Fine Ein Magazin für Wein und Genuß 1|2010

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S O N D E R B E I L A G E #Z U R #F R A N K F U R T E R #A L L G E M E I N E N #Z E I T U N G E    $ P          $    $    $ T   $ T    $ V      $ W         $ $ 1 | 2 3 1 3

E I N 4 M AGA Z I N 4 F Ü R 4 W E I N 4 U N D 4 G E N U S S

Klima & Lage

D i e z e h n b e g e h r t e s t e n We i n e d e r We l t

K av i a r & C h a m p a g n e r

Mic h a e l K l e t t: Se l b s tg e s p r ä c h

A d i We r n e r

H a r a l d Wo h l f a h r t

Stuart Pig ott

C h â t e a u C h e va l B l a n c

Ang e l o G aja ! " " #J A H R G Ä N G E #R I E S L I N G


Apollinaris, das rote Dreieck und das Apollinaris Logo sind eingetragene Schutzmarken.

ERFRISCHEND FEINPERLIG SEIT 1852 APOLLINARIS - THE QUEEN OF TABLE WATERS


E I N ! M AGA Z I N ! F Ü R ! W E I N ! U N D ! G E N U S S

Verleger und Herausgeber Ralf Frenzel ralf.frenzel@fine-magazines.de Chefredakteur Thomas Schröder thomas.schroeder@fine-magazines.de Redaktion Carola Hauck

Verehrte Leserin, lieber Leser,

Art Direction Guido Bittner Mitarbeiter dieser Ausgabe Jürgen Dollase, Uwe Kauss, Caro Maurer, Michael Klett, Pekka Nuikki, Stuart Pigott, Susanne Reininger, Gregor Wolff Fotografen Guido Bittner, Johannes Grau, Pekka Nuikki, Peter Schulte, Marc Volk Verlag Tre Torri Verlag GmbH Sonnenberger Straße 43 65191 Wiesbaden www.tretorri.de Geschäftsführer: Ralf Frenzel Anzeigen Ann-Kathrin Grauel Tre Torri Verlag GmbH +49 (o) 611-57 990 info@fine-magazines.de Druck Societäts-Druck WVD GmbH, Mörfelden-Walldorf Fine Ein Magazin für Wein und Genuss ist eine Sonderbeilage zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung und erscheint im Verbund mit Fine Das Weinmagazin, viermal im Jahr

INHALT

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingereichte Manuskripte, Dateien, Datenträger und Bilder. Alle in diesem Magazin veröffentlichten Artikel sind urheberrechtlich geschützt.

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es begab sich, und das ist noch gar nicht so lange her, dass zwei soignierte Herren mittleren Alters ein wohlbekanntes Gourmet-Restaurant im Weichbild Frankfurts betraten, sich zu Tisch setzten und, nachdem sie ein kleines Menü gewählt hatten, auf die Frage des Maître, was man zu trinken wünsche, eine Flasche 1947-er Château Pétrus und zwei große Gläser Cola on the Rocks orderten. Zum Befremden der unruhig reagierenden umsitzenden Gäste schütteten sie die eiskalte Cola in den kostbaren alten Wein und tranken, wie es schien, mit Behagen. Der Maître, auch als Sommelier ein Meister seines Fachs und empfindsamer Kenner, blieb völlig gelassen. Und als die Herren ausgetrunken hatten, fragte er sie, mit nicht ganz überhörbarem ironischen Unterton: »Dasselbe noch einmal?« Indes die Herren dankten, zahlten und sich offenbarten: »Es ging um eine Wette auf Ihre Contenance. Ihre stoische Reaktion auf unseren Frevel hat uns durchaus beschämt!« Das als Wiedergutmachung gereichte üppige Trinkgeld wies der Maître freundlich, aber bestimmt zurück. Weingenuss hat eben, das ließe sich als Moral der Geschichte verstehen, sehr unterschiedliche Facetten, und natürlich wurde der Vorfall unter Weinfreunden gehörig diskutiert. Fine freilich, dem nun viermal jährlich der F.A.Z. beiliegenden »Magazin für Wein und Genuss«, geht es nicht um solche Extravaganzen, Experimente oder practical jokes. Denn Wein ist nicht einfach ein Getränk, den Durst zu löschen – er ist eines der wunderbarsten Geschenke der Natur, die sich in exzeptionellen Fällen durch bedeutende Winzerkunst, den Gang der Zeit und der Geschichte zu einem vollendeten Kulturgenuss verdichten. Wem je vergönnt war, einen 1811-er Château d’Yquem, einen 1846-er Steinberg Cabinet Riesling oder einen 1961-er Château Latour zu kosten, wird sich nicht nur des sinnlichen Genusses erinnern, sondern die heitere Ergriffenheit noch einmal empfinden, die sie auslösen können wie schöne Musik oder große Malerei. Freilich sind solche Momente, am Vollendeten teilzuhaben, rar – auch im Leben ganz passionierter Weinfreunde. Nun ist nicht jeder große Wein zugleich vollkommen, manchmal, sagt Angelo Gaja, der bedeutendste italienische Winzer aus dem piemontesischen Barbaresco, bringt erst ein kleiner Fehler, ein »difetto« den Charakter eines Weines so recht zum Blühen.

Der vollkommene Koch Harald Wohlfahrt zelebriert in der Traube Tonbach vollendete Küchen-Kunst

Mythos Riesling Die Jahrhundert-Geschichte von Aufstieg, Fall und Wiedergeburt eines großen Weins

Weltwein Riesling Die Stuart Pigott Kolumne

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…!und der Himmel hängt voller Weine Adi Werner und sein legendärer Großflaschenkeller

Von der Hand in den Mund Kaviar und Champagner

Wie sich in der Größe eines Weins sein Charakter spiegelt (und vice versa) – das will Fine seinen Leserinnen und Lesern immer wieder erzählen: In Reportagen, Dokumentationen, reichhaltigen und bildhaften Verkostungsnotaten und Kolumnen. Und auch davon berichten, wie Wein und Speisen einander bei Tisch zu optimieren oder, im weniger glückhaften Fall, zu neutralisieren vermögen. Dazu sind die angesehensten Journalisten (und Fotografen) versammelt, glänzende Federn – von Jürgen Dollase, Stuart Pigott und Pekka Nuikki über Uwe Kauss, Caro Maurer, Susanne Reininger und, als hochwillkommener Gast, der Verleger Michael Klett. Sie alle sind kennerische, erprobte und stets aufs Neue zu begeisternde Reisende durch die einzigartige Welt der großen Weine. Die vorliegende Publikation ist über weite Strecken der Extrakt aus einer Zeitschrift, die seit Jahren, ebenfalls im Dreimonats-Rhythmus, den Weinjournalismus im deutschsprachigen Raum mit einem sehr eigenen Ton und durchaus elitärem, ihren Lesern zugeneigten Anspruch bereichert: Fine Das Weinmagazin aus dem Tre Torri Verlag, den sein Verleger, der Weinfachmann und -enthusiast Ralf Frenzel, zu einem Hort ausgesuchtester Bücher der kulinarischen und önologischen Genusskultur von kostbarer Eleganz und zugleich unbezweifelbarer Nützlichkeit gemacht hat. Wie diese Bücher, so haben auch Fine Das Weinmagazin und diese Ihrer Frankfurter Allgemeinen Zeitung beiliegende Publikation eine Botschaft: Große Weine machen nicht nur Spaß, sie können wie Literatur, Kunst und Musik anspruchsvolle und beglückende Begleiter des Lebens sein. Wer freilich die wundervollsten und vollkommenen, die rarsten Kunstwerke des Weins mit Limonade verpanscht, hat das noch nicht verstanden.

Thomas Schröder Chefredakteur Fine

»Haut-Brion hat die Anpassung schon hinter sich« Klima & Lage

Vollender des Barbaresco Angelo Gaja ist heute auf der Höhe seiner Winzerkunst

Die 10 begehrtesten Weine der Welt Warum bin ich so versessen auf Wein? Michael Klett allein mit einer Flasche Latour ’61

Abgang

Ein neuer Stall für das weiße Pferd Château Cheval Blanc

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Harald Wohlfahrt gilt heute als der erfolgreichste deutsche Spitzenkoch der letzten Jahrzehnte. Seine Schwarzwaldstube im Hotel Traube Tonbach in Baiersbronn im Schwarzwald ist mittags wie abends ausgebucht, und oft ist es schwierig, einen Platz nach Wunsch zu bekommen. Ein Besuch hier ist ein Muss für alle Freunde der Weltklasse-Küche, die bei ihm ein in allen Details ausgetüfteltes kulinarisches Erlebnis erwarten dürfen. Der Gast kann mit einer großen Vielfalt von Kreationen rechnen, die das breite Interesse des Meisters an den Aromen dieser Welt zeigen. Was diese Vielfalt aber so besonders macht, ist die enorm hoch entwickelte und fest in der klassischen Kochkunst verwurzelte Kochtechnik. Was hier an sorgfältiger Produktauswahl, besten Garungen und Aromatisierungen und vor allem auch an durchdachter Konzeptionalität präsentiert wird, hat mit dem von TV-Köchen geprägten Bild vom Kochen nichts gemein. Dies ist etwas ganz Anderes, und wer eine solche Küche noch nicht kennt, hat noch eine wunderbare Welt von neuen Erfahrungen vor sich.

DER VOLLKOMMENE KOCH Harald Wohlfahrt zelebriert in der Traube Tonbach vollendete Küchen-Kunst Ein Porträt-Puzzle von JÜRGEN DOLLASE !Fotos: PETER SCHULTE Harald Wohlfahrt, Details Die Wildente, eine kleine Episode Harald Wohlfahrt hat mir einmal erzählt, dass seine Großmutter die Wildenten grundsätzlich sehr lange abhängen ließ. Die Einzelheiten der Reifung können wir uns jetzt vielleicht sparen. Ich hielt diese Geschichte für eine Variation der vielen Erzählungen von alten Bräuchen, die gerade die Köche immer wieder gern verbreiten. Eines Tages kam ich wegen einer Reportage zu Wohlfahrt, und der Meister eröffnete mir sofort, er habe eine solche Ente vorbereitet. Was er dann servierte, hatte mitnichten etwas mit dem berüchtigten Haut goût zu tun, sondern war das vielleicht beste klassische Gericht, das ich je gegessen habe. Wohlfahrt demonstrierte mit diesem Gericht vor allem, welch unglaubliche Finesse eine perfekt auf ein klassisches Sujet angewandte Kochtechnik erreichen kann. Die Kreation hatte den Namen »Lackierte Wildente mit Tannenhonig und schwarzem Pfeffer an Holundersauce« bekommen, blieb also auch mit den Beilagen eng in der Region. Im Detail gab es die Scheiben der unglaublich zarten, süffig und voll schmeckenden Entenbrust. Dann ein Wirsingsäckchen mit Wirsinggemüse, eine krosse Teigtasche mit einer Füllung, die aus den Innereien der Ente gemacht war. Eine ganz klassische Sauce mit Blutbindung (Rouennaiser Sauce) und ein kleines Törtchen von Keulenfleisch mit Kartoffelpüree und Pilzen. Die Ente wurde bei der Garung in einer schweren Eisenkasserolle mit einem Mix aus Rosmarin, Thymian und Wacholder aromatisiert. Der Lack (eine dickflüssige Sauce, mit der man den Braten gegen Ende der Garung regelmäßig bepinselt) hatte eine wundervolle süß-saure Note zwischen Honig, Ingwersirup, Sojasauce und geschrotetem Pfeffer. Die Innereienfüllung, die sich als eine ideale Würze für das Fleisch herausstellte, war feinstens mit Gänseleber, Madeira und Portwein abgeschmeckt, und das Keulenfleisch, das normalerweise immer etwas blasser schmeckt, hatte in etwa die Qualität eines sensationellen Schmorgerichtes angenommen. Kurz und gut: Hier ging es nicht nur um die abgehangene Wildente der Großmutter, sondern auch um einen Koch, der eine perfekte Brücke zwischen der Tradition und der hochentwickelten Kochkunst schlagen kann. Seine Großmutter hätte sich vor Begeisterung überschlagen.

