wiederum hätte genug Geld, um den Klimaschutz zu fördern. Das klingt teuer und wohlstandsgefährdend. Und das dep primiert mich. „Wir könnten CO2 recyceln“, schlägt Hank Green vor. Echt, das geht? Naja, theoretisch. Es gibt Konzepte, um CO2 aus der Luft zu filtern, lerne ich. Dann ließe es sich durch chemische Prozesse in eine feste Form bringen und im Boden lagern. „Oder wir nutzen das CO2, indem wir neuen Kraftstoff daraus gewinnen, für Flugzeuge zum Beispiel.“ Und wenn es recyceltes CO2 wäre, würde kein im Erdöl gespeichertes CO2 zusätzlich freigesetzt – das wäre also klimaneutral. Natürlich hat die Sache einen Haken. „Diese Konzepte befinden sich in der Erprobungsphase“, sagt Green. Und CO2-neutral lassen sie sich nur dann umsetzen, wenn die für die CO2-Abscheidung benötigte, nicht unerhebliche Energiemenge selbst aus erneuerbaren Quellen stammt. Ich seufze. Ach Hank, ich hatte mir mehr von dir erhofft.

Die Titelgeschichte, die am 19. Januar in der Wochenzeitung Die Zeit erscheint, wird der Ausgangspunkt meiner Recherche. Die meisten Unternehmen weltweit, so lese ich, setzen statt auf CO2-Reduktion hauptsächlich auf Klimagaskompensation. Das bedeutet, sie bauen gar keine klimaschädlichen Prozesse ab, sondern bezahlen jemanden, der ihnen ein Zertifikat dafür ausstellt, dass zum Beispiel Bäume gepflanzt wurden. Doch viele dieser Bäume wären ohnehin gepflanzt worden, es wird also kein Gramm CO2 zusätzlich gebunden. Manchmal garantiert ein Zertifikat nur, dass Bäume stehen bleiben und weiterwachsen dürfen, statt abgeholzt zu werden. Geschieht das später trotzdem, ist die Auswirkung gleich null. Viele der Kompensationsanbieter rechnen den Effekt ihres Klimaschutzes schön – bis zu 90% ihrer Zertifi fik fi kate siind d lautt zweii Stud dien, aus denen der Artikel zitiert, wertlos. Alles Betrüger. Es muss doch anders gehen.

„Manchmal garantiert ein Zertifikat nur, dass Bäume stehen bleiben und weiterwachsen dürfen, statt abgeholzt zu werden.“

Mein Faible für Klimathemen ist in der Redaktion bekannt. Kurz vor Weihnachten 2023 raunt mir mein Kollege Thorsten mit verschwörerischer Miene zu: „Wir haben ein Jubiläumsthema für dich gefunden. Ich glaube, das wird dir Spaß machen!“ Ich bin mir nicht so sicher.

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Bild: iStock.com / HS3RUS, Bearb.: Markus Völcker

Februar 2023

Hochmotiviert Das Klimaprojekt findet rasch Mitstreiter im Verlag. Redaktionsassistentin Alex macht mit, ebenso Sebastian aus dem IZ-Research-Vertrieb und Claudia aus der Anzeigenabteilung. Vom Marketing stößt Lena dazu. Wir treffen uns zunächst alle zwei Wochen. Inge, Leiterin von IZ Research, erzählt mir von der Neuen Narrative. Das ist eine am Gemeinwohl orientierte Publikation im Verantwortungseigentum der Mitarbeitenden, die sich dem Thema neue Arbeitswelt verschrieben hat und ohne Chefredakteur oder Verleger auskommt. Wie ich bei so viel sozialem Anspruch nicht anders erwartet hätte, stellt regeneratives Wirtschaften eines der Ziele der Neuen Narrative dar.

„Denn mit der Umweltfreundlichkeit einzelner Produkte ist es nicht getan.“

Doch selbst die kompensiert ihren CO2-Ausstoß – allerdings nicht mit Zertifikatsjongleuren, sondern als Mitglied der Genossenschaft The Generation Forest. Diese pflanzt Bäume selbst im Regenwald in Panama, wo sie den größten Nutzen bringen. Erstens bildet der Regenwald die grüne Lunge des Weltklimas, zweitens bindet ein Baum in Panama durch die günstigeren Wachstumsbedingungen gut anderthalb Mal so viel CO2 wie einer in Deutschland. Ich bin hochmotiviert herauszukriegen, wie Klimaneutralität funktioniert.

Artensterben, von neuen Technologien und davon, dass sich alles ändern muss. Ob er damit den Menschen nicht Angst mache, will ich wissen. „Aber die Leute haben doch schon Angst, sogar Todesangst“, sagt Rifkin. Der Druck des Kapitals werde schon dafür sorgen, dass die Unternehmen sich in die richtige Richtung bewegen. Ein typischer Amerikaner, der im Angesicht eines prognostizierten Weltuntergangs superoptimistisch ist. Manchmal wünsche ich mir das von uns Deutschen.

März 2023

April 2023

Es geht um mehr als ESG

Daten, Daten, Daten

Unsere Arbeitsgruppe sammelt Ideen. Lena vom Marketing formuliert ihre größte Angst: „Bloß kein Greenwashing!“ Claudia meint zu Recht, dass wir das Magazin nicht isoliert betrachten dürfen. Schließlich ist es nur ein Teil der Aktivitäten, die zum Jubiläum stattfinden. Wir müssen zum Beispiel auch unser Sommerfest im Juli einbeziehen.

Sebastian und ich lassen uns von Aedifion-CEO Johannes Fütterer Optimierungsstrategien für Gebäude erklären. Das Kölner Proptech betreibt eine Softwarelösung für die technische Gebäudeausrüstung. Mit der auf künstlicher Intelligenz basierten Cloud-Plattform können Energieverbrauch und CO2-Emissionen von Gebäuden um bis zu 40% gesenkt werden. Die gut 2.000 qm Bürofläche, die wir als IZ haben, stellen laut Fütterer eine Größenordnung dar, bei der sich positive Effekte für Klima und für Kosten erzielen lassen – durch die Analyse des Betriebs.

Claudia erzählt, dass die Band Coldplay bei jedem Konzert Trimm-dichFahrräder und Hüpfmatten bereitstellt, mit denen die Fans in der Pause Strom für die Akkus generieren können, mit denen die Bühnentechnik betrieben wird. Wäre das nicht etwas für uns, den eigenen Strom erzeugen? Unser Projektfokus vergrößert sich deutlich. Denn mit der Umweltfreundlichkeit einzelner Produkte, das lerne ich von Jeremy Rifkin, ist es nicht getan. Der Ökonom hält die Keynote auf der Immobilienmesse Mipim in Cannes und hat alles andere als Lob für die Branche übrig. „Die gebaute Infrastruktur muss sich komplett verändern“, sagt er. Schließlich müsse sie den zunehmenden Wetterextremen standhalten. In dem Interview, das ich mit ihm führe, wird Rifkin noch deutlicher: „Es geht um viel mehr als ESG.“ Er spricht vom menschengemachten

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„Unsere smarte Plug-and-Play-Lösung erfasst diese Daten, identifiziert Fehlfunktionen und gibt klare Handlungsempfehlungen, um den Gebäudebetrieb effizienter und klimafreundlicher zu machen“, sagt Fütterer, der sichtlich für das Thema brennt. Aedifion braucht eine Menge Informationen von uns, wie Abrechnungen, Angaben über den Zustand der Heizung und der Klimageräte sowie über deren Einstellungen und die Wartungszyklen. Dazu die Lieferverträge mit Anbietern von Strom und Wärme. Auf Basis seiner Analyse kann Aedifion Empfehlungen für die richtigen Einstellungen der Geräte geben, ohne große Kosten. „Als zweiten Schritt erwägen wir die Integration von Sensoren zur Identifizierung von


SEIT 30 JAHREN TRENDSICHER

In 30 Jahren habt ihr über so einige Trends berichtet: Alle haben wir verfolgt, viele miterlebt, einige sogar selbst gesetzt – aber keinen verschlafen. Vielen Dank für 30 Jahre Qualitätsjournalismus. garbe-industrial.de


Mai 2023

Nachhaltigkeit als Lebensaufgabe Ineffizienzen, wie unnötig betriebsbereite Drucker oder offene Fenster“, erklärt uns Fütterer. „Im letzten Schritt klären wir gemeinsam, inwieweit bauliche Maßnahmen am Haus, beispielsweise eine Photovoltaikanlage auf dem Dach, sinnvoll sind.“ Doch erst einmal scheitern wir daran, Kontakt zum Hausverwalter herzustellen, der längere Zeit wegen Krankheit ausfällt. Eine Heizkostenabrechnung bekomme ich von unserer Verwaltung. In Papierform. Aber da die IZ im Lauf der Jahre immer neue Einheiten im Haus dazu gemietet hat und diese auf der Abrechnung alle einzeln auftauchen, ist das für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich scanne die Zahlen wenigstens mal ein und schicke sie an Aedifion. Bernhard Lang muss grinsen, als ich ihm erzähle, dass wir per Heimtrainer Strom erzeugen wollen. „Natürlich geht das, aber da müssen Sie lange strampeln.“ Lang vermietet sogenannte Energy-Bikes zu Simulationszwecken, an Schulen oder auf Messen. „Damit Ihnen eine Kaffeemaschine eine Tasse Espresso brüht, müssen Sie sieben Minuten in die Pedale treten“, rechnet er vor. Das reicht, um parallel bis zu zwölf Handyakkus zu laden. Wir überlegen, eines der Räder für unser Sommerfest zu mieten. Aber die lange Anfahrt des Dienstleisters Lang würde mehr CO2 ausstoßen, als wir auf dem Rad mit Muskelkraft an Ökostrom erzeugen können. Wir lassen es.

„Damit Ihnen eine Kaffeemaschine eine Tasse Espresso brüht, müssen Sie sieben Minuten in die Pedale treten.“

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Bild: iStock.com / RosLilly, Bearb.: Markus Völcker

Die Fahrradidee zeigt, dass es schwierig ist, sich den konkreten Nutzen von etwas vorzustellen. Tatsächlich könnten wir Energy-Bikes zum Laden von Akkus selbst basteln, Bauanleitungen dafür finde ich im Netz. Kosten: Rund 200 Euro Material plus ein eigenes Fahrrad. Eine anschlussfertige Heimtrainer-Version verkauft eine Firma in Thüringen für rund 1.000 Euro. Damit sich so ein Rad amortisiert, müsste ein IZ-Mitarbeiter die Arbeitszeit eines ganzen Jahres darauf verbringen. Beim derzeitigen deutschen Strommix könnte er damit rund 86 kg CO2 sparen. Das ist ungefähr so viel oder besser wenig, wie bei einer 500 km langen Autofahrt mit einem Mittelklassewagen anfällt.

Alex, Claudia und ich besuchen die Druckerei Lokay in Reinheim. Die fertigt alle unsere Sonderhefte und damit auch das Jubiläumsmagazin. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Druckerei, die in einem Gewerbegebiet liegt, schwer zu erreichen. Wir fahren daher zu dritt in einem Auto. Bei 118 Kilometern hin und zurück und rund 120 Gramm CO2-Ausstoß pro Kilometer verursacht der Ausflug für jeden von uns rund 4,7 kg CO2. Als Ralf Lokay die Firma Anfang der 90er Jahre von seinem Großvater übernahm, war sie eine ganz gewöhnliche Druckerei. Doch nach der Geburt seiner ersten Tochter machte Lokay sich Sorgen wegen Umweltgiften im Kinderzimmer und stellte den Betrieb um. „Es war ein Abenteuer, einen Hersteller zu finden, der lösungsmittelfreie Druckfarbe herstellt.“ Zuerst kam die Farbe, dann das Umweltpapier, dann der Umbau der Druckerei, inklusive Fenster, Wände, Dämmung und Lüftung. Für das nächste Projekt, eine Photovoltaikanlage auf dem Dach, fehlt noch die Genehmigung. „Aber die ändert nichts an unserer Ökobilanz, wir beziehen schon heute 100% grünen Strom“, sagt Lokay. Er macht das aus Überzeugung und hat massenhaft Umweltpreise gewonnen – und es rechnet sich auch. Denn trotz höherer Preise rennen ihm die Kunden die Bude ein, seit er nachhaltig arbeitet. Der Grund ist laut Lokay einfach: In Deutschland gebe es zwar mehrere tausend Druckereien. „Aber so konsequent wie ich machen das höchstens zehn bis 15.“ Nicht Prozent, wohlgemerkt, sondern absolut. Bem der CO2-Vermeidung kann Lokay nichts mehr verbessern, deshalb wendet er sich inzwischen der Kreislaufwirtschaft und der Gemeinwohlökonomie zu. Sich im Hauruckverfahren einen Ökoanstrich zu geben, hält er für aussichtslos. Für seinen Betrieb habe es 20 Jahre gedauert, um dorthin zu kommen, wo er jetzt stehe. Das CO2, das die Druckerei direkt und indirekt erzeugt – Fachleute sprechen von Scope 1 und Scope 2 –, hat Lokay von 2006 bis 2021 um 90% reduziert. Doch wenn er Scope 3 hinzurechnet, also alle CO2-Ausstöße seiner Lieferanten und Dienstleister, dann steigt die Gesamtbilanz um das Neunfache an. „Nur 4% aller deutschen Unternehmen berichten Scope 3 umfassend“, weiß der Druckereichef. Wegen oft unvollständiger Daten muss hier geschätzt werden. Zur Sicherheit kompensiert Lokay sein nicht weiter reduzierbares CO2 nicht einfach, sondern doppelt.


Unsere Jungs sind unterwegs – und bringen Blumen mit. Alles Gute zum 30. Jubiläum liebe IZ! Eure WISAG Facility Service – die Immobilien-Spezialisten.


Juni 2023

Es ist ein Marathon, kein Sprint Die jahrelangen Anstrengungen von Herrn Lokay beeindrucken uns. Zwar druckt die IZ ihre Magazine seit ein paar Jahren bei Lokay. Doch uns wird bewusst, dass es nicht ausreicht, nur die Auswirkungen unseres 30. Geburtstags auf unseren CO2-Fußabdruck zu berücksichtigen. Jetzt geht es bei unseren Nachforschungen also um den ganzen Verlag. Wie eine Klimaanalyse für ein Unternehmen aussieht, erfahre ich von Daniel Waschiloswki, Berater von Planted. Er stellt für die IZ-Veranstaltungstochter Heuer Dialog die Klimabilanz auf und kümmert sich um die Kompensation von deren CO2-Saldo. „Bei Scope 3 kommen Sie um Schätzungen nicht herum“, bestätigt Waschilowski. Das sei völlig legitim und international vom Standard des Greenhouse Gas Protocols gedeckt. Und er betont, dass, bevor über CO2-Reduktion oder gar Kompensation geredet werden kann, erst einmal die CO2-Verursacher identifiziert werden müssen. „Die größten CO2-Treiber in einem Dienstleistungsunternehmen sind Energie, Fuhrpark und Strom.“

Bild: iStock.com / Bangon Pitipong, Bearb. Markus Völcker

Mit Aussagen, dass dieses oder jenes Produkt klimaneutral sei, kann Waschilowski wenig anfangen. „Alles, was produziert wird, wirkt aufs Klima ein. Wir gehen mittlerweile weg vom Begriff klimaneutral und nutzen die Bezeichnung klimaaktiv.“ Zudem prüfe die EU-Kommission derzeit, inwieweit mit Begriffen wie klimaneutral noch geworben werden dürfe.

Klima

Alexander Masser, Inhaber von Masser Consult und Bruder von Sebastian, ist spezialisiert auf Corporate Social Responsibility und berät unter anderem Unternehmen aus der Automobilindustrie. Er erklärt mir, dass Klimaneutralität allein nicht besonders nachhaltig ist. Ein grünes Gewissen bringe wenig, wenn ein Teil der Wertschöpfung woanders auf der Welt durch Kinderarbeit stattfindet. Um eine echte Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln, empfiehlt Masser Werteworkshops. „Dabei spielen die Bedürfnisse aller Stakeholder eine Rolle, also von Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten“, sagt er. Die Ergebnisse können dann in konkrete Prozesse münden, die sich wiederum durch ISO-Normen zertifizieren lassen. Damit das Ganze auf festem Boden steht, müsse ein Großteil des Teams einbezogen werden und die Geschäftsleitung die nötigen Freiräume schaffen. Das alles braucht Zeit. „Veränderung ist ein Marathon“, sagt Masser. Ich habe mittlerweile die Leasingverträge für unsere IZ-Dienstwagen aus der Verwaltung erhalten. Von den 14 Pkws fahren drei elektrisch, zwei davon als Hybrid. Die durchschnittliche Laufleistung beträgt 20.000 Kilometer, was rund 2,4 Tonnen CO2 erzeugt. Unterstellt, dass zwei Drittel der Fahrten dienstlich motiviert sind, wären das rund 1,6 Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr. Zum Vergleich: Die Flugreisen, die für das Magazin angefallen sind – unter anderem nach Ägypten, Brasilien und Turkmenistan –, haben nach Angaben der Fluggesellschaften rund 3,1 Tonnen CO2 erzeugt. Um das innerhalb eines Jahres zu kompensieren, könnten wir von Grow my Tree für rund 430 Euro im Regenwald 140 Bäume pflanzen lassen. Doch das scheint eine Milchmädchenrechnung zu sein: Es gibt Studien, die zeigen, dass nachwachsender Regenwald bis zu zehn Jahre nach dem Wiederaufforsten durch verrottendes Restmaterial noch CO2 freisetzt, bevor er wieder welches binden kann. Es gilt als zwingend, zunächst so viel CO2 wie möglich zu sparen, bevor der unvermeidliche Rest kompensiert wird.

Juli 2023

„Alles, was produziert wird, wirkt aufs Klima ein. Wir gehen mittlerweile weg vom Begriff klimaneutral und nutzen die Bezeichnung klimaaktiv.“

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Der Klimawandel ist real Die Nachrichten über Wetterphänomene weltweit überschlagen sich: Waldbrände auf Rhodos und in Portugal, Überschwemmungen in Slowenien und China, Hitzetote in den USA und im Iran. Gab es diese Dichte an wetterbezogenen Katastrophenmeldungen schon immer oder ist meine Wahrnehmung durch unser Projekt geschärft? Der Juli in Deutschland endet mit 100 Liter Regen pro Quadratmeter, normal wären 78.


Glücklich

HaHaHa ppy

Birthday!

woHoHoHonen.

Eure 30 Jahre. Unsere über 70 Jahre. Macht 100% Leidenschaft für Immobilien. buwog.de


August 2023

September 2023

Ende einer Rundreise

Es bewegt sich was

Die Zeit, die ich zur Verfügung habe, nähert sich dem Ende und ich lande wieder beim Problem Greenwashing. Rechtsanwalt Christoph Crützen von Mayer Brown in Düsseldorf erklärt mir eine EU-Richtlinie, die den Umfang von sogenannten Green Claims regeln soll: „Heute herrscht bei Angaben zur Klimaneutralität eine Wildwest-Mentalität. Da werden CO2-Budgets innerhalb einer Produktionsstätte buchhalterisch zwischen einzelnen Produkten hin- und hergeschoben“, sagt er. So können Erzeugnisse grün gerechnet werden, die es gar nicht sind.

Sebastian hat endlich eine vollständige Nebenkostenabrechnung von unserer Hausverwaltung aufgetrieben. Und Herr Fütterer von Aedifion will uns bei unserer Reise zu mehr Klimafreundlichkeit weiter unterstützen. Er empfiehlt jedoch, die Einstellungsoptimierung unserer Heizungsanlage erst nach Ende der kommenden Heizperiode in Angriff zu nehmen. Also können wir nicht vor Frühjahr 2024 die CO2-Einsparmöglichkeiten in unseren Räumen überprüfen. Das ärgert uns, denn wir haben immer noch nichts Konkretes erreicht. Gut ist aber: Wir und alle Abteilungen, die involviert waren, sind deutlich stärker für das Thema sensibilisiert.

Die Umsetzung dieser EU-Richtlinie zur Bekämpfung von GreenwashingKommunikation dürfte bis 2025 dauern, vermutet der Anwalt. Doch Unternehmen sollten sich schon Gedanken machen, denn die möglichen Verpflichtungen gelten rückwirkend, während sich die Bewertungskriterien für bereits getroffene Aussagen verändern können – ein klassisches Dilemma. „Zu lösen ist das nur über eine Due Diligence durch Dritte, wie wir das im Bereich der Wirtschaftsprüfung kennen“, sagt Crützen. Influencer Hank Green hat Lymphknotenkrebs und trägt wegen seiner Chemotherapie jetzt eine Basecap. Seiner guten Laune scheint das keinen Abbruch zu tun. Die tollste Klimanachricht der Woche, berichtet er, ist der Umstand, dass die Wassertemperatur der Weltmeere seit 2020 stärker gestiegen ist als von den Klimamodellen vorhergesehen. Wie bitte? Ja, denn dieser an sich negative Effekt liege daran, dass Frachtschiffe seit drei Jahren auf besonders schwefelhaltigen Treibstoff verzichtet hätten. Genau der aber habe durch seine Schwebstoffe zuvor zur lokalen Wolkenbildung beigetragen und, weil die Wolken Licht reflektieren, einen Kühlungseffekt bewirkt. „Positiv ist das, weil wir nun einen Hinweis haben, dass menschengemachte Effekte viel schneller aufs Klima wirken als angenommen. Das könnten wir auch in die andere Richtung nutzen.“ Prima, die Welt geht nicht unter!

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Bild: iStock.com / Ratsanai, Bearb.: Markus Völcker

Nach den EU-Plänen müssen Green Claims, wie eine behauptete Klimaneutralität, künftig wissenschaftlich nachprüfbar sein, zudem liegt die Beweislast dafür bei demjenigen, der den Claim in die Welt setzt. Bisher kann wettbewerbsrechtlich nur belangt werden, wer völlig falsche Dinge behauptet, wer also Recycling oder CO2-Kompensation vorgaukelt, ohne es überhaupt zu tun. „Künftig wird auch eine Rolle spielen, wie genau recycelt oder kompensiert wird. Übertriebene Aussagen können Wettbewerber oder Verbände dann zu kostenpflichtigen Abmahnungen veranlassen – oder aufsichtsrechtliche Folgen haben“, sagt Crützen.

Nun können wir die Zeit nutzen, um den Rest des Verlags und auch die Geschäftsführung in unsere Klimareise einzubinden.



The ze Maz Mitten in den Favelas von Rio de Janeiro, mit Blick auf den berühmten Zuckerhut, hat der britische Lebenskünstler Bob Nadkarni ein einzigartiges Gebäude errichtet: The Maze – das Labyrinth. Verziert mit bunten Mosaiken wurde es zur Heimat von Künstlern aus aller Welt. Doch seit Jahrzehnten tobt um das mehrstöckige Haus ein erbitterter Kampf.

Text | Thomas Porten

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Foto: Ian Cheibub


Foto: Thomas Porten

„Sie kamen mit Stoßtrupps. Männer mit Maschinenpistolen, Helmen und Schutzschilden. Wir wurden aus unserem eigenen Haus hinausgeworfen, ich, meine Frau und meine Kinder. Und das alles nur, weil der Schleimsack von nebenan behauptet hat, dass das Haus einsturzgefährdet ist.“ Bobs Gesicht wird immer röter. Sein Schnauzbart, eine buschige Hommage an Salvador Dalí, zittert. Wild gestikulierend schimpft der 79-jährige Brite immer lauter: „Und dann steht dieser Betrüger da und heuchelt, wie leid ihm das alles tut. Wie es sein Herz bricht, dass wir nun ausziehen müssen. Verdammt, was für ein Drecksack.“ 2019 war das, aber es war nur eine der Schlachten, die Bob hier austragen musste. „Hier“ meint Tavares Bastos, eine eher kleine Favela unter den insgesamt vielleicht 1.000 vernachlässigten Vierteln in Rio de Janeiro. Wie viele dieser unsystematisch bebauten und nur mangelhaft an die öffentliche Infrastruktur angeschlossenen Gebiete es wirklich gibt, kann niemand genau sagen. Die kleineren beherbergen nur mehrere Hundert Bewohner, die größeren mehr als 100.000. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 20% der knapp 14 Millionen Einwohner Rios in einer Favela leben. Was alle eint, ist, dass man dort zwar bauen, aber legal kein Grundstück kaufen kann.

Bob hat seinem Nachbarn eine Zeichnung gewidmet: „Burn In Rage Alelluyah!“

Inmitten der meist nur mit schmalen Ziegelsteinen errichteten und häufig unverputzt gelassenen einfachen Häuser steht das außergewöhnliche Refugium von Bob. Wie üblich in den überfüllten Ansiedlungen in den Hügeln rund um das Zentrum der brasilianischen Hauptstadt, stützt es sich zum Teil auf die darunterliegenden Häuser. Über drei Stockwerke reicht sein Bauwerk. Bunte Mosaiken im Inneren verkleiden Böden, Wände, sogar Tische und Stühle. Überwältigend ist der Blick: Er richtet sich direkt auf das Meer und den Pão de Açúcar, den weltbekannten Zuckerhut – eine Idylle wie auf einer Ansichtskarte. Doch hinter der Idylle muss Bob sich wehren gegen lokale Drogenbanden, korrupte Polizisten, habgierige Nachbarn und rücksichtslose Immobilienspekulanten.

In den 1960er Jahren ist die Welt von Bob noch in Ordnung. Da hängt er mit Charlie Watts von den Rolling Stones und Ray Davis von den Kinks ab. Mit Shirley, der Frau von Watts, besuchte er das Hornsey College of Arts. Geboren wird Bob 1943 in Swindon. Von seinem indischen Vater erhält er den Nachnamen Nadkarni. Und Prügel. „Er hat mich missbraucht. Er war ein Tyrann, die zentrale Dunkelheit in meinem Leben“, erzählt er heute. Erst auf der Kunstschule fühlt er sich frei. „Hier konnte alles passieren.“ Tatsächlich erhält er das Angebot, eine Professur an einer Hochschule anzunehmen. „Aber ich hasste Lehrer, genauso wie ich schon die Grundschule gehasst habe.“ Zufällig stolpert er über die Anzeige: „Wanted Sculptor for the film 2001 – a space odyssey“. Seine Bewerbung ist erfolgreich

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und nun hilft er Stanley Kubrick, die Raumschiffe für dessen Science-Fiction-Film zu konstruieren. „Es war ein phantastischer Job und wir haben unglaublich viel Geld verdient.“ Danach folgen andere Jobs in der Filmproduktion und für Tonstudios. So lernt er Jimmy Hendrix, Bob Dylan und Miles Davis kennen. Nach Brasilien verschlägt es Bob 1972 nur aus Zufall. „Meine Ehe zerbrach und ich nahm einfach das erste Schiff, das mich weg von England brachte.“ Statt in Ecuador muss das Schiff wegen eines Motorschadens in Brasilien Halt machen. „Es war Karneval, überall Halbnackte und Verkleidete. Hier wollte ich bleiben.“ Mehrere Monate geht dies gut. Dann greift ihn das Militär auf und wirft ihn aus dem Land.


Foto: Ian Cheibub

Der Hausherr mit Schnauzer. Im linken Auge Rio bei Nacht, im rechten Rio am Tag.

Aber er will zurück. Zunächst verdingt er sich im Nahen Osten als Kameramann. In Berlin organisiert er eine Performance, bei der Paaren, die hinter einer Leinwand Sex hatten, der Puls gemessen wurde. „Wir hatten eine lange Schlange von Freiwilligen.“ Währenddessen lernt er Portugiesisch, berichtet für NBC über die Revolution in Portugal und kann dann endlich 1979 als internationaler Korrespondent für United Press International zurück nach Brasilien. Dort be-

zieht er ein Haus an der Copacabana. Für die Favelas interessiert er sich kaum. Das ändert sich zwei Jahre später, als seine Haushälterin erkrankt und er sie nach Hause bringt, hoch auf einen Hügel über Rio. „Ich öffnete das Fenster und sagte: Wow! Was für ein Ausblick!“ Aus dem staunenden „Wow“ wird ein Plan: „Hier werde ich mein Studio und eine Kunstgalerie bauen. Und wenn ich mit dem Filmen aufhöre, werde ich wieder mit dem Malen beginnen.“

Auf dem Hügel stehen nur wenige Gebäude. Eine verlassene Kaffeefarm, ein alter Kuhstall und ein paar Holzhütten. Einige Arbeiter mit ihren Familien haben sich angesiedelt, nachdem der vorherige Besitzer in sein Heimatland Portugal zurückgegangen war. „Als ich dorthin kam, lebten da ungefähr 400 Leute. Die Ortsansässigen fragten mich, den reichen Gringo, ob ich ihnen nicht ein Sozialzentrum bauen könnte. Und mein Studio dürfte ich dann darüber errichten.“

Foto: Ian Cheibub

Bob stürzt sich in das Projekt. „Ich bin einfach in die Bücherei und habe alles kopiert, was ich über Hausbau und Statik finden konnte.“ Die Arbeit ist mühsam. Zum Hügel hinauf wird die Rua Tavares Bastos immer enger, irgendwann können nur noch Mopeds fahren und schließlich passen selbst Fußgänger kaum hindurch. Die 50-KiloSäcke mit Zement und Sand schleppt er auf seinem Buckel nach oben, ebenso die Ziegelsteine. „Die Leute hielten mich für verrückt, weil ich so viel Material für dicke Mauern verschwendet und nicht so dünne Ziegelwände hochgezogen habe wie sie. Aber ich wollte höher bauen, bis ich ganz oben bin, wo das Licht ist.“

Blick von den Hügeln der Favela Tavares Bastos auf Innenstadt und Meer. 91


Fotos: Thomas Porten

Einen Bauplan hat er nicht. Er findet seine Inspiration in der malerischen Landschaft Rios. „In den hiesigen Wäldern lassen die Äste das Sonnenlicht auf unterschiedlichen Höhen hindurchscheinen, also wollte ich an einigen Stellen Oberlichter einsetzen. Weiter oben im Gebäude folgen asymmetrische Bögen, die die Form der Berge nachahmen. Die Wände sind geschwungen wie die Meeresbuchten.“ Das natürliche Chaos wird zum Bauprinzip. Das Grundstück gehört ihm nicht, denn das meiste Land in den Favelas steht in öffentlichem Eigentum und wird nicht verkauft. Wer darauf baut, handelt illegal. Trotzdem werden die Häuser in den Favelas gekauft und verkauft. Erst viele Jahre später unternimmt die Stadtregierung Schritte, um bestehende Häuser durch Grundbucheintragungen zu legalisieren. Die Bauarbeiten schreiten nur langsam voran. Drei Jahre nach Beginn heiratet er Stella und Mitte der 80er Jahre wird ihr Sohn Bruno in den Favelas geboren. Bob findet einen Job bei der BBC. Seine Frau, sie wohnt nicht auf den Hügeln, ist gegen den Plan, eine Bildergalerie zu eröffnen. „Wer soll denn in so eine Gegend kommen?“ Bob wischt alle Argumente beiseite, er will die Menschen aus den zwei Welten Rios – die da oben und die da unten – über sein Kunstprojekt vereinen. Die hohe Kriminalitätsrate in der Umgebung schreckt ihn nicht ab. „Die Gegend wurde von einer Drogengang kontrolliert“, erinnert er sich. „Aber sie haben mich immer mit Respekt behandelt. Vermutlich aus Angst, was passiert, wenn sie einem BBCKorrespondenten etwas antun.“ Hilfe von der Polizei kann er ohnehin nicht erwarten. „Wenn die hierhinkommen, dann nur zum Stehlen.“ Er selbst habe zwei von ihnen ans Messer geliefert, indem er sie bei Erpressungsversuchen und dem Eintreiben von Drogengeldern heimlich aufgezeichnete hatte. Bei der Drogengang stieß das zwar nicht gerade auf Gegenliebe, aber nachdem einer der jungen Männer, die er früher unterstützt hatte, zum Henker der Gang wurde, stand er unter besonderem Schutz. „Der letzte, der mich bedroht hat, wurde kurz danach mit 78 Einschusslöchern auf einer Müllhalde gefunden.“ So erzählte es Bob zumindest einem Journalisten des Magazins Vice. 92



Foto: Thomas Porten

Im Jahr 1997 eröffnet die Kunstgalerie als erste ihrer Art in einer Favela. Sie erhält den Namen The Maze – das Labyrinth. Dieser Name spiegelt nicht nur die verwinkelten Straßen in den Favelas und die komplexe Architektur des Gebäudes wider, sondern auch die vielen Wege, die Bob selbst gegangen ist, um bis hierher zu gelangen. Zur Eröffnung erscheint die lokale Politprominenz. Es wird sogar ein Film über das Gebäude gedreht, der bei einem nationalen Filmfestival einen Preis gewinnt. Mit der steigenden Bekanntheit gerät das Gebäude in den Fokus international tätiger Kreativer. Es werden Musikvideos gedreht, Telenovelas nutzen es als Drehort, es finden Fotoshootings für die Modebranche statt. „Shoot without being shot“ – unter diesem Slogan vermarktet Bob seinen Treffpunkt.