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Harald Wohlfahrt wurde am 7. November 1955 geboren und hat seine Heimatregion bisher immer nur für relativ kurze Zeiten verlassen. Nach der Ausbildung und wenigen Stationen wie dem Tantris in München unter Eckart Witzigmann oder einem kurzen (aber prägenden) Aufenthalt bei Kultkoch Alain Chapel im französischen Mionnay wurde er vor mittlerweile dreißig Jahren im Herbst 1980 Küchenchef der Schwarzwaldstube im Hotel Traube Tonbach in Baiersbronn. Im Jahr 1992 erhielt er den dritten Michelin-Stern. Wohlfahrt wurde für seine Arbeit immer wieder geehrt, einschließlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Jahr 2006. Obwohl er sich durchaus vorstellen kann, auch noch an anderer Stelle ein Restaurant zu eröffnen (Berlin war und ist da immer ein Thema), ist er vor allem für seine Bodenständigkeit, seine ungeheure Professionalität und seine tägliche prägende Präsenz in der Küche bekannt geworden. Harald Wohlfahrt wurde – wie seinerzeit Eckart Witzigmann – zum handwerklichen und stilistischen Vorbild für eine große Zahl von Spitzenköchen, von denen die besten, wie zum Beispiel Christian Bau (Schloss Berg in Nennig) oder Klaus Erfort (Gästehaus in Saarbrücken), mittlerweile selbst drei Sterne besitzen. Der oft ernst und konzentriert wirkende Koch ist eigentlich immer im Dienst und mittlerweile eine echte Instanz für alles, was mit dem Beruf des Spitzenkochs zu tun hat. Wohlfahrt würde es sich nie verzeihen, auch nur irgendetwas unterlassen zu haben, was zur Vervollkommnung seiner Arbeit notwendig ist. Sein Blick auf die Entwicklungen der Kochkunst und die kulinarische Welt ist streng, aber immer offen und interessiert. Eine TV-Karriere, wie sie manche Köche verfolgen, stand für ihn nie zur Diskussion. Auf seine umsichtige und nie vorschnell reagierende Art ist Wohlfahrt zu einem Meister der klassisch fundierten, aber stets aktualisierten Küche geworden, wie er heute selten zu finden ist.


Drei Häuser, in denen es Harald Wohlfahrt im letzten Jahr besonders gut geschmeckt hat ›!El Celler de Can Roca in Girona, Spanien ›!Schloss Berg in Nennig, Saarland ›!Noma in Kopenhagen, Dänemark Kommentar: Die Gebrüder Roca gehören zu den kreativsten Köchen der Gegenwart. Ihre Küche ist eine Mischung aus experimenteller Avantgarde und einem hervorragend entwickelten Handwerk. Sie werden von allen Profis sehr geschätzt. In Schloss Berg arbeitet mit Christian Bau einer der Muster schüler Wohlfahrts. Der dritte Michelin-Stern hat ihm sehr gut getan und einen Ideenfluss in Gang gesetzt, mit dem niemand gerechnet hatte. Bau verarbeitet vor allem asiatische Einflüsse so gut wie kein anderer. Das Noma ist das Restaurant von René Redzepi, dem Hauptvertreter der Neuen Skandinavischen Küche. Es ist gerade in einer internationalen Kritikerumfrage zum besten Restaurant der Welt gewählt worden. Die Küche ist strikt regional, arbeitet unter anderem mit vielen rohen Elementen und hat mit der klassisch-französischen Küche nichts mehr zu tun. – Eine wohlausgewogene Wahl von Harald Wohlfahrt, die ebenfalls seine gedankliche Präsenz demonstriert.

Fünf Lieblingsprodukte von Harald Wohlfahrt ›!Meersfrüchte und Schalentiere ›!Deutsche Beeren und deutsches Steinobst ›!Spargel und Artischocken ›!Heimisches Wild und Wildgeflügel ›!Selbst gesammelte Pilze und wilde Kräuter

Das berühmte vierfache Amuse Bouche Harald Wohlfahrt serviert seit vielen Jahren ein vierfaches Amuse Bouche auf einem quadratischen Teller mit vier Feldern. Da gibt es zum Beispiel Variationen vom Aal, Variationen vom kleinen Thunfisch oder eine Variation von der Wachtel. Beim Thunfisch sind die einzelnen Elemente: Ein Thunfischtatar auf gegrillten Poveraden mit Ahorn-Balsamicoessig, eine Brandade mit Scheiben von Mini-Zucchini, ein Thunfisch-Croustillant mit Schaum von grünem Meerrettich und asiatischer Gewürzsauce und ein gebeiztes Stück Thunfisch in einer Sternanismarinade. Das ist hervorragend gemacht, aber noch nicht alles. Jahrelang war es für viele Gäste (und auch für die Restaurantführer) ein Rätsel, warum diese Kleinigkeiten so außergewöhnlich gut schmecken. Mittlerweile kennt man den Grund, und Wohlfahrt gilt mit diesen Kreationen als einer der wichtigsten Wegbereiter einer nach ganz neuen sensorischen Prinzipien aufgebauten Küche. Der Trick bei diesen Gerichten ist, dass man eine große Breite an kulinarischen Informationen bekommt. Die Elemente sind zum Beispiel kross, weich, zart oder etwas härter, mild oder stärker gewürzt, kalt, warm oder auf verschiedene Weise schmelzend. Es gibt Kontraste und zeitliche Verläufe der Wahrnehmung, weil man manche dieser Elemente sofort erkennt, andere ihr Aroma aber erst später abgeben. Der Effekt für die Wahrnehmung im Mund ist sehr beeindruckend. Es werden durch die unterschiedlichen Texturen, Aromen und Temperaturen einfach viel mehr Sensoren angesprochen, und man meint, es gebe so etwas wie ein kulinarisches 3D-Kino. Wohlfahrt hat das alles übrigens keineswegs auf dem Reißbrett geplant. Die Idee entstammt in erster Linie seiner großartigen kulinarischen Intuition.

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Fünf Köche, die Harald Wohlfahrt hervorragend findet ›!Alain Ducasse (Le Louis XV in Monaco, Plaza Athenée in Paris und andere) [6]

›!Ferran Adrià (El Bulli in Roses/Spanien) ›!Daniel Boulud (Daniel in New York und andere) ›!Michel Troisgros (Maison Troisgros in Roanne/Frankreich und andere)

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›!Jean-Georges Klein (L’Arnsbourg in Baerenthal/Frankreich und andere) [2]

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Kommentar: Ducasse ist einer der absoluten Weltstars der Kochkunst mit Spitzenrestaurants auf der ganzen Welt. Er gilt weltweit als handwerkliche Instanz für die französische Kochkunst. Adrià ist der größte Kreative aller Zeiten – nicht unumstritten, aber ein sehr ernsthafter Arbeiter mit einer so großen Menge von Ideen, dass ihm die Anerkennung auch der besten Köche sicher ist. Boulud ist ein französisch kochender Franzose in New York, der jüngst seinen dritten Michelin-Stern bekommen hat. Michel Troisgros ist einer der wenigen, die einen großen Koch zum Vater haben (sein Vater Pierre wurde ebenfalls mit drei Sternen ausgezeichnet) und die dessen Niveau noch steigern konnten. Jean-Georges Klein ist einer der ganz großen Kreativen Frankreichs, der die Entwicklungen der spanischen Avantgarde und die französische Kochkunst miteinander zu einer faszinierenden Mischung verbinden konnten.

Fünf Kreationen, die Harald Wohlfahrt für seine besten hält ›!Cannelloni vom Taschenkrebs mit Avocado, Koriander und Gewürzsauce ›!Austerngelee mit Nori-Algen und Seeigel-JakobsmuschelLimonenöl ›!Kartoffeltourte mit Bries, Bäckchen, Steinpilzen und Trüffeln

Analyse einer Wohlfahrt-Kreation: Croustillants von Langustinen und Sankt-Jakobsmuscheln mit Koriandersauce Das Gericht hat folgende Elemente: Ein mit dünnen Nudelfäden (Kataifi-Fäden) ausgebackener, ausgelöster Langustinenschwanz [1]. Eine mit Tempurateig umhüllte und ebenfalls ausgebackene Jakobsmuschel [2]. Unter der Jakobsmuschel liegen kurze Stängchen von Grünspargel und Staudensellerie [3]. Es gibt kleine Tupfer von einer Sauce mit Soja und Ingwer [4]. Im linken Porzellanlöffel befindet sich eine Koriandersauce [5]. Im rechten ein Avocado-Dip mit etwas Hummerrogen [6]. Jedes dieser Elemente entwickelt beim Essen einen spezifischen sensorischen Verlauf. Elemente, die man zerkauen muss – also etwa der Langustinenschwanz – geben ihr Aroma erst nach einigen Sekunden ab. Elemente, deren Temperatur deutlich oberhalb oder unterhalb der Körpertemperatur liegt, werden zuerst nur als Wärmeinformation wahrgenommen und erst etwas später auch mit ihrem Aroma. Das gleiche gilt analog für besonders krosse Elemente, wie die Kataifi-Fäden. Hier nimmt man zuerst nur das Krachen beim Zerbeißen wahr und das eigentliche Aroma erst später. Werden nun verschiedene Elemente kombiniert, ergeben sich typische Verläufe der Geschmackswahrnehmung. Grundsätzlich dominiert zuerst das Element, das zu Beginn am deutlichsten ist. Bei der Langustine mit den Kataifi-Fäden hat man also zuerst das Krachen der krossen Fäden. Wenn man sie ein wenig zerkaut hat und damit ihre krosse Textur auflöst, entwickeln sich die Aromen der Langustine, sie blenden sich quasi durch. Eine wichtige Leistung des Kochs ist nun, solche Abläufe präzise abzustimmen. Wohlfahrt wählt die zarten Kataifi-Fäden und synchronisiert den Ablauf so, dass man sie nur am Anfang, also wenn man die Langustine noch nicht aromatisch wahrnimmt, deutlich bemerkt. Würde man hier einen dicken, krossen Kartoffelchip einsetzen, könnte es sein, dass er die Langustine komplett überlagert. Wenn man nun die Langustinen und die KataifiFäden mit dem kalten Avocado-Dip kombiniert, wird die Wahrnehmung noch spannender. Die Kühle des Dips (die Wohlfahrt in seinem Rezept ausdrücklich vorschreibt) gehört ebenfalls zu den sensorischen Ereignissen, die man – wie die krossen Kataifi-Fäden – sofort wahrnimmt. Weil der Dip aber schmelzend weich ist, stört er die Kataifi-Fäden nicht, sondern wird gleichzeitig wahrgenommen. Zu dem Zeitpunkt, zu dem dann das Aroma der Langustine aufgeschlossen wird, ist der Dip deutlich wärmer. Er stört das Langustinenaroma nicht, sondern begleitet es sehr angenehm schmelzend-weich im Hintergrund. Wenn man diese Kreation insgesamt betrachtet, wird klar, dass hier von Wohlfahrt eine Vielzahl von Variablen sozusagen kodiert ist. Man wird sie auf keinen Fall alle ausprobieren können, hat aber eben ein sehr großes Angebot. Und so sollte man diese Art der kulinarischen Kreationen auch verstehen und vor allem nutzen. Natürlich kann man ein solches Gericht auch unkonzentriert und nebenbei und von links nach rechts essen. Alle Elemente haben einen exquisiten Geschmack und können auch ohne weiteres in jeder Kombination gegessen werden. Aber – das wäre ein wenig so, als würde man ein Buch nur durchblättern und nicht lesen. Die besten Köche der Welt arbeiten heute fast alle in dieser Weise. Sie haben sich stark weiterentwickelt und sind in ihren Arbeiten viel differenzierter geworden, als es in der Kochkunst jemals der Fall war. Wunderbare Zeiten also für sensible Gourmets.

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›!Gänseleber mit konfierter Zitrone, Lorbeer, Zimt und Thymian ›!Heimisches Reh, im Salzteig gegart und auf zweierlei Arten serviert Kommentar: Eine ausgewogene Sammlung von optimierter Klassik (Kartoffeltourte) bis hin zu sensorisch ausgefeilten Meisterwerken wie den Cannelloni. Auffällig ist das große Aromenspektrum seiner Lieblingsgerichte.

trifft zu

Ein Spitzenkoch sollte: 1 grundsätzlich selber kochen · alle klassischen Techniken beherrschen × alle neuen Techniken ausprobieren × möglichst originell kochen · immer die Wünsche der Gäste beachten · Kritik nicht zu ernst nehmen · wissen, was in der Szene los ist × alle wichtigen Kollegen besuchen · nur das kochen, was er auch am liebsten isst · kein weiteres Restaurant betreiben ·

trifft nicht zu

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Kommentar: Trotz seiner langjährigen Präsenz im Olymp der DreiSterne-Köche ist dies auf keinen Fall das Profil eines Kochs, der seine Schäfchen im Trockenen hat und sich um nichts mehr kümmern will. Wohlfahrt zeigt eine gewisse professionelle Strenge, die einfach nicht zulässt, dass man nicht alles tut, was für einen echten Spitzenkoch von großer Erfahrung notwendig ist. Den ersten und den letzten Satz muss man zusammen sehen. In der Schwarzwaldstube ist der Meister quasi immer präsent. Aber er kann sich sehr wohl vorstellen, noch andere Konzepte zu realisieren und zu kontrollieren. Vielleicht tut sich da ja noch etwas.

Fünf sehr gute Lieferanten, die Harald Wohlfahrt empfehlen kann ›!Südfisch in Muggensturm ›!Johannes Kratzer, Wild und Wildgeflügel, in Dorfen bei München ›!Rungis-Express in Meckenheim ›!Deutsche See in Bremerhaven ›!Frischkost in Willstätt


www.zwiesel-1872.com

Ausgezeichnet beim großen Gläsertest der Zeitschrift „stern“ (Ausgabe 51/2009)

The First. Für höchste Ansprüche. Mundgeblasene Kristallgläser der ZWIESEL 1872 GOURMET COLLECTION schaffen den perfekten Rahmen für die besten Weine und veredeln Momente des Genusses. Die elegante Gourmetglasserie THE FIRST bringt diesen hohen Anspruch durch beeindruckende Formenvielfalt zum Ausdruck und hält für den Kenner geschmackliche Offenbarungen bereit.

ZWIESEL 1872 | GOURMET COLLECTION. FÜR DIE SEELE DES WEINES.


Mythos Riesling Die Jahrhundert-Geschichte von Aufstieg, Fall und Wiedergeburt eines grossen Weins Text: UWE KAUSS

Fotos: MARC VOLK

Es ist still im Kloster. Ein eiskalter Wind durchzieht die jahrhundertealten Räume, die idyllischen Wege um die Gebäude sind verschneit und vereist. Ein einsamer Tourist hat die Hände tief in die Taschen seiner Daunenjacke vergraben und durchquert eilig und fröstelnd den gewaltigen Schlafsaal der Mönche. Unten im ehemaligen Cabinet-Keller von Kloster Eberbach bei Eltville im Rheingau brennen Kerzen auf den Fässern. Wer von draußen durch das Holztor hineinschlüpft, empfindet es fast als heimelig warm. Die Augen gewöhnen sich schnell ans Halbdunkel der durch die Jahrhunderte des Weinlagerns tief schwarz gefärbten Gewölbe. In den Fässern reiften einst die allerbesten Weine aus den besten Lagen des Klosters, manchmal dutzende Jahre lang, bis sie für sehr viel Geld den Besitzer wechselten. Heute gucken Besucher kurz durchs rostige Gitter zu den historischen Fassreihen; die Schätze aus dreihundert Jahren Weingeschichte liegen ein paar Meter nebenan. Der älteste Wein, der dort unter perfekten Bedingungen lagert, stammt aus dem Jahre 1706. Um einhundert Weine aus hundert Jahrgängen ist diese Schatzkammer nun ärmer. Die Hüter dieses Schatzes haben sie für eine Verkostung mit Weinkritikern, Journalisten, Experten, Winzern und Sterneköchen geöffnet. Sie sind betrachtet, beschnuppert und getrunken worden. Einhundert Jahrgänge Riesling. Weingeschichte von 1846 bis 2009 im Glas. Darunter dreiundzwanzig trockene Rieslinge bis zurück zum Jahr 1896. Allein sieben Cabinet-Weine aus dem 19. Jahrhundert. Eine kleine Sensation. &'

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ieter Greiner blickt ein wenig nervös in die Fernsehkameras und die Objektive der Fotografen. Er setzt behutsam den Korkenzieher auf den Flaschenhals. Seine andere Hand umfasst die Flasche, auf deren Etikett »1846er Steinberger Auslese« und darunter »Originalfüllung aus dem Herzogl. Nassauischen Cabinets-Keller« zu lesen ist. Der Geschäftsführer der Hessischen Staatsweingüter Kloster Eberbach zieht routiniert den Korken heraus und riecht daran: »Kein Korkton«, sagt er zu den Fotografen und Kameraleuten. Greiner lächelt gespannt. Er gießt einen winzigen Schluck ins bereitstehende Glas, während die Kameras näherkommen und die Fotoapparate blitzen. Greiner riecht und kostet. Sein konzentrierter Blick entspannt sich. »Betörende Frische. Trockene Früchte. Harmonie!« Greiner strahlt und schweigt einen Moment. Schließlich ruft er: »Geschichte! Ein Riesling aus der Zeit vor der Deutschen Revolution!« Ein paar Minuten später schwenken die zwanzig von den Staatsweingütern Kloster Eberbach, dem VdP und Fine geladenen Verkoster den Wein. Und tatsächlich: Frische! Dazu Aromen nach antikem Holz und eine Ahnung von kandierten Früchten, am Gaumen füllige, präsente Noten nach Kaffee und Sherry mit guter Länge. »Viel Blume, stahlig und geistig.« »Elegant, fein und hochreif.« Diese Verkostungsnotizen des 1846-er Steinberger Cabinet wurden 1893, also vor einhundertsiebzehn Jahren, im Buch »Die Weine des herzoglich nassauischen Cabinetskellers« veröffentlicht. Und zu dieser Zeit war der Wein schon siebenundvierzig Jahre alt. Der Autor, Hofrat Dr. Conrad Schmitt, hatte ihn neben vielen anderen analysieren lassen: Demnach hatte er 7,3 Prozent Alkohol und rund sechs Gramm Säure. Schon zur Mitte des 19.Jahrhunderts war dieser Wein eine Kostbarkeit wie heute nur die besten Bordeaux aus besten Jahrgängen: Ein halbes Stückfass, also knapp sechshundert Liter, erzielte bei der Auktion des Jahres 1853 im Kloster den stolzen Preis von 5820 Gulden. Dies entsprach dem Fünfzehnfachen des Durchschnittsgehaltes eines Lehrers, der etwa vierhundert Gulden pro Jahr verdiente. »Noch höhere Preise« für den Steinberger seien durch »einzelne Verkäufe aus der Hand erzielt« worden, berichtet der Mainzer Johann Wirth in seinem 1866 erschienenen Buch »Die Weinorte im Rheinlande«. Seine akribische Aufstellung über Orte, Lagen, Böden, Traubensorten, Winzer, Erntemengen und Weinpreise ist eine frühe Version heutiger Weinführer. Auch die Winzer der umliegenden Orte wie Eltville oder Oestrich verlangten seiner Auflistung zufolge für ein Stückfass Riesling aus guter Lage zu dieser Zeit zwischen fünfhundert und etwa zweitausend Gulden. Denselben Preis erzielten auch die Güter in Nierstein und Bingen. Weine aus dem Hügelland des heutigen Rheinhessen – meist Silvaner, Traminer und ein wenig Riesling – waren dagegen schon für zwei- bis vierhundert Gulden pro Stückfass zu bekommen. Der Rüdesheimer Weinhändler Johannes Baptist Sturm verlangte Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts für eine Literflasche des 1846-er Steinberger satte einundzwanzig Gulden, also rund zwei Drittel des Monatsgehaltes eines Lehrers. Das würde heute etwa dem Preis eines bestens gelagerten 1947-er Pétrus entsprechen, der aktuell um zweitausend Euro zu haben ist. Der 1861-er war sogar noch teurer: Er kostete fünfunddreißig Gulden, viel mehr als ein Monatsgehalt. Diese Jahrgänge waren der erste glanzvolle Höhepunkt des Rieslings, dessen Verbreitung dreihundert Jahre zuvor begann. Im 15. Jahrhundert ist die Existenz der

Sorte erstmals schriftlich belegt, und 1601 erließ beispielsweise das St. Stephansstift zu Mainz, »daß alle freien oder auszurodenden Weinberge mit Riesling bestockt werden« sollten. 1716 begann der Fürstabt zu Fulda, die alte Benediktiner-Abtei Johannisberg im Rheingau wieder aufzubauen; 1720 ließ er in seinen Weinbergen 294.000 RieslingReben pflanzen. 1803 schreibt der Pater und Kellermeister von Johannisberg, Johannes Staab: »In dem ganzen Rheingau darf keine andere Traubensorte zur Verfertigung der Weine gepflanzt werden, als nur Rüßlinge.« Einige Jahre zuvor hatte die Sorte auch an der Mosel ihren Durchbruch: Der Trierer Kurfürst und Erzbischof Clemens Wenzeslaus von Sachsen erließ 1787 eine Verordnung zum ausschließlichen Anbau von »besseren Reben« anstelle der »rheinischen Reben«. Das Schreiben des Verwalters konkretisierte das Vorhaben: »Bei Anpflanzung neuer Stöcke sollten die Lehnleute gehalten sein, puren grünen Riesling und grünen Kleinbergs sich zu gebrauchen.« Wie weit die Sorte zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits verbreitet war, beschreibt detailliert der Heidelberger Hof gärtner Johann Metzger in seinem 1827 erschienenen Werk »Der rheinische Weinbau in theoretischer und praktischer Beziehung«: Unter den regionalen Synonymen »Rießling«, »Rißling«, »Rößling«, Kloster Eberbach: In der Schatzkammer der »krauser Rößling« und »KlingelWein-Mönche das Dämmerlicht der Jahrhunderte. berger« werde er »nur in vorzüglichen Lagen« angebaut, und zwar »ziemlich häufig an der Mosel, am Niederrhein, im Rheingau, in der Gegend von Mainz bis Worms, am Haardtgebirg, am Main, an der obern Bergstraße, am Neckar, in der Gegend von Pforzheim, im Elsaß und selten im Breisgau«, dazu »in Klingenberg am Main und in der Gegend von Würzburg«. Und er wußte: »Die Rieslingweine erhalten ihre völlige Entwicklung erst auf dem Lager. Kein Wein erhält sich so lange auf dem Lager wie der Rieslingwein, Gehalt und Aroma verliert er niemals.«

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meist schon in Fäulnis übergehenden Trauben.« Strenge Selektion und Spätlese – erst diese beiden Entdeckungen ebneten gemeinsam dem Riesling den Weg zum weltweit berühmten Wein. Die heute übliche Reinsortigkeit deutscher Weißweine begann sich ebenfalls erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchzusetzen. 1806 heißt es in der »Praktischen Anweisung für den Weinbau« von Bernhard Sebastian Nau noch: »Gegenwärtig sind es zwei Sorten, nämlich Rieslinge und Kleinberger, die in unserer Gegend am Rhein und der Nahe hauptsächlich gepflanzt werden, obgleich vielleicht 30 und mehrere andere Sorten denselben untermischt sind.« Der gemischte Satz ist eine jahrhundertealte, überall übliche Anbaumethode, jedes Jahr einen einigermaßen trinkbaren Wein produzieren zu können. Anreichern und andere Hilfsmittel waren jahrhundertelang nicht bekannt. So blieb nur, Sorten ganz verschiedener Eigenschaften im selben Weinberg anzubauen, um zum angeordneten Lesetermin auch in schlechten und kalten Jahren halbwegs reife Trauben ernten zu können. Wer eine so spät reifende Sorte wie den Riesling allein anbauen konnte, benötigte daher beste Lagen und eine Menge ökonomischer und logistischer Kraft. Nur die Güter mächtiger Fürsten wie Eberbach oder Johannisberg mit gut gefüllten Kellern, einer sicheren Zahl von Abnehmern und genug finanziellem Spielraum konnten sich dieses Risiko leisten – aber umso höhere Preise für gute Jahrgänge aufgrund der außerordentlichen Weinqualität erzielen. Denn nur für Güter mit hervorragenden Lagen rechnete sich das Risiko. Dieser Strategie folgten auch die Mönche des Kloster Eberbach mit der Einrichtung eines Cabinetkellers, der ab 1730 schriftlich belegt ist und dem auch der verkostete 1846-er Steinberger entstammt. Dort lagerte man nur die Weine bester Lagen und Jahre als Lebensversicherung. In Jahren schlechter Ernte und Qualität brachte man die dort zwischen fünf und dreiundzwanzig Jahren gelagerten Weine in den Verkauf und konnte so den Umsatzausfall kompensieren.

D Kloster Eberbach: Im edlen Ambiente des Refektoriums leitet Dieter Greiner, Direktor der Hessischen Staatsweingüter, den Höhepunkt der zweitägigen Raritätenprobe ein – mit angehaltenem Atem und äußerster Sorgfalt entkorkt er die Sensation der Riesling-Verkostung, die drittletzte Flasche Steinberger aus dem Jahr 1846.