Bobs Privatleben schlägt dagegen wieder Haken. Die Ehe mit Stella zerbricht und er heiratet die wesentlich jüngere Malu. Im Jahr 2001 kommt Tochter Lucy zur Welt, gefolgt von seinem vierten Kind Eric zwei Jahre später. „Da dachte ich, verdammt, Du bist jetzt 60 Jahre alt. Es wird Zeit,

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Foto: Ian Cheibub

Die großen Bilder – hier eine ermordete Frau – hat Bob in früheren Jahren gemalt.

Trotz dieser ironischen Anspielung weiß auch der Brite, dass Tavares Bastos nicht vor einer Zunahme der Gewalt sicher ist. Andere Gangs aus benachbarten Vierteln könnten das vergleichsweise kleine Gebiet rücksichtslos übernehmen. Bei einer internationalen Pressekonferenz des Gouverneurs des Bundesstaats Rio de Janeiro, in der dieser seine Erfolge bei der Stabilisierung der Sicherheitslage feiert, kritisiert Bob deshalb lautstark die hohe Kriminalitätsrate. Im anschließenden Schlagabtausch präsentiert Bob einen Plan, nach dem in einem großen, leer stehenden Gebäude in seiner direkten Nachbarschaft eine Polizeistation der Bope entstehen könnte. Die Spezialeinheit, deren Emblem aus einem durchdolchten Totenschädel mit zwei Musketen besteht, gilt als äußerst brutal, aber nicht korrumpierbar. Der Gouverneur prüft den Plan und tatsächlich ziehen nach einiger Zeit 400 Mann der schwerbewaffneten Truppe in Bobs Nachbarschaft. Die Drogengangs verlassen Tavares Bastos, das Viertel beginnt zu erblühen und wird zu einem beliebten Wohnort.

Das verwinkelte Maze: Im Inneren mit Mosaiken geschmückt, die Außenfassade einfach verputzt.

Geld für Deine Familie zu verdienen.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Bob bereits die BBC verlassen und auch sein Produktionsstudio aufgegeben. „Ich habe mich dann entschieden, ein Bed & Breakfast zu eröffnen. Hier hingen sowieso ständig Leute rum, die nicht mehr weggehen wollten.“ 2005 geht es mit dem Übernachtungsangebot los. In den eher schlichten Zimmern finden etwa 30 Personen Platz. Ein Jahr später sind die deut-

schen Brüder und Jazzmusiker Wolfram und Lennart Goebel zu Gast, zusammen mit anderen Musikern. Es wird viel getrunken, gefeiert und musiziert. „Die erste Jazz-Nacht von vielen war im Grunde ein kompletter Unfall, aber ab da fanden sie regelmäßig statt.“ Bis zu 500 Besucher am Abend finden sich zu den Happenings ein. Bob selbst spielt Gitarre und singt, lernt ein paar Jahre später sogar Trompete. Das Magazin DownBeat zeichnet The Maze mehrfach als einen der besten Jazz-Orte weltweit aus.


Foto: Ian Cheibub

Foto: Thomas Porten

muss jetzt überall Notausgänge einbauen und Rampen für Rollstühle anlegen“ – eine unsinnige Investition angesichts des engen Zugangs in die Favela.

Obwohl der Zugang zum Maze so eng ist, musste eine Auffahrt für Rollstuhlfahrer gebaut werden.

Die Schikanen durch die Behörden gehen weiter. „Ich sollte einen Brandschutzplan von einem Spezialisten erstellen lassen. Das habe ich für viel Geld getan – aber nichts ist passiert. Warum? Weil ich im Formular eine Grundstücksnummer hätte eintragen sollen. Die gibt es aber nicht. Niemand hier hat eine.“ Anfang 2015 wird der Abriss des Gebäudes angeordnet. Bob fühlt sich verfolgt. „Die Fläche hier oben ist riesig, sie ist Milliarden wert. Man könnte dort eine kleine Stadt bauen und irgendjemand könnte sehr reich damit werden. Aber sie kommen nicht ran, weil der verdammte Gringo im Weg ist.“

Sein Sohn Bruno eröffnet ein kleines indisches Restaurant im Haus. Einmal die Woche wird aufgetischt. „Und dieses Lassi war einfach so verdammt gut. Besonders, wenn man etwas Cachaca hineinkippt.“ 2008 wird The Incredible Hulk mit Edward Norton in Rio gedreht und die Filmcrew kehrt bei Bob ein. Snoop Dogg und Pharrell Williams nehmen das Musikvideo für den Song „Beautiful“ dort auf. Verschiedene Shootings, u.a. für einen Pirellikalender, finden statt.

Tatsächlich intensiviert sich in dieser Zeit der Kampf um die Grundstücke. Rio hat nach der Fußball-WM auch den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2016 erhalten. Viele Baufirmen wittern das große Geschäft. Zwangsumsiedlungen sind keine Seltenheit, um den Bau von Sportstätten sowie angrenzende Luxusviertel zu ermöglichen. Entschädigungszahlungen sollen die Bevölkerung beruhigen, doch viel Geld gibt es nicht. 2016 kommt es zum Knall.

Er erhält eine lange Liste von baulichen Anforderungen, die er vor einer Wiedereröffnung erfüllen muss. Wegen der hohen Kosten startet Bob ein Crowdfunding-Projekt und bittet auf Facebook um Unterstützung, garniert mit einem Foto von ihm und Silvester Stallone: „Wir sind bereit, uns mit dem verrückten, eifersüchtigen Nachbarn auseinanderzusetzen. Lasst die Bösewichte nicht gewinnen!“ 57.000 britische Pfund, so seine Schätzung, müsse er einnehmen. „Ich

The Maze bleibt davon nicht verschont. Bob erhält im Jahr der WM von der Stadt die Anweisung, sein Gebäude zu schließen. „Ein Nachbar, der für die Stadt arbeitet, hatte uns denunziert. Wir würden mit Drogen handeln, hier gebe es Kinderarbeit, das Gebäude sei einsturzgefährdet und wir würden alle Bewohner gefährden.“ Von Bob zuvor eingereichte Architektur- und Ingenieurpläne, die die Sicherheit des Hauses bestätigten, sind plötzlich nicht mehr auffindbar.

Foto: Ian Cheibub

Zu diesem Zeitpunkt ist Tavares Bastos auf etwa 2.000 Einwohner angewachsen. Rio platzt aus allen Nähten. Und mit der Entscheidung, dass Brasilien 2014 die Fußball-Weltmeisterschaft austragen darf, richtet sich der Blick von Immobilienspekulanten zunehmend auf die Favelas in der Nähe der Innenstadt.

Mit der Gemäldegalerie begann der Bau von The Maze.

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Fotos: Thomas Porten

Eine ewige Baustelle: Seit Jahrzehnten wird am und im Maze gewerkelt.

In diesem Jahr wird die Präsidentin des Landes, Dilma Rousseff, ihres Amtes enthoben. Ihr wird die Verantwortung für zahlreiche Korruptionsskandale angelastet, in die sie selbst sowie Mitglieder ihrer Regierung verwickelt sind. Im Zentrum steht der halbstaatliche Ölkonzern Petrobas, der von zahlreichen großen Baufirmen geschmiert worden sein soll. In der Folge werden gegen Dutzende Politiker Ermittlungsverfahren wegen Korruption, Bestechung, Betrug und Geldwäsche eröffnet, fast 200 Personen landen im Gefängnis. Es ist eine schlechte Zeit für korrupte Beamte, aber eine gute für Bob: Man lässt ihn in Ruhe. „Die Politiker sind jetzt alle damit beschäftigt, sich vor dem Gefängnis zu verstecken“, freut er sich. Obwohl immer noch verboten, organisiert er wieder Jazz-Abende im Maze. Auch die Werbung für das Bed & Breakfast läuft von Neuem an. Sonntags serviert sein Sohn Curry und die Zeitschrift Vogue ist für ein Fotoshooting da. Überflüssige Baumaterialien, die bisher aus Platzgründen sein Atelier blockiert haben, kommen weg. Bob will wieder mit dem Malen beginnen. „Endlich habe ich mein Haus zurück. Das Leben ist großartig!“

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Und noch etwas geht voran: die Verkleidung eines großen Teils der Flächen mit bunten Mosaiken. Damit hat er 2016 begonnen, zunächst mit den Fußböden. Tausende zerbrochene Fliesenstückchen fügen sich in allen Farben zusammen. Fische schwimmen durch die Wellen. Käfer, Schlangen, Krebse und Tintenfische bevölkern die Wände. Sein Sohn Bruno wird als Koch mit indischem Turban verewigt und der Meister selbst thront halbnackt im Schneidersitz über einem kleinen Wasserbassin im Innenhof. Freiwillige aus verschiedensten Ländern helfen bei der Arbeit, im Gegenzug erhalten sie Bett und Frühstück. Bob ist mit sich und der Welt zufrieden. „The Maze ist der Ort, an dem wir alle die Wut und den Hass, die unser Leben verseuchen, verlieren und Frieden, Glück und Kreativität finden können“, schreibt er auf Facebook. Doch mit dem Frieden ist es bald vorbei. Im Mai 2019 ordnen die Behörden die Schließung von The Maze an. Der Nachbar hat sie geschmiert, vermutet Bob. Er legt Berufung ein, zunächst ergebnislos. Im Oktober wird der 76-jährige Bob samt seiner Familie „mit den Stoßtrupps“ aus dem Haus geführt und das Gebäude versiegelt. Sie finden bei Freunden Unterschlupf. „Meine beiden Kinder mussten auf dem Küchenboden schlafen. Meine Frau kauerte sich auf dem kleinen Sofa zusammen. Ich lag im einzigen Bett, weil ich die ganze Zeit krank war.“

Freiwillige Helfer arbeiten an den Mosaiken.

Bob kann kaum noch gehen. In den letzten Jahren musste er bereits mehrfach ins Krankenhaus, sein Kreislauf macht schlapp. Ihm geht die Luft aus, genauso wie das Geld. „Wir hatten zwar ein Dach über dem Kopf, aber kein Einkommen mehr.“ Eine weitere Crowdfundingaktion soll Abhilfe schaffen, um die geforderten Bauarbeiten zu ermöglichen und einen Anwalt zu bezahlen. Ein Richter hebt im Frühjahr 2020 den Räumungsbeschluss wieder auf, allerdings ohne konkreten Termin. Es gibt noch einen Haken: Für die Öffentlichkeit muss das Gebäude verschlossen bleiben, bis die geforderten Bauten erledigt sind. Das gestaltet sich mehr als schwierig während der Coronapandemie. Bobs Gesundheitszustand verschlechtert sich. Als vulnerable Person isoliert er sich im Maze. Malu kommt regelmäßig vorbei, bringt das Essen und wechselt die Verbände an seinem entzündeten Bein.


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Bob verbringt die einsamen Stunden damit, kleine Bilder zu malen. Er schreibt Limericks. Die „Save the Maze“-Kampagne spült bis Januar 2021 immerhin 24.000 Dollar in die Kasse. Mit diesem Geld werden die Ausgänge verbreitert und die Fluchtwege neu angelegt. Die mittlerweile fertige Rollstuhlrampe erhält nun noch eine Beleuchtung und ein riesiger Wassertank wird installiert. Auch in die Gutachten für Stadt und Feuerwehr sowie die Gerichtsverfahren fließt viel Geld.

Fotos: Thomas Porten

Wegen seiner Arthritis kann Bob nicht mehr Gitarre spielen, und weil die Lunge es nicht mehr schafft, musste er auch das Trompetespielen aufgeben. Am Jahresende verkündet dann Rios Bürgermeister Eduardo Paes höchstpersönlich, dass The Maze bald wieder öffnen darf. Allerdings nur als Museum. Kein Restaurant und kein Bed & Breakfast. Das schmälert die Einnahmen deutlich. 10 Reales, umgerechnet etwa 1,90 Euro, verlangt Bob zum Neustart im Mai 2022 als Eintritt. Seine Frau kümmert sich um die Führungen. „Ich bekomme ein wenig Geld von Freun-

den, so können wir im Moment überleben. Und ich selbst koste ja nur noch Medizin. Immerhin ist es ein verdammt guter Ort, wenn man schon das Haus nicht mehr verlassen kann.“ Die Beherbergung freiwilliger Helfer hat das Gericht immerhin erlaubt. Und so erscheinen nach und nach neue Mosaiken an den Wänden und Böden. Bis zum Frühjahr 2023 hatte The Maze bereits 15.000 Besucher angezogen, erzählt Bob. Doch das Restaurant und die Herberge fehlen. „Das hat dem Ort viel von seinem Leben genommen“, bedauert er. Dass das Gebäude mittlerweile von der Abrissliste gestrichen wurde, beruhigt ihn kaum. „Ich habe Alphabetisierungskurse eingerichtet. Ich habe ein Gemeindezentrum gebaut. Ich habe zwei Schulen gesponsert. Ich habe verschiedene Bereiche der Gesellschaft zusammengebracht und Diskriminierung abgebaut. Ich habe unsere Gemeinde auf die Landkarte gesetzt und das Aufblühen kleiner Unternehmen ermöglicht. Und das alles im Stillen! Während ich mein Leben als Künstler und Musiker, als Schriftsteller und als Schöpfer dieser Mega-Skulptur und des Wahrzeichens von Rio, The Maze, weiterführte und dabei die einzige sichere und waffenfreie Gemeinschaft in Rio gründete.“ Seine Enttäuschung ist so groß wie seine Wut. „Ich habe es wirklich satt, dass diese erbärmlichen Scheißkerle, die selbst nichts leisten, nicht aufgeben, sondern nur das genießen können, was sie anderen stehlen.“ Die jahrelangen Auseinandersetzungen sind nicht spurlos an Bob vorbeigegangen. Der 79-jährige ist des Kämpfens müde. „Ich habe nicht mehr viele Jahre“, erzählt er im Frühjahr 2023. „Aber ich wünsche mir so sehr, dass The Maze als ein ikonischer Ort überlebt. Weil es nichts Vergleichbares gibt. Es ist ein Ort, zu dem Menschen wie ich kommen, um sich zu verlieren und dann wieder selbst zu finden.“ Wenige Tage nach dem Interview stirbt Bob Nadkarni an multiplem Organversagen.

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Eine Stadt zieht um Text | Kristina Pezzei Fotos* | Kjell Törmä

Der Bergbau reißt Kiruna buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Die arktische Stadt im Norden Schwedens muss umziehen – und alles soll mit: Häuser, Krankenhaus, Bahnhof und Schulen werden niedergelegt und an anderer Stelle neu gebaut. *soweit nicht anders vermerkt

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Links Kräne, rechts Kräne, überall Schwerlaster, auf denen sich der Bauschutt türmt: Wer begreifen will, was in Kiruna los ist, muss zur Kirche hinaufstapfen. Das hölzerne Gotteshaus in markantem Rot thront auf einer Anhöhe über den Häusern der Stadt – oder dem, was von ihr übrig ist. Von dort nämlich schweift der Blick zwar in die Weiten Lapplands am Horizont, bis hin zu den Gebirgsausläufern des Kebnekaise. Die Nahaufnahme indes offenbart lärmumtostes Chaos. Auf der einen Seite werden nahezu täglich Häuserzeilen leergezogen, Bagger fressen sich in Holz und Beton, brechen den Asphalt ganzer Straßen auf. Am anderen, neuen Ende der Stadt wachsen in gleichem Takt Gebäudeblöcke in die Höhe: Was die Kräne im Westen einreißen, ziehen sie dort wieder hoch. Kiruna, diese gerade einmal 100 Jahre junge Stadt weit nördlich des Polarkreises, muss sich neu erfinden. Weil der Bergbau den Einwohnern buchstäblich den Boden unter den Füßen weggräbt, weichen hunderte Häuser, das komplette Zentrum mit Einkaufsmeile, Rathaus, Museen, Schulen und Krankenhaus, der Bahnhof, die Kirche samt Urnenhalle. Es handelt sich um eines der weltweit größten Umsiedlungsprojekte, und obwohl Bergbauunternehmen, Stadt und Baufirmen ein hohes Tempo vorlegen, muss es noch schneller gehen: Als im Frühsommer der Schnee schmolz, offenbarte er Risse in den Straßen, die gewaltiger waren als erhofft. Die alte Stadt droht aufzubrechen.

Der Bergbau dominiert die Stadt: Wie der Erzabbau in die Landschaft ­eingreift, verdeutlichen die Bodenverwerfungen am Fuß des Kiirunavaara, in dem die staatliche Gesellschaft LKAB seit Jahrzehnten Magnetit abbaut. Die ­geo­logischen Auswirkungen sind bis in die Siedlungen zu spüren.

„Widerstand gegen die Zwangsumsiedlung gab es kaum.“ Nina Eliasson

Für einige denkmalgeschützte und für die Stadtgeschichte bedeutende Häuser ist der Umzug wörtlich zu verstehen: Sie werden auf Lastwagen gehoben, weggefahren, abgesetzt und gesichert. Der größte Teil des in den 1960er Jahren hochgezogenen Stadtzentrums und der Punkthochhäuser am Stadtrand wird abgerissen, Bestandsschutz genießen lediglich einige höher gelegene Wohngebiete und ein Band aus Gewerbebetrieben, das zwischen Alt- und Neu-Kiruna liegt. Im Zentrum von „Nya Kiruna“ entstehen derweil Wohnungen für tausende Menschen, die umziehen oder in den kommenden Jahren in die Arktis ziehen sollen. Kiruna rechnet mit einer steigenden Einwohnerzahl, der Bergbau braucht Arbeitskräfte. Wenn die keine Wohnung finden, gerät das Unternehmen in Schwierigkeiten – und mit ihm die Stadt, denn ohne den Bergbau ist die 20.000-Einwohner-Gemeinde nichts. Mit ihm kann sie alles werden.

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Während gewöhnliche Häuser abgerissen werden, lässt die Bergbaugesellschaft bestimmte denkmalgeschützte Gebäude umziehen. Sie werden mit Bohlen gesichert, auf Lastwagen geladen und an sichere Orte gebracht. Dort lässt sie das Unternehmen sanieren, bevor die Bewohner wieder einziehen.

Im neuen Zentrum wachsen wöchentlich Häuser in die Höhe, auch um den zentralen Platz. Links prägt hier das dosenförmige Rathaus das Bild, in dessen Inneren offene Ebenen und Licht einen Kontrast zum strengen Äußeren schaffen sollen. Im Hintergrund überragt der Neubau der Scandic-Hotelkette das Verwaltungsgebäude.

Rathaus und Bibliothek zählten zu den ersten prägenden Gebäuden am neuen Marktplatz, direkt daneben überragt die Hotelkette Scandic das Ensemble mit einem weißen Turm, dessen Form entfernt an eine aufgerichtete Robbe erinnert. Dahinter wächst ein Viertel mit mehrstöckigen, verschachtelt stehenden Hochhäusern, über deren innenliegende Einkaufszeilen in den Erdgeschosszonen sich Wohnungen ziehen. Nach außen hin öffnen sich Restaurants und Cafés, vor denen mittags Bauarbeiter und Büroangestellte sitzen, während dahinter die Bagger warten. Noch ist nichts fertig, der gesamte Umzug soll bis 2035 dauern.

Widerstand gegen die Zwangsumsiedlung habe es kaum gegeben, erzählt Nina Eliasson, die bei der Stadtverwaltung für den Umzug verantwortlich ist. So gut wie jede und jeder in der Stadt hänge finanziell von dem Wirtschaftszweig ab. Der Fund seltener Erden im Januar 2023 hat die Zukunftsaussichten zusätzlich verbessert – er gilt als einer der größten in Europa seit jeher und ist ein Hoffnungsträger für eine Unabhängigkeit von Chinas Rohstoffen. Dazu komme, dass die meisten jungen Menschen ohnehin wegen ihrer Ausbildung wegzögen, sagt Eliasson. „Wenn sie zurückkehren, ziehen sie eben woanders hin.“ Eine junge Passantin in einer der Einkaufzeilen gibt sich gleichwohl nachdenklich. Es fehle ihr an Atmosphäre in der neuen Umgebung, sagt sie. Der 60er-Jahre-Charme in den alten Straßenzügen habe etwas Heimeliges an sich gehabt. Aber, und das ist immer wieder zu hören: „Was soll man schon machen?“

Einzig die Rentierzüchter, ein Berufsstand in samischer Hand, hatten vehement gegen die Umsiedlung protestiert. Die neuen Straßenverbindungen durchkreuzen die Weiderouten von Rentieren, außerdem geht Weidegrund verloren. Bergbaugesellschaft und Stadt argumentieren zwar, dass es immer noch genug Flächen gibt. Das schlechte Gewissen nagt trotzdem, nicht zuletzt angesichts des jahrzehntelang nachlässigen Umgangs mit der Minderheit. Gleichsam als Anerkennung der Urbevölkerung steht im Foyer des Rathauses ein menschengroßer samischer Schwibbogen aus Holz, geschwungen, verziert, ähnlich denen aus dem Erzgebirge. Schilder sind überall in vier Sprachen verfasst: Schwedisch, Finnland-Schwedisch, Finnisch und Samisch. Gerade läuft eine Diskussion darüber, ob und wie die neuen Straßennamen den samischen Bevölkerungsteil berücksichtigen können.

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In einer Zweizimmerwohnung im neuen Zentrum lebt seit ein paar Wochen Margot Sternlund. Die 63-Jährige war eine der ersten, die umgezogen sind. „Mir gefällt es“, sagt sie. Alles sei neu, frisch, anders als in dem 1960er-JahreBlock, in dem sie vorher in der alten Innenstadt gelebt hat. Der Grundriss ist offen gehalten mit leicht versetzten Wänden, die sich zu einem erhöhten Innengarten öffnen, einer Art großer Dachterrasse zwischen den Gebäudeblöcken. Während der zwei, drei verhältnismäßig warmen und schneefreien Monate kann sie nun in Ruhe und windgeschützt Sonnenstrahlen auf dem Balkon erhaschen, ohne zu dicht an ihre Nachbarn zu rücken. Sternlunds 34 Jahre alter Sohn hat die Gelegenheit genutzt, von zu Hause auszuziehen, und wohnt in einer Einzimmerwohnung im selben Gebäude.

Eine Stadt ist mehr als ihre Häuser: Auch Skulpturen und weitere Kunstwerke ziehen um. Die steinernen Männer stehen nun am neuen Bahnhof, der früh neu und abseits der Stadt gesetzt wurde. Inzwischen ist klar, dass er nochmals wird verlegt werden müssen. Ob das Kunstwerk wieder mitzieht, ist offen.

„Mir gefällt es, alles ist neu und frisch.“ Margot Sternlund

Nicht nur die neu gewonnene Privatheit genieße sie, sagt die Frau, schlank, sportlich, in dezentem Schick gekleidet. Auch die kurzen Wege zu Supermarkt und Geschäften seien praktisch, und dass sie dank der miteinander verbundenen Shoppingmeilen von Geschäft zu Geschäft bummeln könne, ohne sich jedes Mal aufs Neue in Mütze und Handschuhe mümmeln zu müssen. Eine echte Verbesserung der Lebensqualität. Die scheint sich auch für die Einzelhändler auszuzahlen. Um gut ein Fünftel sei der Umsatz seit dem Umzug gestiegen, berichten Buchhändlerin, Reformhausbetreiber und Bekleidungsverkäufer unisono. Die Stadt tut über ihr Wohnungsunternehmen ein Übriges, um die Zwangsumzüge schmackhaft zu machen. Zunächst zahlen Mieterinnen wie Sternlund den gleichen Quadratmeterpreis, etwa 90 schwedische Kronen (umgerechnet gut 7,50 Euro). Darin ist alles außer Strom enthalten. Stufenweise steigt die Miete dann um 25%. Zuziehende, die freiwillig oder von außerhalb kommen, zahlen mit 135 Kronen pro Quadratmeter deutlich mehr. Sparen können die Alteinwohner, wenn sie sich verkleinern, was angesichts besser geschnittener Wohnungen gut funktioniert. Sternlund wohnt nun auf 60 Quadratmetern und zahlt dafür 5200 Kronen im Monat, umgerechnet gut 450 Euro. Für den Umzug hat sie ein halbes Jahr die Miete erlassen bekommen.

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Wenn wir an 30 Jahre Immobilien Zeitung denken, freuen wir uns über guten Journalismus rund um den Immobilienmarkt, über gewissenhafte Recherchen und gutes Handwerk in Schrift und Bild. Wir tragen immer gerne etwas dazu bei – mit Innovativem und Effizientem, Digitalem und Nachhaltigem. So bündeln und koordinieren wir aktuell unser gesamtes nachhaltiges Serviceportfolio unter eco2solutions. Ziel ist die Dekarbonisierung von Bestandsimmobilien – als Ergebnis überzeugender Dienstleistungen. Es lohnt sich also immer der Blick aufs Detail.

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Faktisch bestimmt die staatliche LKAB Gestalt, Ablauf und Finanzierung. Der Unternehmensgründer Hjalmar Lundbohm war es, der die Siedlung Kiruna vor gut 100 Jahren entwarf, seine Erben bestimmen über deren Zukunft. Das Wohnhaus Lundbohms, des ersten Direktors der Bergbaugesellschaft, zog gleich zu Beginn der Umsiedlung per Lastwagen von seinem Standort in unmittelbarer Nähe des Bergbaus an den Fuß des Skihangs, auf als sicher geltenden Grund. Auch Hauseigentümern versüßt das Bergbauunternehmen LKAB den Verlust des Zuhauses: Es zahlt für eine Immobilie 25% über Marktwert. Das erhöhe die Akzeptanz, sagt Linus Nivå, der bei LKAB für den Umzug verantwortlich ist und selbst aus Kiruna stammt. Schließlich sei der Kaufmarkt in dieser arktischen Enklave anders als etwa im Großraum Stockholm nicht unbedingt angespannt.

„Wir zahlen 25% über dem Marktwert.“

Bagger, die Häuser abreißen, gehören in Kiruna zum Alltag. Mit dabei ist in der Regel auch Lärm ab früh morgens und bis in den Abend hinein, schweres Gerät auf den Straßen, hunderte Bauarbeiter, die in ihrer grellen Warnkleidung Straßen, Mittagsrestaurants und Unterkünfte bevölkern.

Linus Nivå

Bei der Organisation orientiert sich LKAB am prognostizierten Bedarf weiterer Tagebaue. Zuerst ließ das Unternehmen den Bahnhof verlegen, zu einer Zeit, als noch nicht klar war, wo das neue Zentrum genau liegen sollte. Die Entscheidung hat sich als mäßig gut erwiesen, der Bahnhof liegt nämlich im Moment exakt am falschen Ende, an die fünf Kilometer vom errichteten Stadtkern entfernt. Über kurz oder lang wird die Station noch einmal neu gebaut werden, wo genau und wer für die Infrastruktur zahlt, darüber verhandeln Stadt und Staat.

Die Häuser im alten Teil der Stadt sollen so schnell wie es geht abgerissen werden, wenn ihre Bewohner ausgezogen sind. Nicht nur, um den Bauschutt wenn möglich als Auffüllmaterial für neue Straßen zu nehmen. Die Geisterhäuser werden auch rasch zum hässlichen Gesicht des Wandels, eine Zumutung für alle, die noch dort wohnen oder arbeiten. Aus den Brachen entstehen Grünflächen. Das Bergbauunternehmen und die Kommune arbeiten bei Planung und Umsetzung Hand in Hand – so jedenfalls die offizielle Version.

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Hinter vorgehaltener Hand heißt es, es knirsche ziemlich. Offiziell will das freilich keiner sagen, nach außen hin demonstrieren die Beteiligten schwedisch-sozialdemokratische Einigkeit. Doch die Fassade bröckelt: Der Staat müsse beim Gesamtprojekt helfen, vor allem finanziell, forderten Lokalpolitiker im Sommer. Schließlich gehe es nicht mehr nur um eine örtliche Maßnahme. Bergbau und seltene Erden pumpten die schwedischen Staatskassen voll – also liege das Wohl der Stadt im Interesse des ganzen Landes. Inwieweit der Ruf bis in die mehr als 1.200 Kilometer entfernte Hauptstadt Stockholm vorgedrungen ist, wird sich zeigen.


Foto: Olle Thoors, Svenska kyrkan, Kiruna pastorat

Veränderung findet sich etwas Gutes, also auch im Umzug einer geliebten Kirche“, hat sie daneben geschrieben und will ihren Gläubigen Mut machen. Das Beste und Wichtigste sei, dass die Kirche in den neuen Stadtkern mitkommen darf und weiterhin allen offensteht, egal ob sie hier leben oder zu Besuch sind. Ein Anker soll sie werden, eine Orientierung in einer Welt, in der 20 Jahre lang kein Stein auf dem anderen bleibt.

Die 100 Jahre alte Holzkirche zählt zu den bekanntesten Gebäuden Schwedens – und ist Identifikationsort für die Einwohner Kirunas. An ihrem Umzug, einem erwarteten Spektakel, tüftelt die Bergbaugesellschaft seit Jahren. Das Gebäude soll in Gänze auf Lkws gehievt und mehrere Kilometer gefahren werden.

„In jeder Veränderung findet sich etwas Gutes.“

Spätestens wenn die Kirche, eines der bekanntesten Gebäude des Landes, im nächsten Jahr umzieht, dürften sich die Blicke der Schweden wieder auf Kiruna richten. Das Versetzen des Gotteshauses in seiner mehr als 100 Jahre alten Konstruktion, 600 Tonnen schwer und mit einer Grundfläche von 40 mal 40 Metern, wird zu Blaupause und Bewährungsprobe für das Gesamtprojekt. Es soll inklusive des Turms in Gänze auf einen Schwertonner gehievt werden. Die Planungen dafür laufen seit Jahren, eine Brücke wird eigens für das Vorhaben gebaut. Auf einer Anschlagstafel neben der Kirche hat Pfarrerin Lena Tjärnberg die geplante Route skizziert. „In jeder

Lena Tjärnberg

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Schlaflos in

BERLIN Es ist selten, dass Politik, Wissenschaft, Unternehmen und Mieterinitiativen zusammenkommen, um über die Wohnungsnot zu sprechen. Noch seltener passiert dies in einem kleinen Zelt hinter dem Berliner Hauptbahnhof. Dorthin haben wir eine bunt gemischte Gruppe von Diskutanten eingeladen. Die Runde erwartet eine lange Nacht. Klappstühle, Nachttische und Feldbetten stehen bereit.

Text | Lars Wiederhold Fotos* | Christof Mattes

*soweit nicht anders vermerkt

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„Wir haben ein Verteilungsproblem.“ Marion Peyinghaus

Marion Peyinghaus und Rainer Schäfer (Mitte) sind die ersten Gäste von Moderator Lars Wiederhold.

Ein Sommerabend in Berlin. Das Wetter kann sich nicht zwischen gewittriger Schwüle und unbehaglicher Kühle entscheiden. Wir sitzen eng gedrängt in einem Partyzelt um einen Pizzakarton herum, der wackelig auf einer Kühlbox liegt. Mein stumpfes Taschenmesser reißt die Pizza in Fetzen. Es gibt nur eine für alle. Bausenator Christian Gaebler und Immobilienprofessorin Marion Peyinghaus verzichten lieber. Wohninvestor Einar Skjerven und Projektentwickler Rainer Schäfer erheben sich von Feldbett und Klappstuhl und greifen zu. „Die ist ja eiskalt“, beschwert sich Schäfer, der Chef von Strabag Real Estate.

Bürgersteig, Radwege, Straßenbahn und vierspurige Straße: Am Zelt wird es selten ruhig.

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Zwei Stunden zuvor: Peyinghaus, Schäfer und ich haben uns in einem vier mal vier Meter großen Zelt auf einer Grünfläche an der Invalidenstraße direkt am Berliner Hauptbahnhof eingefunden. Hinter uns rauschen Autos, Busse und Straßenbahnen vorbei. Motoren heulen auf und Hupen tröten. Im Zelt ist oft kaum das eigene Wort zu verstehen. „Ich wusste nicht, ob es sich um einen Gag handelt oder um harte Arbeit, als die es sich jetzt entpuppt“, kommentiert Schäfer unsere Abendgestaltung und nimmt sich ein Bier aus der Kühlbox. Gemeinsam mit Peyinghaus sollen Schäfer und ich uns noch bis zum nächsten Morgen in diesem Zelt aufhalten und über die Wohnungsnot in Berlin sprechen.

Aber erst einmal führen wir das Gespräch im kleinen Kreis. Das Umfeld liefert uns gleich Stoff für eine Debatte, denn Schäfer und Peyinghaus nehmen die Umgebung sehr unterschiedlich wahr. Schäfer hat kurz zuvor noch vom Coffee Fellows auf der anderen Straßenseite einen „wunderbaren Blick“ auf den Humboldthafen genossen. „Wenn man sich das hier etwas genauer anschaut, lässt sich schon sagen: So sollte es sein.“ Peyinghaus fallen dagegen im Quartier Missstände auf. „Da fehlt der Mensch. Hier wurde zu stark renditeorientiert gebaut.“ Es seien nur Quadratmeter gemacht, aber keine öffentlichen Räume geschaffen worden, in denen Menschen interagieren können.