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atte der Riesling im 18. Jahrhundert bereits den Ruf, hervorragenden Wein zu ergeben, so markiert die zufällige Entdeckung seiner späten Lese auf dem Johannisberg den Beginn der ersten Ära voller Ruhm und Glanz. Die Geschichte vom »Spätlesereiter« ist eine oft erzählte Anekdote – die Details kennt der Weingroßhändler F. Jüllien aus Paris. Er hat sie in seinem Werk »Der erfahrne Weinkellermeister« im Jahr 1833 aufgeschrieben: »Ehedem wurden die Trauben zu derselben Zeit gesammelt, wie die der benachbarten Weingärten. Da aber der Pater Kellner der Propstei Johannisberg vor der jedesmaligen Lese bei dem Fürstbischof zu Fulda schriftlich die Erlaubnis dazu einholen mußte, so geschah es einst, das der Befehl zur Weinlese vierzehn Tage später, als gewöhnlich, einging. Man erwartete eine schlechte Ernte, weil die Trauben an den Stöcken überreif und zusammengeschrumpft, zum Theil auch schon von Fäulnis ergriffen waren. Es wurden nun die verfaulten Beeren, welche bei der Schnelligkeit einer gewöhnlichen Weinlese ohne Umstände mitgekeltert werden, sorgfältig abgesondert, dadurch gewann man einen Wein, wie ihn am Rhein noch Niemand gekostet hatte. Diese Erscheinung wurde der Behörde berichtet, die sich sehr freute, das, was an Menge verloren war, durch die Güte reichlich ersetzt zu finden, und dem zufolge wurde der Befehl ertheilt, in der Zukunft immer erst vierzehn Tage später, als bisher gewöhnlich, mit der Weinlese anzufangen. Die Trauben werden nach ihrer Güte sortirt. Die bessern Sorten macht man stets aus den besonders gelesenen, gereifften,

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ie Weinberge des Klosters Eberbach waren Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig mit Riesling bestockt – es wuchsen hier damals auch noch etwas Traminer sowie die heute fast ausgestorbene Sorte Orleans, die zu dieser Zeit in den Rüdesheimer Berglagen einen hoch gelobten und weit berühmten Wein erbrachte, daneben noch Ruländer und Silvaner. Rund um die Weinorte Eltville wuchs fast ausschließlich Riesling, und in Rauenthal waren die Weingärten zu vier Fünfteln mit Riesling und zu einem Fünftel mit Silvaner bepflanzt. Auf insgesamt etwa achtzig Prozent schätzen Experten den damaligen Anteil des Rieslings in den Weinbergen des Rheingaus. Doch es folgten schwierige Jahre: Wahrscheinlich durch Degenerationserscheinungen der Rebstöcke sank der Ertrag auf durchschnittlich fünfzehn Hektoliter pro Hektar, zudem fielen den Winzern mehrere Jahrgänge durch Missernten aus. Die Winzer kämpften einen jahrelangen aussichtslosen Kampf gegen Mehltau und Reblaus, bis Rettung in Sicht kam. Der Rieslinganteil sank massiv, der ertragssichere Silvaner rückte an seine Stelle. Zur viel bestaunten Weinkollektion des Hattenheimer Weinhändlers August Wilhelmy, die auf der Pariser Weltausstellung 1867 von der Jury zur »besten Weinkollektion der Welt« gekürt wurde, gehörte neben bestem Riesling auch ein Rauenthaler Silvaner. Wilhelmy galt als leidenschaftlicher Sammler und verfügte über einen großen Schatz bester Jahrgänge, dazu mehr als fünfundsiebzig Fässer

Die Runde der Experten verkostet Riesling-Raritäten im prachtvollen Refektorium von Kloster Eberbach.


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Beeindruckt: Die Piemonteser Winzerin Gaia Gaja.

feinster Auslesen aus dem Kloster Eberbach. Der Weinhändler öffnete dem Riesling die ganz große internationale Bühne: 1868 ernannte ihn Kaiser Wilhelm I. zum Hoflieferanten, ebenso der russische Zar, der Herrscher von Ägypten und viele weitere mächtige Höfe. Aufgrund seiner Beziehung zum ägyptischen Herrscherhaus wurde zur feierlichen Eröffnung des Suezkanals von den versammelten Hoheiten mit feinstem Riesling aus dem Rheingau angestoßen. Die massiven Anbauprobleme beeinträchtigten die Preisentwicklung nicht. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs gehörte der spät gelesene und streng selektierte Riesling beispielsweise aus Rüdesheim, Marcobrunn, Oestrich, vom Steinberg, aber auch rheinhessischer Liebfraumilch oder fränkischer Steinwein zu den teuersten Weinen der Welt. Laut einer Angebotsliste des renommierten Londoner Weinhauses Berry Bros & Rudd aus dem Jahr 1896 kostete eine Zwölfer-Kiste einfacher Rüdesheimer Riesling mit sechsundsechzig britischen Pfund mehr als eine Kiste 1888-er Margaux für sechzig Pfund. Cabinetwein wie der 1862-er Marcobrunn kostete mit zweihundert Pfund pro Kiste satte sechzig Pfund mehr als die Kiste 1878-er Lafite, die für einhundertvierzig Pfund zu haben war. Es waren die glanzvollen Jahre des Rieslings nach einem fast dreihundertjährigen Aufstieg. 1914. Der Erste Weltkrieg begann. Tausende Weinbergarbeiter fielen als Soldaten an der Front. Niemand kaufte mehr Wein vom deutschen Feind, die Auslandsmärkte brachen zusammen. Zugleich kamen aber auch keine französischen Weine mehr ins Land, was den deutschen Weinmarkt freilich antrieb. Die Weinversteigerungen an Rhein und Mosel wurden unbehelligt fortgesetzt, auch gab es keine staatlichen Preisfestsetzungen. Doch der Geschmack hatte sich nach dem Ende des Krieges geändert, die Menschen bevorzugten nun milden, säurearmen Wein – und damit das Gegenteil von Riesling. Das legendäre Jahr 1921, ein Jahrhundertjahrgang, zeichnete die nächste Zäsur. Denn als der Riesling aus besten Lagen des Rheingaus und der Mosel zwei Jahre später bei den Auktionen höchste Preise erzielen sollte, galoppierte bereits die Inflation. Wer es sich leisten konnte, hielt seine Weine zurück. Sie blieben jahrelang im Keller. Die Krise verschärfte sich in den Folgejahren, die Menschen hungerten, die Preise für Luxusgüter verfielen. Der Glanz des großen Rieslings verblasste für lange Zeit. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren nicht nur viele Weinberge zerstört und zehntausende Arbeiter umgekommen. Auch der Weinhandel, vor dem Beginn des Dritten Reiches oft in den Händen jüdischer Kaufleute, war zusammengebrochen. Zudem hatten die renommierten Güter einen wichtigen Kundenstamm verloren: den ostpreußischen Adel. Doch der Mythos Riesling lebte. Bereits 1947 erlaubte die amerikanische Verwaltung, »zwei Millionen Flaschen deutschen Wein bester Qualität« aus der US-Zone zu exportieren. Die Mitteilung benennt sie genau: »Es sind Weine der Jahrgänge 1943 und 1944 sowie eine kleine Menge ältere Jahrgänge. Liebfraumilch, Rüdesheimer und Steinberger sind nur einige der bekannten Weine, die erhältlich sein werden.«

it dem Wiederaufbau kam auch ein Technologieschub in die Güter. Gnadenlos effiziente Düngemittel und neue Kellertechniken trafen auf gewaltige Nachfrage nach »sweet and cheap«. Elegante Rieslinge mit schöner Balance waren nicht mehr gefragt. Wer sich eine gute Spätlese leisten konnte, zeigte es gerne: je süßer desto besser, desto teurer. Wer nicht, fand auch etwas Billigeres. Die fleischigfettige Küche der Nachkriegszeit samt Mayonnaise, Senf, Mehlschwitze und Speck passte nicht zu fein gereiftem Riesling. Und so stiegen die Erntemengen in fast irrwitzige Höhen. Ernteten die deutschen Winzer um die Wende zum 20. Jahrhundert noch fünfzehn bis fünfundzwanzig Hektoliter pro Hektar, so lag der Ertrag im Jahr 1971 bereits bei achtzig – in manchen Anbaugebieten noch deutlich darüber. Der elegante, gereifte, sehr teure Riesling – einer der besten Weine der Welt – war zur billigen, banalen Industrieware abgestiegen. Erst zu Anfang der achtziger Jahre wendete sich das Blatt erneut. Der »Geheimrat J«, die trockene 1983-er Spätlese der Weingüter Wegeler aus den besten Lagen des Rheingaus, erfand den Riesling neu – und wurde von der ersten Flasche an zum Verkaufsrenner. Wein-Deutschland begann, den Riesling wieder zu entdecken. 2010 ist er wieder da, wo er hingehört. Nach dem Öffnen der hundert Jahrgänge im Kloster Eberbach kommentiert die angesehene englische Weinkritikerin Jancis Robinson: »Die Verkostung hat mir meine Ansicht eindrucksvoll bestätigt, dass Riesling die beste Weißweinsorte der Welt ist.« Winzer Wilhelm Weil ist sichtlich beeindruckt von den »grandiosen Spitzenweinen«, die er verkosten konnte: »Eine solche Frische hätte ich bei den alten Weinen niemals erwartet.« Dieter Greiner blickt erschöpft und glücklich über hunderte Gläser auf den Tischen. Nun schwebt der kleine Rest des 1846-er Steinberger im Glas endgültig ins vinologische Nirvana. Die Kameras sind aus, die Verkostungsnotizen in die Laptops gehackt. Was bleibt, ist Staunen. Hundert Jahrgänge Riesling. Sie hatten eine Menge zu erzählen. Man musste einfach nur zuhören. >

Konzentriert: Die Weinkritiker Jancis Robinson und Stuart Pigott.

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Ehrfurcht und helle Freude:

Die grosse Probe aufs Exempel Caro Maurer verkostet hundert Jahrgänge Rheingauer Riesling: von 1846 bis 2009. Hier die zwölf ältesten

1905

1897

Altgold mit bersteinfarbenen Reflexen. In der Nase vegetale Noten von Rübensirup, außerdem Heu und Stroh. Im Mund eine fast ölige Textur. Widersprüchlicher Geschmack: Da ist Karamell und Nougat, aber auch eine salzige mineralische Würze, als würde man an Kieselsteinen lecken. Deutliche Firne im Finish.

Helles Altgold. In der Nase nicht mehr ganz sauber: Noten von staubigem Speicher und eingemachter Birne. Im Mund dann eine so konzentrierte, dicht verwobene Aromatik, dass die einzelnen Komponenten nur schwer zu differenzieren sind: Nougat und ein Fruchtpotpourri mit Orangenschalen. Die Säure aufrecht und lebhaft bis zum Finish, das von leichten Bitternoten begleitet wird.

Albert Einstein veröffentlicht die Gesetze der Relativitätstheorie. 1905 Rüdesheimer Burgweg

1902

Der Staudamm von Assuan wird eingeweiht. 1902 Erbacher Marcobrunn Cabinet

Helles Altgold. Ein Bouquet aus gebräunter Butter, Röstnoten und reifer Birne. Erstaunlich lebhafte Säure, die mit den Fragmenten von Frucht spielt. Die Mineralität gibt die Linie vor. Im Finish zieht die Säure dann aber allen anderen Bestandteilen davon. Sherrynoten bleiben einsam zurück am Gaumen.

1901

Thomas Manns Familiensaga »Buddenbrooks« erscheint. 1901 Hattenheimer Speich Cabinet

Dunkles Altgold. Ein appetitliches, intensives und offenherziges Bouquet mit eingemachtem Pfirsich und exotischen Gewürzen wie Sternanis. Sehr vielschichtig und spannungsvoll im Geschmack: Honig, Mango und andere exotische Früchte, außerdem Safran. Starker Auftritt. Der Wein hinterlässt noch den Nachhall der Rebsorte.

1900

Während der Weltausstellung wird das erste Teilstück der Pariser Metro eröffnet. 1900 Steinberger Cabinet Mittleres Altgold. Ein spannendes und ansprechendes Bouquet mit eingelegter Mango und Sandkuchen mit Rosinen. Ein komplexes Gebilde im Mund mit Rosinen, Rumtopf und getrockneten Pflaumen. Zeigt ein animierendes Zusammenspiel von Süße und Säure, wirkt in manchen Momenten noch richtig jung. Ein zugänglicher und mitteilsamer Typ, beweist seine Stärke im Finish.

1899

Sigmund Freud legt mit dem Werk »Die Traumdeutung« die Grundlage für die moderne Psychologie. 1899 Hochheimer kleines Rauchloch Cabinet Helles Altgold. In der Nase nicht ganz sauber, schwankt zwischen Petrol und feuchtem Unterholz. Im Mund ansprechender mit gereifter und getrockneter Birne, Mango und Orange, zudem einer Spur von Pfirsich, dazu Karamell, Kandis und Vanille. Im Finale taucht wieder mehr Firne auf. Ein schwieriger und anspruchsvoller Typ.

1898

Die österreichische Kaiserin Elisabeth II., »Sisi«, fällt einem Attentat zum Opfer. 1898 Kiedricher Gräfenberg Cabinet Glänzendes Gold. Ein komplexes und fesselndes Bouquet: Würzpaste mit Safran, Anis und Fenchel. Auch im Mund überwiegen gemüsige Komponenten, die Frucht ist reduziert auf eingelegten Pfirsich. Die Säure lauert wachsam im Hintergrund, insgesamt ist die Textur jedoch cremig und glatt. Ein extravaganter Wein.

Der Chemiker Felix Hoffmann stellt zum ersten Mal Aspirin her. 1897 Hattenheimer Speich Cabinet

1896

Die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit finden in Athen statt. 1896 Rüdesheimer Burgweg

Helles Gold. Ein Bouquet wie die letzte Ernte Jonagold und dazu Hefeweizen. Sehr trockener Geschmack, in dem sich Acetaldehyd mit den typischen Lacknoten ausbreitet, dazu Nuss und Nougat. Im Finish etwas matt. Ein Relikt, das mit Respekt zu behandeln ist.

1895

Wilhelm Conrad Röntgen entdeckt die X-Strahlen, die später Röntgenstrahlen genannt werden. 1895 Hochheimer Domdechaney Cabinet Mittleres Altgold. Unsaubere staubige Nase. Kork. Auch im Mund war nichts zu retten.

1893

Die Mitteleuropäische Zeit wird als Einheitszeit für ganz Deutschland festgelegt. 1893 Neroberger Cabinet Heller Haselnusston. Ein großes Angebot in der Nase: Sherrynoten, Nüsse, Mango und exotische Hölzer. Sehr konzentriert im Mund, auch hier mit imposanter Aromen-Palette: Honignoten, eingelegte Nüsse, Nougat, Vanille und eine angenehm herbe Gewürzmischung im Hintergrund. Hat sich eine leichte Restsüße bewahrt, die mit der Säure kokettiert. Nachhaltig und beeindruckend im Finale.

1892

In Hamburg fordert eine Cholera-Epidemie mehr als achttausend Opfer. 1892 Steinberger Cabinet

Helles Gold. Eine eigenwillige Mischung aus Ananas, weißem Gummibär, Kräutern und medizinalen Noten im Bouquet. Im Mund sehr schlank und fragil, selbst die Säure ist milde gestimmt. Aber ein erstaunliches Spektrum an Aromen: Vanille, Butterkeks, Champignon – Noten, wie man sie von der Autolyse beim Champagner kennt. Im Finish etwas schwach.

1846

Der Beginn der Anästhesie: Die erste öffentliche, erfolgreiche Operation unter Narkose. 1846 Steinberger Cabinet Flasche # 3

Helles Mahagonibraun, leicht trübe. Ein beeindruckendes und erhabenes Bouquet: exotische Gewürze vom orientalischen Basar, Weihrauch, ätherische Öle, Kampfer, Lorbeer, Nuss, Anklänge von Cognac und Madeira. Im Mund sehr konzentriert, es überwiegt eine intensive Würzigkeit. Erinnert an eine klare Ochsenschwanzsuppe. Im Finale sinnt man geschmacklichen Eindrücken von einhundertfünfzig Jahren nach. Ein unvergessliches Erlebnis. Zurück bleibt Ehrfurcht.

Flaschen-Parade der an beiden Tasting-Tagen verkosteten Riesling-Raritäten.

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14 mal in der Schweiz Basel Bern Biel Bursins Crissier Genf-Meyrin Kloten Liechtenstein Luzern St. Gallen Zollikon Zürich-Enge Zürich-Gourmet Jelmoli Zug

14 mal in Deutschland Berlin-Mitte Berlin-Wilmersdorf Bielefeld Braunschweig Dortmund Düsseldorf Frankfurt HamburgBahrenfeld Hamburg-Sasel Hannover München-Nord München-Süd Münster Stuttgart www.moevenpick-wein.de


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WELTWEIN

D I E STUART P I GOTT KO LUM N E

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ynamische Gegenwart, überraschende Vergangenheit und hoffnungsvolle Zukunft des Rieslings sind drei Dimensionen meines Lebens, seit ich im September 1982 erstmals durch die Weingebiete an Rhein und Mosel reiste. Seit dem ersten Schluck Scharzhofberger Spätlese und Forster Ungeheuer Auslese erlebe ich, wie dieser spannendste aller Weißweine einen Aufschwung erfuhr, der in vielen Ländern als Riesling-Renaissance beschrieben wird. Riesling als Rebe und als vergorener Rebsaft, als Produktionsfaktor und als Produkt, ist längst weltumspannend. Schon vor einhundertfünfzig Jahren gab es beides in Südafrika, an der Westküste Amerikas, im Süden und Osten Australiens. Auf der Pariser Weltausstellung von 1867 wurde der Riesling von Pewsey Vale im südaustralischen Eden Valley ausgezeichnet; 1915 auf der Panama-Pacific-Exposition gewann ein Riesling von Changyu Winery in Yantai, China, eine Goldmedaille. Die Globalisierung des Weins ist gar nichts Neues, und Riesling war früh dabei. Blickt man als Historiker auf die zwei Jahrhunderte zurück, sieht man den Riesling auf einer wahren Achterbahnfahrt. Seit wenigen Jahren ist er wieder richtig cool – in zweierlei Hinsicht: Die andere Bedeutung liegt in der Fähigkeit der Rieslingrebe, aromatische und ausdrucksvolle Weine in kühlen Klimazonen wie etwa an der Nahe zu ermöglichen. Die Riesling People, das heißt Winzer, Sommeliers, Händler und unzählige Weinfreunde, sind alle so froh über diese neue Coolness, dass sie selten etwas über die Gründe der historischen Achterbahnfahrt hören wollen. Genau die erklären aber, wie die heutige Stimmung in der Riesling-Welt entstand. Der Ursprung der Traubensorte liegt eindeutig in Deutschland – die erste schriftliche Erwähnung von 1435 stammt aus der heutigen Opel-Stadt Rüsselsheim, und das erste Goldene Zeitalter des Rieslings von 1811 bis 1914 wurde maßgeblich von deutschen Weinen geprägt. Daher hatte und hat Riesling, unabhängig davon, wo auf Planet Wein er wächst, immer einen deutschen Klang – was nach 1945 oft wenig hilfreich war. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde das immer weniger problematisch, aber erst durch die weltoffenen deutschen Jungwinzer konnte Riesling seit der letzten Jahrhundertwende wieder Kult werden. Die eher dunkle Aura wandelte sich in eine strahlend helle.

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ie Riesling-Renaissance hat tiefe Wurzeln, die in die 1980-er Jahre und noch viel weiter zurück reichen. Damals sonnte sich die Bundesrepublik recht selbstgefällig in ihrem Wirtschaftsboom, während ihre Weinwirtschaft von Skandalen geplagt wurde. Hinter den Weinskandalen verbarg sich die Fixierung der westdeutschen Gesellschaft auf Wachstum und Fortschritt. Viele deutsche Winzer waren bereit, nicht nur die Weinkultur ihres Landes für steigende Produktions- und Verkaufszahlen zu opfern, sondern auch die Gewinnspanne pro Liter und Flasche zu verraten. Die glorreiche Riesling-Vergangenheit Deutschlands wurde diesem Ziel bedenken- und gnadenlos geopfert. Doch nicht alle ließen sich vom Rausch der Verramschung fortreißen. Fassungslos sahen einige junge Winzer das ruinöse Treiben der Väter. Ihre Reaktion war heftig: Plötzlich gab es die Terroiristen, eine unbewaffnete, aber zu allem entschlossene Widerstandsgruppe des Rieslings. Die etablierte Elite der Weinindustrie beharrte auf der Position, dass der Weinbergsboden keinen Einfluss auf den Geschmack des dort wachsenden Weins ausübe. Riesling-Terroiristen wie die Moselaner Ernst Loosen vom Weingut Dr. Loosen in Bernkastel und Reinhard Löwenstein vom Weingut Heymann-Löwenstein in Winningen sowie der 2004 verstorbene Bernhard Breuer vom Rheingauer Weingut Georg Breuer in Rüdesheim waren hingegen überzeugt, sehr deutliche Lagenunterschiede in ihren Weinen zu schmecken, genauso wie in den neuen Grand-Cru-Rieslingen aus dem Elsass, ihrem ersten großen Vorbild.

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uch wenn es dort keine Lagenklassifizierung gab, zeigten die trockenen Rieslinge aus der Wachau in Niederösterreich 1988, als ich das Gebiet kennen lernte, deutlichen Lagencharakter, darüber hinaus beeindruckten die Weine aus Topjahrgängen wie 1979 und 1986 durch große Reife und Geschmeidigkeit. Anfang der 1990-er Jahre wurden die Wachauer zum zweiten Vorbild vieler deutscher Rieslingwinzer, und die heutige Weinkategorie der Großen beziehungsweise Ersten Gewächse begann Form anzunehmen. »Der deutsche Weinbergsboden ist offensichtlich ein hochexplosiver Stoff«, schrieb ich 1998 in einem Essay, »weil dies der Faktor ist, der dem Grundprinzip des deutschen

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iesling Weinrechts, dass einzig und allein der Zuckergehalt der Trauben für die Weinqualität verantwortlich sei, diametral entgegensteht«. Dabei hatte ich versäumt zu erwähnen, dass dieses Gesetz von der Lobby des Weinbauverbands und der Großvermarkter mit ganz bestimmten Absichten geschrieben worden war – Stichwort: Liebfraumilch & Co. Der damalige technokratische Geist im Weinbau und das Weingesetz in diesem kitschigen goldenen Oktober des deutschen Weins bildeten ein scheinbar felsenfestes Konglomerat, das jedoch von Jahr zu Jahr immer heftiger bröckelte, bis es plötzlich so gut wie verschwunden war. Um die letzte Jahrhundertwende war dann die Fähigkeit des Rieslings, die Eigenschaften der Weinbergslage geschmacklich weiterzugeben, für führende Rieslingerzeuger eine kaum noch hinterfragte Selbstverständlichkeit. Und diese positive Entwicklung ist keinesfalls auf Europa begrenzt.

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s ist wenig bekannt, dass der Riesling-Aufschwung in Australien schon 1997 einsetzte; möglicherweise ist dort die wahre Keimzelle für die internationale Ausbreitung der Riesling-Renaissance zu suchen. Die meisten australischen Spitzenrieslinge sind trockene Lagenweine wie der berühmteste unter ihnen, der Polish Hill von Jeffrey Grosset in Clare Valley, Südaustralien. Zwischen dem 33. und dem 35. südlichen Breitengrad herrscht ein ganz anderes Klima als an Mosel und Rhein, mit einer Sonnenintensität etwa wie in Casablanca, aber mit wesentlich kühleren Nächten; letztere bilden das Geheimnis des australischen Rieslingerfolgs. Folgerichtig arbeiten dort die Spitzenerzeuger in Weinberg und Keller ganz anders als ihre Kollegen auf unserer Seite der Erdkugel, verfolgen aber dasselbe Ziel: herkunftgeprägte Rieslinge von großer Strahlkraft und Geradlinigkeit. Für die deutschen Jungwinzer ist all dies heute selbstverständlich. Für sie ist Wein wie flüssige Pop-Musik, natürlich kann man zu ganz unterschiedlichen Beats grooven. Nicht jedes ihrer Experimente glückt, maßgeblich sind aber solche, die zu erfolgreichen, neuartigen Rieslingweinen führen, wie etwa bei Philipp Wittmann im rheinhessischen Westhofen. Ihm gelang es von 1998 an in einer zuvor nicht für möglich gehaltenen Geschwindigkeit, sich als einer der führenden Erzeuger trockener Rieslinge in Deutschland zu etablieren. Sein Morstein Großes Gewächs ist ein kraftvoller und vielschichtiger trockener Wein mit einem Kern wie ein Diamant; ein Paradebeispiel für den Neuen Deutschen Riesling. Wittmann und einige seiner Jungwinzer-Kollegen sind der Dynamo für weitere mutige Experimente, und das nicht nur in der neuen rheinhessischen Traumfabrik des Rieslings, sondern auch ganz weit weg. In den letzten Jahren haben ehrgeizige Winzer in unterschiedlichsten Gebieten demonstriert, wozu Riesling in der Lage ist, wenn die Erzeuger sich in gleichem Maße wie die Reben an die Gegebenheiten anpassen. Chateau Grand Traverse tut dies auf der Old-Mission-Halbinsel in Michigan/USA genauso wie Tantalus im Okanagan Valley in British Columbia/Kanada, Felton Road in Central Otago/Neuseeland und Aldo Vajra im italienischen Barolo. Der alte Traum der Riesling People, Chardonnay von seinem Thron als nach der Menge wichtigste Qualitäts-Traubensorte für Weißwein zu stürzen, ist jedoch illusorisch, weil Riesling geschmacklich zu sehr eine Besonderheit darstellt. Das bedeutet aber auch, dass er nicht dazu verdammt ist, die Supermarktregale der Welt zu füllen, sondern eine edle Nische besetzen darf, wie etwa die Rotweine der Traubensorte Pinot Noir. Sie sind zu kompliziert für die breite Masse der Weintrinker, aber für die Kenner auf Planet Wein stellen sie den Gipfel der Komplexität dar.