Die Idee hinter dem Feldversuch ist, dass ein besonderer Schauplatz besondere Gespräche hervorbringt. Wer sich eine Nacht fast ungeschützt der Hauptstadt aussetzt, interagiert womöglich anders als in seiner Komfortzone. Deshalb ist auch die Auswahl der Camper nicht zufällig. Peyinghaus ist nebenbei Krimiautorin und Schäfer Präsident einer Karnevalsgesellschaft. Ein gewisses Out-of-the-BoxDenken ist von ihnen zu erhoffen. Über den Abend werden uns einige Gäste besuchen und ihre Impulse mitbringen.

In diesem Moment wird eine Passantin auf unser möbliertes Zelt aufmerksam. „Ist das ein Tiny House?“, fragt sie. Wir lachen, sie geht weiter. Schäfer wirft ein, dass die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf weiter gestiegen ist. „Die Bereitschaft, auf Wohnfläche zu verzichten, ist gering“, bestätigt Peyinghaus. Wie die Professorin untersucht hat, bewegen selbst deutlich gestiegene Energiekosten die Menschen nicht dazu, Abstriche bei der Fläche zu machen. „Wir haben kein Wohnraumproblem, sondern ein Verteilungsproblem“, stellt sie fest. Schäfer sieht in einer Neuverteilung ein „riesiges“ Potenzial, das sich ganz ohne Neubau biete. Um dafür einen Anreiz zu schaffen, schwebt ihm eine Steuer vor, die anfällt, wenn Menschen allein auf 200 Quadratmeter leben.


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Zwei Argumente könnten die untätige Politik beim Wohnen aus Peyinghaus’ Sicht zum Handeln bewegen. Erstens liege Deutschland laut einer Umfrage unter Managern als möglicher Unternehmensstandort weit hinten, weil es dort so schwierig sei, an Wohnraum zu kommen. Und zweitens wiesen erste Daten einer Forschungsarbeit der Universität Magdeburg darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen Wohnungsnot und dem Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche bestehe. Wenn deshalb weniger Kinder geboren werden und sich Unternehmen nicht mehr ansiedeln möchten, bedeute die Wohnungsnot für Deutschland massive Probleme. „Dann kann der Wohlstand nicht mehr gehalten werden“, warnt Peyinghaus.

Peyinghaus: „Da fehlt der Mensch.“

Bei unserem ersten Gast könnte ich mir gut vorstellen, dass er auf 200 Quadratmeter wohnt, denn gerade habe ich ihn mit einer großen Limousine vorfahren sehen. Wohninvestor Einar Skjerven steigt aus und setzt sich zu uns. „Sie sind aus Schweden, oder?“, fragt Schäfer sofort. „Norwegen, Vorsicht!“, gibt Skjerven ernst zurück. Und fügt lächelnd hinzu: „Nur Spaß.“ Er erzählt, dass er seit 2006 am Berliner Immobilienmarkt unterwegs ist und vor allem in Bestandsgebäude investiert. „Damals war noch alles schön“, schwärmt er wehmütig. „Jetzt ist es schwer geworden.“ Wer für 2.000 Euro den Quadratmeter ein Grundstück kaufe und für weitere 2.300 Euro baue, könne nicht für 6 Euro vermieten, wie sich das die Politik wünsche. Auf die ist der Investor richtig sauer. „Niemand macht etwas.“ Vor den Wahlen werde immer viel über Wohnungsnot und Neubau geredet. „Danach ist es wieder still.“ Dabei hätte Skjerven so einige Ideen, was den Neubau vorantreiben könnte. Etwa, dass Bauzinsen generell von der Einkommensteuer abgesetzt werden können, um mehr Menschen ins Eigentum zu bringen.

Wie es ist, Wohnungsnot hautnah mitzuerleben, werden uns zu später Stunde noch Vertreter einer Berliner Mieterinitiative erzählen. Diese hegen allerdings große Zweifel, ob die Immobilienleute sie ernst nehmen werden. Ich frage Skjerven, ob er noch direkten Kontakt zu Mietern hat. Der sonst stets fröhlich wirkende Investor wird plötzlich nachdenklich und lässt

sich mit der Antwort Zeit. „Wir haben wirklich viel versucht, mit den Mietern zu reden, aber es kam nicht gut an“, sagt er. Zu sehr seien die Mieter in Vorurteilen gefangen, die durch die Medien erzeugt würden. Dort werde der Vermieter gerne als böse und der Mieter als schwach dargestellt. „Aber so ist es nicht.“ Unser Gespräch wird unterbrochen. Thomas Porten, Herausgeber der Immobilien Zeitung, bringt die Speisekarte von einem italienischen Restaurant in der Nähe und fragt, was wir essen wollen. Peyinghaus mag nichts, weil sie sich kurz zuvor den Magen verdorben hat, Schäfer will eigentlich später noch woanders essen. Schließlich schlägt Skjerven vor, eine Pizza für alle zu bestellen. „Wäre das für Sie okay, wenn ich die Veranstaltung dann um 21 Uhr verlasse?“, fragt Schäfer mich daraufhin. Er habe noch eine Verabredung. Ich lehne den „Antrag“ ab. Schließlich war vorher klar ausgemacht worden, dass wir die ganze Nacht im Zelt verbringen. „Wollen Sie doch noch mal nachbestellen, Herr Schäfer?“, möchte Porten wissen. Doch dieser verneint und tippt nun nervös auf seinem Handy herum.

„Enteignung ist Symbolpolitik.“ Einar Skjerven Porten: „Wer möchte eine Pizza?“

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Mit einem Hinweis auf die Forderung, Wohnungsunternehmen zu vergesellschaften, lässt sich die Diskussion schnell wieder entfachen. „Ich finde das komplett unmöglich!“, platzt es aus Skjerven heraus. „Wenn das wirklich passiert, kommen die betroffenen Investoren niemals wieder zurück nach Deutschland.“ Das sei reine Symbolpolitik. „Man kann es Symbolpolitik nennen, aber es erhöht zumindest den Druck auf das Thema und zeigt, dass es eine Wohnungsraumreform braucht“, hält Peyinghaus dagegen. Just erscheint der ebenfalls eingeladene Berliner Bausenator Christian Gaebler im Zelteingang. Der SPD-Politiker hat nur wenige Tage zuvor von einer Expertenkommission ein Gutachten zur Machbarkeit der Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen erhalten. Deshalb frage ich ihn direkt, was er davon hält. „Es hat den Charme, dass die öffentliche Hand auf einen Schlag 200.000 zusätzliche Wohnungen erhielte, die dann von den Landesgesellschaften ohne privates Gewinninteresse bewirtschaftet werden könnten“, sagt Gaebler. Aber private Bauherren würden sich dann fragen, warum sie überhaupt noch Wohnungen bauen sollen, wenn der Staat diese später vergesellschaftet. „Die denken sich, dann soll der Staat doch selbst bauen.“ Das bekäme Berlin aber vermutlich mit seinen eigenen Mitteln nicht in diesem Maße hin. „Letztlich stünden wir dann wohl mit weniger Neubau da.“

Einar Sjkerven (1. v. l.) und Berlins Bausenator Christian Gaebler (2. v. l.) ergänzen die Runde.

Mir klingt noch Skjervens laute Klage über die untätige Politik in den Ohren. Gegenüber dem Bausenator hält sich der Investor aber vornehm zurück. Dann frage eben ich Gaebler nach seiner Strategie für mehr Wohnraum. Damit Investoren schneller und planungssicher Wohnungen bauen können, will der Senator Verfahren vereinfachen und Fristen für die Verwaltung festlegen. Bauherren sollen künftig nicht mehr bei jeder einzelnen Fachabteilung vorstellig werden müssen, sondern die Abteilungen sich untereinander abstimmen. Ein „Projektlotse“ der Verwaltung koordiniert diesen Prozess. „Es darf nichts vier Wochen liegen bleiben, nur weil jemand im Urlaub ist“, findet Gaebler. Schäfer ist wieder voll bei der Sache. Er spricht Gaebler auf die vielen DIN-Normen an, die Bundesbauministerin Klara Geywitz auf den Prüfstand stellen will. Gaebler gibt sich pragmatisch. „Normen sind das eine, ihre Anwendung als quasigesetzliche Vorgabe das andere“, sagt er. Viele Bauämter würden sich sehr streng daran halten, selbst wenn der Bauherr für eine geplante Abweichung positive Sicherheitsgutachten vorlege. „Die Bauämter wollen keine Verantwortung für die Risiken übernehmen.“ Dabei ließen sich viele Probleme mit mehr Flexibilität lösen.

Nachdem das ohrenbetäubende Martinshorn eines Krankenwagens verklungen ist, stelle ich fest, dass die Aussagen des Senators für mehr Dienstleistermentalität sprechen. „Die Bauverwaltung ist nicht Dienstleister, sondern muss Gesetze umsetzen“, empört sich Schäfer. Der Senator bedankt sich freundlich für den Einwurf. „Es stimmt aber beides.“ Bei so viel Harmonie meldet sich nun Wohninvestor Skjerven doch zu Wort: „Mit der Servicementalität läuft es in Oslo besser.“ Dort gebe es vielleicht mehr Personal, vermutet Gaebler. „Wir kommen in Berlin aus harten Sparjahren. Und neue Mitarbeiter zu finden, ist schwierig.“

„Wir kommen in Berlin aus harten Sparjahren.“ Christian Gaebler

Gaebler: „Es darf nichts vier Wochen liegenbleiben.“

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Schwierig erscheint mir in der Hauptstadt auch die Nachverdichtung mit Wohnraum, denn bei jedem größeren Bauprojekt stellt sich sofort eine Bürgerinitiative oder eine Bezirksregierung in den Weg. Gaebler nimmt das gelassen. Notfalls würden die Wohnungen eben zunächst für Geflüchtete errichtet. „Als oberste Bauaufsicht können wir die selbst direkt genehmigen.“ Die Wohnungen kämen dann später auch für andere Nutzer infrage. Der Senator steht auf und verabschiedet sich. „So nett es bei Ihnen ist ...“ Skjerven schließt sich an und wirft uns mit Blick auf die Feldbetten ein heiteres „Schlaft gut!“ zu. Noch ist es aber nicht so weit. Fotograf Christof Mattes bringt uns eine Karte mit Heißgetränken eines benachbarten Burgerrestaurants. Peyinghaus und Schäfer bestellen Kräuter- und Ingwertee, ich einen Latte Macchiato. „Ist der Tee dann noch heiß?“, will Schäfer nach seiner schlechten Erfahrung mit der Pizza wissen und macht sich auf den Weg zum Sanitärcontainer. „Das ist ja eine Weltreise“, klagt er nach seiner Rückkehr. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass wir zu Gast bei seinem Wettbewerber CA Immo sind. Der Projektentwickler hat uns netterweise die kleine Rasenfläche samt Strom, Toiletten und Parkplatz zur Verfügung gestellt, der Hausmeister vorher eigens noch den Boden gefegt.

„Hier kommen die Getränke!“, ruft jemand. Lieferant am späten Abend ist Andreas Schulten, Generalbevollmächtigter des Marktforschers Bulwiengesa. Während sich alle daran erfreuen, dass die Getränke heiß sind, erzähle ich ihm, dass gerade eben noch der Berliner Bausenator bei uns war und ich dessen Einstellung zur Wohnungspolitik konstruktiv finde. „Wenn der konstruktiv war, kann ich ja unkonstruktiv sein“, beschließt Schulten. „Wer hat denn in Deutschland überhaupt Wohnungsprobleme?“, fragt er provozierend. Und beantwortet seine Frage gleich selbst: „Nur zwei Prozent der Bevölkerung.“ Diese gehörten überwiegend bestimmten sozialen Gruppen wie Migranten oder Alleinerziehenden an. „Die meisten Leute kriegen ihre Wohnsituation irgendwie hin“, meint er.

Schulten prognostiziert allerdings auch, dass die Berliner Wohnungspreise weiter steigen werden. „Nicht nur die Mieten, sondern auch relativ schnell wieder die Eigentumspreise, weil wir dieses Angebot-Nachfrage-Dilemma haben.“ Sie seien aber immer noch „lächerlich niedrig“ im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen. Ich werfe ein, dass die Wohnkosten allerdings im Verhältnis zum Einkommen gesehen werden müssen. „Das ist nur eine Gewohnheitsfrage“, meint Schulten. „Ob 40% oder 80% des verfügbaren Einkommens fürs Wohnen benötigt werden, ist mehr als eine Gewohnheitsfrage“, widerspricht Schäfer. „Aber wie viele Leute geben nur 10% fürs Wohnen aus?“, lässt sich Schulten nicht beirren.

Schulten: „Wer hat denn überhaupt Wohnungsprobleme?“

Andreas Schulten bringt Tee und Kaffee.

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WEIL WIR LIEBEN, FEIERN WIR DIESE Glückwunsch zum 30sten, liebe IZ. Im Namen des gesamten Deka Teams gratulieren wir zum Jubiläum und sagen danke für 30 Jahre Berichterstattung rund um unser Lieblingsthema. Deka Immobilien Investment GmbH www.deka-immobilien.de


Florence Jimenez Otto (2. v. r.) und Thomas Jorkisch (3. v. r.) beklagen profitsteigernde Strategien der Immobilienbranche.

Mir fällt auf, dass die Mieterinitiative schon längst da sein sollte. Ich werde auf eine Gruppe von Menschen aufmerksam, die etwas abseits vom Zelt stehen und Flaschen mit BioLimonade in den Händen halten. Tatsächlich, es sind Florence Jimenez Otto und Thomas Jorkisch sowie einige weitere Mitglieder der Initiative Weberwiese. Auf meine Bitte hin kommen sie zögerlich ins Zelt. „Sie waren so ins Gespräch vertieft, da wollten wir nicht stören“, erklärt Jimenez Otto. Peyinghaus, die sich inzwischen trotz Steppjacke eine der Bettdecken um den Rücken geschlungen hat, interessiert sich dafür, um welche Berliner Wohnsiedlung es genau geht. „Ist das an der Karl-Marx-Allee?“ „Es ist die kleine Schwester der Karl-MarxAllee, ein Block dahinter, ähnliches Baujahr“, beschreibt Jimenez Otto und ergänzt: „Wenn Sie den Film ,Das Leben der Anderen‘ oder die Serie ,Weissensee‘ kennen – beides wurde bei uns gedreht.“

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Bei der Initiative geht es aber um ganz reale Probleme. Die Mitglieder bewohnen ein denkmalgeschütztes Gebäudeensemble aus den 1950er Jahren. Insgesamt sind es etwa 500 Wohnungen. Diese liegen schon seit den 1990er Jahren nicht mehr in öffentlicher Hand. Sie wechselten mehrfach den Eigentümer. Zunächst erwarb ein Duisburger Investor die Gebäude, später das dänische Unternehmen Tækker, das sie in Eigentumswohnungen aufteilte. Schließlich landeten die Wohnblöcke bei der Gesellschaft White Tulip, die dem Investmentfonds Round Hill Capital gehört. Seitdem erreichen die Bestandsmieter Eigenbedarfskündigungen von Wohnungskäufern. Anderen Mietern werden Abfindungen angeboten, wenn sie freiwillig ausziehen. Leer stehende Wohnungen werden möbliert vermietet. Damit muss die Mietpreisbremse auf diese nicht angewendet werden. „Da wird für den dreifachen Preis vermietet“, berichtet Jorkisch. Er hat außerdem beobachtet, dass kleine Wohnungen mit Doppelstockbetten ausgestattet

werden, um dort bis zu sechs Menschen unterzubringen. „Es wird schamlos ausgenutzt, dass Leute Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu bekommen“, ärgert er sich. Für Jimenez Otto ist es „ein Paradebeispiel, wie die Immobilienbranche profitsteigernde Strategien anwendet“. Ich hatte zuvor den Bausenator auf den Fall angesprochen. Ihm ist die Problematik im Quartier bekannt, er sagt jedoch: „Wir können dort wenig machen.“ Die Wohnungen seien aufgeteilt worden, bevor die Milieuschutzsatzung in Kraft trat. Zudem seien sie zum Teil bereits an Einzeleigentümer weiterverkauft worden. Einen Kauf der verbliebenen Wohnungen durch eine Landesgesellschaft schließt Gaebler aus. „Dafür würden keine Paketpreise mehr, sondern Einzelpreise verlangt – ein teurer Spaß.“ Beim möblierten Wohnen müsse dagegen vom Gesetzgeber auf Bundesebene „nachgeschärft“ werden. Es sei aber fraglich, ob die Bundesregierung das hinbekomme,mit „einem Schutzpatron der Immobilienwirtschaft“. Was Bundesjustizminister Marco Buschmann tue, sei „falsch verstandener Schutz“.


„Da wird für den dreifachen Preis vermietet.“ Thomas Jorkisch

Wenn schon die Politik nichts ausrichten kann oder will, haben vielleicht die anwesenden Immobilienprofis Tipps für die Mieter? „Hier sitzen doch die Fachleute“, sagt Jorkisch und blickt erwartungsvoll Schäfer an. Der nimmt – obwohl nach eigener Beteuerung nie im Aufteilergeschäft aktiv gewesen – die Herausforderung an. Schäfer möchte zunächst wissen, ob denn wirklich bei allen in der Weberwiese ausgesprochenen Kündigungen Eigenbedarf besteht. „Wenn das missbraucht wird, drohen bitterböse Schadenersatzzahlungen“, weiß er. Doch solche Fälle sind weder Jimenez Otto noch Jorkisch bekannt. „Aber vielleicht gibt es ja eine Chance, dass es sich finanzieren lässt, dass die Wohnungen wieder in öffentliche Hände kommen“, hofft die Sprecherin der Initiative. Peyinghaus hält dafür sogar eine Idee parat: „Es wäre eine Art Fondsprodukt denkbar, bei dem der Staat nicht allein aktiv wird, sondern zusätzlich Bürger zum Kauf der Weberwiese beitragen.“ Damit könnten die bestehenden Mietkonditionen erhalten werden. Jimenez Otto erzählt, dass die Weberwiese unter der Marke 54East als authentischer und kreativer Kiez vermarktet wird. „Kann man das nicht so sehen, dass es nachhaltiger für die Immobilienwirtschaft ist, wenn die dort lebenden Menschen das Viertel interessant machen?“ „Ja, das ist richtig“, stimmt Peyinghaus zu. Wenn ein Viertel gentrifiziert wird, verliere es an Attraktivität. Das sei belegbar.

Nach Mitternacht. Die Diskussionen dauern an.

„Aber was können Sie denn tun, um soziale Milieus zu erhalten? Sie hören sich so an, als hätten Sie für unsere Belange Verständnis“, lässt Jorkisch nicht locker. „Mit Grund und Boden wurde irre spekuliert, Projektentwickler wie Rainer Schäfer können da nichts mehr machen, weil die Grundstücke so teuer geworden sind“, springt Analyst Schulten in die Bresche. Er sieht eine Lösung in der Gründung von Genossenschaften. Damit könne sich zwar nicht jeder eine Wohnung kaufen, aber zumindest am Eigentum und dessen Wertsteigerung partizipieren. Im konkreten Fall der Weberwiese helfe dies wegen der gemischten Eigentümerstruktur aber auch nicht weiter. „Da ist das Kind schon in den Brunnen gefallen“, bedauert Schulten.

Es folgt betretenes Schweigen auf beiden Seiten. „Dann versuchen wir es eben weiter auf den drei Ebenen Politik, Öffentlichkeit und Zusammenhalt“, sagt Jorkisch schließlich. „Und das machen Sie genau richtig“, erwidert Schulten. Es ist bereits nach Mitternacht. Die Initiative macht sich auf den Weg und lässt uns mit unseren Gedanken zurück. „Man muss sich ja immer ein Stück weit schämen für die schwarzen Schafe in der Branche“, sinniert Schäfer. „Das ist halt Marktwirtschaft“, meint Schulten. Peyinghaus ist durch das Gespräch dagegen klar geworden, dass es mehr Anlageprodukte für soziale Investitionen braucht. „Es gibt viele Menschen und Institutionen, die noch etwas Geld übrig haben und gerne solche Dinge unterstützen möchten.“

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Inzwischen ist es richtig kühl geworden in unserem Zelt. Nachdem Schulten davongeradelt ist, frage ich Peyinghaus und Schäfer, ob ich für die anschließende Übernachtung noch zusätzliche Decken aus einem benachbarten Hotel holen soll. „Ist die Idee wirklich, dass wir hier übernachten?“, möchte Peyinghaus wissen. „Er scherzt“, sagt Schäfer. Nein, das tue ich nicht. „Also ich bin raus“, stellt Schäfer fest. Er erklärt, dass er den Straßenkrach nicht länger ertragen könne. „Ich würde ja kein Auge zutun.“ „Ich habe meinen Schlafanzug mitgebracht, aber wenn Herr Schäfer absagt …“, beginnt Peyinghaus. In diesem Moment wird mir klar, dass mich beide Mitbewohner im Stich lassen werden. Ich werde wohl die Nacht alleine im Zelt verbringen müssen.

Peyinghaus und Schäfer gehen ins Hotel. Ich ziehe meinen Schlafanzug an und lege mich aufs Feldbett. Bettdecken habe ich ja jetzt genug. Leider muss ich Schäfer aber wohl oder übel Recht geben. Mit dem Schlafen will es nicht so recht klappen. Mal lässt neben dem Zelt jemand eine Flasche fallen, mal lärmen Krähen über mir. Außerdem fühle ich mich durch die vielen Fenster und das helle Licht draußen doch etwas zu sehr auf dem Präsentierteller. Ich ziehe mir deshalb die Bettdecke bis unter die Nase. Beim ersten Morgengrauen stehe ich auf und baue das Zelt wieder ab. Dann darf ich ebenfalls ins Hotel, zum Frühstücken.

Platz wäre für drei gewesen. Doch am Ende bleibt Lars Wiederhold allein im Zelt zurück.

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„Das ist halt Marktwirtschaft.“ Andreas Schulten


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Happy Birthday! Eure KVL Wir machen die Bauwende wirtschaftlich! #IntellectualLeadership


ESG-Check für antike Arena Text | Klaus Grimberg Fotos* | Davide Marconcini

Die um 30 nach Christus errichtete Arena di Verona zieht mit ihrer einzigartigen Akustik die Opernfans aus aller Welt in den Bann. Ein solches Meisterwerk der Nachhaltigkeit müsste unter ESG-Kriterien eine Perle für jeden Immobilienfonds sein. Deshalb haben wir vor Ort alle notwendigen Ankaufsinformationen gesammelt und Robert Kitel, ESG-Experte bei Alstria in Hamburg, und Walter Seul, Fondsmanager bei Swiss Life KVG in Frankfurt, um eine Analyse gebeten. Wer von den beiden würde kaufen?

*soweit nicht anders vermerkt

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Die Arena di Verona ist ein architektonisches Meisterwerk aus der Frühzeit des römischen Kaiserreichs. Das Amphitheater entstand um 30 nach Christus,vollendet wurde es nach neuesten Forschungen aber wohl erst in der Regierungszeit des Kaisers Claudius (41-54 n. Chr.). Das antike Bauwerk und die Piazza Bra an seiner Westseite bilden heute das Herz der Altstadt. Im ersten Jahrhundert nach Christus lag das einst 152 Meter lange Oval allerdings außerhalb der römischen Stadtmauern nahe der Kreuzung zweier wichtiger Handels- und Heeresstraßen. Die Konstruktion der Arena ist außergewöhnlich. Denn die Zuschauerränge für bis zu 30.000 Menschen, die sogenannten cavea, werden allein durch strahlenförmig nach innen verlaufende Wände und Gewölbe getragen. „Das Mauerwerk besteht aus einem Gemisch aus Schutt und Bauresten, gebunden durch Zement- oder Kalkmörtel“, erläutert Antonella Arzone, verantwortliche Kuratorin für die Monumente und kunsthistorischen Sammlungen der Stadt. Die Oberflächen wurden anschließend mit Ziegel- und Kieselsteinwerk verkleidet. „Die Gewölbe hingegen entstanden in der römischen Betontechnik in Holzschalungen, bei der verschiedene Steine mit Mörtel zu einer festen Masse vermischt wurden“, ergänzt Arzone.

Kitel: Einfache Konstruktion aus Bögen und Zwischenräumen, die mit vorhandenen Materialien aufgefüllt wurden. Sehr stabiles Tragwerk, das lange hält – perfekt. Beton wurde noch mehr als Kleber gedacht, weniger als Baustoff, der Wände erzeugt. So ist es genau richtig. Insofern bauen wir heute unsere Betonhäuser eigentlich aus Kleber. Seul: Die gesamte Bauorganisation und -ausführung erscheint vorbildlich. Das konnten die Römer und im Grundsatz haben wir bis heute in dieser Hinsicht nicht viel Weiterentwicklung erlebt. Materialien und Techniken zu nutzen, die vorhanden sind – das kann man kaum besser machen.

Kitel: Für das gesamte Bauwerk gilt: Wenige Materialien, gut auseinanderzunehmen, man zerstört dabei nicht die Baustoffe. Das ist einer der Kerngedanken der „circular economy“, schon damals komplett umgesetzt.

Die imposante Außenfassade setzte sich aus drei übereinanderliegenden Arkadenreihen zusammen. Dafür nutzten die Erbauer rechtwinklige Blöcke des „Ammonitico Rosso“, eines in der Region weitverbreiteten Sandsteins, dessen Farbe zwischen Weiß- und Rottönen changiert. Unter Ausnutzung der Schwerkraft wurden die riesigen Quader geschickt gestapelt und lediglich durch kleine Metallstifte in der Mitte der jeweiligen Blöcke miteinander verbunden. Auch die Stufen der Ränge bestehen aus dem charakteristischen Sandstein, wurden jedoch seit dem 16. Jahrhundert mehrfach restauriert, weil sie entweder stark abgenutzt waren oder zwischenzeitlich als Materialsteinbruch für andere Gebäude in Verona dienten. „Das gilt genauso für den ursprünglich vorhandenen Außenring der Fassade, von dem heute nur noch ein kleines Stück erhalten ist, den die Veroneser ala – den Flügel – nennen“, erklärt Massimo Saracino, Konservator in den archäologischen Sammlungen, beim Rundgang um die Arena. Nahezu der gesamte Außenring wurde wohl schon im Jahr 489 n. Chr. auf Befehl des Ostgotenkönigs Theoderich abgerissen, um die Steine für den Ausbau der Stadtmauer zu nutzen. Noch immer lassen sich Bestandteile des einstigen Außenrings in vielen öffentlichen und privaten Gebäuden der Stadt nachweisen.

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Seul: Das ist 2.000 Jahre alte Handwerkskunst – großartig! Das Ergebnis kann man sehen, bis heute.

Kitel: Noch ein gutes Beispiel für „circular economy“ – die konsequente Wiederverwendung von Materialien. Spricht für die Qualität der Steine, die über Jahrhunderte genutzt werden können, bei Bedarf in kleinerem Format. Aber es wurde eben kein neues Material reingeholt, sondern mit dem gearbeitet, was da war. Seul: Die Wiederverwendung gibt einen deutlichen Hinweis auf die hohe Wertigkeit der Materialien.


Kitel: Regionale Baustoffe, kurze Wege, wenig CO2 – das ist genau das, was man immer möchte! Transport aus CO2-Sicht gut, aus Menschen- und Tiersicht eher nicht so gut. Sehr viel Plackerei und vermutlich Sklavenarbeit. Da hätte ich ein sehr großes Fragezeichen, ob Arbeitsbedingungen und -sicherheit aus heutiger Sicht eingehalten wurden.

Die Sandsteinblöcke stammen aus der Region Valpolicella, 30 Kilometer nordwestlich von Verona. Der Transport erfolgte vermutlich mit Hilfe von Eseln oder Pferden, vielleicht auch per Schiff auf der Etsch. Genaue Quellen gibt es dazu nicht. Der Marmor für Skulpturen, Brunnen oder andere Dekorationen in der Arena kam aus weit entfernten Regionen, zum Teil aus dem heutigen Russland.

Seul: Diese Frachtlogistik ist nichts anderes als Sklavenarbeit. Da tue ich mich schwer, dem etwas Positives abzugewinnen. Das war eine furchtbare Schufterei, das ist in der heutigen Zeit zum Glück kein Thema mehr.

Kitel: Klingt gut. Man lernt erst von kleineren Projekten und traut sich dann an größere. Offenbar haben sie vieles richtig gemacht, ansonsten wären die Bauwerke nicht mehr da.

In der Stadt Pula, heute im kroatischen Teil Istriens gelegen, ist das dortige Amphitheater in Architektur und Bauweise nahezu identisch mit dem in Verona. Es ist allerdings etwas kleiner und etwas älter. „In der historischen Forschung legt das die Vermutung nahe, dass die in Pula angewandten Prinzipien auf Verona übertragen wurden – in vergrößertem Maßstab“, sagt Arzone.

Seul: Heute bräuchte man für solche Projekte Bauingenieure, Architekten, Statiker, Rechtsanwälte, Generalunternehmer, Finanzberater, um so etwas überhaupt zu planen. Früher brauchte es dafür gute Handwerker.

Kitel: Die Baumeister agierten wahrscheinlich auf der Entscheidungsebene. Aber schwere und gefährliche Arbeiten wurden mit Sicherheit von Sklaven ausgeführt. Für die lokale Wirtschaft ein langanhaltendes Projekt, das viel Arbeit und Wohlstand gebracht hat. Seul: Auch damals gab es gewiss schon Bürokratie. Aber die stand in keinem Verhältnis zu dem, was wir heute tun, wenn wir vergleichbare Bauwerke planen – mit Vorlaufzeiten von fünf, zehn oder sogar 20 Jahren. Das war früher nicht notwendig und trotzdem steht das Gebäude nach 2.000 Jahren immer noch. Das ist natürlich ein etwas süffisanter Vergleich. Aber vielleicht sollten wir viel stärker hinterfragen, ob wir tatsächlich so viel Bürokratie brauchen.

Offenbar gab es schon im ersten Jahrhundert nach Christus hochspezialisierte Baumeister, die durch das römische Reich zogen und sich ihr bautechnisches Wissen gut bezahlen ließen.

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Dazu gehörte auch ein ausgeklügeltes Entwässerungssystem unter der Arena. Über bis heute sichtbare Rinnen wurden sämtliche Abwässer von den Rängen und aus den Gewölben in diese Kloake gespült und von dort in die Etsch geleitet. Die Gladiatorenkämpfe, die bis in die erste Hälfe des 3. Jahrhunderts in der Arena ausgetragen wurden, waren ein- oder mehrtägige Spektakel, die hohe Würdenträger oder reiche Bürger ausrichteten. Besonders aufsehenerregend waren Duelle mit wilden Tieren, von denen der Großteil allerdings schon beim Transport verendete.

Kitel: Damals gewiss ein Meisterwerk der Technik, der Zeit weit voraus. Bei ganztägigen Spektakeln waren diese Rinnen, die man mit Wasser durchspülen konnte, bestimmt dringend nötig.

Kitel: Aus heutiger Sicht definitiv fragwürdig, allerdings muss man das natürlich im Kontext der Zeit vor 2.000 Jahren sehen. Ich nehme aber stark an, dass Felle oder Fleisch weiterverwendet wurden. Seul: Was da auf dem Altar der Belustigung des Volkes geopfert wurde, darüber denkt man nie wirklich nach. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass diese Kämpfe in der Römerzeit kulturelle Ereignisse waren.

Nach dem Untergang des Römischen Reiches ging das Verständnis für die ursprüngliche Nutzung der Arena im öffentlichen Bewusstsein verloren. So entwickelte sich das große Oval im frühen Mittelalter zur Müllkippe und zum Steinbruch für die Veroneser. Die Gewölbe dienten als Wohnstätten, Handwerksbetriebe oder Marktstände, die Gegend um das Gebäude galt als verrufener Ort. Auch die Hinrichtung von 200 „Häretikern“ während der Inquisition im Jahr 1278 trug zum düsteren Bild bei.

Kitel: Das zeigt, wie multifunktional und anpassungsfähig so ein Gebäude sein kann. Was dauerhaft gebaut ist, kann selbst Falschnutzungen für ein paar Jahre oder sogar Jahrhunderte aushalten. Belegt auch, dass die Proportionen der Gewölbe gut durchdacht waren. Seul: Der Mensch ist erfinderisch. Wenn ich Steine brauche und ich habe Steine guter Qualität in einem Gebäude, um das sich niemand kümmert, dann gibt es keine wirkliche Klärung der Frage, wem das gehört, und schon gar nicht, wie es genutzt werden darf.

Kitel: Offenbar haben sie früh gespürt, welche große Wirkung das Bauwerk für die Stadt hat und dass es nicht einfach den Menschen überlassen werden kann. Die Regierung hat vorbildlich erfasst, dass sie das Gebäude schützen muss und dass es dafür Regeln braucht.