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ur ein großes Fragezeichen steht über der Zukunft des Rieslings: die Klimaveränderung. Die Wachau trifft es als erstes, manche der dortigen Spitzenrieslinge liegen bereits bei vierzehn Volumenprozent natürlichem Alkohol und mehr – rund ein Prozent höher als noch vor einer Generation. Wie viel werden sie haben, wenn die vorausgesagte Erwärmung von zwei bis drei Grad Celsius in den nächsten Jahrzehnten tatsächlich stattfindet? Antwort: deutlich mehr, falls die Anbaumethoden sich nicht stark ändern. In Deutschland haben uns die Jahrgänge 2003, 2005 und 2006 einen Vorgeschmack auf die Zukunft beschert. Für die süßen Klassiker von Mosel und Nahe und aus dem Rheingau bargen diese Jahrgänge viele tolle Weine, darunter vermutlich manche Legende der Zukunft. Das Spiel geht also weiter, wenn auch mit geänderten Spielregeln. >


Der Kleine Weinsalon mit Stuart Pigott am 20. November

Eine Veranstaltung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Kooperation mit Fine Das Weinmagazin.

Stuart Pigott

Der Kleine Weinsalon

Stuart Pigott zählt zu den weltweit

Das Redaktionsgebäude der Frank-

Das weltberühmte Weingut des Angelo

bedeutendsten Weinautoren. Seine

furter Allgemeinen Zeitung in Berlin

Gaja mit Hauptsitz in Barbaresco (bei

Kolumne „Reiner Wein“ erscheint in

wird für einen Abend zum exklusiven

Cuneo) in der italienischen Region

der Frankfurter Allgemeinen Sonntags-

Weinsalon. Wo sich sonst Tag für

Piemont wurde im Jahre 1859 gegrün-

zeitung seit 2001. Pigotts bekanntes-

Tag Spitzenjournalismus beweist, ist

det. Der Familienbetrieb, heute mit

te Bücher sind „Stuart Pigotts Wilder

der Kleine Weinsalon für einige Stun-

Besitzungen im Piemont und in der

Wein“ sowie sein jährlich erschei-

den Ort der Muße. In privater Atmo-

Toskana, wurde fortlaufend vergrößert

nender „Stuart Pigotts kleiner genia-

sphäre tauchen Sie ein in die Welt

und war immer offen für Neuerungen.

ler Weinführer“. Demnächst wird der

der Spitzenweine, begleitet von einem

Angelo Gaja gilt nicht nur als der große

gebürtige Londoner mit der TV-Sen-

Fünf-Gänge-Menü des Restaurants

Pionier des italienischen Weinbaus,

dung „Weinwunder Deutschland“ im

„Il Punto“ und interessanten Gästen.

sondern auch international als einer

Fernsehen präsent sein.

Weingut Gaja

der bekanntesten italienischen Winzer.

Der Kleine Weinsalon der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Stuart Pigott lädt ein zu

Edle Tropfen aus Maremma und Piemont: der Gaja-Weinabend 2010 am Samstag, den 20. November 2010, ab 19.00 Uhr, in die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittelstraße 2–4, 10117 Berlin (Mitte)

Weine des Abends Alteni di Brassica Sauvignon Blanc 2004, Sorì Tildin 2005, Barbaresco 1997, Sperss 1999, Barbaresco 1974, … Der Preis für diesen besonderen Abend mit einem Fünf-Gänge-Menü liegt pro Person bei 300 €. Gern nehmen wir Ihre Reservierungen bis Freitag, den 15. Oktober 2010, unter 0611 / 57 99 -291 oder per Mail unter weinsalon@fine-magazines.de entgegen. Die maximale Gästezahl liegt bei 35 Personen.

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Himmel hängt

… und der

ADI WERNER UND SEIN LEGENDÄRER GROSSFLASCHENKELLER Text: UWE KAUSS

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Fotos: THOMAS SCHAUER

P E R S Ö N L I C H K E I T

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s ist still in St. Christoph. Die Hotels des bekannten österreichischen Skisport-Ortes am Arlberg sind geschlossen. Ende Oktober verirren sich höchstens ein paar Wanderer in den 1 800 Meter hoch gelegenen Ort, um die letzten warmen Herbsttage für Touren zu nutzen. In den Restaurants sind die Stühle hochgestellt, die Küchen geputzt und leer. Erst Ende November beginnt die Saison, und mit etwas Glück hat der Schnee die Gegend schon in ein weißes Bergparadies verwandelt. Seit den Zwanzigerjahren gilt der Arlberg mit den Orten St. Christoph, St. Anton und Lech als eine der besten und exklusivsten Skiregionen Österreichs. Doch Ende Oktober gibt es in St. Christoph keine Party, keine Piste, keinen Glamour. Es ist ein ganz normales Bergdorf mit dreißig Einwohnern, ein paar Hotels, Skihütten und Handwerkern, die viel zu tun haben. Auch Adi Werner ist beschäftigt. Der 74-jährige Wirt des Fünf-Sterne-Hotels Arlberg Hospiz und des Restaurants Hospiz-Alm telefoniert im Gehen und hakt dabei seine selbst geschriebene Liste ab. Sie ist ziemlich lang. »Wenn du dich nicht kümmerst, passiert nix. Das geht so ja net«, sagt er. Er fährt mit seinem Kombi an der gegenüberliegenden Talstation der Christophbahn vorbei, deren Lift die Skiläufer zu den Pisten auf knapp 2200 Metern Höhe bringt. Eine schmale Straße führt an Hotels entlang zum Restaurant, das er samt dem Hospiz-Hotel seit 46 Jahren betreibt. Seit 1997 führt sein Sohn Florian mit seiner Frau das Unternehmen mit über hundert Mitarbeitern, zu dem neben dem Arlberg Hospiz mit vom Gault Millau mit zwei

Hauben und 15 Punkten bewerteten Restaurant sowie dem 2000 Quadtratmeter großen Spa weiter die Vier-SterneHerberge »Hospiz Residenzen«, das Hotel »Goldener Berg« sowie das Restaurant »Alter Goldener Berg« in Oberlech gehört – sie alle Top-Adressen der Region. Der Wirt trägt offenes Sporthemd und eine alte braune Lederjacke. Er schließt die Tür des Restaurants auf und stürmt die halbdunkle Treppe hinab Richtung Keller, dreht an einem großen Rad an der Stahltür, die sich öffnet. »So, da sind wir«, sagt Werner und steckt das Telefon in die Jackentasche. Das Licht geht an, und wir stehen inmitten teuerster Bordeaux-Raritäten. Es ist seine legendäre GroßflaschenSammlung, die uns nun buchstäblich umfängt. Denn nicht nur an den Wänden des weiß gestrichenen Raums lagern seine Preziosen, sondern auch an der Decke in massiven Stahlhalterungen. Die Sammlung umfasst fünftausend Magnums und Doppelmagnums und zudem 12, 15 und 18 Liter fassende Flaschen feinster Jahrgänge und bester Châteaux. Mittlerweile fast zweitausend dieser extrem seltenen »Big Bottles« hat er in seinem Sammlerleben zusammengetragen. Diese Schätze lagern hier unten im ehemaligen Atombunker des Restaurants. In der Zeit des Kalten Krieges mussten die Österreicher solche Bunker zu ihrem Schutz bauen. Doch nach dem Ende der Blöcke hat ihn Werner einem sinnvolleren Zweck zugeführt, als darin dem baldigen Ende seiner Tage entgegenzusehen. Schnell wurde der Atombunker mit Wein gefüllt, und der Hospiz-Wirt ließ einen


voller

Weine

weiteren Raum anbauen. Diesmal nicht atombombensicher, aber mit viel Platz. So verfügt er nun über zweihundert Quadratmeter Fläche – allein für die großen Flaschen. Warum aber sammelt er ausgerechnet Flaschen, schwer wie Marmorstatuen? Was ist das Geheimnis? »Der Wein kann darin viel länger lagern, weil der Sauerstoff zwischen der Unterseite des Korkens und der Wein-Oberfläche in Relation zur Weinmenge fünf- bis sechsmal kleiner ist als bei einer normalen Flasche. So reift er viel besser, wird feiner, eleganter und weicher. Der Unterschied zum Wein in der normalen Flasche ist ganz deutlich erkennbar, wir haben das immer wieder beim Verkosten festgestellt.« Heute kann man sich oben im Restaurant so eine Flasche öffnen und ausschenken lassen. Das Budget vorausgesetzt: Werners teuerster Wein ist eine Nebukadnezar Cheval Blanc 2000 mit 15 Litern für 48 000 Euro. Die Weinkarte der Hospiz-Alm listet 650 Bordeaux-Positionen der Jahre 1924 bis 2002, dazu kommen 450 weitere Weine aus Österreich, Deutschland, Italien und anderen Anbaugebieten. Aber kein Rotwein ist jünger als 2002: »Von älteren Jahrgängen könnte ich zwei Flaschen trinken, von jungen bekomme ich nach einem Glas rasende Kopfschmerzen.« Zusammen mit den über sechzigtausend Bordeaux in normaler Flaschengröße gehört die Sammlung unter der Skihütte zu den größten der Welt. Die Weine lagern nicht nur im Atombunker, sondern auch in zwei weiteren Kellern – darunter dem Bruderschaftskeller von 1386, der sich unter der Kapelle des Hospiz-Hotels

befindet – sowie in einem Lager einige Kilometer außerhalb von St. Christoph. Ihr Einkaufswert beträgt derzeit rund 7 Millionen Euro. Der Auktionswert: unschätzbar. Dreimal wurde die Sammlung vom Gastronomieverband als »bester Weinkeller Österreichs« ausgezeichnet, viele weitere internationale Preise kamen hinzu. Für diese Sammlung hat Adi Werner fast ein halbes Leben benötigt. Der gebürtige Wiener wuchs im Salzburger Land auf. Statt, wie von der Familie geplant, Tierarzt zu werden, jobbte er lieber als Kellner, entdeckte die Freude an der Gastronomie und absolvierte eine Hotelfachschule in Lausanne. Später arbeitete er in Hotels auf Bermuda und in San Francisco und war der persönliche Assistent des New Yorker Reeders und Milliardärs Daniel K. Ludwig. 1964 übernahm er zusammen mit seiner Frau Gerda das Arlberg Hospiz-Hotel in St. Christoph. Bereits 1955 hatte Werners Schwiegervater Arnold Ganahl, ein wohlhabender Textil- und Papier-Industrieller, den alten Gasthof gekauft. Er ließ ihn herrichten. Doch zwei Jahre später brannte er in der Dreikönigsnacht bis auf die Grundmauern ab. Ein Kurzschluss. Doch Ganahl ließ das Hotel wieder aufbauen – größer, höher und breiter als zuvor. Weihnachten 1959 wurde das neue Hospiz eröffnet. Es war das modernste Hotel am Arlberg – alle Zimmer hatten Bad, Dusche und WC. Damals purer Luxus. »Der Arlberg war ja schon sehr bekannt. Hier oben wurden 1930 etwa Aufnahmen für den Skifahrerfilm ›Der weiße Rausch‹ mit Leni Riefenstahl gedreht. Das Hospiz-Hotel war ein

Anziehungspunkt. Also kamen die Gäste, um auch das neue Hotel zu bewohnen«, erinnert sich Werner. Darunter waren die einflussreichsten Familien der jungen Bundesrepublik wie Flick, Quandt und Burda – oder der König von Spanien. Das ist bis heute so geblieben. Die niederländische Königsfamilie, König Harald von Norwegen, der russische Staatspräsident Wladimir Putin, der tschechische Staatspräsident Václav Klaus, der kanadische Ex-Premierminister Pierre Trudeau, Ex-Bundespräsident Walter Scheel, Scheich Hassan von Jordanien sowie viele andere Prominente kamen und kommen ins Hospiz-Hotel Arlberg. Wer lange genug Stammgast ist, den nimmt Werner in die von ihm wieder belebte Hospiz-Bruderschaft auf, die bereits 1386 von Mönchen gegründet wurde. Sie sammelt Spenden für in Not geratene Familien – mittlerweile kamen so 10 Millionen Euro zusammen, die ohne Verwaltungskosten direkt Bedürftigen helfen. In der hoteleigenen Kapelle werden die Neu-Brüder feierlich und mit einem Glas Rotwein in der Hand per Schwertschlag aufgenommen.

Lynch-Bages für die Flicks In den ersten Jahren des neuen Hotels wurden die Gäste mit allem verwöhnt, nur nicht mit Wein. Adi Werner lächelt und erzählt: »Der Sommelier kam an den Tisch und fragte: Darf ’s etwas zu trinken sein? Ja. Die nächste Frage lautete: Rot oder weiß? Die dritte Frage: Ein Glas, ein Viertel oder ein Halbes? Damit war das Verkaufsgespräch beendet.« P E R S Ö N L I C H K E I T

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Sicher wie Fort Knox: Panzertür zum Keller

Der Milliardär Karl-Friedrich Flick fragte ihn daher einmal: »Lieber Wirt, hast du nicht etwas anderes da? Einen Lafite-Rothschild zum Beispiel?« Adi Werner war zunächst etwas ratlos. »Den Namen kannte ich zwar theoretisch von der Hotelfachschule. Aber getrunken hatte ich noch keinen.« Er wandte sich an den Innsbrucker Weinhändler Alexander Gottardi. Der besorgte zwar keinen Lafite, dafür aber eine Kiste Wein, die heute zu den großen Raritäten der Welt gehört. Einen 1947-er Mouton-Rothschild. »Na ja, da nehmen wir mal eine Kiste«, sagte er zu Gottardi. Die Flasche habe so um 90 Schillinge gekostet, heute etwa sechs Euro. »Den haben die Gäste gern getrunken«, erinnert er sich. Er verkaufte ihn im Restaurant für umgerechnet 18 Euro die Flasche. Doch das gab erst mal Ärger mit dem Schwiegervater. Der war streng zu seinem Schwiegersohn, lobte selten und führte ein eisernes Regiment. »Es ging keine einzige Rechnung ohne seine Unterschrift raus«, erzählt Adi Werner. Ganahl befand, niemand würde 18 Euro für eine Flasche Wein zahlen, da der Pensionspreis im Hotel pro Nacht nur bei 15 Euro gelegen habe. »Keiner zahlt mehr für eine Flasche Wein als für eine Tagespension«, beschied der strenge Patron und befahl: »Schick die Kiste zurück!« Doch Werner wollte nicht – und der Weinhändler hatte die rettende Idee: Er schrieb die Rechnung einfach auf zehn Kisten billigen St. Magdalener-Wein um. »Fürs abendliche Dancing in der Kellerbar«, erklärte er dem misstrauischen Schwiegerpapa. Nun hatte er den richtigen Wein für die Flicks und Quandts. »Als andere Gäste sahen, dass diese Familien diesen Wein tranken, fragten sie: Können wir den auch haben? Ich antwortete: Na sicher! So habe ich den 47-er Mouton spielend ausverkauft. Ich wollte ihn nachbestellen, und, na ja, da gab’s ihn nicht mehr.« Werner war wie elektrisiert von diesen Weinen und lernte schnell: Bordeaux, das hieß nicht nur Mouton, sondern auch Lafite und Margaux. Und er kaufte und kaufte. Sein Weinkeller entstand. »Immer wieder kamen neue Weine dazu, weil einer der Flicks mir noch unbekannte Namen nannte: Besorg doch mal einen Lynch-Bages! Nimm doch mal einen Pichon-Lalande! Bald konnte ich 55-er Mouton kriegen, auch den berühmten 59-er Mouton habe ich gekauft. So hat meine Sammelleidenschaft begonnen. Ich habe oft mittrinken dürfen und habe immer mal auch eine Flasche ausgeben müssen. So verstand ich langsam, dass der Bordeaux ein Superwein ist – etwas ganz anderes als die Viertele-Roten, die ich kannte. Bald interessierte ich mich ernsthaft dafür und las alles, was ich darüber in die Finger bekam, probierte und kaufte.« 1976 reiste er zum ersten Mal ins Bordelais, in Begleitung seines Weinhändlers. Werner spricht gut Französisch – er hat es während seiner Ausbildung in Lausanne gelernt. Dem erfolgreichen Arlberg-Hotelier ('

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halfen dort aber selbst gute Sprachkenntnisse nicht immer: »Mein erster Besuch war im Château Figeac, da haben wir uns hingetraut. Wir wurden dort sehr nett empfangen. Bei anderen Châteaux stellte uns ein Angestellter lediglich den jüngsten Wein hin. Den durften wir probieren, die Fässer ansehen und sollten schnell wieder abhauen.« 1980 fuhr er mit einem auf Bordeaux spezialisierten Weinhändler erneut ins Bordelais, um unbekannte Weingüter zu finden. Eine ihrer Entdeckungen war das Château Haut-Marbuzet in St. Estèphe. »Der Wein hat mich damals sehr beeindruckt – und es ist bis heute unser meistverkauftes Château geblieben«, erzählt der Hospiz-Wirt. Von Patron Henri Duboscq wollte er ein Barrique aus dem Jahr 1978 kaufen. Der habe gelacht und nur ein Wort gesagt: »Ausverkauft«. Nach einer Fassprobe des 1979-ers wollten er und der Händler hundert Kisten kaufen, und da habe der Patron wieder nur gelacht. »Schließlich haben wir vier, fünf Stunden degustiert und wurden immer lustiger, und Duboscq auch. Da fragte ich: Wann also kann ich Wein bei Ihnen kaufen? Er antwortete knapp: 1982. Gut, also haben der Weinhändler und ich je fünfzig Kisten bestellt.« Ein Jahr nach der Lieferung rief Henri Duboscq im Arlberg-Hospiz an und fragte den Wirt vorsichtig: »Kannst du mir zehn Kisten zurückverkaufen? Ich habe mich verrechnet und dir zu viel gegeben. Ich zahle auch den doppelten Preis.« Doch Werner antwortete: »Das mache ich nicht.« »Wieso denn nicht?«, habe Duboscq irritiert gefragt. Er habe erwidert: »Du kannst die zehn Kisten haben, aber nur zum gleichen Preis, den ich bezahlt habe.« Von da waren die beiden »beste Freunde und sind es bis heute geblieben«.

Bei großen Staatsbanketten des Zaren mit 120 Personen an einer Tafel habe so eine Riesenflasche zudem richtig Eindruck gemacht: »Zwei Diener mussten die Flasche schultern, rechts und links standen je zwanzig Weinkellner, einer füllte die Gläser. Ich habe Zeichnungen davon gesehen, das war ein Riesending!« Doch seit der Oktoberrevolution 1917 füllten die Güter keine Großflaschen mehr, auch nicht in Frankreich. Es galt als royalistisch. Adi Werner, der sich selbst als »geborenen Wirt« bezeichnet, verstand sofort das gastronomische Potential. Nun wollte er selbst Großflaschen haben. Doch so einfach war das nicht. Er fragte seinen Freund Henri Duboscq vom Château Marbuzet, der neugierig auf die Idee war und einwilligte, sie zu füllen. Nun fehlten allerdings noch die passenden Flaschen. Werner fand sie kurze Zeit später auf der VinExpo in Bordeaux. Damals war die heute größte Weinmesse der Welt eine reine Fachmesse für Winzer, die sich über neue An- und Ausbaumethoden informierten, über neue Fülltechniken und Flaschen. »Der Wein selbst war Nebensache«, erinnert sich Werner. Er kam zu einem Stand, auf dem Flaschen – von der kleinsten Marie bis zur Imperial – »wie die Orgelpfeifen« aufgebaut waren. Er fragte den Chef, ob er noch größere Flaschen liefern könne. »Alles, was Sie wünschen«, habe der Aussteller ganz französisch geantwortet. Werner wollte eine doppelte Imperial mit 12 Litern, eine Zweieinhalbfache mit 15 Litern und eine dreifache mit 18 Litern. Der Händler fragte ungläubig: »Warum wollen Sie die denn haben?« Er erklärte ihm, was er in Rodenstocks Buch gelesen hatte. Der Händler verstand, und Werner durfte bestellen – musste aber von jeder Größe mindestens 24 Flaschen abnehmen, weil viel Handarbeit nötig sei. »Gut, die nehme ich«, beschloss der Hospiz-Wirt. Nun sollte er aber die Flaschen auf der Stelle bezahlen. »Ich nahm mein Scheckbuch heraus, aber der Händler sagte: ›Pas de Cheques‹ – keine Schecks. Erst nach langem Hin und Her einigten wir uns.« Einen Monat später rief der Glashändler an: Die Flaschen seien fertig, was er nun damit machen solle? Henri Duboscq kam zu Hilfe, holte die Megaflaschen ab und brachte sie ins Château. Drei Jahre später ging es erstmals ans Füllen. Denn Werner hatte Duboscq zwischenzeitlich doch noch überredet, ihm vom offiziell ausverkauften 1981-er etwas Wein zu überlassen. Werner erinnert sich gut: »Eines Tages rief Henri an. Ich will deine Flaschen abfüllen – wo sind denn eigentlich die Korken? Ich antwortete: Ich habe keine. Na, lass den Korkhändler welche liefern! Er antwortete: Der hat die nicht. Und wieso nicht? Na, der hat kein passendes Werkzeug für diese Sondergröße. Dann soll er sich’s halt anschaffen! Nein, das macht er nicht, das kostet 13 000 Nouveaux Francs.« Das waren umgerechnet etwa 1 500 Euro. Aber so kurz vor dem Ziel aufgeben wollte Werner nicht. Er blieb stur. »Also habe ich das Werkzeug bezahlt, damit der die Dinger herstellen konnte. Die ersten sechs Korken haben mich damit 1500 Euro gekostet.« Ein Jahr später erhielt Werner auch sechs Großflaschen des bestellten 1982-ers – für Werner ein besonderes Erlebnis. Die letzte dieser Flaschen trank er 2001 zu seinem 65. Geburtstag mit vierzig Stammgästen. »Es war reines Elixier«, schwärmt Werner noch heute. Die ersten Flaschen

Kein Vorrat an grossen Korken Zu dieser Zeit entdeckte Adi Werner das Thema, das ihn in Sammlerkreisen so bekannt gemacht hat: Die Großflasche. Der Sammler Hardy Rodenstock war regelmäßig im Hospiz-Hotel zu Gast und veranstaltete Verkostungen, die bis heute legendär sind – etwa im Jahr 1988, als unter anderen vier 1875-er und ein 1937-er Yquem geöffnet wurden. Damals kannte Werner lediglich die Imperial- Größe mit sechs Litern. Ein Ausflug in die Geschichte brachte ihn auf die Idee: »Rodenstock schenkte mir ein Buch, in dem ich las, dass um 1820 der Kellermeister des Zaren in St. Petersburg seinen Wein aus Transportgründen in Großflaschen mit bis zu 18 Liter Fassungsvermögen abfüllen ließ. Diese Flaschen ließen sich im Schiff gut verstauen. Die Barriques waren dagegen sehr schwer und unförmig – man verschenkte viel wertvollen Platz. Bei Seegang bestand zudem die Gefahr, dass sich die Fässer losreißen und im schlimmsten Fall das Schiff in Schlagseite bringen konnten.«

Der ganze Stolz des Sammlers: Adi Werner, Hotelier, Weinfreund und Gastgeber, in seiner sagenumwobenen Schatzkammer mit fast zweitausend Großflaschen edelster Weine


waren übrigens Keulenflaschen wie aus dem Burgund. Erst nachdem sie aufgebraucht waren, bat er den Glashändler, zylindrische Flaschen in Bordeaux-Form zu besorgen.