Allerdings erließen die Regierenden der Stadt im 13. Jahrhundert erste Gesetze zum Schutz des Bauwerks, in denen vor allem Regeln für Bewohner der Gewölbe aufgestellt wurden. „Ab 1450 folgten unter venezianischer Herrschaft klare Statuten zum Schutz und zur Verwaltung des Gebäudes“, sagt Saracino. Mit der Renaissance ab dem frühen 16. Jahrhundert wurde dann die Arena als historisches Zeugnis „wiederentdeckt“. Die systematische archäologische und wissenschaftliche Erforschung setzte aber erst mit dem 18. Jahrhundert ein.

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Seul: Das hat den endgültigen Verfall des Monuments verhindert. Was für ein Glück, dass solches Denken schon so frühzeitig eingesetzt hat, sonst wäre die Arena nicht in dieser Form erhalten geblieben.


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Seit dem frühen 20. Jahrhundert ist die Arena di Verona in aller Welt als einzigartige Open-AirBühne für Opernaufführungen berühmt. Je nach Inszenierung finden zwischen 12.000 und 15.000 Zuschauer:innen auf Stühlen im Innenraum und den steinernen Rängen Platz. Von April bis Oktober reicht die Saison, tagsüber können Tourist:innen das historische Bauwerk besichtigen. Für Verwaltung und Management der Arena gibt es eine eigenwillige Konstruktion. Die städtische Museumsdirektion organisiert den Museumsbetrieb und hat die Zuständigkeit für wissenschaftliche Forschungen und Veröffentlichungen rund um das Bauwerk inne. Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Museumsverwaltung das „Ufficio del Conservatore dell’Anfiteatro Arena“ zur Seite gestellt, das für die laufende Instandhaltung und Sanierungsarbeiten verantwortlich ist. Zwischen November und März wird die Arena unter Anleitung der Museumsexpert:innen im historischen Originalzustand präsentiert.

Kitel: Ein Gebäude, das nicht genutzt wird, verfällt. Dann hat man nichts gewonnen. Andererseits muss es so genutzt werden, dass der ursprüngliche Charakter nicht verloren geht. Dieser schwierige Spagat zeigt sich hier in den involvierten Parteien. Ich glaube, der Veranstalter könnte noch viel mehr machen und entsprechend höhere Gewinne erzielen. Deshalb ist es wichtig, dass noch jemand aus anderer Perspektive darauf schaut, um die Arena nicht auf Kosten späterer Generationen zu verheizen. Die unterschiedlichen Interessenlagen müssen gegeneinander abgewogen werden. Aber es ist gewiss nicht leicht, das genau auszutarieren. Seul: Diese Konstruktion würde ich die totale Vollkatastrophe nennen. Widerstrebender könnten die Interessenlagen nicht sein. Dem Veranstalter geht es darum, seine Aufführungen mit maximaler Auslastung durchzuziehen, dafür braucht er Technik und Logistik. Der Museumsverwalter hingegen dreht jeden Stein um und schreit am Ende der Saison Zeter und Mordio, was wieder alles kaputt gegangen ist. Wenn ich eine Liegenschaft bekäme, die so organisiert ist, würde ich sofort sämtliche Verträge kündigen. Und sehen, dass ich eine einheitliche, an dem Objekt orientierte Verwaltung installiere. Diese Institution bekäme einen Beirat zur Seite gestellt, der aus den unterschiedlichen Interessenlagern besetzt wäre. Für den, der die Immobilie betreibt, müsste es klar definierte Guidelines geben.

Von April bis Oktober aber übt die „Fondatione Arena di Verona“ das Hausrecht aus. Diese städtische Stiftung agiert als Betreibergesellschaft der Opernfestspiele sowie anderer Konzerte und Aufführungen zu Beginn und am Ende der Saison. Über allen diesen Einrichtungen thront der staatliche Denkmalschutz, der bei baulichen und konservatorischen Entscheidungen zur Arena das letzte Wort hat. Wenn man sich mit Antonella Arzone und Massimo Saracino über die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure unterhält, lässt sich unschwer erahnen, dass es dabei immer wieder zu Konflikten kommt. Besonders deutlich zeigte sich das in einer langen Debatte 2016/17 um ein ausziehbares Dach, das bei Bedarf als dünne Membran über den Innenraum gezogen werden sollte. Damit wollte die Verantwortlichen vor allem gegen verregnete Sommer und damit einhergehende Umsatzeinbußen bei den Opernaufführungen gewappnet sein. Ein internationaler Wettbewerb wurde ausgelobt, aus dem das deutsche Architekturbüro von Gerkan, Marg und Partner als Sieger hervorging. Die Pläne für das Projekt lagen unterschriftsreif vor, als die oberste Denkmalbehörde ihre Zusage am Ende doch verweigerte und der erbitterte Streit um das Dach in einer Blamage für die Stadt endete.

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Kitel: Je mehr Veranstaltungstechnik eingebaut würde, desto höher wäre der Anspruch, solche Investitionen zu nutzen, womöglich auch tagsüber. Vielleicht war genau das der Gedanke des Denkmalschutzes: Wir machen aus der Arena keine Mehrzweckhalle! Die Oper als Kunstform kann dennoch in der Arena auf ganz besondere Weise erlebt werden. Das ist die Qualität, die sie in Verona erkannt haben. Das Bauwerk wird genutzt und bleibt doch in seinem Charakter erhalten. Seul: Auch ich täte mich mit einem solchen Dach schwer. Für mich käme es nur infrage, wenn dadurch die Erosion des Gebäudes verhindert werden könnte. Aber das scheint nicht nötig zu sein. Ich kann durchaus verstehen, dass der museale Charakter bei der Entscheidung obsiegt hat.


Kitel: Man muss sich fragen: Welche Strahlwirkung hat das Gebäude für die ganze Region, wer lebt alles indirekt davon und generiert Steuereinnahmen, die letztlich wieder in den Erhalt des Bauwerks fließen? Dabei kann es nicht um kurzfristige Profite gehen. Die Arena war und ist ein Generationenprojekt. Seul: Die entscheidende Frage bei der Strategie zur Nutzung ist: Was wollen wir eigentlich erreichen? Geht es darum, Geld zu verdienen, um die Kosten des Denkmalerhalts zu neutralisieren? Oder darf der Betrieb defizitär sein, weil er an anderer Stelle so sehr nutzt, dass das überkompensiert wird? Ich finde das Vorgehen der Stadt Verona gut. Man erhält die Arena und ermöglicht ein Spektakel, aber auf sehr hohem kulturellen Niveau.

Kitel: Keine Heizung, Kühlung oder Lüftung: Die Arena ist ein Low-Tech-Gebäude, das mit sehr wenig Strom betrieben werden kann. Jedenfalls laufen Anlagen nicht das ganze Jahr durch und verbrauchen deshalb auch keine Energie. Aus ESG-Sicht optimal. Seul: Ein Veranstaltungsraum für tausende Menschen, bei dem der direkte CO2-Footprint unglaublich niedrig ist. Es geht! Der Beweis ist geführt und das seit 2.000 Jahren! Die Elektrik widerspricht fundamental meinem Verständnis, wie zuverlässig Installationen in einem öffentlich genutzten Gebäude sein sollen. Ich halte diesen Zustand im 21. Jahrhundert für unhaltbar. Weil er schlicht und einfach gefährlich ist. Ich bin ein Fondsmanager von Immobilien, in denen Menschen leben. Sicherheit für die Gesundheit steht bei uns über allem.

In einer guten Saison locken die Opernfestspiele in der Arena zwischen 450.000 und 500.000 Besucher an, bei Kartenpreisen von 32 bis 270 Euro. Daraus resultieren Einnahmen von etwa 30 Mio. Euro, hinzu kommen Förderungen aus staatlichen Kulturetats und Sponsorengelder. Bei 1.000 bis 1.300 Mitarbeitern während der Sommermonate und hohem Aufwand für die Bühnentechnik bleibt der Kulturbetrieb aber ein Zuschussgeschäft, im idealen Fall steht am Ende der Saison eine schwarze Null. Andererseits bescheren die Opernabende Hotels, Restaurants und Geschäften der Stadt einen jährlichen Umsatz von geschätzt 500 Mio. Euro. Auch ohne die Aufführungen bliebe die Arena nach dem Kolosseum und dem Forum Romanum in Rom und Pompeji die meistbesuchte antike Stätte in Italien.

Als Veranstaltungsort zeichnet sich die Arena dadurch aus, dass es in ihr kein Heizungs-, Kühloder Lüftungssystem gibt. Insofern benötigt das Gebäude sehr wenig Primärenergie. „Die Elektrik im Gebäude stammt allerdings zu großen Teilen noch aus den 1950er oder 1960er Jahren“, sagt Massimo Saracino beim Gang durch die Gewölbe der Arena. Bündel an Kabeln schlängeln sich in einem gigantischen Wirrwarr unter den Decken entlang. Nach vorsichtigen Schätzungen würde allein eine Modernisierung der Stromleitungen mindestens 10 Mio. Euro kosten, wahrscheinlich sogar deutlich mehr. Wenig überraschend ist, dass es kein Smart Metering für das Gebäude gibt. Auch in Sachen Mülltrennung oder beim Wasserverbrauch in den teils sehr alten Toilettenräumen gibt es noch viel Luft nach oben.

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Der Strombedarf für die Kulturveranstaltungen wird wegen der veralteten Elektrik komplett über temporäre Leitungen zum öffentlichen Netz mit dem herkömmlichen Energiemix geregelt. Bei den Opernabenden beschränkt sich der Verbrauch auf die Licht- und Tontechnik, die im Vergleich zu Rock- und Popkonzerten eher bescheiden ausfällt. Allerdings wird in jedem Jahr ein riesiger Aufwand beim Auf- und Abbau der Bühne und der Veranstaltungslogistik betrieben. Sämtliche Bühnenelemente, die großformatigen Bühnenbilder und die tribünenartigen Sitzreihen für die unteren Ränge werden mit einem Lastenkran in die Arena gehoben und am Ende der Saison wieder abmontiert. Auf der Rückseite des Ovals entsteht vorübergehend ein Containerdorf, in dem sich Solisten und Statisten umziehen und in den Pausen aufhalten. Die Bühnenaufbauten für die verschiedenen Inszenierungen werden an den Wochenenden täglich gewechselt, allabendlich ein logistischer Kraftakt. Für einzelne Aufführungen werden sogar Reitpferde zur Arena gebracht und nach der Vorstellung wieder abtransportiert.

Kitel: Technik wird nur dann reingenommen, wenn sie auch benötigt wird. Vergleichbare Mehrzweckhallen funktionieren nur, wenn sie das ganze Jahr über bespielt werden. Der CO2Verbrauch bei der Vorbereitung ist zwar relativ hoch, aber auch nicht höher als bei großen OpenAir-Veranstaltungen auf der grünen Wiese. Hier sind wir mitten in der Stadt, die Leute kommen zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln; drumherum sind Hotels und Restaurants, also eine funktionierende Infrastruktur, die genutzt wird. Seul: Dennoch ist der CO2-Footprint vergleichsweise klein. Eine Sportveranstaltung mit 2.000 Zuschauern in einer modernen Halle erzeugt nach meiner Einschätzung mehr CO2 als ein Opernabend in der vollbesetzten Arena.

Kitel: Ließe sich deutlich verbessern: Busse könnten nach und nach auf Elektrobetrieb umgerüstet werden, das würde der gesamten Region guttun. Denn immer mehr Urlauber wollen, dass ihr touristischer Fußabdruck kleiner wird.

Auch ein beträchtlicher Teil des Publikums wird mit Reisebussen aus den Urlaubsorten am Gardasee und den umliegenden Ferienregionen nach Verona gefahren und wieder abgeholt. Andere, die in der Stadt eine Unterkunft gefunden haben, sitzen dann längst in einem der Restaurants an der Piazza Bra und lassen den Abend ausklingen. Ein Glas Wein aus dem Valpolicella, eine VerdiMelodie im Ohr, der spektakuläre Blick auf die Arena: Viel mehr mediterranes Lebensgefühl geht nicht.

v.l.n.r.: Antonella Arzone, Massimo Saracino, Klaus Grimberg

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Seul: Der indirekte CO2-Footprint der Arena ist nicht so gut, denn Besucher kommen nicht nur mit Bussen, sondern auch mit Autos und Flugzeugen nach Verona. Aber das ist das Wesen solcher Veranstaltungen. Immerhin hat der Veranstaltungsort einen sehr niedrigen Footprint.



Expertenfazit

„Entspricht nicht den Anforderungen der EU-Taxonomie“ Die Arena di Verona ist das nachhaltigste Gebäude, das mir bislang untergekommen ist. Allein deshalb, weil es schon so lange steht und so vielfältig genutzt wurde und wird. Ansätze wie „circular economy“, die man heute wiederzubeleben versucht, sind vor 2.000 Jahren perfekt umgesetzt worden. Das Bauwerk ist ein positives Beispiel dafür, dass Nachhaltigkeit keine Raketenwissenschaft ist und man auch mit einfachen Methoden ans Ziel kommt. Der EU-Taxonomie würde es guttun, stärker verbaute Emissionen in den Blick zu nehmen. Der Lebenszyklus der Arena ist zwanzig- bis vierzigmal höher als bei heutigen Mehrzweckhallen, bei denen man froh ist, wenn sie 50 Jahre halten. Hier aber haben wir ein Bauwerk, das 2.000 Jahre alt ist und immer noch genutzt wird, ein wunderbares Vorbild für Langlebigkeit. Unser Ziel heute müsste sein, dass Gebäude mindestens zwei oder drei Zyklen überstehen. Was die Materialien betrifft, wäre es kein Problem, sogar für 200 bis 300 Jahre zu bauen. Trotz seiner herausragenden Qualität entspricht die Arena di Verona nicht den Anforderungen der EU-Taxonomie. Denn sie müsste im Betrieb die Effizienzklasse A erreichen, und das wird schwierig, weil die Technik für das Opernfestival hin- und hergekarrt wird. Eventuell käme man doch in die Region der Klasse A, weil nicht geheizt und nicht gekühlt wird. Aber es gibt garantiert keinen Energieausweis für das Bauwerk und ohne den kann es nicht klassifiziert werden. Das offenbart ein großes Manko der EU-Taxonomie. Das Thema der Langlebigkeit wird derzeit an keiner Stelle angesprochen, auch der Aspekt der „circular economy“ kommt erst langsam rein, was bestimmte Recyclingquoten betrifft. Bislang sind das eher Randkonzepte. Die Arena di Verona aber wurde für eine gefühlte Ewigkeit gebaut. Klar kann man sagen, das ist eine Spezialimmobilie mit einer Spezialnutzung. Es geht jedoch nicht immer nur um die Nutzung, sondern auch um den Aufwand, der für einen Bau betrieben wird. Eines der Kernthemen der Taxonomie ist bislang der Energieverbrauch im Betrieb, die soziokulturelle Bedeutung eines Gebäudes spielt kaum eine Rolle: In Verona aber lassen sie ein Gebäude wie die Arena zu, weil es für die Gesellschaft insgesamt einen höheren Wert hat. Solche Dinge werden im Kontext von ESG noch viel zu wenig adressiert. Dabei ist es sehr hilfreich, auch mal aus dieser Perspektive auf das Thema zu schauen und zu überlegen: Wie haben die Menschen das eigentlich früher gemacht? Und was können wir uns davon abgucken?

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Quelle: Robert Kitel

Robert Kitel ESG-Experte, Alstria, Hamburg


Expertenfazit

„Für die Investoren bliebe nichts übrig“ Grundsätzlich würde es mich reizen, ein Asset wie die Arena di Verona einmal im Management zu haben. Denn mich fasziniert, dass dieses Bauwerk nach 2.000 Jahren immer noch kulturell genutzt wird. Welches Gebäude schafft es sonst noch, über einen so langen Zeitraum dem Zweck zu dienen, für den es einmal vorgesehen war – auch wenn sich die Art der Nutzung verändert hat? In Sachen Nachhaltigkeit ist das unschlagbar. Dieser Umstand überlagert alles andere. Der Fonds, den ich betreue, heißt jedoch „Living and Working“. Auch wenn das dehnbare Begriffe sind, fiele es mir schwer, die Arena unter dieser Überschrift in das Portfolio einzugliedern. Ich würde also vor allem wegen der Nutzungsart die Finger davon lassen. Denn meine Mitarbeiter und ich verstehen uns weder besonders gut auf die Organisation von Opernfestivals noch auf den Betrieb eines historischen Museums. Die Arena ist ohne Zweifel ein architektonisches und touristisches Highlight mit hohem Wiedererkennungswert. Als Investitionsobjekt aber taugt sie nicht.

Quelle: Swiss Life Asset Managers GmbH

Walter Seul Fondsmanager, Swiss Life KVG, Frankfurt

Am Ende bin ich Kaufmann, dessen Aufgabe es ist, die Investitionen der Kunden gut anzulegen und eine ansprechende Rendite zu erwirtschaften. Im Falle der Arena hieße das, Kosten zu minimieren, um den Gewinn zu erhöhen. Das würde bedeuten, die Investitionen in die Inszenierungen zu kürzen und womöglich nur noch eine Aufführung pro Saison anzubieten. Vermutlich würde dann auch keine Oper mehr gespielt, sondern eine Musical-Show, die sich noch besser vermarkten ließe. Das aber stünde in starkem Kontrast zur Verdi-Tradition in Verona, zu dessen 100. Geburtstag 1913 die Sommerfestspiele begründet wurden. Gegen ein Investment spricht aus meiner Sicht zudem die Organisation von Verwaltung und Betrieb. Selbst wenn es gelänge, eine effiziente Institution und einen gut funktionierenden Beirat zu installieren, so würde diese Arbeit viele Ressourcen binden und wenig Ertrag bringen. Mögliche Gewinne müssten überdies in den Erhalt des Monuments investiert werden, man denke nur an die veraltete Elektrik. Für die Investoren in den Fonds bliebe da am Ende nichts übrig.

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Im Dorf ist Feierabend

Scheitenkorb ist ein Ort mit 30 Einwohnern. Früher lebten sie dort vor allem von der Landwirtschaft. Doch die Landwirtschaft hat sich geändert und mit ihr die Menschen und ihre Häuser. Aus Bauern wurden Angestellte, aus Ställen Wohnungen. Laden oder Wirtshaus sucht man vergeblich. Das Dorfleben findet erst nach Feierabend statt.

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Text | Christoph von Schwanenflug, Mitarbeit: Marius Katzmann Fotos | Christof Mattes

Das Wetter ist an diesem Sonntag im April herrlich. Blauer Himmel, fast schon T-Shirt-Wetter. Von der Autobahnabfahrt Waxweiler ist es noch eine halbe Stunde bis zu unserem Ziel. Die Fahrt geht durch das enge, bewaldete Tal der Enz. Dann wieder steigt die Straße steil an und die weiten, baumlosen Höhen der Südeifel kommen zum Vorschein. Hier drehen sich die Windräder, Photovoltaikanlagen säumen unseren Weg. Bei klarem Wetter kann man am Horizont die Wasserdampfwolken aus den Kühltürmen des französischen AKW Cattenom gut erkennen. Das mittelalterliche Städtchen Neuerburg mit seiner gut erhaltenen Burganlage lassen wir links liegen. Wir sind etwas spät dran. Endlich, auf der Kreisstraße 47, kurz nach Karlshausen kommt ein Schild. „Scheitenkorb 1 km.“ Wir sind da. Eine Minute später fahren wir vor dem „Haus Kotz“ vor. Dina, die Hündin, bellt wie verrückt und lässt uns kaum aus dem Auto steigen.

Aus der Tür tritt Arnold Kotz, Jahrgang 1966, verheiratet, zwei Kinder und seit 30 Jahren der Ortsbürgermeister. Sein Gesicht und die starken Arme sind von der Arbeit auf dem Feld braun gebrannt. „Wie war die Fahrt?“ Kotz wird bei unseren Besuchen, die in den nächsten Wochen noch folgen, unser wichtigster Ansprechpartner sein, eine Art Bindeglied zwischen Zeitung und Dorfgemeinschaft. Mit ihm tauchen wir ein in das Leben eines Dorfes, das in den vergangenen Jahrzehnten sein Aussehen erheblich verändert hat. Fast alle Bauern haben ihre Betriebe aufgegeben, viele arbeiten heute in Luxemburg. Aus den ehemaligen Ställen sind Wohnhäuser geworden. Die Felder sind teilweise unter Solarpaneelen verschwunden.

Ein gutes Dutzend Gebäude, Wohneigentumsquote 100%. Kein Laden, keine Kneipe, nur eine Bushaltestelle mit Wartehäuschen, ein Briefkasten und eine Kapelle mit einem goldenen Wetterhahn auf der Turmspitze. Und einmal in der Woche kommt die Prümtaler Mühlenbäckerei mit einem Verkaufswagen vorbei. Scheitenkorb, ein Dorf in der Eifel (Rheinland-Pfalz), ist eine der kleinsten Gemeinden Deutschlands. Aber deswegen sind wir nicht hier. Wir sind hier, weil in Scheitenkorb genau 30 Menschen leben. Ein Ort mit 30 Menschen, eine Zeitung, die 30 Jahre alt wird. Eine naheliegende Geschichte.

„Als ich mit 27 Jahren hierhergezogen bin, waren alle Bauern. Jetzt gibt es nur noch einen.“

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Wir sitzen am Esstisch der Familie. Kotz kommt gleich zum Thema. „Der Hof gegenüber hat sein Vieh vor drei Jahren abgegeben.“ Er holt sein Handy heraus und ruft den aktuellen Weltmarktpreis für Weizen auf. „Hätten wir mal im Herbst per Kontrakt für 430 Euro pro Tonne verkauft“, seufzt er. „Jetzt verkaufen wir den Weizen zum Tagespreis von 270 Euro.“ Ehefrau Helga Kotz, Jahrgang 1969, serviert belegte Brote und Kaffee. „Als ich mit 27 Jahren hierhergezogen bin, waren alle Bauern. Jetzt gibt es nur noch einen.“ Sie arbeitet halbtags als Pfarrsekretärin in Neuerburg. Das Leben hat sie zur Expertin für Strukturwandel gemacht: In Neuerburg, wo sie geboren und aufgewachsen ist, gibt es fast keine Läden mehr, in Scheitenkorb, wo sie eingeheiratet hat, grassiert das Höfesterben. Ihre Kinder haben landwirtschaftsnahe Berufe ergriffen, sind aber selbst nicht Landwirte geworden. Tochter Kerstin, Jahrgang 1996, hat Tiermedizin studiert, Sohn Andreas, Jahrgang 1998, ist Mechatroniker für Land- und Baumaschinen. Beide arbeiten in Deutschland. In Scheitenkorb ist es fast schon wichtig, darauf hinzuweisen.

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Die Gegend hängt, so scheint es, wirtschaftlich am Tropf von Luxemburg, das Luftlinie kaum fünf Kilometer entfernt ist. Der Einfluss der Jobmaschine im Dreiländereck Deutschland, Belgien und Frankreich ist überall zu spüren. Der Energieversorger Encevo baut in der Verbandsgemeinde Südeifel, zu der Scheitenkorb gehört, gerade den größten Photovoltaikpark von Rheinland-Pfalz. Rund 70% des Stroms gehen nach Luxemburg. Scheitenkorb steuert zu diesem Projekt 20 ha Land bei. Luxemburger kaufen auch die aufgegebenen Höfe in Scheitenkorb. Wie zur Bestätigung piepst mein Handy. Die Telekom teilt uns mit, mit welchem Provider wir in Luxemburg telefonieren können. „In Luxemburg bekommt sogar der Baggerfahrer ein Firmenauto, damit er bleibt“, scherzt Kotz. Der Arbeitskräftemangel im Nachbarland ist notorisch. Luxemburg benötigt nicht nur Fondsmanager, Rechtsanwälte und EU-Beamte. Täglich pendeln Zehntausende von Bauarbeitern, Krankenschwestern, Verkäuferinnen, Lkw-Fahrern und Handwerkern ein.


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Die Familie Kotz gab die Viehhaltung 2009 auf. In eineinhalb Jahren wurde das Stallgebäude, in dem 170 Kühe standen, in ein Wohnhaus umgebaut. Dabei fanden sich noch verkohlte Holzbalken von einem Brand Anfang des 20. Jahrhunderts. Es entstanden 200 Quadratmeter Wohnfläche inklusive einer Einliegerwohnung für Kotz’ Mutter. Das Haus ist seitdem auch das Parlamentsgebäude von Scheitenkorb: Im großzügigen Wohn- und Essbereich im ersten Stock trifft sich die siebenköpfige Gemeindevertretung. Die Aufgabe der Milchwirtschaft war eine Vernunftentscheidung. „Mit 180 Kühen bist du heute klein“, sagt Kotz über die stetig wachsenden Betriebsgrößen in der deutschen Landwirtschaft. Statt eines Traktors parkt in seinem Hof jetzt ein weißer Transporter der Firma Lux Energie. Traktor und Mähdrescher gibt es auch noch, sie stehen in der Scheune hinter dem Haus. Nach Feierabend und am Wochenende baut Kotz mit seinem Sohn Mais, Weizen, Raps, Braugerste, Gras, Klee, Dinkel und Luzerne an, eine Nutzpflanze, die als Viehfutter verwendet wird.

Die St. Petrus-Kapelle: Ergebnis eines Lotteriegewinns.

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Nach einiger Zeit wird Kotz das Sitzen zu mühsam. Der Rücken. Die Doppelbelastung – tagsüber der Job in Luxemburg, nach Feierabend die Arbeit auf dem Feld – fordert ihren Tribut. Der Arzt hat ihn krankgeschrieben. Nur deshalb hat er überhaupt Zeit für ein Interview. Er schnappt sich die Hundeleine. Zusammen mit Dina machen wir einen Spaziergang. Die 1857 erbaute St. Petrus-Kapelle steht direkt neben dem Haus. Wir blicken in einen hellen Kirchenraum, an dessen Ende ein reich vergoldeter Altar aus blau-grauem Marmor erstrahlt. Gestiftet hat das Gotteshaus ein frommer Scheitenkorber Bürger, der in einer Lotterie gewonnen hatte. Gottesdienste finden hier allerdings nur noch zweimal im Jahr statt. Rund um die Kapelle liegt der Friedhof. Auf den mustergültig gepflegten Gräbern stehen die Namen, nach denen auch die Häuser im Dorf benannt sind: Meyers, Wolter, Bonifas, Kandels, Bisenius, Dockendorf. „Früher war es bei uns so, dass die Nachbarn das Grab für einen Toten ausgehoben haben.“ Früher – wie oft fällt dieses Wort während unserer insgesamt vier Besuche in Scheitenkorb?

Zweimal im Jahr wird hier Gottesdienst gefeiert.


„Auf dem Höhepunkt hatten wir 150 Tiere.“ Früher Ackerbauen, jetzt Sonnenbauern: Oswald Diederich (links) mit Frau Monika und Sohn Jürgen.

Der Wind bläst so heftig, dass wir die Gespräche, die wir mit dem Smartphone aufzeichnen, später kaum noch verstehen können. In der Ferne drehen sich drei Windräder, darunter glitzern mit Solarpaneelen überzogene Bergrücken in der Sonne, als seien sie ein Gewässer. Kotz hat Recht. „Die Energiewende wird in der Stadt beschlossen, aber auf dem Land umgesetzt.“ Wir erfahren, dass in manchen Bäumen noch Granatsplitter aus dem Zweiten Weltkrieg stecken. Direkt an Scheitenkorb lief der Westwall vorbei. „Wir haben hier noch einen alten Lagerstollen und Schutzstollen für die Bevölkerung. Der ist noch erhalten. Da sind jetzt die Fledermäuse eingezogen.“ Kurze Zeit später stehen wir vor einem vergitterten Tunneleingang. Nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs war Kotz schon einmal hier. Mit Vertretern der Bundeswehr. Sie wollten nachsehen, ob man den Stollen im Fall der Fälle noch benutzen könne.

Auf dem Rückweg zum Dorf entsteht dann die Idee: Wir veranstalten ein Grillfest! Die Immobilien Zeitung spendiert Fleisch und Bier, der Bürgermeister trommelt die Bevölkerung zusammen. So können wir auf zwanglose Weise weitere Dorfbewohner kennenlernen – für die Scheitenkorber dagegen ist es eine Gelegenheit, mal wieder zusammenzusitzen. Denn so oft wie vor 30 Jahren, als es noch sieben Bauern gab, sieht man sich nicht mehr. Scheitenkorb ist heute ein Nach-Feierabend-Dorf. Nur eine Familie hält die Fahne der Landwirtschaft noch hoch, die anderen pendeln tagsüber alle weg. Am 10. Juni ist es so weit. Wir fahren frühmorgens in Wiesbaden los. Das Fleisch holen wir bei Batz in Arzfeld, eine der letzten Metzgereien in der Gegend, die Getränke bei Bonefas in Lünebach, wo sich die BitburgerKästen im Hof türmen. Als wir um die Mittagszeit ankommen, sind der Grill, Brot und verschiedene Salate in der Garage schon aufgebaut. Das Fest kann beginnen.

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Bis zum Nachmittag sind etwa zwei Drittel der Dorfbewohner gekommen. Der ehemalige Bauer Oswald Diederich mit seiner Frau Monika, die lange ein Hospiz geleitet hat. Sohn Jürgen, der als Landmaschinenmechaniker in Luxemburg arbeitet, mit seiner Tochter Marie und Frau Sabrina, die im Nachbarort Karlshausen eine Stelle im Kindergarten hat. Simone Meiers, die aus Sachsen kommt und noch nie eine Kuh angefasst hatte, bevor sie nach Scheitenkorb zog. Hermann Meiers, ihr Mann. Er wurde durch eine Schulterverletzung berufsunfähig, gab 2015 die Viehhaltung auf, investiert heute in Immobilien und verpachtet Flächen für Photovoltaikanlagen. Seine Mutter Kordula Meiers. Die Schülerinnen Amy Zeus und Joyce Faber. Ihre Mutter Natascha Bill aus Luxemburg hat vor zwei Jahren einen heruntergekommenen Hof gekauft. Karsten Skrzys ist gekommen, der mit seiner Frau aus Nordrhein-Westfalen zugezogen ist. Andreas Kotz, der Sohn des Bürgermeisters, und seine Schwester Kerstin Malambre, die Tierärztin, sind auch da. Und schließlich Wolfgang Thiex, 1. Beigeordneter und Jagdvorsteher von Scheitenkorb. Er wohnt nebenan im „Haus Falz“. Es war sein Ururonkel, der die Kapelle gestiftet hat.

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Thiex, wie Bürgermeister Kotz ein 1966er Jahrgang, tickt ganz anders als sein Nachbar. Während dieser die Landwirtschaft im Nebenerwerb aufrechterhält, und sei es nur, um seinem Sohn die Möglichkeit der Übernahme nicht zu verbauen, bedauert Thiex, nicht schon viel früher aufgehört zu haben. Die Landwirtschaft ist in seinen Augen nur noch ein „teures Hobby“, er hat alle seine Felder verpachtet. Im Hauptberuf fährt er seit 2007 Lkw für einen Landhandel in Luxemburg. Trotzdem sagt er noch immer „wir“, wenn er den Bauernstand gegen die in seinen Augen unsinnigen Vorschriften und Gängelungen der Politik verteidigt.

„Bis jetzt lebe ich gut hier.“

Thiex ist unverheiratet und hat keine Kinder. Er wohnt mehr oder weniger noch so, wie er das Haus von seinen Eltern übernommen hat. Für wen sollte er auch umbauen? „Mit mir läuft es aus.“ Was aus dem Ende des 18. Jahrhunderts erbauten Hof mit einem denkmalgeschützten, 150 Jahre alten Kastanienbaum vor der Tür einmal werden wird, ist offen. „Bis jetzt lebe ich gut hier.“ Ganz zum Schluss erscheint die Familie B. aus Luxemburg. Erst vor wenigen Wochen haben sie das „Haus Schilz“ gekauft, ein Wohngebäude mit zwei Etagen, 190 Quadratmeter Wohnfläche, zwei Hektar Grundstück, Hühnern und einer Halle. Tochter Lara studiert Heilpädagogik, sie möchte aus dem Anwesen einen therapeutischen Bauernhof machen. Ein wenig schüchtern kommt die Familie auf ihre neuen Nachbarn zu. Es ist das erste Mal, dass die Luxemburger Neubürger auf die Dorfgemeinschaft treffen. Wir lernen auch Elfriede Kotz kennen, die Mutter des Bürgermeisters. Sie sitzt an die Hauswand gelehnt auf einer Bank und scheint noch nicht genau zu wissen, was sie von diesem Grillfest halten soll. „Früher hätten wir hier nicht sitzen können, die Hauswand und der Boden waren schwarz vor Fliegen“, beginnt sie. Die Fliegen! Als überall in den Ställen noch Kühe standen, war das die große Plage von Scheitenkorb. Heute ist der Ort mehr oder weniger fliegenfrei. Dafür gibt es aber auch kaum noch Schwalben, und das bedauert Elfriede Kotz sehr. Sie ist die älteste Einwohnerin von Scheitenkorb, die auch hier geboren wurde. Sie hat den großen Sturm erlebt, der Scheitenkorb 1990 heimsuchte und in Nullkommanichts das Kirchendach abdeckte. 1938 kam sie im „Haus Kessels“ zur Welt. Ihr Vater brach das Feld noch mit Pferden und Ochsen um, wie „pflügen“ in der Eifel heißt. Den Pflug gibt es immer noch, er steht vor ihrer Einliegerwohnung. Wie ein Museumsstück. Beim Rundgang über den Hof frage ich sie, ob sie das Leben früher besser fand. „Früher war Arbeit von fünf bis elf“, antwortet sie. Melken, Kinder fertig machen, das Vieh auf die Weide treiben, Hausarbeit, Feldarbeit. Aber man sei sein eigener Herr gewesen. Das „Geld“ von heute sei aber auch nicht zu verachten. Und noch etwas hebt die Dorfälteste hervor: Es gebe weniger Kinder. „Als Arnold ein Junge war, hatten wir hier eine ganze Fußballmannschaft.“

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„Früher war Arbeit von fünf bis elf.“


Nur eine Gruppe fehlt auf diesem Grillfest: die Familie B., die letzten im Dorf, die Milchwirtschaft betreiben. Gäbe es die B.s nicht, würde man in Scheitenkorb gar keine Kühe mehr sehen. An einem Gespräch haben sie aber kein Interesse und auf ein irgendwie geartetes Heile-Welt-Foto mit den anderen Dorfbewohnern schon gar nicht. „Sie hätten sich ein anderes Dorf aussuchen sollen“, sagt uns die Bäuerin. Zum Dorf hat sie offenbar ein sehr distanziertes Verhältnis. „Scheitenkorb ist da, wo unser Betrieb ist. Wäre der Betrieb woanders, wären wir dort.“

Die neue Attraktion: ein Militärlaster aus dem Zweiten Weltkrieg.

Mittlerweile hat das Fest an Fahrt aufgenommen. Die Kinder spielen Karten, die Gespräche der Erwachsenen drehen sich um die Landwirtschaft. Wolfgang Thiex stichelt gegen die biologische Landwirtschaft. „Wussten Sie, dass auch Bio-Kühe mit Antibiotika behandelt werden?“, fragt er mich. Kotz’ Tochter, die Tierärztin, schaltet sich ein. Das sei zwar richtig, allerdings dürfe die Milch dieser Kühe erst nach 56 Tagen wieder als Bio-Milch verkauft werden. Bei konventioneller Viehhaltung seien die Bestimmungen weniger streng.

Es beginnt zu dämmern. Oswald Diederich kommt auf uns zu. „Wollen Sie auch mal unser Haus sehen?“ Der ehemalige Hof der Diederichs liegt am Ortsrand. Als wir ankommen, geht gerade die Sonne unter. Diederich gab die Landwirtschaft schon 2002 wegen einer Herzkrankheit auf. Sein Sohn führte den Hof noch eine Zeitlang neben seinem Hauptberuf weiter. Das endgültige Aus kam 2016 sehr plötzlich. „Ich hatte eine OP, mein Sohn war auf einem Lehrgang.“ Von einem Tag auf den anderen war niemand mehr da, der sich um das Vieh kümmern konnte. Ende Februar 2016, auf den genauen Tag können sich Vater und Sohn nicht mehr einigen, wurden die Tiere abgeholt. „Da war leer.“

In Scheitenkorb werden u.a. Mais, Weizen und Braugerste angebaut.

Wenn Sohn Jürgen wollte, könnte er den Ackerbau wohl jederzeit wieder anfangen. Der gesamte Maschinenpark, der für die Landwirtschaft nötig ist, steht in einer imposanten neuen Halle hinter dem Haus. Auch Oswald Diederich hat den ehemaligen Kuhstall in ein Wohnhaus umgebaut. Zweigeschossig, mit Holzbank und Tisch, Blumenkübeln und einem Springbrunnen davor. Der Sohn hat nebenan neu gebaut – ein Einfamilienhaus mit Doppelgarage. An dieser Stelle sieht Scheitenkorb tatsächlich schon aus wie ein Neubaugebiet.

Während sich Thiex noch über die Verordnung lustig macht, biegt plötzlich ein olivgrüner amerikanischer Militärlaster aus dem Zweiten Weltkrieg in den Hof ein. Marschieren jetzt etwa die Amerikaner wieder in Scheitenkorb ein wie schon einmal 1945? Nein, es ist nur Herr B. aus Luxemburg, der den neuen Nachbarn ein Prachtexemplar aus seiner Sammlung von historischen Fahrzeugen vorführen will. Innerhalb weniger Augenblicke haben sich die Männer um den tipptopp restaurierten Laster versammelt. Herr B. öffnet die Kühlerhaube. Er wird, so viel ist klar, nie mehr ein Fremder in Scheitenkorb sein.

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Am nächsten Morgen treffen wir Natascha Bill aus Luxemburg. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten Mouton Loïk kaufte sie 2021 für rund 270.000 Euro einen Hof mit Wohnhaus, Schafen und einem Traktor. In den letzten zweieinhalb Jahren hat das Paar aus dem heruntergekommenen Betrieb eine kleine Ranch gemacht – mit Pferdestall, Reitplatz, Paddock, Weidezelt und einem Swimmingpool. Die Verwirklichung ihres Traums, ein Stall für Pensionspferde und Freizeitreiter, finanzieren sie mit ihren Jobs in Luxemburg: Bill arbeitet als Krankenpflegerin, ihr Freund in einem Dressurstall. Da, wo sie herkommen, wäre ein solches Projekt utopisch gewesen, sagt Loïk. „Für so etwas bezahlst du in Luxemburg Millionen.“

Die „Ranch“ von Natascha Bill und Mouton Loïk.

Natascha Bill und Mouton Loïk mit ihren Pferden.

Mit dem Besuch bei Natascha Bill endet die Mission Scheitenkorb. Wir haben ein Dorf kennengelernt, dessen Bewohner sich permanent an den Strukturwandel anpassen. Sie verkaufen ihr Vieh, verpachten ihr Land, ergreifen andere Berufe und bauen neue Häuser. Manche wie Bürgermeister Kotz versuchen, die alte und die neue Welt unter einen Hut zu bringen. Sie gehen in Luxemburg arbeiten, sitzen während der Erntezeit aber trotzdem noch bis drei Uhr früh auf dem Mähdrescher. Gerade ist Photovoltaik das große Ding. An die Stelle von Kühen treten die Pferde für Freizeitreiter. Und noch etwas fällt auf: Immer geht es in den Gesprächen um Land. Wie es genutzt wird, was es wert ist, wer wie viel hat und ob es jemandem gehört oder nur gepachtet ist.

Der wöchentliche Besuch der Prümtaler Mühlenbäckerei.

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„Die Landwirtschaft ist nur ein teures Hobby.“ In Scheitenkorb gibt es nur noch einen Vollerwerbslandwirt.

Wären wir vor 30 Jahren hier gewesen, hätte Scheitenkorb ganz anders auf uns gewirkt: Aus einem halben Dutzend Ställen hätten Kühe gebrüllt. Es hätte auch noch Schweine gegeben. Die Straßen wären voller Dreck gewesen, Schwalben wären in den Ställen ein- und ausgeflogen, Fliegen hätten Mensch und Tier geplagt. Heute sind die Straßen sauber. Scheitenkorb, 276 Hektar groß, wandelt sich zu einem Ort, in dem sich Menschen ihren Traum vom Immobilieneigentum erfüllen können. In diesem Punkt ist es ein Dorf wie viele andere.

Aus Sachsen in die Eifel: Simone Meiers mit Ehemann Hermann.

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Wir schauen zum Abschied noch einmal bei Bürgermeister Kotz vorbei. Bis halb eins in der Früh hätten sie gestern noch gesessen, erzählt er. Er scheint zufrieden zu sein. Auch wenn nicht alle dabeigewesen sind, das Dorf ist mal wieder zusammengekommen und hat sich ausgetauscht. Kotz gibt uns ein Buch zurück, das wir ihm geliehen hatten, weil wir dachten, es könne ihn interessieren. „Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben“ von Ewald Frie. Eines der am meisten verkauften Sachbücher des Jahres 2023. Er verliert kein Wort darüber. Vielleicht ist die Geschichte, die da erzählt wird, zu nah dran an seinem eigenen Leben. Generationentreff beim Grillfest.

Zurück in Wiesbaden hören wir uns noch einmal an, wie der Bürgermeister die Zukunft von Scheitenkorb sieht. „Früher war Scheitenkorb ein Arbeitsund Wohnort. Da war tagsüber immer viel Betrieb im Dorf. Man hat auch mehr Leute gesehen. Das fängt jetzt abends nach 18 Uhr an. Dann ist jeder von der Arbeit zurück. Da hat jeder sein Projekt, das er durchzieht. Deswegen denke ich, dass wir mehr ein Wohnort werden. Zwar nicht so, wie man das in der Stadt kennt. Aber eben nach Feierabend.“

„Ein Wohnort, aber erst nach Feierabend.“

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Foto: Bernhard Widmann

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ICH Text | Peter Dietz Fotos | Christof Mattes & Max

suche ein Haus In Deutschland leben zehn Millionen Hunde. Auch sie müssen ab und zu umziehen. Unser Hund Max hat die Wohnungssuche deshalb selbst in die Pfote genommen. Ausgestattet mit einer Kamera auf dem Rücken ließ sich der Mischling aus Golden Retriever und Border Collie zwei Häuser im Rhein-Main-Gebiet vorführen. Gekauft hat er am Ende doch nicht. Es waren zu wenig Leckerli auf seinem Konto.

Als Medienprofi hat Max seine Besichtigungen natürlich selbst gefilmt. Den Director’s Cut gibt es über diesen QR-Code.

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Hans-Christian Kluttig: Hallo Herr Dietz, heute schauen wir uns eine ganz besondere Immobilie an. Ein Zweifamilienhaus Baujahr 1873. Das Objekt ist ein denkmalgeschütztes Haus in Wiesbaden-Biebrich.

MAX

Hans-Christian Kluttig: Das ist ein altes Bauernhaus mit ganz besonderem Charme. Es gibt eine Hauptwohnung mit 160 Quadratmetern sowie eine Einliegerwohnung mit 75 Quadratmetern, die vermietet ist. Beide Wohnungen können aber auch zusammengelegt werden.

MAX

Hier wohnt schon ein Hund. Riecht nach Rüde, Rauhaardackel. Und wo ein Hund wohnt, gibt’s auch was zu fressen. Also schließ endlich die Tür auf, großer Mann, damit ich im Haus suchen kann.

Die stehen immer noch an der Treppe und labern, ich geh schon mal in die Küche. Wenn mich mein Geruchssinn nicht täuscht, liegen in der Schublade ein paar Leckerlis. Riecht nach Entenfilets.

Martin Rütter (aus dem TV bekannter Hundetrainer, Programm „Der will nur spielen“): Stadt oder Land? Dem Vierbeiner ist völlig egal, ob er in einer 20 Quadratmeter großen Stadtwohnung oder in einer Landhaus-Villa mit persönlichem Diener lebt.

Forschungsergebnis: Der Geruchssinn von Hunden ist viel stärker ausgeprägt als beim Menschen. Entscheidend dafür ist die Menge der Riechzellen. Ein Schäferhund etwa hat mehr als 220 Millionen Riechzellen; beim Menschen sind es lediglich 5 Millionen. Hunde erschnuppern Geldscheine in verschlossenen Koffern oder andere Dinge, die bis zu 12 Meter unter der Erde liegen. Trainierte Spürhunde sollen eine Leiche selbst durch 5 Meter Beton riechen können.

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30 JAHRE TREFFSICHER! Mit eurem Journalismus bringt ihr die Dinge stets auf den Punkt und trefft so manchen Nerv. Wir gratulieren sehr herzlich zu 30 Jahren kritischer und engagierter Berichterstattung rund um die Immobilienwirtschaft!


Hans-Christian Kluttig: Hier sehen Sie ein Schlafzimmer. Das misst gut 15 Quadratmeter. Sie merken natürlich den Altbau. Typisch für ein altes Haus, finden Sie hier keinen rechten Winkel.

MAX

Hans-Christian Kluttig: Diese Treppe führt nach oben ins Wohnzimmer. Von dort aus haben Sie einen schönen Blick in den Garten. Sie sind von hier aus übrigens in fünf Minuten im Biebricher Schlosspark.

MAX

Wau! Das Körbchen direkt neben dem Bett von Herrchen. Was für ein Luxus für den Dackel! Ich darf nicht ins Schlafzimmer, vermutlich weil ich nachts öfter mal pupse und laut träume. So einen Schlafplatz wollte ich aber auch gar nicht, der ist viel zu weich.

Mann, ist das steil hier. Und die Stufen sind super-rutschig, da haben meine Pfoten gar keinen Halt! Das gibt einen Minuspunkt. Ich bin schon mal eine Treppe runtergefallen. Danach ging’s erst zum Tierarzt, dann gab es einen Verband und Pause beim Gassigehen. Der kleine Dackel, der hier noch wohnt, lässt sich doch bestimmt hochtragen.

Susanne Wolfert (Hundekommunikatorin und Tiercoach aus NeuIsenburg): Bei Hunden gibt es Weich- und Hartschläfer. Manche liegen lieber auf den blanken Fliesen, andere auf einem Kissen im Körbchen. Aber alle brauchen einen sicheren Platz zum Rückzug.

Susanne Wolfert: Treppen steigen ist eigentlich kein Problem für Hunde. In der Natur laufen sie ja auch über Felsen und Äste. Wenn die Stufen in der Wohnung arg glatt sind, hilft ein Treppenteppich. Auch Wohnen im oberen Stockwerk ist kein Problem. Ich kenne sogar Hunde, die Fahrstuhlfahren cool finden.

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Hans-Christian Kluttig: Die Hauptwohnung hat insgesamt fünf Räume, zwei Bäder und ein Gäste-WC. Hier haben sich die Eigentümer ein Arbeitszimmer eingerichtet, das gleichzeitig auch als Musikzimmer genutzt wird.

MAX

Hans-Christian Kluttig: Zum Objekt gehört ein Carport mit zwei Stellplätzen sowie ein großer Garten mit Pavillon, der bei schönem Wetter als Sommerwohnzimmer genutzt werden kann. Das Grundstück ist rund 400 Quadratmeter groß.

MAX

Wonach riecht es denn hier? Kommt das von dem netten Mann? Nein. Aha! Hier hinten im Raum ist es – ein Kauknochen! Direkt in diesem Fellkissen. Das Wichtigste haben die Menschen also mal wieder übersehen.

Hier gibt es jede Menge Grünzeug. Und auf den großen Steinen könnte ich meinen Wachposten beziehen. Ist im Sommer sicher schön warm. Ich bin schon auf den Briefträger gespannt.

Susanne Wolfert: Wo der Hund sein Futter bekommt, ist ihm egal. Es kann die Küche sein oder ein anderer Ort. Man sollte nur darauf achten, dass er beim Fressen seine Ruhe hat und nicht gestört wird.

Martin Rütter: Territorial veranlagte Hunde nehmen gerne die Rolle als Eingangswächter ein. Dies kann dann dazu führen, dass sie entscheiden wollen, welche Personen das Haus betreten dürfen und welche nicht.

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Sibylle Naumann: Guten Tag Herr Dietz, willkommen in Geisenheim im schönen Rheingau. Ich zeige Ihnen heute ein Fertighaus mit einer Wohnfläche von rund 170 Quadratmetern.

MAX

Sibylle Naumann: Hier im Wohnzimmer sind noch die alten Holzfenster drin; die sind noch sehr gut erhalten. Das Haus ist insgesamt hervorragend gedämmt. Beheizt werden die Räume über eine Gaszentralheizung aus dem Jahr 1989.

MAX

Tolles Gelände. Da muss ich gleich mal mein Revier kennzeichnen und den Nachbarhunden zeigen, wer hier der neue Herr im Haus sein wird. Es kann nur einen geben!

Ja, ja, Dämmung. Keine Ahnung, was das ist. Ich muss mal weg von diesem warmen Klotz hier. Ich will zwar nachts nicht frieren, wenn ich hier am Fenster liege und in den Sternenhimmel schaue. Aber das ist mir jetzt doch zu warm. Nebenan ist die Küche – super!

Forschungsergebnis: Bei der Reviermarkierung handelt es sich um eine Kommunikationsmethode. Durch das Urinieren hinterlassen Hunde Spuren ihres Eigengeruchs, mit dem sie andere Hunde auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen. Damit sagen sie: „Das ist meins“ oder „ich war hier“. So stecken Hunde die Grenzen ihres Reviers ab.

Susanne Wolfert: Hunde schlafen bzw. dösen bis zu 16 Stunden am Tag. Während des Schlafs sinkt die Körpertemperatur, da sie sich nicht bewegen. Sobald ein Hund zu zittern beginnt, ist ihm bereits zu kalt. Ein warmes Körbchen mit Decke kann nicht schaden.

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Sibylle Naumann: Wir befinden uns jetzt in der Küche mit angeschlossener Speisekammer. Die Einrichtung und die Küchengeräte haben wir mal drin gelassen. Das sieht schöner aus und man kann sich die Anordnung der Möbel besser vorstellen.

MAX

Sibylle Naumann: Das Objekt bietet viel Platz, zum Beispiel fünf Schlafzimmer. Gerade in Zeiten von Homeoffice sind mehrere abgeschlossene Räume sehr von Vorteil. Und das Haus punktet mit zwei Bädern und einem Gäste-WC.

MAX

Wer macht denn sowas? Die Einbauküche ist dringeblieben, aber die Speisekammer fast komplett leergeräumt. Immerhin ist jetzt Platz für Hundefutter.

Oh Mann, was für Fliesen! Solche Sachen hat man in den 70er Jahren verbaut? Bei der Farbe wird ja sogar ein Hund blind! Herrchen, das willst Du mir doch nicht wirklich antun?

Forschungsergebnis: Es gibt zahlreiche Studien und Doktorarbeiten, die sowohl dafür als auch dagegen sprechen, den Hund vegetarisch zu ernähren. Die Diskussion dreht sich auch darum, ob es sich bei Hunden um Fleischfresser oder Allesfresser handelt. Denn als Allesfresser könnten sie auf vegetarisches Fressen umgestellt werden.

Forschungsergebnis: Hunde galten lange als farbenblind, doch mittlerweile haben zahlreiche Studien belegt, dass Hunde farbig sehen können. Allerdings unterscheidet sich ihr Farbspektrum von dem des Menschen: Sie können nur den blauen und den gelben Spektralbereich wahrnehmen, während die Menschen zusätzlich den roten Bereich erkennen.

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Sibylle Naumann: Hier im Gartengeschoss gibt es ein weiteres Schlafzimmer mit einem schönen Blick in den Garten und auf die Terrasse.

MAX

Sibylle Naumann: Das eingewachsene Grundstück ist 635 Quadratmeter groß. Der Garten und die beiden Terrassen sind gut geschützt vor den Blicken der Nachbarn.

MAX

So ein leerer Raum, völlig uninteressant. Aber hier im Keller riecht es eindeutig nach Wasser. Kommt das etwa aus der Wand? Da ist bestimmt was kaputt.

Ich habe genug Wohnungen gesehen. Am liebsten würde ich gar nicht umziehen. Muss das meinem Herrchen mal mitteilen. Wenn ich nur nicht zu müde zum Bellen wäre …

Forschungsergebnis: Hunde können die Stoffwechselprodukte der Schimmelpilze riechen und so auch verdeckte Vorkommen von Pilzen genau anzeigen. Es gibt sogar Sachverständigenbüros, die gezielt Schimmelsuchhunde einsetzen, sowie eine Richtline für die Zertifizierung der Hunde vom Bundesverband Schimmelpilzsanierung.

Forschungsergebnis: Bellen ist eine Art der Kommunikation eines Hundes. Damit gehört Bellen zu den typischen Lautäußerungen dieser Lebewesen und muss bis zu einem gewissen Grad akzeptiert werden. Hält das Bellen jedoch sehr lange an oder tritt es häufig innerhalb der Ruhezeiten auf, haben die Nachbarn das Recht, sich darüber zu beschweren. Dann kann das Bellen als unzumutbare Störung und damit als Lärmbelästigung eingeordnet werden.

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Kathedrale im Kloster Pischoi (Bild links). Kirche am Kloster Baramous (rechts oben). Der aus Hamburg stammende Pater Kosman (rechts unten). 156


Der Bauboom der Mönche Text & Fotos | Friedhelm Feldhaus

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Zwischen dem 4. und 11. Jahrhundert erlebt die Wüste westlich von Kairo eine Blütezeit. Koptisch-christliche Siedlungen mit bis zu 50 Klöstern und tausenden von Einwohnern entstehen im Wüstensand und versinken wieder in ihm – bis auf vier koptische Klöster im Wadi an-Natrun. Nach 1.000 Jahren erfahren sie eine Renaissance und werden wieder zu Oasen der Kultur, des Glaubens und der wirtschaftlichen Prosperität für die acht Millionen Kopten in Ägypten.

Bischof Thomas erzählt mir am ersten Tag meines Aufenthalts in Ägypten eine Geschichte, die ich in den nächsten Tagen noch häufiger höre. „Präsident Sadat flog mit seinem Helikopter über die Wüste und sah eine grüne Fläche. Er befahl zu landen und war im Kloster Makarios. Der Präsident fragte die Mönche nach dem Grün und sie erklärten ihm, wie sie die Wüste fruchtbar machen: mit sparsamer Tröpfchenbewässerung. Seit den 1970er Jahren entwickelt sich die gesamte Region durch die Kenntnisse dieses Klosters. Die Mönche haben die Zivilisation verlassen und sind in die Wüste gegangen. Und dort helfen sie der Zivilisation, sich zu entwickeln und besser zu werden.“

Aktivitäten: umgebrochene Landschaft mit Betontrümmern entlang der neuen Autobahn zwischen Kairo und Alexandria, gefällte Palmen, grüne Plantagen, ein frisch errichteter Luftwaffenstützpunkt mit aufgebockter MIG, das im Bau befindliche Correctional & Rehabilitation Center, Gewerbegebiete mit Einkaufszentren, eine Siedlung mit Mehrfamilienhäusern entstanden aus dunkelgelben bis braunen Fertigteilen. Junge, oft arme Menschen unterwegs. Ägyptens Jugend auf der Suche nach Arbeit und Zukunft. Und ein Land im Umbruch, das auch so aussieht.

Vordergründig handelt die Geschichte vom Erfolg und Vorbild der koptischen Musterfarm des Klosters Makarios im Wadi an-Natrun. Dahinter steht die Erzählung von der Erneuerung der koptischen Kirche seit dem Ende der 1960er Jahre, eng verknüpft mit dem Wiederaufleben der Klöster. Vor allem aber zeugt dieses Narrativ von Hoffnung: auf Respekt, Gleichberechtigung, religiöse Freiheit – und Anerkennung durch Anwar al-Sadat, den damaligen Präsidenten eines der wichtigsten muslimischen Staaten. Ein halbes Jahrhundert später rase ich durch die Zivilisation des Wadi anNatrun. Mein jugendlicher Fahrer scheucht seinen 40 Jahre alten 3er BMW mit 545.000 km auf dem Tacho über gute und nicht so gute Straßen. Er hat das Auto jetzt ein Jahr. Es müsse oft repariert werden. Er lacht etwas schmerzlich. Vielleicht hat er von deutscher Technik mehr erwartet. Die Welt hier ist meist ockerfarben. Überall sieht man Spuren menschlicher Für den Bau des Wehrturms im Kloster Pischoi wurden zunächst behauene Steine genutzt, zum Wiederaufbau später aber gebrannte Ziegel.

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Der historische Bereich des Klosters Baramous ist frisch verputzt.

Mein Interesse gilt den Klöstern im Wadi an-Natrun, dem Natrontal, einem seit der Antike für seine Salzseen bekannten Ort in der sketischen Wüste: 70 km nordwestlich von Kairo, 36 km lang, 10 km breit, bis zu 23 m unter dem Meeresspiegel gelegen. Hier wurde das Natriumbicarbonat zur Mumifizierung der Pharaonen gewonnen. Und hier gibt es seit 1.600 Jahren die Klöster Baramous, Pischoi, Makarios und das Syrer-Kloster. Sie sind die bedeutendsten Bauwerke nächst dem Schnittpunkt des 30. Längen- mit dem 30. Breitengrad. Da der Immobilien Zeitung diese Geopunkte im Jahr des 30-jährigen Bestehens lieb und teuer sind, hat der Verlag mich losgeschickt, um sie für die Leser:innen zu entdecken.

Die bauliche Entwicklung der vier Klöster im Wadi an-Natrun bietet viele Parallelen – gerade beim schrittweisen, den Anforderungen der Zeit angepassten Ausbau der klösterlichen Infrastruktur zwischen dem 4. und 11. Jahrhundert: die Höhlen der Eremiten, die Unterkünfte der Jünger, erste Kirchen, Wehrtürme und später mächtige Mauern zum Schutz der Kleinsiedlungen, Gemeinschaftsräume für die Mönche, wie das Refektorium oder die Bibliothek, zusammenhängende Unterkünfte der Mönche, Küche, Kapellen für Klostergründer und andere Heilige.

Bischof Thomas ist der Gründer des seit 1999 bestehenden Bildungs- und Retreatment-Centers Anaphora. In dieser Einrichtung, die Jungen armer koptischer Familien aus Oberägypten auf die Schule vorbereitet und misshandelten jungen Frauen einen Weg zurück ins Leben weist, bin ich für meinen Besuch im Wadi an-Natrun untergekommen. Nach koptischer Überlieferung hat sich die Heilige Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten in diesem Tal länger aufgehalten – und Wunder gewirkt. So habe Maria mitten in einem Salzsee eine Süßwasserquelle sprudeln lassen. Ab dem dritten Jahrhundert zogen zahlreiche Gläubige hierher, sie lebten zunächst als Eremiten in Höhlen, Felsspalten oder alten Gräbern. Um sie herum entstanden ab dem vierten Jahrhundert bis zu 1.500 frühchristliche Lebensgemeinschaften mit mehreren Tausend Gläubigen und bis zu 50 Klöstern. Die Mauern des Klosters Baramous bestehen innen aus Kalksteinen und Mörtel und sind außen mit Lehm verkleidet.

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Bevor der staubige, blassbraune BMW das Areal des Klosters Pischoi erreicht, müssen wir uns der Realität des Jahres 2023 in Ägypten stellen. Mein Fahrer stoppt an der Polizeistation am Anfang der 1,5 km langen Zufahrtsstraße. Die Polizeipräsenz war mir schon am Eingang meiner Unterkunft aufgefallen. Obligatorisch? „Ja, hier und auch bei den Klöstern und vor jeder Kirche“, hat mir Bischof Thomas erläutert. „Sie sorgen für Schutz. Wir waren in der Vergangenheit Anschlägen ausgesetzt, aber das ist deutlich weniger geworden.“ Zwei Polizisten in weißen Uniformen umkreisen das Auto. Der Fahrer weist sich aus, erklärt unsere Absichten, meine Identität. Die Auskunft scheint nicht zu reichen oder zu gefallen – genauso wenig wie der Fotoapparat auf meinem Schoß. Ein Vorgesetzter kommt hinzu. Palaver, Passkontrolle. Der Fahrer ist genervt, aber vorsichtig. Ich bin tatsächlich nervös, man hört so viel über Willkür von Ordnungskräften in autoritär regierten Staaten. Immerhin kann ich die Telefonnummer meines Kontakts im Kloster ausreichen: Pater Kosman, der mich später führt, klärt die Situation recht schnell. Zu meiner großen Erleichterung bekomme ich meinen Pass zurück, werde aber gemahnt, den Fotoapparat wegzustecken: „Sie dürfen im Kloster nicht fotografieren.“ Der Pater bestätigt mir später, dass diese Ansage eher als abschließende Demonstration polizeilicher Autorität zu werten sei. Denn: „Im Kloster gelten unsere Regeln.“ Pater Kosman ist in Hamburg aufgewachsen, er hat Medizin studiert und gerade Bereitschaftsdienst. Ab und an klingelt das Handy während unseres Rundgangs. Gegründet wurde das Kloster Pischoi im 5. Jahrhundert vom gleichnamigen Einsiedler. Aus dieser Zeit stammt der Brunnen der Märtyrer. „Seinen Namen hat der Brunnen noch aus der Zeit der zweiten Welle der Berberattacken im fünften Jahrhundert. Im Makarios-Kloster wurden bei einem Überfall 49 Mönche getötet. Die Berber haben anschließend ihre Schwerter in diesem Brunnen gewaschen. Er war für sein gutes Wasser bekannt, aber er lag damals frei in der Landschaft. Die ersten Mönche, Eremiten, suchten Orte, an denen es Wasser gab und Dattelpalmen – das Minimum zum Überleben. Und dazu eine Höhle als Unterkunft. Es war alles offene Fläche, Wüste. Es gab keine Zivilisation, Menschen, die den Mönchen hätten Schutz geben können.“

Der Fluchtweg der Mönche bei Alarm: durch den kleinen Treppenturm links über den Steg (damals ohne Geländer) in den Wehrturm, Steg einziehen, Tür zu.

Daher entstanden ab dem 5. Jahrhundert Wehrtürme. Der zweiteilige Wehrturm im Kloster Pischoi aus dem 9. Jahrhundert verdankt sein Aussehen dem Wiederaufbau im 13. Jahrhundert, nachdem Berber ihn 1096 teilweise zerstört hatten. Die Bauteile sind durch einen hölzernen Steg in 7 m Höhe verbunden. „Bei Berberalarm sind die Mönche im kleinen Gebäude die Treppen hochgelaufen, über die Brücke ins Kastell, haben den Steg eingezogen und die metallbeschlagene Holztür zugeschlagen.“ Tausende von Menschen habe er bereits über diese kräftigen, aber offensichtlich sehr alten Bohlen ins Kastell geführt, berichtet der Pater lächelnd.

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Das Grab des letzten Papstes Shenouda III im Kloster Pischoi.


Eine alte Mönchszelle im Kloster Makarios.

In den mehrgeschossigen Wehrtürmen mit Küche und Aufenthaltsräumen gab es Proviant und Wasser – meist durch einen Brunnen – oft ausreichend, um die Räuber unverrichteter Dinge abziehen zu lassen. Wurden die Wehrtürme zunächst aus behauenen Kalksteinen errichtet, nutzten die Mönche etwa ab dem 9. Jahrhundert gebrannte Ziegel. „Damit ließen sich auch die Kuppeln leichter bauen.“ Im 9. Jahrhundert veranlasste Papst Shenouda I., Siedlungen im Wadi an-Natrun durch eine hohe Mauer zu sichern, mit zwei kleinen, leicht zu verriegelnden Zugängen, zehn Metern Höhe und einem bis zu zwei Metern dicken Sockel. Wer sich seither den Klöstern nähert, sieht eine Festung mit Kirchtürmen. Die alten Mönchszellen – eingeschossige Kuppelbauten mit niedrigem Eingang – werden heute als Vorratskammern genutzt. Die Kuppeldächer sorgen für eine zirkulierende Klimatisierung. Die erwärmte Luft steigt nach oben und entweicht durch eine Öffnung am höchsten Punkt, kühlere Luft wird unten angesogen. Eine Zelle besteht aus zwei Räumen. „Ein Empfangsraum für Gäste und der private Raum für die Klausur. Pater Justus, der älteste Mönch im Kloster, hat hier noch bis vor 40 Jahren gelebt.“ 1971 waren nur noch sieben alte Mönche im Kloster Pischoi, die aus dem benachbarten Syrischen Kloster verpflegt wurden. Zwei Räume haben auch die modernen, seit den 1970er Jahren entstandenen Unterkünfte. „Aber wir haben dazu eine Küchenzeile und ein Bad.“

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Nicht die Mönche trieben die bis 1935 im Kloster Pischoi in Betrieb befindliche Mühle aus dem 9. Jahrhundert an, sondern Esel.


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Zuletzt klettern wir eine schmale Treppe hinauf aufs Dach des Wehrturms. Jetzt erst erkenne ich, dass die Ausmaße der neuen Klosterbauten die antiken Bereiche deutlich übertreffen. Im Kloster Pischoi leben etwa 200 Mönche und 20 Novizen. Kosman weist nach Süden. „Die rötlichen Gebäude sind die päpstliche Residenz – der kleine Vatikan.“ Jüngeren Datums sind auch die im Jahr 2000 fertiggestellte Kathedrale, ein Konferenzzentrum, eine Klinik, Exerzitienhäuser, Unterkünfte für Mönche und Gäste. Dahinter liegen landwirtschaftliche Gebäude: Ställe für Hühner, Schafe, Kühe, Hallen für die Landmaschinen zum Gemüseanbau. Knapp jenseits des Klosterareals wurde in der freien Landschaft eine Moschee errichtet. Das sei in Nachbarschaft zu koptischen Einrichtungen üblich, hatte mir der Fahrer erklärt. Auch ich war in Anaphora sehr zeitig in der Früh durch die elektronisch verstärkte Stimme eines Muezzins zum Morgengebet gerufen worden. Von der Residenz des Papstes abgesehen, spiegelt das Kloster Pischoi weitgehend die bauliche Entwicklung der anderen drei Klöster. Innerhalb der Mauern befinden sich die mittelalterlichen Klosterbauten, gelegentlich ergänzt um Gebäude aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Die modernen Unterkünfte sind zunächst oft an der Innenseite der alten Schutzmauern entstanden, später außerhalb der historischen Einfriedung. Kosman verweist auf den laufenden Bau einer Kirche im Kloster Pischoi nur für die Mönche. Eine solche geht auch im Kloster Baramous ihrer Fertigstellung entgegen. Es herrsche seit Jahren ein so großes Interesse, ins Kloster zu gehen, dass es inzwischen Auswahlverfahren gebe. „Die koptische Kirche ist heute eine sehr lebendige Kirche“, sagt Pater Kosman. „Der Generationenwechsel funktioniert gut. Die Kinder wachsen innerhalb der Kirchengemeinde auf.“ Die Wiedergeburt der koptischen Kirche, die vor 100 Jahren kein so hohes Ansehen mehr unter der Mehrheit der Kopten hatte, begann mit der Gründung von Sonntagsschulen durch engagierte, reformorientierte Laien – als Reaktion auf die Missionierungsbemühungen protestantischer Kirchen. Kyrill VI., Papst von 1959 bis 1971, besetzte Bischofsämter mit Pionieren der Sonntagsschulbewegung und schob damit eine moderne Qualifizierung des Klerus an. Die kam auch in den Klöstern an. Mit mehr und vor allem gebildeten Mönchen entwickelten sich die Klöster insbesondere im Wadi an-Natrun zu spirituellen, aber auch wirtschaftlichen Zentren der Kirche.

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Shenouda III., 1971 zum Papst ernannt, kam selbst aus der Sonntagsschulbewegung und setzte die Modernisierungsaktivitäten seines Vorgängers forciert fort – bis er im September 1981 von Anwar al-Sadat im Kloster Pischoi unter Hausarrest gestellt wurde. Die Festsetzung war eine Folge des zunehmenden Einflusses islamistischer Fundamentalisten seit den 1950er Jahren, den Shenouda öffentlich kritisiert hatte. Auch nach der Ermordung Sadats im Oktober 1981 wurde der Arrest durch seinen Nachfolger Hosni Mubarak erst 1985 aufgehoben. Shenouda zeigte sich in der Folge deutlich moderater im Ton gegenüber Islam und Staatsführung. Dass sich sein 2012 ins Amt geloster Nachfolger Tawados II. an die Seite des aktuellen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi stellt, der den demokratisch gewählten, aber koptenfeindlichen Präsidenten Mohammed Mursi von der Muslimbrüderschaft 2013 aus dem Amt putschte, wird gerade von jungen gebildeten Kopten zunehmend kritisch gesehen. Sie verlangen von Staat wie Kirche eine demokratische Öffnung.

Kloster Pischoi: links historischer Bereich, rechts Bauten ab den 1970er Jahren.

Diesen Teil der koptischen Öffentlichkeit treffe ich – kaum überraschend – nicht in den Klöstern. Hier kommen Familien, Menschen aus vielen Generationen zusammen, Jugend- und Kindergruppen aus Gemeinden. Pater Merkorios, der mich durch das Kloster Makarios führt, wird immer wieder von gläubigen Menschen aller Altersgruppen aufgesucht, die sich von ihm segnen lassen oder ihm die Hand küssen wollen – die er jedoch immer im letzten Moment wegzieht. Eine Geste der Bescheidenheit, wie er mir versichert. Auch eine Verlobungsgesellschaft ist im Kloster, ich darf das strahlende Paar fotografieren. Als ich später die landwirtschaftlichen Anbauflächen erkunde, sehe ich die Gruppe wegfahren – mit dem künftigen Bräutigam lachend im offenen Kofferraum.


Die Kirche im 1999 gegründeten Education and Retreat Center Anaphora.


Geborgenheit und Perspektive: junge koptische Frauen im Retreat Center Anaphora im Wadi an-Natrun.

Makarios ist die Musterfarm und das Aushängeschild der koptischen Kloster-Renaissance. 1968 beauftragte Papst Kyrill VI. den Mönch Matta al-Maskin mit seinen elf Gefolgsleuten das Makarios-Kloster wieder aufzubauen. Matta al-Maskin – Matthäus, der Arme – hatte mit 29 Jahren seine Apotheke aufgegeben, trat in ein Kloster ein und zog sich immer wieder als Eremit in eine Höhle zurück. Andere junge Kopten folgten ihm. Als die zwölf Mönche mit dem Wiederaufbau begannen, lebten noch fünf alte Mönche im Kloster. Heute sind es 150 und die Grundfläche des Klosterquartiers hat sich durch zahlreiche Neubauten auf 4 ha versechsfacht. Vom polizeilich kontrollierten Tor führt eine zweispurige, frisch asphaltierte Straße 2 km schnurgerade bis zum historischen Kloster, beidseitig gesäumt von landwirtschaftlichen Flächen. Neben Mangos werden Feigen, Melonen, Futter- und Zuckerrüben angebaut. Zudem sind große Hühner- und Rinderställe entstanden. 130 ha hatte die ägyptische Regierung unter Präsident Sadat dem Kloster in den frühen 1970er Jahren zu einem symbolischen Preis zur Verfügung gestellt – eine seltene Geste der Entspannung zwischen muslimischem Staat und christlicher Minderheit, erklärlich durch die Legende vom Hubschrauberflug übers grüne Land. Sadat schenkte dem Kloster später weitere 400 ha zur Erweiterung der Landwirtschaft.

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Dass sich Klöster überhaupt in diesem Umfang entwickeln konnten, gründet auch in der Liberalisierung des Baurechts für Kirchen in den letzten 170 Jahren. Seit der Islamisierung Ägyptens im 7. Jahrhundert bis 1856 gab es die offizielle Linie, dass vorhandene Kirchen erhalten bleiben durften, Neubauten und selbst Reparaturen aber nur eingeschränkt möglich waren. In Anpassung an europäisches Recht gestand das osmanische Reich nichtislamischen Religionsgemeinschaften 1856 das Recht zu, Gotteshäuser zu bauen – unter dem Vorbehalt einer Genehmigung durch den Sultan. 1934 formulierte der Innenminister des inzwischen selbstständigen Ägyptens, al-Azabi Pasha, zehn Bedingungen für die Erteilung von Kirchenbaugenehmigungen, die von lokalen Behörden geprüft und dann ans Innenministerium weitergeleitet werden sollten. Dazu zählen der Abstand zu umliegenden Moscheen, Läden, öffentlichen Gebäuden oder die Zustimmung der muslimischen Nachbarn. Um die Jahrtausendwende delegierte Mubarak die Entscheidung zu Kirchenneubauten an die Gouverneure und hobt die Genehmigungspflicht für Reparaturen 2005 ganz auf. Der Bau von Kirchen führte allerdings oft zu gewaltsamen Protesten. Zudem verschleppten lokale Baubehörden die Genehmigung oder bezweifelten die Gültigkeit vorhandener Papiere. Dem


Antonio Banderas vergoldet einen Gemälderahmen.

hat al-Sisi offenbar ein Ende bereitet. 2016 erließ er ein Gesetz zum erleichterten Bau von Kirchen sowie zur Legalisierung von bislang nicht genehmigten Gotteshäusern. Bis Anfang 2022 wurde daraufhin der Bau von 1.882 Kirchen und angegliederten Gebäuden genehmigt, zitiert Egypt News einen Sprecher der koptischen Kirche. Nach Informationen des vatikanischen Pressediensts Fides hatte al-Sisi 2022 zudem angeordnet, im Rahmen von Stadtentwicklungsprojekten auch Kirchen zu berücksichtigen, wenn der Bau einer Moschee vorgesehen sei. Meine Gesprächspartner äußern sich nahezu einhellig positiv zum autoritären Staatsoberhaupt.

Für die gläubigen Kopten sind die Klöster heute wieder Inseln der kulturellen und konfessionellen Identität, Oasen der Ordnung und Struktur, der Gelassenheit und der Gemeinschaft. Ich erlebe die Menschen – Erwachsene, Jugendliche, Kinder – in den sicheren Klostermauern entspannt, oft fröhlich. Außerhalb der Mauern erwartet sie die ungeordnete wirtschaftliche und soziale Dynamik eines rasch wachsenden Schwellenlands, dessen ebenso wachsende Ungleichheit ein idealer Nährboden für den fundamentalistischen Islamismus ist. Von der wirtschaftlichen Öffnung Ägyptens seit Sadat haben viele Kopten profitiert. Einige der größten Firmen am Nil befinden sich in koptischem Besitz. Überdurchschnittlich viele Kopten, gerade im Norden des Landes, zählen zur Mittelschicht. Um keine weiteren Aggressionen auf sich zu ziehen, halten sich die koptischen Klöster mit der Darstellung ihres Wachstums zurück. Dies scheint umso mehr geboten, nachdem die fundamentalistische Muslimbruderschaft die letzten freien Wahlen gewonnen hat – auch wenn Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung sich ein friedliches Miteinander von Christen und Muslimen wünscht.

Die Expertise für das Planen und Bauen haben die Kopten in den eigenen Reihen. „Die meisten der modernen Gebäude hat ein Mönch hier entwickelt“, erläutert Pater Kosman. „Er ist fast dauerhaft in Klausur und kommt nur, wenn der Papst ihn beauftragt.“ Statt seiner erklärt mir Bischof Thomas den Ansatz des modernen koptischen Bauens am Beispiel des Retreatment- und Bildungszentrums Anaphora. „Die Gebäude sollen einfach sein und traditionell. Die Kuppel hilft, die Luft im Inneren zu kühlen.“ Beton werde genutzt, „weil er die Form des Lehms annimmt, sich mit ihm verbindet, sich integrieren lässt.“ Entscheidend sei die Form. „Gebäude müssen eine Message für die Menschen bieten. Zum Beispiel haben wir die Unterkunftsgebäude in Form eines Fragezeichens errichtet: Wir leben in einem Mysterium. Und die Lösung des Mysteriums ist der Punkt des Fragezeichens, die Kirche.“ Die neuen Unterkunfts-, Verwaltungs- und Veranstaltungsstätten, die ich jenseits von Anaphora in und um die Klöster finden, erfüllen den hohen Anspruch, Teil eines baukulturellen Erbes zu sein, allerdings nicht. Es sind reine Funktionsbauten.

Viele gut ausgebildete Männer entscheiden sich für ein Leben als Mönch.

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Die IZ feiert 30-jähriges Bestehen und wird 30 Immobilienprofis aus 30 Städten ein Geschenkepaket zukommen lassen, dessen Weg auf der Landkarte den Schriftzug „IZ 30“ ergibt. Ein genialer Plan, so dachten wir. Monate nach dem Start der intensiv vorbereiteten Aktion müssen wir gestehen: Der Plan ist grandios gescheitert.

Text | Harald Thomeczek

Es begann mit einer äußerst stabilen Kiste, die von einem zum anderen Beschenkten weitergeleitet werden sollte. Der Inhalt bestand aus zehn Geschenken, die von Kollegen und Kolleginnen aus allen Abteilungen der Immobilien Zeitung, von der Verwaltung übers Marketing bis hin zur IT, hineingetan worden waren. Fünf dieser Gaben sollten den Schenkenden lieb und teuer sein, also Präsente, mit denen sie etwas Besonderes verbinden. Zum anderen wanderten fünf Dinge in die Kiste, die ihre Besitzer nach dem Prinzip des „Schrottwichtelns“ unbedingt loswerden wollten. Obendrauf kamen bereits vorfrankierte Paketscheine, um die Kiste möglichst ohne Aufwand weiterversenden zu können. Dann wurde das Ganze sicher verpackt, mit zwei Trackern versehen und auf den Weg gebracht. Das Ziel: 30 Immobilienprofis aus ganz Deutschland.

Die ausgewählten Empfänger stammen aus allen Teilen der Immobilienwirtschaft: Banken, Architekten und Projektentwickler waren genauso vertreten wie Asset- und Fondsmanager und die öffentliche Hand. Ebenso haben wir Wert darauf gelegt, dass die verschiedenen Immobiliengattungen ausreichend repräsentiert, die unterschiedlichsten Altersgruppen vertreten sind und nicht nur die Chefetage beschenkt wird, sondern auch die Abteilungen darunter zum Zuge kommen. Nur eine strenge Vorgabe musste eingehalten werden: Wenn man die einzelnen Standorte auf einer Landkarte miteinander verbindet, sollte der Schriftzug „IZ 30“ erscheinen. Es waren mit Frankfurt, Hamburg, Berlin, Düsseldorf, München oder Stuttgart fast alle großen Immobilienmetropolen vertreten, aber ebenso kleinere Orte wie Plauen, Mosbach oder Bullay. Die Beschenkten sollten sich nach Ankunft des Pakets je eine Sache herausnehmen, die sie gut fanden, und dafür eine andere Sache, an der sie hängen, hineintun. Und sie mussten eine Sache herausnehmen, die sie nicht so toll fanden, und durften dafür eine hergeben, die sie loswerden wollten. Danach wollten wir sie fragen, warum sie sich so oder so entschieden haben.

Foto: Kerstin Heinz

Der Zeitplan für das Vorhaben war eng gestrickt. Denn selbst wenn pro Adressat nur drei Werktage Versand- und Bearbeitungszeit gerechnet würden, käme man auf einen Zeitraum von vier bis fünf Monaten. Aber drei Tage pro Person waren angesichts von Urlauben oder Krankheiten ohnehin kaum realistisch.

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Los geht’s! Im April starten wir die Aktion voller Erwartung und Vorfreude … … und im Juni ist der Optimismus aufgebraucht. Für die ersten elf Stationen gehen mehr als zwei Monate ins Land. Die Gründe dafür sind vielfältig: ungeplanter Urlaub hier, viel zu tun da. Die Reiseroute wird schnell unkalkulierbar und damit auch die Anwesenheit derjenigen, die wir beschenken wollen. In Iserlohn weigern sich sämtliche Post-Filialen, die Kiste überhaupt erst anzunehmen und weiterzuleiten. Sie sei nicht ordnungsgemäß verpackt und der bereits bezahlte Paketschein nutzlos. Auf verschlungenen Wegen erhalten wir von einer Servicestelle der Post eine Bestätigung, dass die Kiste überall angenommen werden muss. Diese legen wir nun vor. Dennoch wir müssen aufgrund der Verzögerungen vom angepeilten Reiseverlauf abweichen. Stück für Stück arbeiten wir uns weiter durch Deutschland. Auf dem Weg zu Station 13 – welch ein Zufall – passiert es: Auf der kurzen Strecke vom mittelhessischen Limburg ins osthessische Fulda kommt das Paket vom Kurs ab. Ausgerechnet im modernsten und leistungsfähigsten Paketzentrum von DHL in Obertshausen bei Frankfurt mit einer Sortierkapazität von 50.000 Paketen pro Stunde verschwindet die Box vom Radar der Post. Es wird hektisch telefoniert, gesucht und wieder telefoniert. Zig Anrufe und Mails später erkennen wir: Post-Hotline und Geschäftskundenservice können uns nicht weiterhelfen.

Bei der Post interessieren unsere Tracking-Daten niemanden. Dass mal jemand in den Verteilzentren nachschauen würde, deren Adressen uns die Handys zeigen – diese Anregung stößt auf taube Ohren. Das ändert sich erst, als wir die Post auf LinkedIn anflehen, uns die Kiste endlich zurückzugeben. Es klingelt das Telefon: am Apparat Herr von Reth, DHL. Der höfliche Mann gehört zu den hausinternen Detektiven für verschollene Sendungen. Die Post unterhält Paketermittlungsstandorte, an denen sie Sendungen sammelt, die vom Weg abgekommen sind. Eins davon steht in einem Dorf namens Apfelstädt bei Erfurt. Die Tracker zeigen uns dieses Lager schon länger an. Herr von Reth schickt Suchtrupps los. Er sucht sogar selbst mit, so sagt er, allerdings nicht in Apfelstädt, sondern in Wuppertal – denn da gibt es auch so ein Ermittlungszentrum. Herr von Reth bittet um Geduld: „Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Ebenen so ein Hochregallager hat. Bis die Kollegen da raufgestiegen sind und die alle abgesucht haben – das dauert.“

Bilder © 2023 GeoBasis-DE/BKG, GeoContent, Maxar Technologies, Kartendaten © 2023 GeoBasis-DE/BKG (© 2009), Google

Schließlich gibt es einen Erfolg: Die Post schickt uns die beschrifteten Paketlabels zurück. Wir hatten sie in die Kiste gelegt, damit die Empfänger nur noch die jeweils nächste Zieladresse eintragen müssen. Als Absender steht überall unsere Wiesbadener Adresse drauf. Doch wo ist das Paket selbst und wo sind die anderen Inhalte? Auch Herr von Reth ist baff, als er hört, dass wir die Paketscheine zurückerhalten haben. „Ich war das nicht.“ Er und seine Kollegen finden nichts. Nach mehrtätigen Ermittlungen erklärt der Suchtrupp die Box für unwiederbringlich verloren und bricht die Suche offiziell ab: „Wenn wir nach drei Tagen intensiver Recherchen nichts gefunden haben, bestehen erfahrungsgemäß kaum noch Erfolgsaussichten.“ Es klingt, als hätten sie nach Erdbebenopfern gesucht, die inzwischen verdurstet sein müssen. „Trotz der Recherchen der Sendungsermittlung in Wuppertal und Apfelstädt konnte der Verbleib Ihrer Sendung und des Inhalts nicht geklärt werden. Leider müssen wir von einem Verlust Ihrer Sendung ausgehen.“ Apfelstädt bei Erfurt: Auffanglager für gestrandete Assets.

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Dabei wissen wir selbst immer recht genau, wo sich unsere Geschenkekiste befindet und wie lange sie dort jeweils Station macht. Durch die mitversandten Tracker können wir der Kiste bei ihrer Odyssee förmlich zuschauen: Osterweddingen bei Magdeburg, Neustrelitz in MecklenburgVorpommern, die polnische Grenze. Später bleibt sie in Thüringen hängen. Alles Stationen, die von uns nicht vorgesehen waren.



Bilder © 2023 GeoBasis-DE/BKG, Maxar Technologies, Kartendaten © 2023 GeoBasis-DE/BKG (© 2009)

Genau an dem Tag, als die Post die Kiste offiziell für verloren erklärt und die Suche einstellt, hören merkwürdigerweise auch die Tracker auf zu tracken. Es ist der 3. August, 13:48 Uhr. Sind die Batterien der Tracker leer? Oder hat sie jemand vielleicht herausgenommen? Wir stellen auf jeden Fall fest, dass von 30 Stationen nur zwölf gemeistert wurden. Und dann das: Zwei Wochen später sendet einer der Tracker plötzlich wieder. Wir orten ihn am Wallicher Weg in Erfurt. Dort residiert ein Recyclinghof. Und kurz danach folgt auch Tracker Nummer zwei. Offenbar hat er eine neue Heimat bei einer Lkw-Spedition in Essen gefunden. Auf den kommenden Seiten lesen Sie, wer noch mitwichteln konnte, bis das Paket in den Weiten des DHL-Universums verschwand. Endstation Recyclinghof bei Erfurt – zumindest für Teile des Pakets.

Das Paket war lange unterwegs. Aber IZ 30 ist nicht auf der Karte zu lesen.

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Wir gratulieren herzlichst zum 30. Jubiläum!


Saarbrücken, Edina Szabó

Quelle: RVI GmbH, Urheberin: Edina Szabó

RVI

buch ssknacker, Kinder Entnommen: Nu pe m nla he sc Ta mit

Das Kinderbuch ist für einen Kollegen von Edina Szabó. Der hat drei Kinder. Alles Töchter, im Alter von drei, neun und 13 Jahren. Beim zweiten Gegenstand, den die kaufmännische Geschäftsführerin des Saarbrücker Projektentwicklers RVI der Kiste entnahm, wusste sie nicht, wofür er eigentlich gut ist – es handelt sich um einen Nuss-

Reingetan: Flasche We

in, Blechbecher

knacker. Verschenkt hat Szabó eine Flasche Wein und einen Becher, beides Werbegeschenke zum 50-jährigen Bestehen, das RVI dieses Jahr feiert. Beide Giveaways ziert eine Visualisierung einer Projektentwicklung mit 135 Eigentumswohnungen, die RVI in Mannheim für Kapitalanleger hochzieht.

Bullay, Raphael Thießen Brownfield24

Reingetan: Flasc

Entnommen: Flasche

Wein, Blechbecher

„Kirchengläubig bin ich nicht“, sagt Raphael Thießen, Geschäftsführer der Plattform Brownfield24. Trotzdem geht Thießen seit 15 Jahren pilgern. Mit dabei sind seine Brüder im Geiste von der Sankt-MatthiasBruderschaft aus Lülsdorf bei Köln. „Erst kürzlich waren wir wieder vier Tage am Stück unterwegs. Wir beten den Rosenkranz, laufen viel und campen. Das macht den Kopf frei.“ Der Spaß kommt dabei nicht zu kurz: „Wir sind eine illustre Runde, da wird schon mal ein Gläschen getrunken.“ Bei der nächsten Pilgertour können die Pilger die Flasche

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he Wein, Bauhelm un nd d Warnweste

Wein köpfen, die Thießen im Geschenkepaket gefunden hat. Der passende Becher war auch noch dabei. Doch weil Geben ja seliger denn Nehmen ist, spendete er umgekehrt ebenfalls eine Flasche Wein. Der feinherbe Riesling stammt vom Weingut Kallfelz von der Mosel, der irdischen Heimat Thießens. Und falls jemand Sorge hat, nach zu viel Weingenuß unglücklich zu stürzen, kann der ins Paket hineingelegte Bauhelm sicherlich gute Dienste leisten.


Köln, Isabel Schreyger

Quelle: CMS

CMS

Entnommen: Weihnachtsstern, Flas

Reingetan: Mini-Jurte,

che Wein

Ab und zu mal ein Gläschen trinken, „das muss man in meinem Job absolut, sonst wird man verrückt“, sagt die Immobilienanwältin. Deshalb der Wein, ein Riesling vom Weingut Albert Kallfelz an der Mosel. Den Weihnachtsstern aus dem Erzgebirge hat Isabel Schreyger behalten, weil er sie an einen schönen Urlaub in der Region erinnert.

Die Mini-Jurte aus Filz, die sie dafür in die Kiste gelegt hat, ist auch ein Andenken an einen Urlaub: an eine Reise durch Zentralasien. Da lernte sie, so ein Nomadenzelt in groß zu bauen. Weiterverschenkt hat die Juristin einen Mini-Oskar. Der war das Geschenk eines Investors, für den sie eine große Wohnungstransaktion samt Aufhebung der Wohnraummietverträge juristisch wasserdicht gemacht hat.

Kassel, Matthias Krieger

Quelle: Krieger + Schramm, Urheberin: Jana Amonat

Krieger + Schramm

ital Boys“, ch „Secret Book for Dig

Entnommen: Bu Bauhelm

Matthias Krieger hat ein Buch und einen Bauhelm aus der Kiste genommen. Das Buch, weil er gerne liest und noch lieber selbst Bücher schreibt: „Die Lösung bist Du! Was uns wirklich voranbringt“ und „Werte. Das Fundament unserer Leistungskultur“. Den Bauhelm, weil er schon als Jugendlicher mit eigenen Händen Häuser gebaut hat und mit seiner Firma immer noch selbst Gebäude hochzieht:

Mini-Oskar

Reingetan: folierte

s Unternehmensle itbild, selbst geschrieb enes Buch

„Wir planen und vertreiben, wir bauen aber auch selbst mit eigenen Polieren.“ In die Kiste reingelegt hat er eins der Bücher, die er selbst geschrieben hat. Und ein foliertes Bild mit dem Leitspruch seines Unternehmens: „Wir schaffen Raum für Gesundheit und nachhaltige Lebensqualität. Gemeinsam bauen wir heute die Stadt von morgen.“

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Iserlohn, Thomas Schrammek

Urheberin: Anna Remisch

Immobilien Schrammek

radklingel, Bu Entnommen: Fahr

ch „Werte“

„Ich verschicke doch nicht den Grundstein meines Erfolgs!“, wehrt Thomas Schrammek ab. Nein, sein Exemplar von „Wie man Freunde gewinnt“ steht noch im Regal. Abgegriffen, einige Seiten darin geknickt, etliche Stellen markiert. Zehnmal mindestens hat er es gelesen, zunächst um beruflich erfolgreich zu werden. Aber es hilft auch privat, sagt er. „Wer Gutes tut, dem widerfährt auch Gutes“, ist ihm beim Lesen

Reingetan: Buch „Wie Golfbälle

man Freunde gewinnt“ ,

aufgegangen. Und er kann auch von Gutem berichten: davon, dass er es als Glück empfindet, in sein eigenes Büro gehen zu können und eine „tolle Familie“ zu haben. Verschickt hat er also ein neues Exemplar des Buches. Heraus nimmt er sich dafür etwas Benutztes: eine Fahrradklingel mit einem Bild von Woodstock. Er ist Snoopys bester Freund - einfach weil er in einem Nest auf Snoopys Bauch geschlüpft ist.

Düsseldorf, Barbara Possinke

Quelle: RKW Architektur +

RKW Architektur+

Entnommen: Buch „Wie man Freunde gewinnt“, Oscar aus Plastik

„Das Stempelkissen ist für mich der Inbegriff der deutschen Bürokratie in der Baubranche“, sagt Barbara Possinke. Weg damit also. Dann aber singt sie ein Hohelied aufs Papier: „Weil nicht alles Schwarz-Weiß ist, sondern es Dinge gibt, die im Analogen viel Wert haben.“ Notizbücher zum Beispiel. Eins davon wandert ins Paket. Zehn oder auch mehr hat sie selbst bereits gefüllt mit Gedanken, Ideenskizzen und Entwürfen,

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Reingetan: Stempelkiss

en, Notizbuch von RKW Architektur+

im Zug und im Flugzeug oder während einer Besprechung. Mit zwei Tablets arbeitet Possinke auch. „Aber es lässt sich damit nicht so frei blättern“, findet sie. Und auch nicht so gut erinnern. Ihr Notizbuch zum RKW-Nachhaltigkeitslabor fällt ihr da ein. „Ich schaue immer wieder nach, ob wir erreicht haben, was wir wollten.“ Und? „Ja. Mehr als das.“


Frankfurt, Vanessa Hummer DWS

rben), ponierte Tasse (= Sche Entnommen: eine ram ein Management-Buch Vier Jahre hat sie der orangene Stift durchs Immobilienstudium bei ihrem Professor Thomas Beyerle in Biberach begleitet. Und offenbar immer treue Dienste geleistet: „Das ist mein Glücksstift“, sagt die AssetManagerin vom Vermögensverwalter DWS. „Ich habe alle Prüfungen damit geschrieben, und die Antworten haben meistens gestimmt.“

Reingetan: einen

Stift, ein Gewürzp

Scherben hat sie auch aufgesammelt: Das waren die Überbleibsel einer Tasse, die auf der Reise in der Kiste zu Bruch ging. Hummer sieht es als Sinnbild: „Das passt zum Portfolioumbau.“ Ihr Job: Mietverträge für Bürogebäude in München & Co. (nach-)verhandeln. „Im Asset-Management herrscht gerade keine Flaute.“

Kaiserslautern, Carsten Rutz

Quelle: Deutsche Reihenhaus AG

Deutsche Reihenhaus

Entnommen: Batterie, Gewürzpulver

Carsten Rutz lässt sich anscheinend nicht gerne beschenken: „Da war eine Batterie in der Kiste, die hab‘ ich zum Recycling gebracht“, sagt der Vorstandschef von Deutsche Reihenhaus. Den herausgenommenen Gewürzstreuer behielt er auch nicht für sich: „Die Curry-Gewürzmischung habe ich unserem Pressesprecher geschenkt.“

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Reingetan: Giveaways

für Hauskäufer, Nachhaltigkeitsberich t

Loswerden wollte Rutz die drei Holzklötzchen mit Dach. Die stehen für die Reihenhaustypen der Firma und werden bei der Vertragsunterzeichnung an die Hauskäufer verschenkt. Bei einem Umsatzeinbruch von 70% „bleiben so viele davon bei uns liegen“. Gerne verschenkt hat Rutz den Nachhaltigkeitsbericht, den die Firma veröffentlichte, obwohl sie dazu noch nicht verpflichtet ist.

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Mannheim, Christian Franke

GBG Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft

ht der chhaltigkeitsberic Entnommen: Na nhaus Deutschen Reihe

„Das ist ein gepresstes Stück Kunst, nicht einfach nur Müll“, stellt Christian Franke klar. Die kommunale Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft GBG hat ihren Papierabfall gesammelt, eine Künstlerin daraus kleine Kunstwerke gemacht. Diese Kunstwerke sollen beim Rezipienten eine Bewusstseinswerdung in Gang setzen: „Die Skulptur ist richtig schwer. Da fühlt man mal, wie viel Müll wir alle ständig produzieren“, sagt der

Quelle: GBG – Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft mbH

Reingetan: ein verpress

tes Stück Papiermüll, Kaffee aus Mannheim

Bereichsleiter Strategie, der drei Kinder hat. „Wenn man die aufwachsen sieht und den Klimawandel beobachtet, fragt man sich schon, ob man alles richtig macht und alles richtig gewichtet.“ Entsprechend wählerisch war er beim Herausnehmen der Geschenke: Ihn interessierte nur der Nachhaltigkeitsbericht, den Rest ließ er unbeachtet.

Mosbach, Daniel Soyk

Quelle: Sparkasse Neckartal-Odenwald, Urheberin: Julia Schneider

Sparkasse Neckartal-Odenwald

nisspiel, Entnommen: Tischten s Mannheim au e ffe Ka Seit April dieses Jahres lernt Daniel Soyk seine neue Arbeitsheimat Mosbach kennen. Seine positiven Eindrücke gibt er über die Geschenke gerne weiter, z.B. über das Lumpenglöckle, ein Wahrzeichen der Stadt: Als sich im 15. Jahrhundert die damalige Pfalzgräfin im Wald verirrte, ließ ihr Gemahl um Viertel vor Elf die Glocken läuten – und die Blaublütige fand noch rechtzeitig nach Hause, bevor die Stadttore

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Reingetan: Lumpenglö

ckle, Kuh-Kissen, das Palm’sche Haus als Süßigkeit

schlossen. Das Palm’sche Haus ist das prachtvollste Fachwerkhaus der Stadt. Als Süßigkeit passt es auch in das Paket. „Mit dem Reisetischtennisset hatten wir einige Minuten Spaß mit den Kollegen, und zusätzlich haben wir uns etwas bewegt“, lacht der Sparkassenmann. „Leider hat das Netz nicht unseren Fähigkeiten entsprochen und musste improvisiert mit einem Kugelschreiber repariert werden.“


Osnabrück, Bernard Banning

Quelle: Völkel Real Estate GmbH

Völkel Real Estate

este Entnommen: Golfbälle, Sicherheitsw „Die schwarzen Designerdinger geben wir wirklich gerne ab“, sagt der Centermanager des Osnabrücker Shoppingcenters Kamp-Promenade. Bernard Banning meint die Corona-Masken, die Völkel Real Estate hat fertigen lassen, damit die Kunden auch zu Beginn der Corona-Zeit sicher einkaufen konnten. Genutzt hat das bekanntlich wenig, schließen musste die Kamp-Promenade wie alle anderen als nicht-systemrelevant ein-

Reingetan: Corona-M

asken, Tasse, Tasche mit Süßigkeiten

gestuften Shopping-Tempel trotzdem. Die Mieter konnten kein Geld verdienen, Mietschulden türmten sich auf. Bei der Frage, wie sie sich die Verluste teilen sollten, wurden die Händler und ihr Vermieter erfinderisch: Vertragsverlängerung gegen Miet-Teilerlass, Umsatzmiete mit festem Sockel statt reiner Fixmieten.

Limburg, Marcel Fuhr

Quelle: GPEP GmbH

GPEP

tschen Reihenhaus, Entnommen: Holzhäuser der Deu Werbetasse Kamp-Promenade

Marcel Fuhr hat sich etwas dabei gedacht, als er die Werbegeschenke vom Osnabrücker Shoppingcenter Kamp-Promenade und der Deutschen Reihenhaus aus der Kiste nahm. Der von Fuhr geführte AssetManager GPEP kümmert sich bis dato nur um Immobilien des Lebensmitteleinzelhandels – aber das soll sich ändern: „Wir schauen uns andere Assetklassen an. Wer weiß, welche Opportunitäten sich ergeben?“

Reingetan: Flasche We

in, Gutschein für Nach tführung durch Limburg

Nichts ändern will Fuhr am Firmensitz Limburg. Damit Auswärtige die Domstadt kennenlernen können, hat er nicht nur eine Flasche Wein vom bischöflichen Limburger Weingut ins Paket gelegt, sondern auch einen Gutschein für eine Nachtführung durch Limburg bis hoch in den Dom. Da das Paket nach dieser Station verloren ging, wird vermutlich statt eines Immobilienprofis eher ein Postmitarbeiter in den Genuss kommen.

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Krieg in Schnöggersburg Der Ukraine-Krieg hat Europa gezeigt, dass der jahrzehntelange Friede auf dem Kontinent brüchig ist. Viele Staaten machen sich Sorgen um ihre Verteidigungsfähigkeit. Mensch und Material sollen für den Ernstfall ertüchtigt werden. Im Norden Sachsen-Anhalts gibt es eine Stadt, die nur zu diesem Zweck gebaut worden ist.

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Text | Volker Thies Fotos* | Michael Hertstein

„Du bist tot.“ Wenn diese Information eintrifft, dann ist es aus. Die Kugel aus einem Sturmgewehr hat getroffen oder eine Panzergranate die Deckung durchschlagen, die man in einem der Wohnhäuser gesucht hat. Vielleicht war es auch der Scharfschütze auf dem gegenüberliegenden Dach, der von einem Zivilisten den todbringenden Tipp über das Versteck erhalten hat. Hier in Schnöggersburg gehört das Sterben zum Alltag, hier werden regelmäßig Menschen verletzt oder getötet. Denn das Städtchen mit seinen mehr als 500 Gebäuden und gut 16 Kilometer Straßen dient ausschließlich dazu, dass die Bundeswehr und ihre verbündeten Streitkräfte dort trainieren. Die Soldaten üben, wie sie ihren Gegner im urbanen Umfeld angreifen und wie sie sich selbst verhalten müssen, wenn jemand auf sie schießt. Dabei ist die Stadt auf ihren sechs Quadratkilometern eigentlich eine fast normale Ansiedlung, wie sie irgendwo auf der Welt stehen könnte, ein solides Mittelstädtchen. Schnöggersburg umfasst ein Gewerbegebiet mit Möbelmarkt, Tankstelle und Handwerksbetrieben, aber auch noch ein paar Bauernhöfe im Umland, ein kleines Sportstadion, einen historischen Stadtkern mit verwinkelten Straßen, dazu ein Einfamilienhausgebiet, ein paar Wohnblocks, Büro- und Verwaltungsbauten. Mit Infrastruktur ist der Ort trotz seiner überschaubaren Größe reich gesegnet: Neben einem Bahn- und einem Autobahnanschluss gibt es eine U-Bahn-

*soweit nicht anders vermerkt

verschiedene Szenarien durchspielen, nicht immer in Schnöggersburg selbst, aber häufig zwischen den Übungshäusern. „Unser Ziel ist es, dass jede Einheit des Heeres mindestens alle zwei Jahre bei uns ist und ihre Fähigkeiten übt und verbessert“, sagt Hauptmann Alexander Helle. Er ist Presseoffizier im Gefechtsübungszentrum Heer der Bundeswehr. Das Gefechtsübungszentrum biete Bedingungen, wie sie in ähnlicher Qualität nur an wenigen Orten auf der Welt bestehen. Für die militärische Disziplin „Orts- und Häuserkampf“ seien lediglich einige Einrichtungen der US Army und eine Übungsstadt in Israel vergleichbar.

Linie und sogar einen kleinen Flugplatz, der zwar nur über eine unbefestigte Startbahn verfügt, dafür aber über ein richtiges Towergebäude. Man findet einen Sakralbau genauso wie einen Marktplatz und ein Elendsviertel. Was man jedoch vergeblich sucht, sind Bewohner: keine Mieter, keine Ladenbesitzer, keine Bauern und keine Schaffner. Auf den Straßen ist nur etwas los, wenn die Bundeswehr dort übt. Das tut sie häufig. An rund 240 Tagen im Jahr wird im Gefechtsübungszentrum trainiert, die Vor- und Nachbereitungszeit nicht mitgerechnet. Bis zu 1.500 Soldatinnen und Soldaten können gleichzeitig

Der Orts- und Häuserkampf gehörte schon immer zum militärischen Handwerkszeug, hat aber an Bedeutung gewonnen. „Sie brauchen nur in die Nachrichten zu schauen, dann sehen Sie, dass sich Konflikte leider zunehmend in Städten und Ansiedlungen abspielen“, sagt Helle. Das Kulissenstädtchen soll deshalb auf engem Raum möglichst alles darstellen, was Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auf dem urbanen Gefechtsfeld begegnen könnte. „Schon heute lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, und der Anteil wird immer größer. Darauf müssen wir reagieren“, sagt Helle und bedient sich damit einer Aussage, die gleichlautend auch auf Konferenzen für Stadtplaner, Architekten und Immobilieninvestoren immer wieder zu hören ist.

Texte aus: „Zentrale Dienstanweisung Häuserund Ortskampf“ der Deutschen Bundeswehr << In Operationen im urbanen Raum kann der Kräfteansatz in Teilen deutlich von anderen Operationen abweichen. Selbst in Kleinstädten kann der Bedarf an Kräften erheblich größer sein als in ländlichen Einsatzgebieten. Bei Offensivoperationen ist eine Überlegenheit von 8:1 anzustreben (5:1 ist das operative Minimum).

Zum Drohnenflug über Schnöggersburg 181


Die infrastrukturellen Gegebenheiten begünstigen den Einsatz von Scharfschützen/Heckenschützen als Einzelschützen bis hin zum Zugrahmen in besonderer Weise. Der Kampf gegen diese ist schwierig, kräfte- und zeitraubend und kann bei Misserfolg fatale Auswirkungen auf die Moral der eigenen Truppe haben.

Bewegungen in unterirdischen Bereichen sind stets mit einer Gefahr durch Sauerstoffmangel, giftige/gesundheitsschädliche Dämpfe/Gase, einsturzgefährdete Bereiche, Stromleitungen, plötzlich ansteigenden Wasserstand, psychische und körperliche Belastung durch Enge, Atemnot, Schmutz, Tiere, Gestank, Fäkalien und Orientierungsverlust (Dunkelheit, weitreichende und verschachtelte Wegführungen) verbunden.

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Mehr als nur lesen: das eMagazin zum Jubiläum

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IZ 30_JUBILÄUMSAUSGABE


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Foto: Bundeswehr / Mario Bähr Foto: Bundeswehr / Tom Twardy

Im Treppenaufgang wird überschlagend oder raupenartig vorgegangen (abhängig von der Breite des Treppenaufgangs). Ist ein höher gelegenes Stockwerk noch feindbesetzt, so ist die Gefahr des Einsatzes von Handgranaten durch den Gegner besonders groß. Auflockerung im Flurbereich und ein zügiges Angreifen über den Treppenaufgang sind daher besonders wichtig.

<<

Bemerkenswert ist die Vielfalt der Wohnhäuser. Einzelhäuser mit Satteldach finden sich genauso wie Reihenhäuser mit Flachdach, die in Verkaufsprospekten wohl als moderne Stadtvilla bezeichnet würden. Gleiche Haustypen sind dann wieder mit verschiedenen Grundrissen gebaut. Was Bauträger eher als unnötigen Planungsaufwand ablehnen würden, ist hier eine Notwendigkeit. Schließlich sollen die Soldaten jedes einzelne Gebäude sorgfältig und aufmerksam erkunden und sich bei Angriff und Verteidigung immer wieder auf neue Situationen, Architekturen, Blickachsen und Feuerbereiche einstellen. Die Häuser sind grundsätzlich unverputzt und die Montagefugen der Modulbauelemente bleiben sichtbar. Die meisten Fenster sind zudem unverglast. Dabei wird in Schnöggersburg ohnehin während der Gefechte keine Scheibe zerstört, keine Tür gesprengt und keine Wand zertrümmert. Hier fliegt keine Panzergranate durch die Luft und keine Kugel verlässt das Gewehr. Der Krieg in Schnöggersburg wird zwar real geübt, doch Zerstörungen und Verletzungen bleiben digital.

Es ist zu beachten, dass der einfachste und hindernisfreiste Weg mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Bereich ist, der entweder verbarrikadiert/gesperrt oder am besten überwacht ist. Anzustreben ist beim Kampf von Haus zu Haus, dass von Giebelseite zu Giebelseite vorgegangen wird, da in der Regel auf der Giebelseite weniger Fenster sind.

<<

Die Trainingsvarianten vor Ort sind sehr vielfältig: Soldaten können ganz klassisch aus der umliegenden Heidelandschaft kommend den Angriff auf die Stadt üben. Umgekehrt kann es die Aufgabe sein, den Ort gegen eindringende Feinde zu verteidigen. Möglicherweise muss sich ein Trupp aber auch durch die Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen arbeiten und steht plötzlich auf dem Marktplatz, wo in den umgebenden Häusern Feinde lauern können. Ähnlich unübersichtlich ist auch das Elendsviertel am Stadtrand, das aus übereinandergetürmten Seecontainern mit hineingeschnittenen Fensterund Türöffnungen besteht. Ein besonders gesicherter Komplex kann je nach Übungsvorgabe das Gefängnis sein oder das Golddepot der Zentralbank von Schnöggersburg. Die Soldaten müssen unter Umständen auch überlegen, wie sie mit dem Sakralgebäude umgehen, das – je nach Szenario – eine Kirche, Moschee oder Synagoge sein kann.


Foto: Bundeswehr / Tom Twardy

<< Aufgrund moderner Bautechnik und der verbesserten Bauweise sind die meisten (in industrialisierten Ländern) in der Nachkriegszeit errichteten großen Gebäude widerstandsfähiger gegen die Explosionswirkungen von Bomben- und Artillerieangriffen, wenngleich ein Kompletteinsturz niemals auszuschließen ist. Auch wenn moderne Gebäude leicht in Brand geraten, bleibt ihre Struktur oftmals intakt. Große Glasfronten bilden jedoch eine extreme, zusätzliche Gefährdung.

Dazu wird jedes Fahrzeug, jede Handfeuerwaffe und jede Person mit Sendern und Empfängern für Laserlicht im unsichtbaren Frequenzbereich ausgestattet. Ausbildungsgerät Duellsimulator (AGDUS) heißt dieses System. Es spielt den Schiedsrichter, wenn die Soldaten mit Platzpatronen aufeinander schießen. Besonders stolz sind sie in Schnöggersburg auf das Mobile Auswertesystem Infanteristischer Einsatz, ein bundeswehrtypisches Wortungetüm, das im Alltagsgebrauch den Kosenamen MASIE trägt. Davon zu sehen sind kleine Gehäuse an den Gebäuden. Auf den ersten Blick wirken sie wie sandfarbene Nistkästen, allerdings mit mehreren vermeintlichen Einfluglöchern, die mit kleinen Spiegeln verschlossen sind. MASIE ermöglicht es, die Waffenwirkung auf Hauswände und durch sie hindurch darzustellen. Mit dem System können Lehm- oder auch Stahlbetonwände simuliert werden. Es erkennt, von welcher Waffe die Laserimpulse kommen, berechnet, welche Wirkung das Geschoss auf die Deckung und vor

allem auf dahinter verschanzte Soldaten hat. Das Ergebnis fällt sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob Sender und Empfänger sich als Panzerkanone und Lehmhütte verstehen oder ob die Wirkung eines Sturmgewehrs auf Stahlbeton berechnet wird. Diese Auswertung geht an das AGDUS-System über, das die Übungsteilnehmer am Körper tragen. „Ich bekomme dann direkt angezeigt, ob mir nichts passiert ist, ob ich eine leichte, mittlere oder schwere Verletzung habe. Wenn ich die nicht entsprechend behandele, verstärkt sich die Verletzung nach einiger Zeit – bis hin zum Ausfall. Dann bin ich tot“, erklärt Hauptmann Helle. Die Simulationssysteme sind über Funk vernetzt. Wenn der Übungsplatz mit voller Kapazität läuft, arbeiten rund 80 Menschen nur in der Auswertung. Die übenden Einheiten erhalten von ihnen einen detaillierten Bericht, mit dem sich das Verhalten jedes einzelnen Soldaten und Fahrzeugs in der Übungssituation nachvollziehen lässt.

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Luftangriffen in Sicherheit gebracht haben. Möglicherweise hat aber auch der Übungsgegner dort Waffen oder eigene Kampfeinheiten versteckt. Ähnlich gefährlich ist es im Kanalnetz, aus dem plötzlich Feinde auftauchen können. Mit Kunstnebel und Stroboskopblitzen lassen sich Bewegung und Kampf in den Tunneln noch herausfordernder gestalten und Situationen der Orientierungslosigkeit simulieren.

Das gilt auch dann, wenn es in den Untergrund geht. Dort sind die Herausforderungen noch einmal höher. Die Orientierungsmöglichkeit ist genauso eingeschränkt wie die Flexibilität in der Bewegung. In einem rund 400 Meter langen U-Bahn-Abschnitt mit seinen drei Zugängen könnte sich einerseits die Zivilbevölkerung vor

>> Ein Mindestabstand zur Zivilbevölkerung ist hier festzulegen und durchzusetzen (Absperrungen, Geländeverstärkungen, Eskalation), um u. a. der Gefahr durch den Einsatz von Waffen und Kampfmitteln auf nahe Distanz oder beispielsweise auch Selbstmordattentätern entgegentreten zu können.

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Gelegentlich werden auch zivile Darsteller aus der Umgebung angeworben, um die Stadt mit Leben zu füllen. In vielen Szenarien sind Wechselwirkungen von Zivilisten und Militär vorgesehen. „Es kann in der Übung eine Rolle spielen, wer die Radiostation kontrolliert oder ob die Truppe die Wasserversorgung wiederherstellt. Entsprechend verhält sich die dargestellte Zivilbevölkerung, gibt den Soldaten Hinweise oder ist auch weniger kooperativ“, erläutert Helle. In der Regel übernimmt aber der Ausbildungsverband, der im Gefechtsübungszentrum seine Heimat hat, diese Rolle genauso

wie die des Gegners der übenden Kollegen. Er hat Zugriff auf eine große Bandbreite von Fahrzeugen sowie weitere Ausrüstung. Der Ausbildungsverband kann Angriffe auf die übende Truppe simulieren oder Gebäude besetzen, die dann erobert werden müssen. Die Bundeswehr hat diese Art der Kriegsführung in den Städten schon immer geübt, vor allem die unmittelbaren Kampfeinheiten. Im Kalten Krieg stand allerdings der befürchtete Schlagabtausch mit den Armeen des Ostblocks im Mittelpunkt, mit Panzer- und Infanterieschlachten in der norddeutschen Tiefebene oder in den Mittelgebirgen. Die Auslandseinsätze im zerfallenden Jugoslawien der 1990er und 2000er Jahre und später in Afghanistan machten dann die gewachsene Bedeutung des Orts- und Häuserkampfs deutlich. 2005 wurde schließlich der Bau der Übungsstadt Schnöggersburg im erst wenige Jahre zuvor eröffneten Gefechtsübungszentrum Heer beschlossen. Der Bau begann 2012, 2017 wurden Teile der Anlage in Betrieb genommen.


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<< In engen Gassen und in Gebäuden sind kurze Entfernungen (Nah- und Nächstbereich der Handwaffen) und somit bis hin zum Nahkampf die Regel. Der Kampf muss unter sehr kurzen Reaktionszeiten und unter ständiger 360°-Bedrohung geführt werden. Feindliches direktes und indirektes Feuer mit Sprengmunition sowie Brände können, durch einstürzende Gebäude, Trümmer, zerrissene Versorgungsleitungen und starke Rauchentwicklung, die Verhältnisse an einem Ort schnell verändern und jede Beobachtung erschweren.

Rund drei Jahre später war Schnöggersburg fertig. Die Stadt hat zusammen mit dem elektronischen Auswertungssystem rund 168 Mio. Euro gekostet. Auf der Seite des Militärs übernahmen das Bundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr mit seinem Kompetenzzentrum Baumanagement die Planung. „Bei der Vergabe wurde darauf geachtet, so weit wie möglich Bauunternehmen und Handwerksbetriebe aus der Region zu berücksichtigen“, sagt Hauptmann Nico Hoffmann vom Bundesamt. Als ziviler Ingenieurplaner war das Büro ICL aus Leipzig beteiligt.

Heute ist das 232 Quadratkilometer große Areal rund um Schnöggersburg einer der größten Truppenübungsplätze in Deutschland. Panzer pflügen durch das Heidegebiet der Altmark und Infanteristen üben dort Angriff und Verteidigung an Waldrändern und in Geländeeinschnitten. Tatsächlich sind das Zentrum und die zugehörige Altmark-Kaserne die ersten und bislang einzigen Bundeswehrstandorte im Inland, die seit der Wiedervereinigung komplett neu errichtet wurden, auch wenn das Übungsgelände in der Colbitz-Letzlinger Heide insgesamt eine viel längere Geschichte hat. Derzeit wird die Kaserne um zusätzliche Gebäude erweitert. Es handelt sich also um den Umkehrfall der zahlreichen Konversionen, die die Immobilienwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt haben.

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Die Berücksichtigung der Auflagen zur Schonung von Infrastruktur, administrativen Gebäuden (Rathäuser, Ministerien, Parlamente usw.) und zum Schutz von Kulturgut schränkt die Handlungsfreiheit ein. Besonders schutzbedürftige Gebäude, Einrichtungen und Anlagen sowie Schutzzonen sind in der Regel durch internationale Schutzzeichen und Symbole gekennzeichnet.

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Schnöggersburg und das Gefechtsübungszentrum sind zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor in der landwirtschaftlich geprägten Altmark geworden. Fahrdienste, zwei Feuerwehrstandorte, Fahrzeuginstandhaltung, Verpflegung, die nötigen Büroarbeiten und auch das Management der zwei auf dem Truppenübungsplatz lebenden Wolfsrudel: All das muss erledigt werden. Insgesamt sind rund 1.600 zivile und militärische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dauerhaft am Gefechtsübungszentrum beschäftigt. Die zivile Komponente des laufenden Betriebs wird jeweils für mehrere Jahre an einen Partner aus der Rüstungsindustrie ausgeschrieben. Derzeit hat Saab den Auftrag inne.

Kompetente Mitarbeiter für den Bau und Betrieb sind und waren für die Kulissenstadt unabdingbar. Denn auch wenn hier Ausnahmesituationen geübt werden, machen Baurecht und Arbeitsschutzvorschriften keine Ausnahme. Das sieht man zum Beispiel an dem kleinen Flüsschen mit dem Namen Eiser, das auf dem Gelände angelegt worden ist. An mehreren Brücken über die Eiser, bei der es sich in Wirklichkeit um ein von Regenwasser gespeistes, langgezogenes stehendes Gewässer handelt, können die Mittelabschnitte herausgefahren werden. Die Brücke gilt dann als gesprengt, so dass die Soldaten das Hindernis überwinden müssen, falls keine Panzerschnellbrücke zur Hand ist. Nachts außerhalb der


Übungen müssen die „gesprengten“ Brücken mit Gittertüren versperrt werden. Es soll schließlich niemand ins Wasser fallen oder fahren. Das Baurecht sorgt außerdem dafür, dass es auf dem Gelände keine Häuser mit mehr als sechs Stockwerken gibt – denn dann hätte ein Aufzug installiert werden müssen. „Zum Glück müssen wir wenigstens keinen Brandschutz in den Gebäuden einhalten“, sagt Hoffmann. Mit der Technik für fließendes Wasser und Abwasser mussten sich die Planer nicht auseinandersetzen, beides gibt es nicht. Aber jedes Gebäude hat Strom, schon zum Betrieb der Simulationsanlagen.

Was das Facility-Management betrifft, ist Schnöggersburg ohnehin robust und pflegeleicht. Schließlich gibt es keine Bewohner, die sich darüber beschweren, wenn nur alle paar Monate der Rasen gemäht wird. Zu den häufigsten Arbeiten gehört der Austausch von Bordsteinen: Durch den unsanften Kontakt mit Panzerketten zerbröselt nämlich gelegentlich einer. Auch die eine oder andere Straßenlaterne hat einen Rempler durch die Gefechtsfahrzeuge nicht unbeschadet überstanden. „Häuser“, so beruhigt Hoffmann, „sind aber noch nicht umgefahren worden.“ << Konventionelle Gegner bereiten (meist) die Rundumverteidigung in urbanen Räumen vor. Sie verstärken ihre Truppen in befestigten und tief gestaffelten Stellungen mit Kampfpanzer, Schützenpanzer und Panzerabwehrwaffen, um – vor allem im Zuge von Durchgangsstraßen – tiefe Einbrüche zu verhindern.

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Mein Land Dein Land

Bis ins Detail geplante israelische Siedlungen stehen zum Teil wild gewachsenen arabischen Dörfern gegenüber. 192


Es kocht in der Wiege des Judentums. Seit der Staatsgründung Israels 1948 ist das Westjordanland eines der am meisten umkämpften Gebiete weltweit. Palästinenser, die damals aus den Städten am Mittelmeer hierher vertrieben wurden, fürchten eine weitere Verdrängung durch die israelische Siedlungspolitik. Wie man wohnt, lebt und überlebt, haben uns Bewohner von drei israelischen Siedlungen und drei palästinensischen Dörfern erzählt. Sie werden in getrennten Geschichten porträtiert, darauf haben beide Seiten großen Wert gelegt.

Unser Besuch im Westjordanland fand vor dem Angriff der Hamas im Süden Israels statt. Seit Beginn des Gaza-Kriegs hat sich das Leben der Gesprächspartner stark verändert. Väter und Söhne der israelischen Familien wurden eingezogen, palästinensische Familien sehen sich weitaus stärkeren Angriffen durch religiöse Fanatiker ausgesetzt als zuvor. Recherchen der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem zufolge wurde das Dorf Susya bei Hebron (siehe Seite 210) im Oktober mehrmals angegriffen, technische Geräte gestohlen oder zerstört. Bis zum Redaktionsschluss waren alle unsere Gesprächspartner unverletzt.

Text | Sabine Gottschalk Fotos* | Oren Ziv *soweit nicht anders vermerkt 193


Die Naqba, die Vertreibung der Palästinenser aus den Küstenstädten im Jahr 1948, ist bis heute im kollektiven Gedächtnis des ganzen Volkes fest verankert. Niemand will sein Land an jüdische Siedler verlieren, Ausweichmöglichkeiten gibt es ohnehin nicht. Denn obwohl die vertriebenen Palästinenser jordanische Ausweispapiere haben, würde nicht einmal Jordanien sie aufnehmen. Gleichzeitig fordern orthodoxe Juden die Rückgabe biblischer Stätten. Das Westjordanland gehört für sie wie das heutige israelische Staatsgebiet als Gelobtes Land Eretz Israel dem jüdischen Volk. Das unterstreicht die von der aktuellen rechts-religiösen Regierung nicht nur geduldete, sondern gezielt geförderte Siedlungspolitik in Palästinensergebieten zwischen der mit einer Mauer gesicherten Staatsgrenze Israels, der sogenannten Grünen Linie, und dem Jordan. Religiöse Juden, vornehmlich aus angelsächsischen Ländern, haben seit dem Ende des Sechstagekriegs 1967 immer wieder palästinensisches Land besetzt und so lange ausgeharrt, bis die israelische Regierung ihnen die Erlaubnis gab, eine eigene Siedlung zu errichten. Da in Palästina weder unter türkischer noch unter britischer oder jordanischer Herrschaft ein offizielles Kataster etabliert wurde, haben palästinensische Familien, die hier seit Jahrzehnten leben, keine Möglichkeit, ihren Besitz nachzuweisen. Das Land, auf dem sie leben, wird in großen Teilen treuhänderisch vom israelischen Staat verwaltet. Er hat damit die Möglichkeit, es jüdischen Siedlern zu überlassen. Die UN ächten den Landraub und sehen in der aktuellen Siedlungspolitik Israels eine Verletzung internationalen Rechts. Rund 7.000 neue Wohnungen sind dennoch allein im ersten Halbjahr 2023 genehmigt worden.

Grundschule in der alten Siedlung Beit Horon zwischen Jerusalem und Tel Aviv.

Mit rund 21.000 Quadratkilometern ist Israels offizielles Staatsgebiet etwa so groß wie Hessen. Die Bevölkerung wächst jährlich um etwa 1,6 % auf mittlerweile mehr als 9 Mio. Einwohner an. Bezahlbarer Wohnraum wird dringend benötigt, nicht nur Jerusalem und die Metropolregion Tel Aviv platzen aus allen Nähten. Die einzige Demokratie des Nahen Ostens hat seit Jahresbeginn erstmals in 75 Jahren eine religiös geprägte Regierung. Ein Grund für diese Entwicklung ist die Zunahme der orthodoxen Bevölkerung, die sich durch die hohe Zahl ihrer Kinder in den vergangenen Jahrzehnten einen Mehrheitsvorteil geschaffen hat. Acht bis zehn

Kinder pro Familie sind keine Seltenheit. Alle diese Menschen brauchen Wohnraum. Hinzu kommt der anhaltende Zuzug. Denn Alija, die Rückkehr ins Gelobte Land, ist die Zauberformel, die allen Menschen jüdischen Glaubens ein Leben in Israel ermöglicht. Der Schutz der Siedlungen im Westjordanland durch israelisches Militär verlangt der Bevölkerung nicht nur finanziell große Opfer ab. In Israel gilt eine allgemeine Wehrpflicht, drei Jahre für Männer, zwei für Frauen. Manche Einsätze enden tödlich. Dennoch bestehen orthodoxe Juden auf einem Leben im Land ihrer Vorväter Abraham, Isaak und Jakob.

Trotz Räumung wird die Siedlung Homesh von ultra-orthodoxen Juden wieder aufgebaut.

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lem: Die Zahl der Banken, die Kredite zum Hausbau im palästinensischen Gebiet vergeben, ist aufgrund der Sicherheitslage gering. Wer als Projektentwickler gleich ein größeres zusammenhängendes Areal bebaut, geht hier hingegen kein Risiko ein, die Wohnungen sind schneller verkauft, als das Fundament gegossen ist.

Israelisches Militär schützt jüdische Siedler im arabischen Ost-Jerusalem.

Eine Zweistaatenlösung mit einem unabhängigen Palästina rückt damit in weite Ferne. Nicht nur Israel favorisiert einen einzigen Staat. Auch viele Palästinenser wollen das, allerdings unter der Bedingung, dass sie die gleichen Rechte bekommen wie jüdische Bewohner. Wegen einer befürchteten starken Bevölkerungszunahme auf Seiten der Palästinenser will Israel ihnen das jedoch nicht zugestehen. Seit den Osloer Verträgen in den 1990er Jahren ist das Westjordanland in drei Zonen A, B und C eingeteilt. Die ersten, inzwischen mehr als 40 Jahre alten jüdischen Dörfer auf der östlichen Seite der israelischen Staatsgrenze liegen in Zone C unter israelischer Verwaltung. Sie sind zu gut funktionierenden Kommunen mit einer vorbildlichen Stadtplanung herangewachsen. Hier leben die Siedler und ihre arabischen Nachbarn fast friedlich nebeneinander. Doch damit gibt sich die nachfolgende Generation nicht zufrieden. Immer wieder entstehen neue Außenposten in der Nähe palästinensischer Städte und Dörfer wie Nablus oder Hebron in den Zonen A und B, die von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet werden. Die Outposts bieten dauernden Anlass für bewaffnete Auseinandersetzungen. Aggressiven Siedlern, die palästinensische Dörfer mit Steinen und Molotow-Cocktails angreifen, stehen nicht minder wütende junge Palästinenser gegenüber, die ebenfalls zu Waffen greifen. Häufiges Angriffsziel sind Autos mit israelischen Kennzeichen auf Transitstraßen.

Die heutigen Siedlungswilligen sind größtenteils bereits in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen. Das Land, auf dem sie sich niederlassen, wird nach gleichem Muster beschlagnahmt wie schon nach dem Ende des Sechstagekriegs 1967. Sobald Israel es zum „Staatsland“ erklärt, kann die Regierung es den Siedlungswilligen zur Bebauung übergeben. In einigen wenigen Fällen kommt dabei sogar Land unter den Hammer, dessen Besitz Palästinenser nachweisen können. Immer geht den arabischen Familien jedoch Land verloren, das sie als Weide für ihre Schaf- und Ziegenherden dringend benötigen. Für die jüdischen Siedler hingegen stellt sich nur ein Prob-

Die neuen Flächen liegen seit jeher immer in der Nähe eines Außenpostens der Armee. Nur so können die Siedler vom Schutz der Soldaten profitieren. Dort warten sie so lange ab, bis sie eine Baugenehmigung für feste Häuser, Schulen und Synagogen erhalten. Auch für archäologische Grabungen im Westjordanland müssen Palästinenser weichen, wenn alt-testamentarische Stätten gefunden werden. Dann werden ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Um das Überleben der neuen Siedlungen zu garantieren, bekommen sie sofort Anschluss an das israelische Trinkwasser- und Stromnetz. Da die Palästinensische Autonomiebehörde nur begrenzte Kompetenzen hat, ist sie für einige Verwaltungsbereiche nicht zuständig. Die Wasserversorgung liegt in der Verantwortung der palästinensischen Verwaltung, doch für Strom sind palästinensische Dörfer auf Israel angewiesen.

In den regenarmen Bergen bei Hebron haben Schäfer ein kärgliches Auskommen mit ihren Herden.

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Das bringt ganz praktische Probleme mit sich, wenn Reparaturen am Netz durchgeführt werden müssen. Denn einerseits dürfen Palästinenser nicht am israelischen Stromnetz arbeiten, andererseits dürfen Israelis nur in Ausnahmefällen die Zone A betreten. In der Regel ist selbst die Weiterfahrt auf einer Verbindungsstraße untersagt. In die Zonen B und C dürfen Israelis einreisen, da hier das israelische Militär für die Sicherheit zuständig ist. Doch auch hier herrscht die höchste Sicherheitsstufe und es gibt Straßen, die unter Siedlern aus Angst vor Anschlägen tabu sind. In der Zone A liegen Städte wie Nablus und Jenin mit seinem großen Flüchtlingslager, die immer wieder Orte von Auseinandersetzungen sind. Unweit dieser Städte wurde im Mai die seit 2005 vertraglich aufgelöste Siedlung Homesh auf einem Hügel illegal zu neuem Leben erweckt und eine Jeschiwa - eine Toraschule - mit minis-

Unsere Filme zum Artikel

Zu Besuch in den Häusern palästinensischer Familien.

terieller Unterstützung eingeweiht. Religiöse Bildung wird so zur Gründung einer neuen Ansiedlung genutzt. Nur wenige hundert Meter unterhalb des Hügels von Homesh leben die Bewohner des palästinensischen Dorfes Burqa in ständiger Angst vor Angriffen durch radikale Siedler, die sich nicht scheuen, Molotow-Cocktails in Scheunen zu werfen. Terrorattacken und Blutvergießen sind häufig die Antwort auf solche Angriffe. Ob extremistische Siedler oder palästinensische Freiheitskämpfer, beide Seiten kämpfen im Namen ihrer jeweiligen Religion. Besser sieht es in und um etablierte jüdische Städte wie Efrat in der Region Gusch Etzion aus. Nur etwa einen Kilometer vom Highway 60 und nicht weit von Bethlehem entfernt, erstreckt sich über mehrere Hügel eine nahezu perfekte Planstadt. Im Gegensatz zu den umliegenden paläs-

tinensischen Dörfern ist Efrat mittlerweile eine Stadt, die ihresgleichen sucht. „Wir haben seit 15 Jahren denselben Stadtplanungschef“, sagt Efrats Bürgermeister Oded Revivi. Das führe dazu, dass in seiner Stadt von Anfang an alles mitgedacht wird: Kindergärten, Schulen, Spielplätze, Synagogen für unterschiedliche Glaubensausrichtungen, medizinische Versorgung und Einkaufszentren. Im Supermarkt arbeiten Israelis und Palästinenser zusammen Die Siedlung ist dank guter Bewässerungssysteme wie einige andere auch zu einer prosperierenden Oase geworden. Doch Friede bedeutet das nicht. Auch hier müssen die Siedler immer um ihre Sicherheit fürchten. Die Gated Community ist umzäunt und mit Nato-Draht gesichert. Vor einigen Jahren hat hier eine Messerattacke durch einen palästinensischen Jugendlichen zu Todesopfern auf beiden Seiten geführt.

Israel und das Westjordanland

SYRIEN Nazareth

Zu Besuch bei Palästinensern und israelischen Siedlern

Burqa Nablus

MITTELMEER

WESTJORDANLAND Tel Aviv Halamish

Zu Besuch in den Häusern israelischer Siedler.

Beit Horon Jerusalem Silwan Efrat Gaza

Hebron Susya

TOTES MEER

JORDANIEN

ÄGYPTEN

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30 Jahre

Immobilien Zeitung! Exzellente Berichterstattung, die Maßstäbe setzt. Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum! Ihr Norman Scherer

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„Hier ein Haus zu finden, ist fast unmöglich“ Familie Maoz Ovadia, Halamish

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„In Halamish ein Haus zu finden, ist inzwischen fast unmöglich“, erzählt Miri Maoz Ovadia. Die 36jährige ist als Kleinkind mit ihren Eltern aus England in die noch junge Siedlung rund 20 Kilometer nordöstlich der zentralisraelischen Stadt Modi’in gezogen. Die Familie hatte das Dorf im Westjordanland gewählt, weil die Bewohner streng nach religiösen Richtlinien leben, aber nicht ultra-orthodox sind. Wichtig sei der Zusammenhalt innerhalb der Gemeinde, erzählt Miri. Er führe auch dazu, dass viele Nachkommen der ersten Generation hierbleiben wollen. Das ist jedoch nicht einfach, denn das Land ist knapp. Halamish ist eine auf besetztem palästinensischem Privatland gegründete jüdische Siedlung, die nicht erweitert werden darf. Baugenehmigungen werden von der israelischen Regionalverwaltung nur an Projektentwickler vergeben, die komplette Quartiere errichten.

Halamish ist für Miri eine friedliche Idylle, in der sie ihre Kinder aufwachsen lassen will. Doch auch hier hat es 2017 einen tödlichen Angriff durch Palästinenser gegeben, bei dem drei Israelis ihr Leben verloren. Nach ihrem Studium in Jerusalem, wo sie auch ihren zwei Jahre älteren Mann Shlomo kennen gelernt hat, arbeitete Miri einige Jahre bei der Regionalverwaltung des Bezirks Binyamin im südlichen Samaria, zu dem auch Halamish gehört. Nach der Hochzeit wohnten die beiden zunächst in einer kleinen Wohnung in der Großstadt. Als der heute neunjährige Naveh geboren war, wünschten sich die jungen Eltern ein Leben in einer kleineren Gemeinde. Miri wollte zurück an den Ort ihrer Kindheit und ihrer Freunde. Durch die Nähe zu ihren Eltern erhoffte sie sich Unterstützung mit dem kleinen Kind und weiterem Familienzuwachs.


Inzwischen haben viele weitere Familien ältere Häuser übernommen und renoviert. Das Viertel sei nun altersmäßig gut durchmischt, erzählt Miri, seit April Mutter von fünf Kindern. „Natürlich bekommen wir die politischen Spannungen im Land auch hier mit, aber die Leute kümmern sich im Allgemeinen mehr um ihren Alltag“, sagt sie. Ihr Haus gehört zu den ersten festen Gebäuden, die in Halamish errichtet wurden, und liegt in einem Viertel mit großen Bäumen und blühenden Gärten. Auf 240 Quadratmeter Wohnfläche hat es vier Schlafzimmer sowie eine Einliegerwohnung, einen Garten und eine Dachterrasse. Das meiste ist schon nach den eigenen Vorstellungen umgebaut.

Die Maoz Ovadias konnten ein altes Haus kaufen und bauen es nach und nach aus.

Bevor Miri am Nachmittag mit vier ihrer fünf Kinder ins örtliche Freibad geht, zeigt sie uns das gerade fertig gewordene Haus einer befreundeten Architektin. „Sie hatten Glück und konnten ein neues Haus kaufen, weil es hier vor einiger Zeit gebrannt hat. Nach dem Feuer mussten die alten Gebäude abgerissen werden und ein Projektentwickler hat eine Baugenehmigung für neue Wohnhäuser bekommen“, erzählt Miri. Ihre Freundin hat ebenfalls fünf Kinder, die sich noch zwei Schlafzimmer teilen müssen. Das soll sich jedoch bald ändern. Die vorgeplanten Häuser dürfen erst nach der Übergabe nach eigenen Vorstellungen verändert werden. Am Freibad zeigt sich, wie sehr die Religion das Leben im Dorf bestimmt: Naveh darf mit seinen neun Jahren zum ersten Mal nicht mehr mit den Frauen und Mädchen baden, für Miri bedeutet das deutlich mehr Organisation. Denn die kleineren Kinder kann sie nicht allein beaufsichtigen. Ihre Mutter muss helfen.

Als sie schließlich nach Halamish zurückkamen, gab es dort keine Wohnung. Die ersten beiden Jahre mussten sie in einem Mobile Home leben. Dann stand ihr jetziges Haus zum Verkauf. Es war 20 Jahre lang vermietet gewesen und dringend sanierungsbedürftig. Trotz des hohen Kre-

dits und viel Eigenarbeit sei das anfangs ungeliebte Objekt ein gutes Geschäft geworden. Die Renovierung ist jedoch noch längst nicht abgeschlossen. Damals gab es nur zwei israelische Banken, die Kredite für Häuser im Westjordanland vergaben.

Kindergärten und Grundschulen gibt es im Dorf, ältere Kinder fahren mit dem Bus in Nachbarorte. Schwieriger ist es mit der medizinischen Versorgung. Die nächsten Ärzte sitzen mehr als 20 Kilometer entfernt im ultra-orthodoxen Modi’in Illit, direkt hinter dem Checkpoint, der die Grenze zwischen dem Westjordanland und Israel markiert, und damit hinter dem Dauerstau zu Stoßzeiten.

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„Wir sind nicht die Angreifer“ Familie Rajabie, Silwan (Ost-Jerusalem)

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Zohar und Rula Rajabie leben im Stadtteil Silwan in Ost-Jerusalem. Sie bewohnen ein Haus in Hanglage mit Blick über ein Tal, das vor allem bei der jüdischen Bevölkerung der Stadt Begehrlichkeiten weckt. Dort liegt die archäologische Fundstätte der historischen Davidsstadt, die nach der Bibel den Ursprung Jerusalems bildet. In den Hängen von Silwan wurden jüdische Felsengräber aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. gefunden. Das Gebiet ist erst nach dem Sechstagekrieg von 1967 mit West-Jerusalem vereint worden und wird mehrheitlich von Palästinensern bewohnt. Seit einigen Jahren drängen jedoch jüdische Familien in das Viertel. Den Palästinensern werden Ausweichquartiere in Vororten angeboten.

„Das Haus haben meine Eltern 1966 mit ihren eigenen Händen erbaut, meine Mutter hat schwere Steine für das Fundament geschleppt“, erzählt Zohar. Gekauft haben sie das Grundstück von einer palästinensischen Familie, die es ihrerseits von jemenitischen Juden erworben hatte, die dort vor mehr als 100 Jahren Landwirtschaft betrieben. Die Tatsache, dass hier einst Juden Grundbesitz hatten, wird Familie Rajabie nun zum Verhängnis. Religiöse Siedlerorganisationen versuchen, mittels Gerichtsbeschluss Häuser zu erwerben, die die Palästinenser nicht verlassen wollen. Araber hätten die jüdische Bevölkerung 1946 von ihrem Land vertrieben, heißt es zur Begründung. Dass Familie Rajabie das Land ganz legal gekauft hat, spielt keine Rolle. Ein Räumungsbescheid liegt bereits vor. „Plötzlich kommt jemand und will alle Erinnerungen an den Ort zerstören, mit dem wir von Geburt an verbunden sind“, sagt der 52-jährige Zohar verbittert.


Zohars Eltern haben ihr anfänglich sehr kleines Haus immer weiter ausgebaut, um ausreichend Platz für ihre zehn Kinder zu bekommen. Die sieben Söhne haben es längst gemeinschaftlich übernommen. Jeder hat eine etwa 70 Quadratmeter große Wohnung für seine Familie erhalten. Auf rund 600 Quadratmetern leben fast 50 Personen in nach westlichen Maßstäben bescheidenen Verhältnissen. Zohars und Rulas Kinder sind mittlerweile erwachsen und haben eigene Familien gegründet. Tochter Rawan wohnt in der Nähe. Mit ihrem Sohn Adhan kommt sie regelmäßig zu Besuch.

Der gültige Räumungsbescheid führt dazu, dass die Rajabies keine Reparaturen an ihrem Haus mehr durchführen können. Als im Mai ein Abwasserrohr einer höher gelegenen Straße barst, weil städtische Mittel für die Instandsetzung seit Jahren hauptsächlich in jüdische Stadtviertel fließen, gelangten Fäkalien bis in die Schlafzimmer der Familie von Zohars Bruder im Erdgeschoss des Hauses. Die Abwasserleitung auf der Straße wurde mittlerweile repariert, die seither unbewohnbaren Zimmer dürfen jedoch nicht saniert werden. Jegliche Baumaßnahme gilt als rechtswidrig. Doch nicht nur die Wasserversorgung ist in marodem Zustand. Bei der Zuwegung sieht es nicht besser aus. Zum Haus der Rajabies führt zwar eine enge Straße, vom Tal aus ist es jedoch schneller über Treppen zu erreichen, die sich überall in der Stadt die zahlreichen Hügel hinaufwinden. „Die Treppe, die zu unserem Haus führt, ist erst kürzlich instandgesetzt worden, weil nebenan eine jüdische Familie eingezogen ist“, erzählt Zohar. „Die Stufen waren weggebrochen, im Winter war das sehr gefährlich.“ Hier erreichen die Temperaturen in den kalten Monaten Werte um den Gefrierpunkt, gelegentlich schneit es sogar.

Kein Luxus: Familie Rajabie wohnt im Haus der Eltern im Ost-Jerusalemer Stadtteil Silwan.

Die jüdische Familie hat ein ehemals palästinensisches Haus bezogen. Es ist mit Stacheldraht gesichert und zur Straße hin verschanzt. Wenn seine neuen Bewohner Besorgungen erledigen und die Kinder zur Schule gehen, werden sie von einer bewaffneten Eskorte der israelischen Armee oder privaten Sicherheitskräften begleitet. Da es immer wieder zu Übergriffen kommt, hat Zohar an jeder Hausecke Überwachungskameras installiert. Das Geschehen beobachtet er auf einem großen Bildschirm im Wohnzimmer. „Wir brauchen die Aufnahmen“, erklärt er. „Nur so können wir beweisen, dass nicht wir die Angreifer sind, sondern die neuen Nachbarn und ihre Unterstützer.“ Wie lange sie so ausharren können, wissen die Rajabies nicht. Eine Alternative haben sie nicht.

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„Es ist ein Wunder, was hier entstanden ist“ Familie Tayar, Beit Horon

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„Es ist ein Wunder, ein wirkliches Wunder, was hier entstanden ist“, wiederholt Yehudit Tayar, wann immer sie von ihrem Dorf Beit Horon erzählt. Die 69-Jährige und ihr gleichaltriger Mann Ami gehören zu den Familien, die hart gearbeitet haben, um aus der anfänglich nur aus Caravans bestehenden kleinen Ansiedlung rund um einen Stützpunkt der israelischen Armee das grüne, lebenswerte Dorf zu machen, das sich dort heute befindet. In Beit Horon sprießen nicht nur Bäume und Blumen, Familien leben hier mittlerweile in der dritten Generation und genießen die vielen Vorteile eines fast immer ruhigen Dorflebens, die allerdings nur unter hohen Sicherheitsvorkehrungen zu haben sind. Geschenkt wurde den Siedlungspionieren nichts. „Mit kleinen Kindern jahrelang in einem Wohnwagen zu leben, ist nicht leicht“, sagt Yehudit.

Als sie 1980 mithilfe der zionistischen Organisation Gush Emunim in das drei Jahre zuvor gegründete Camp kamen, lebten hier 14 Familien in kärglichen Verhältnissen. Wasser und Strom gab es nicht. Dafür aber einen großen Gemeinschaftssinn, denn alle Siedler verband der Wunsch, das Land der Bibel für das Volk Israel zurückzugewinnen. Der Ort nordwestlich von Jerusalem war bis vor wenigen Jahren nur über kleine Straßen und einen Umweg durch die palästinensische Hauptstadt Ramallah zu erreichen. Mittlerweile verbindet unterhalb des Dorfes eine gut ausgebaute Fernstraße Jerusalem mit Tel Aviv. Wer genau hinschaut, entdeckt daneben eine zweite Straße: Sie dient nur der arabischen Bevölkerung der kargen umliegenden Dörfer. Auch das gehört zur Realität im Westjordanland.


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Yehudit und Ami haben sich Ende der 1960er Jahre in der israelischen Armee kennen gelernt. Yehudit stammt aus einer Soldatenfamilie, ihr Vater diente zeitweise in der US Air Force, für die er in Pearl Harbour im Einsatz war. Ein historischer Zeitungsausschnitt im Flur erinnert daran, dass er als einziger einen Liebesbrief vor dem Angriff begonnen und danach beendet hat. Amis Mutter ist als Holocaust-Überlebende nach Israel gekommen.

Yehudit Tayar ist für die Sicherheit in Beit Horon zuständig. In ihrer Hand das Gehäuse einer Granate.

Als Berufssoldaten waren beide Tayars lange Zeit in Gush Katif im südlichen Gazastreifen stationiert. Beim Einschlag einer Mörsergranate ist Yehudit dort schwer verletzt worden. Einige Relikte aus dieser Zeit, darunter auch das Gehäuse der Granate, hat sie in einer Vitrine aufbewahrt. Aus der Armee sind die beiden längst entlassen, aber eine Waffe trägt Yehudit bis heute. Sie ist eine der Hauptverantwortlichen für die Sicherheit im Dorf, Ersthelferin und Lebensretterin. Einmal jedoch konnte auch sie nichts mehr tun: Bei einem Angriff durch einen Palästinenser wurde eine junge Erzieherin auf freier Straße getötet, als sie gerade die Kita verließ. Ein Gedenkstein in einem Park erinnert an ein weiteres Anschlagsopfer, das auf dem Rückweg nach Hause getötet wurde. Einmal, so erzählt Yehudit, habe sie aber auch einem arabischen Jungen das Leben retten können, als er in seinem Dorf von Jugendlichen verletzt am Boden lag und sich niemand um ihn kümmerte.

Nach einigen Jahren im Camp erteilte die israelische Regierung Baugenehmigungen und die Siedler konnten Land kaufen. Das große Haus, das die Tayars heute bewohnen, haben sie nach und nach selbst aufgebaut und Ami arbeitet noch heute bei der Reparatur des Daches mit. Jedes der vier Kinder bekam sein eigenes Zimmer, hinzu kommen ein großer WohnEssbereich mit einer offenen Küche und eine geschlossene Veranda.

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Luxuriös ist das Haus nicht. „Wir sind einfache Leute, wir sind zufrieden mit dem, was wir haben“, betont Yehudit. Eines der Kinderzimmer ist mittlerweile zum Spielzimmer für die Enkel umfunktioniert worden, denn eine Tochter ist mit ihrer eigenen Familie im Dorf geblieben. Die anderen drei Kinder leben über Israel verteilt, kommen aber oft zu Besuch.

Die Menschen hier wollen ihre grüne Oase mit Bildungseinrichtungen, einem Gemeinschaftshaus und Synagogen, die sie mit ihren eigenen Händen erschaffen haben, nicht verlassen. Wichtig sei dabei, dass der Zusammenhalt die Entwicklung von Beit Horon bis heute begleitet, sagt Yehudit.



„Ich gehe niemals weg von hier“ Familie Jarar Saif, Burqa

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„Wir leben unter großem Druck, psychologisch, ökonomisch, politisch und sozial. Wir fühlen uns wie in einem Gefängnis. Unser Haus hat Gitter vor den Fenstern und einen hohen Zaun, weil die Siedler uns regelmäßig angreifen. Sie haben sogar schon Feuer gelegt und Molotow-Cocktails in unsere Scheune geworfen“, erzählt Nizar Saif. Der 68-Jährige und seine 66-jährige Frau Aida Jarar wohnen am Rand des Dorfes Burqa im nördlichen Westjordanland. Gemeinsam mit Nizars Bruder und dessen Familie leben sie auf einem Dreiseithof und betreiben eine kleine Landwirtschaft. In den 1970er Jahren hat Nizar in Köln Linguistik studiert, bevor es ihn in die Heimat zurückzog. Seine Frau stammt aus dem nur wenige Kilometer entfernten Nablus.

Burqa liegt in einem umkämpften Gebiet, in dem religiöse Israelis mit Nachdruck versuchen, sich anzusiedeln. Nach Jenin sind es keine 30 Kilometem auf dem Highway 60. Die Region gehört nach den Osloer Verträgen zur Zone B, steht also unter der zivilen Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Für die Sicherheit ist hier die israelische Armee zuständig. Israelis haben außerhalb des Highways offiziell keinen Zutritt, an den Straßen warnen riesige rote Schilder vor der Weiterfahrt, die gesetzlich verboten ist und lebensgefährlich sein kann. Am Ortsrand von Burqa zeigt sich der Konflikt besonders deutlich. Das Haus der Saifs grenzt an einen Hügel, auf dem Israelis 1980 begannen, die umstrittene Siedlung Homesh zu errichten. Die


etwa 70 Hektar landwirtschaftliche Fläche, die sie dafür besetzt haben, sind bis heute nachweislich im Privateigentum der Bewohner von Burqa. Mit der Einrichtung eines Stützpunkts durch die israelische Armee wurde den Eigentümern der Zugang verweigert. 2005 musste Israel das Gebiet ebenso wie Gaza in der Folge des Abkoppelungsplans von Ariel Scharon verlassen. Einige orthodoxe Juden bestehen jedoch bis heute auf der Rückkehr nach Homesh. Im Mai haben sie dazu mit Unterstützung der rechtsreligiösen Koalition von Premier Netanyahu in Sichtweite von Burqa eine Tora-Schule errichtet. Ziel ist es, durch die erneute Besiedelung die Bewohner der arabischen Dörfer daran zu hindern, ihre Felder zu bewirtschaften.

Für die Saifs hat die Landnahme durch die Siedler schwere Folgen. Mit dem friedlichen Leben am Rande des Dorfes ist es seit dem Tag vorbei, als ihre Scheune in Brand gesetzt wurde. „Sämtliches Futter für unsere Schafe und Ziegen ist verbrannt“, erzählt Nizar. „Wir mussten die Fenster der Wohnungen mit engmaschigen Gittern schützen, um weitere Angriffe zu verhindern.“ Der Besitz der Saifs ist seitdem nach außen verschanzt. Nur eine kleine Tür ermöglicht den Zugang zum großen Innenhof, der mit seinen zahllosen bunten Blumen wie ein Idyll in feindlicher Landschaft wirkt. Auch hier sind Fenster und Türen vergittert. Auf jeweils 125 Quadratmetern leben die beiden Familien heute nicht mehr so gedrängt wie zu Zeiten, als die Kinder klein waren. „Hier haben sie immer gegessen“, erinnert sich Aida in ihrer großen Küche. Erst nach dem Auszug der acht Kinder, die mittlerweile alle im Ausland leben, haben die beiden für ihr größeres Wohnzimmer mit roten Samtsofas zwei Zimmer zusammenlegen können. Eine ehemalige Veranda wurde ebenfalls integriert. Weiterer Luxus ist bei den Saifs nicht zu finden. „Ich bin hier geboren. Ich lebe hier und gehe niemals weg von hier“, sagt Nizar trotz der widrigen Umstände. Das Haus wurde von seinem Vater erbaut. Von den zehn Geschwistern sind nur er und sein Bruder geblieben.

Aida Jarar und Nizar Saif mussten ihr Haus gegen Angriffe durch aggressive Siedler aus Homesh schützen.

In den heißen Sommermonaten ist das Wasser manchmal knapp. Die Wasserzufuhr wird von der Autonomiebehörde kontrolliert. Strom hingegen kommt aus Israel. Er werde gelegentlich abgeschaltet, erklärt Nizar. Wie schwierig es sich mit den Zuständigkeiten gestaltet, zeigt das Beispiel einer kleinen Reparatur an einem Mast. Als sich ein arabischer Elektriker daran machte, wurde ihm der Eingriff durch die Armee untersagt. Ein Elektriker aus Israel musste es richten.

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Foto: Rebecca Kowalsky

„Ein Haus mit Garten war zu teuer“ Familie Abelow, Efrat

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Avi und Rachel Abelow leben mit ihren vier Söhnen zwischen 15 und 23 Jahren in Efrat zwischen Bethlehem und Hebron in den Judäischen Bergen. Die beiden 50-Jährigen sind gebürtige Amerikaner. Avi ist 1990 mit seinen Eltern und Geschwistern aus New York hierhergekommen. Sie sind Shlomo Riskin, dem Rabbi und Gründer eines religiösen Bildungsnetzwerks, gefolgt, für den sein Vater schon in den USA arbeitete. Mit anderen Neuankömmlingen hat Avis Mutter tagelang auf dem noch unbebauten Hügel ausgeharrt, bis die Regierung das Gebiet den Siedlern überließ. Rachel hat die Stadt während eines Israelaufenthalts in jungen Jahren kennen gelernt. Nach ihrer Hochzeit mit Avi entschieden sich die beiden für ein Leben in Judäa.

Efrat ist auf sogenanntem Staatsland erbaut, palästinensischem Land, das Israel annektiert und den Siedlern verkauft hat. Geschaffen haben sie darauf eine durchdachte Planstadt. Durch die umfassende Planung konnten alle Notwendigkeiten berücksichtigt werden: Spielplätze, Schulen für alle Alters- und Bildungsstufen, mehr als 20 Synagogen unterschiedlicher Ausrichtungen, Freizeiteinrichtungen und inzwischen auch zwei Einkaufszentren. Eins davon liegt nur wenige Minuten zu Fuß vom Haus der Abelows entfernt. Auch die medizinische Versorgung ist sichergestellt. Auf Wunsch der niedergelassenen Ärzte hat die Gemeinde kürzlich sogar ein medizinisches Versorgungszentrum und eine kleine Klinik errichtet.


Rachel und Avi Abelow leben seit mehr als 20 Jahren in Efrat südlich von Jerusalem.

Als die Familie die damals günstige Wohnung bezog, gab es auf der anderen Seite des Parks und im Tal keine weiteren Häuser. Ihre Söhne sind mit der Stadt groß geworden. Heute liegt die Siedlung im Speckgürtel von Jerusalem und die Preise sind teilweise höher als dort. „Efrat ist wie eine Kleinstadt auf dem Land und dennoch hat man das Gefühl, in einem Vorort zu leben“, sagt Avi.

Foto: Rebecca Kowalsky

Die Abelows sind überzeugt, dass der Ort auch wegen seiner Bildungseinrichtungen bei Familien so begehrt ist. Schulen und Freizeitangebote gelten als gut und die Gated Community bietet ein sicheres Umfeld, in dem sich Kinder frei bewegen können. Man setzt sich für ein friedliches Miteinander ein. Im Supermarkt arbeiten Israelis und Palästinenser zusammen. Doch die Idylle trügt: Vor fünf Jahren ist Avis Freund und Nachbar vor diesem Supermarkt von einem Palästinenser angegriffen und erstochen worden. Als Avi sein Psychologiestudium in New York beendet hatte und Rachel bereits ausgebildete Pädagogin war, sind die beiden mit ihrem ältesten Sohn Yakir nach Efrat zurückgekommen. Vor 22 Jahren haben sie eine 150 Quadratmeter große Wohnung mit fünf Schlafzimmern gekauft, die sich über die oberen zwei Etagen eines vierstöckigen Hauses erstreckt, aber einen direkten Zugang zur Straße hat. Wie in vielen israelischen Städten sind die Straßen am Berg entlang angelegt und ermöglichen eine terrassenförmige Architektur. Durch die Hanglage entstehen zwei Häuser übereinander, die jeweils über einen eigenen Eingang verfügen. Von ihrer Terrasse bietet sich den Abelows ein unverbaubarer Blick über das Tal und bei gutem Wetter bis zum Mittelmeer. „Das war der Grund, warum wir diese Wohnung haben wollten“, betont Rachel.

„Natürlich hätten wir gern ein Haus mit Garten gekauft“, entgegnet Avi. „Das war aber zu teuer.“ Dank eines sonnengeschützten Spielplatzes direkt vor der Tür und einer kleinen Parkanlage nebenan haben sie den Garten jedoch nie vermisst. „Vom Küchenfenster aus konnte ich die Kinder immer beobachten“, erinnert sich Rachel. Heute nutzt sie die Klettergeräte für ihre Nachmittagsbetreuung, mit der sie zusätzlich Geld für die Familie verdient. Avi arbeitet als Medienproduzent mit eigenem Unternehmen im etwa 20 km entfernten Jerusalem. Heutzutage sei es einfach, in die Stadt zu pendeln, sagt er. Der Highway nach Jerusalem ist gut ausgebaut und es gibt eine regelmäßige Busverbindung. Als die Kinder der Abelows klein waren, sah das völlig anders aus. Avi musste damals täglich zur Arbeit nach Tel Aviv und verbrachte so viel Zeit im Straßenverkehr, dass seine Kinder ihm den Kosenamen „Schabbat-Papa“ gaben, weil sie ihn nur am Wochenende sahen.

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„Wenn man müde ist, möchte man nach Hause gehen und sich ausruhen. Hier geht das nicht“, sagt Nasser Nawaj’ah. Bei jedem Geräusch hat er das Gefühl, ein Bulldozer kommt und reißt ein Haus ab. „Wenn ich die Bulldozer auf der Straße weiterfahren sehe, denke ich, Gott sei Dank, es ist nicht mein Haus.“

Palästinenser haben sich in Susya seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Die Nawaj’ahs sind nach der Staatsgründung Israels 1948 gekommen. Damals konnten sie Land erwerben und auf ihren Namen registrieren lassen, jedoch ohne exakten geografischen Nachweis.

schen zwei und 15 Jahren in Susya südlich von Hebron. Seine Familie musste 1986 ihr altes Dorf 300 Meter weiter nördlich verlassen. Dort findet sich heute eine archäologische Grabungsstätte. Nassers Vater wurde 1946 in einem Dorf außerhalb der West Bank geboren, das zwei Jahre später zum neu gegründeten Staat Israel gehörte. Seine Familie wurde von dort vertrieben und zog ins alte Susya. Heute lebt er bei Nassers Familie.

und den ehemaligen Bewohnern angeboten, in eine weiter östlich gelegene Gemeinde zu ziehen. Familie Nawaj’ah beruft sich jedoch auf ihrem Grundbesitz. Mit einigen anderen Familien haben sie sich auf ihren eigenen landwirtschaftlichen Flächen südlich der Grabungsstätte in einem Camp aus Mobile Homes angesiedelt, das nur durch Hilfe aus der EU überlebensfähig ist.

„Es sind genug Menschen Da in Susya bis ins 6. Jahrhundert eine der wichDer 40-Jährige lebt mit seiner 31-jährigen Frau Synagogen stand, hat der Staat Israel in vertrieben worden“ Hiam und den vier gemeinsamen Kindern zwi- tigsten den 80er Jahren mit Ausgrabungen begonnen Familie Nawaj’ah, Susya

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Das ursprünglich als Behelfshaus errichtete Mobile Home ist längst zur Dauerlösung geworden. Dort hat die Familie eine große Küche mit Schlafecke, ein ebenso großes Wohnzimmer mit vier Sofas und ein weiteres Zimmer eingerichtet, in dem Matratzen, Kleidung und Decken lagern. Ein richtiges Bad gibt es nicht. Feste Häuser dürfen an dieser Stelle nicht errichtet werden. Wie lange die Provisorien noch geduldet werden, wissen ihre Bewohner nicht. Mehrere Versuche,

einen Masterplan für ein neues Dorf durchzusetzen, sind an der israelischen Verwaltung gescheitert. Da Nasser öffentlich Widerstand leistet und deshalb bereits mehrmals vor Gericht stand, darf er an seiner Wohnung nichts verändern. Sonst würde er den ersatzlosen Abriss riskieren. „Natürlich wünsche ich mir ein Haus, in dem jedes Kind sein eigenes Zimmer hat“, sagt er. An diesem Ort wird es jedoch bei einem Wunsch bleiben.

Die Familie lebt von ihrer kärglichen Landwirtschaft mit Schafen, Ziegen und Hühnern. Lokale Produkte wie Käse und Textilwaren verkaufen sie in einem kleinen Laden, der wie die ursprünglichen Wohnungen in der Region als Höhle in den Berg getrieben wurde. Strom erhalten sie von einer großen PV-Anlage, die als Spende aus Deutschland kam. Auch ein Spielplatz für die Kinder wurde mit EU-Mitteln finanziert. Die Wasserbeschaffung hingegen unterliegt der Gunst der israelischen Armee. Jüdische Siedler haben eine illegale Siedlung auf den von den arabischen Bewohnern errichteten RegenwasserZisternen gegründet und nutzen die Präsenz der Armee, um den Zugang zu kontrollieren. Da das Wasser in großen Tanks transportiert wird, müssen palästinensische Familien die An- und Abfuhr jedes Mal bezahlen. Der Literpreis erhöht sich damit um ein Vielfaches im Vergleich zu dem, was die Siedler zahlen, die an das staatliche Netz angeschlossen sind.

Den Nawaj’ahs ist nur ein Behelfshaus in einem Camp südlich von Hebron geblieben.

Die Palästinenser im Camp leben in ständiger Angst vor der Willkür der Siedler. Die Kinder können nicht vor Ort unterrichtet werden, sondern müssen in die Nachbarstadt Yatta fahren. Dort liegt auch die nächste medizinische Versorgung. Von hier weggehen wollen sie trotzdem nicht, denn für sie alle gibt es keinen anderen Ort als den, an dem sie aufgewachsen sind. „Es sind genug Menschen vertrieben worden. Es darf keine Naqba mehr geben“, sagt Nasser.

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Am Himmel hoch

Die Sonne geht unter. Es ist kalt. Sie sind laut.

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Text | Marius Katzmann Fotos | Christof Mattes Die Drohnen surren wie große Insekten. Immer wieder heben sie probeweise einzeln oder als Schwarm von ihren Startplattformen auf der Wiese ab. Es ist Anfang Mai und ab halb neun wird es langsam dunkel. Endlich. Denn hell soll es am dunklen Firmament geschrieben stehen: IZ 30. Zum runden Geburtstag der Immobilien Zeitung wollen wir leuchtende Drohnen in den Nachthimmel Wiesbadens steigen lassen. Inspiriert dazu hat uns das Time Magazine, das 2018 sein Cover mit den fliegenden Lichtern zeichnete. Was die können, das können wir auch. Jedenfalls so ähnlich, mit weniger Drama und weniger Drohnen. Fabian Reinholz und sein Unternehmen Dronedreams sollen die Idee umsetzen. Als wir uns Mitte Januar das erste Mal treffen, sind wir gekleidet wie Leuchtturmwärter. Es regnet und stürmt und wir stehen auf einer Pferdekoppel im Nirgendwo in der Nähe von Wiesbaden. Denn wir brauchen Platz für die 50 Drohnen, die wir aufsteigen lassen wollen – am Boden und in der Luft. Wenn wir nicht genügend Abstand zum nächsten Flughafen haben, bekommen wir keine Genehmigung für den Flug. Sind wir zu dicht an Bahngleisen, Stromtrassen und Co., drohen gefährliche Zusammenstöße. Auch Menschen dürfen nicht zu nah dran sein: Außer Kontrolle geratene Drohnen könnten querschießen, erklärt Reinholz. Bei Helligkeit probt der Drohnenschwarm den Start.

Wenn es nur kein Unwetter gibt. Gegen alles andere sind die Drohnen gewappnet. Vier Rotoren halten den Quadrokopter stabil in der Luft. Eine schwarze Plastikabdeckung schützt die Elektronik vor Nässe, darunter ist die LED-Lampe verbaut, die für einen der Leuchtpunkte am Himmel sorgt. Und: Das Gras darf nicht so hoch wachsen. Die Drohnen könnten dann nur schlecht abheben und die Rotorblätter in den Halmen hängen bleiben. Doch der Tag unseres Drohnenevents liefert das bis dahin schönste Wetter des Jahres und der Bauer hat rechtzeitig gemäht. Perfekt koordiniert steigen die Drohnen auf, sie kreisen umeinander, sie bilden Spiralen, sie leuchten hell und bunt. Aus einem blitzenden Lichterhaufen erwächst das IZ-Logo und strahlt in Blau und Weiß auf uns herab. Ein weiteres Blitzlichtgewitter und ein zweites IZ-Logo später formen sie für uns die 30. Nach knapp zehn Minuten zerfällt die Formation, die Drohnen schweben zurück zur Erde und erlöschen. Der Himmel ist leer. Wir frieren. Wir sind glücklich. Das Innere der Drohnen enthält die Steuerungstechnik.

Hier geht es zum Film mit der Drohnenshow

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Teilnahmeberechtigt sind nur registrierte Nutzer:innen auf www.iz.de. Sollten Sie sich noch nicht auf www.iz.de registriert haben, erledigen Sie das bitte vorab auf iz.de/registrieren. Die Registrierung ist für Sie kostenfrei und unverbindlich. Sollten Sie bereits registriert sein, können Sie direkt am Voting teilnehmen. Teilnahmeschluss ist der 31. Januar 2024. Die Gewinner:innen unter den Teilnehmenden werden zusammen mit den drei besten Motiven in der Ausgabe 7/2024 am 15. Februar 2024 bekanntgegeben. Informieren Sie uns bitte per E-Mail an marketing@iz.de, sollten Sie einer Veröffentlichung Ihres Namens nicht zustimmen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Bildquelle: AdobeStock, Sashkin

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