Kein Glück bei Pétrus und Le Pin Um Kontakt zu bekommen, lud Werner seit Ende der siebziger Jahre die Inhaber einzelner Güter im Winter zu Degustationen mit den Gästen ein. Es standen jeweils neun Jahrgänge auf dem Programm. »Dabei habe ich denen jedes Mal meine 81-er und 82-er Großflaschen gezeigt und gefragt, ob sie auch so was machen können«, beschreibt Adi Werner seine Strategie, mehr Großflaschen gefüllt zu bekommen, »Man werde es vielleicht einmal probieren«, war meist die Antwort. Jedenfalls war es kein Nein. Immer mehr Winzer ließen sich von Werner mit der Zeit überzeugen – nur Pétrus und Le Pin haben bis heute jedes Mal abgesagt. Château Canon La Gaffelière hat er nun im Keller, ebenso Lynch Bages und viele weitere, auch den legendären

Großflaschen-Bestellungen. Das war denen zu viel. Da haben sich die Patrons abgesprochen, dass keiner mehr große Flaschen füllt«, weiß Werner. Der Hintergrund: Mouton Rothschild hatte den 1995-er in der Großflasche für etwa 3000 Mark an andere Kunden verkauft. Die hätten sie innerhalb einer Woche für 6 000 Mark weitergegeben. »Da haben die Patrons der Güter gesagt: Ihr spekuliert nicht auf unsere Kosten.«, berichtet Werner. Nur für ihn machen sie eine Ausnahme. »Ich kenne die Patrons und die Kellermeister nun schon ewig, deswegen bekomme ich sie. Bei Palmer und Mouton Rothschild muss ich sogar unterschreiben, dass ich die Flaschen nicht zu Spekulationsobjekten mache«. Selbst wenn der Château-Besitzer füllen wolle, müsse aber erst noch der Kellermeister überzeugt werden. »Die können sehr stur sein, die Franzosen. Wenn der nicht will, hat sogar der Patron Pech gehabt«. Werners Gegenmittel: der persönliche Kontakt. »Wir fahren mit Flaschen, Korken und Werkzeug im Gepäck direkt hin und sprechen mit dem Kellermeister. Wir zollen Respekt. Wir loben ihn.

Warten auf mehr Wein: Noch Platz im zweiten Keller

Mouton Rothschild 1990. Die Winzer zeigten sich bald gegenseitig die neuen großen Größen. Ein kleiner Boom entstand, den Werner mit seiner Idee ausgelöst hatte. Selbst bei Château Cheval Blanc hatte er nach jahrelangem Warten Glück. Als Pierre Lurton 1997 die Leitung des Gutes übernahm, willigte auch er ein. So erhielt Werner 1998 erstmals eine große Flasche. »Seitdem bekomme ich jedes Jahr sechs Flaschen von jedem Jahrgang. Das ist eine ganz große Sache für uns«, freut sich der Weinsammler. Denn außer für ihn füllen die meisten Güter mittlerweile keine Großflaschen mehr. Deswegen sind Werners Flaschen unbezahlbare Raritäten – es gibt nur wenige Stück pro Jahrgang. Und die liegen in seinem Keller. Anfangs hätten die Châteaux viele Anfragen gehabt: »Bei Pichon Lalande oder Figeac gab es bis zu hundert

Der von Palmer hat sich nach langer Diskussion entschieden, drei Flaschen zu füllen. Nicht sechs. Na ja, es war mir auch recht.« Der Bordeaux-Liebhaber Adi Werner ist von seiner Rolle als Senior-Wirt und Gastgeber nicht zu trennen. Seine Sammelleidenschaft wurde im Restaurant geboren, und dort zelebriert er sie auch. Er organisiert Verkostungen großer und ganz großer Weine oben in der Hospiz-Alm und lädt dazu Freunde und vor allem Stammgäste ein. Zwischen vierzig und hundertzwanzig Weinfreunde versammeln sich je nach Anlass; und einige Hersteller nutzen mittlerweile die Anwesenheit seiner wohlhabenden Gäste, um per Sponsoring auf sich aufmerksam zu machen. Diese Events machen dem Patron größte Freude, wie er betont, und zugleich »ist der Wein die beste Werbung fürs Hotel, die ich machen

kann«. Etwa siebzig Prozent seiner Gäste kämen wegen des Kellers und der, wie er betont, besonders günstig kalkulierten Weinkarte. Wein genießen kann Werner ausschließlich im Kreis Gleichgesinnter. »Zuhause trinke ich nie«, betont er, »und vor 18 Uhr schon gar nicht.« Adi Werner verkostet immer in Gesellschaft, immer blind, immer parallel. So hat er im Laufe der Jahre mit hunderten Verkostungen seine persönlichen Favoriten herausgefunden. Da muss er nicht lange nachdenken: 45-er Pétrus, 47-er Cheval Blanc, 82-er Pétrus und 89-er Haut Brion.

Ein Glas mit dem König Wenn in wenigen Wochen die Handwerker verschwunden sind und die Saison beginnt, ist Adi Werner wieder ganz für seine Gäste da. Wie in den vergangenen 44 Jahren. Zwei Stunden verbringt er abends in der Hospiz-Alm, zudem zwei Stunden im Restaurant des Hotels. Um mit den Gästen zu reden, mit ihnen zu trinken und zu verkosten. Das ist sein Leben. Pro Wintersaison öffnen seine Sommeliers etwa 250 Großflaschen, knapp die Hälfte davon sind Flaschen zwischen zwölf und 18 Liter. Es ist eine aufwendige Zeremonie, den Wein zu dekantieren und auszuschenken. Geöffnet werden die gewaltigen Flaschen aber mit einem ganz normalen Kellnermesser. Aber auch ohne Anlass setzt sich Werner gerne auf ein Glas mit an den Tisch. So etwa beim Besuch des spanischen Königs Juan Carlos. »Der spanische Botschafter in Österreich nahm zehn Tage vorher Quartier, um alles vorzubereiten. Er bestand auf einem eigenen Speisesaal für die Königsfamilie, auf einem eigenen Lift und vielen anderen Details. Doch als der König kam, benutzte er keinen eigenen Lift und wollte mit den anderen Gästen speisen.« Werner offerierte ihm zum Dinner einen 59-er Latour. Der König war begeistert, ließ Werner rufen und bot ihm einen Platz neben sich an. »Der hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da saß ich schon«, erinnert sich der Wirt. Vier Flaschen wurden schließlich davon getrunken – der Botschafter war indigniert. Man möge dem König am nächsten Abend mitteilen, der Latour sei ausgetrunken, befahl er Werner. Der hielt sich daran – und offerierte stattdessen einen 59-er Lafite. »Den mochte der König noch lieber«, erzählt Werner. Am Ende des Abends saß Werner wieder neben ihm, und wieder vier Flaschen waren leer. Juan Carlos und Adi Werner verabschiedeten sich herzlich und bestens gelaunt. Doch schon wenige Minuten später stand erneut der Botschafter bei Werner im Büro. Wütend schnappte er nach Luft und schimpfte – denn die Bewirtung der Königsfamilie mit teuren WeinRaritäten müsse er schließlich aus seinem diplomatischen Budget begleichen. Juan Carlos habe am nächsten Tag mit den Schultern gezuckt, als Werner ihm davon berichtete: »Es ist jedes Mal das Gleiche«, habe er die diplomatische Intervention seufzend kommentiert. Werners Augen blitzen, als er diese Geschichte erzählt. Große Weinleidenschaft und ein gutes Gespür fürs Geschäft – bei Adi Werner geht das zusammen. Diesen Zusammenhang kann er ganz einfach erklären: »Ein Wirt, der Bier liebt, kann keinen Wein verkaufen.« >

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Von der Hand Kaviar und Champagner in den Mund Text: UWE KAUSS Fotos: GUIDO BITTNER

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und sagt einfach: »Schön, dass Ihr da seid!« Trotz überfüllter

er Genuss von Kaviar ist bereits im 15. Jahrhundert in Konstantinopel bekannt gewesen; auch die Herkunft seines Namens soll im Türkischen liegen. Fischrogen hatte an fast allen Meeresküsten Tradition auf dem Speiseplan, doch der vom kaspischen Meer galt schon damals als etwas ganz Besonderes. Bereits der berühmte Physiker Galileo Galilei (1564–1642) verzehrte ihn mit Wonne, und Papst Leo X. (1475–1521) ließ sich Kaviar mit Forellenfilets vom Gardasee auf geröstetem Brot anrichten. Das spätere »schwarze Gold« war viele Jahrhunderte lang zunächst nur ein Teil der einfachen Nahrung armer Küstenbewohner des Kaspischen Meeres und der Fischer an der Wolga. Die unbefruchteten und gesalzenen Eier des mehrere Meter langen Störs waren im 18. Jahrhundert unmöglich zu transportieren. Ohne Kühlung verdarben sie binnen Stunden, daher aßen die Fischer den nahrhaften Rogen selbst. Doch die Fürsten der Region entdeckten sein zartes Aroma, und ausgerechnet die Schwierigkeit des Transports begründete seinen Ruf als seltene Delikatesse. Denn wer frischen Kaviar zum Diner servierte, demonstrierte Geschick, straffe Organisation und die Macht, eine Kutsche ohne Anhalten durchs Land brausen zu lassen. Auch die russischen Zaren begeisterten sich für den Geschmack des Kaviars, ließen ihn zu Pferd an ihre Höfe transportieren. Er war selten, schwer zu bekommen und damit teuer. So funktioniert Luxus.

Kalender sind die Geladenen alle, mehr oder weniger pünktlich,

Erforschen, was zusammengeht

Unten im Weinkeller. Ein langer Holztisch, zwei Bänke. In den Regalen an den Wänden liegen, schön indirekt beleuchtet, gut geordnet hunderte Flaschen. Davor stehen wir, zwölf Männer. Wir sind gut gekleidet, also besser: Herren. Wir plaudern, lachen, begrüßen die wie immer zu spät Eintreffenden. Champagner schäumt in die bereitstehenden Gläser. Als er schön und fein darin perlt, ergreift der Gastgeber ein Glas

im Weinkeller erschienen. Kaufleute, ein Fabrikant, ein Win- Uns erwartet ein kulinarisches Genussexperiment der Kategorie » ganz außergewöhnlich«, aber nicht im inflazer, Verlagsleute, Medienmacher, Werbemanager, ein Hotelier, Angestellte, Freiberufler. Alle geübte Genießer. Der Gastgeber will nicht viele Worte machen. Gute Entscheidung. Er sagt nur: »Heute gibt’s Kaviar.«

tionär gebrauchten Sinne der Weinkartenlyrik. Wirklich außergewöhnlich. Wir wollen Kaviar verkosten. Und herausfinden, ob einer der berühmtesten Genussklassiker der vergangenen einhundertdreißig Jahre – Kaviar mit Champagner – nur ein Mythos oder Wirklichkeit ist. Der Gastgeber erklärt die Versuchsanordnung: »Wir haben fünf Sorten Kaviar und fünf große Champagner. Lasst uns gemeinsam herausfinden, welche Kombination die schönste ist, und erforschen, was warum nicht zusammengeht. Und jetzt setzt Euch.« Wir sortieren uns auf den hölzernen Bänken und blicken erwartungsvoll wie Kinder am Nikolausabend.

Getrockneter Kaviar mit Essig und Öl Sämtliche Herrscher an deutschen und italienischen Höfen waren spätestens im 18. Jahrhundert dem gesalzenen Rogen verfallen. Kaviar war purer Luxus, denn auch das nötige Salz war noch selten und sehr teuer. Doch damals genoss man ein wenig anders als heute: Vorm Servieren wurde der Kaviar entsalzt und getrocknet. Man servierte ihn beispielsweise mit Essig, Öl und Zitrone. In Frankreich dauerte es wesentlich länger als im Rest des Kontinents, bis er sich als edle Delikatesse durchgesetzt hatte. In den Pariser Restaurants war der Kaviar verachtet, in Versailles verpönt. Durch die vielfältigen Verbindungen an den Hof des russischen Zaren eroberte er schließlich auch die französische Hauptstadt. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts genoss das nur sechs Tische kleine Pariser Restaurant »Prunier« einen exzellenten Ruf, weil es sich auf russischen Kaviar spezialisiert hatte. Reiche russische Adlige dinierten dort ebenso wie die Stützen der französischen Gesellschaft und die Haute Volée. Der Mythos war geboren. Das Restaurant erwarb Weltruf, und heute ist Prunier der renommierteste Hersteller von Zuchtkaviar. Das Restaurant existiert noch immer. ((

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Zwei Schüsseln werden von helfenden Händen vorsichtig auf der Tischplatte platziert. In ihrer Mitte steht je eine Blechdose, umgeben von kleinen Eiswürfeln. Der Kaviar ist da. Unser Gastgeber füllt die Champagnergläser. Ins linke Glas Krug, ins zweite Veuve Cliquot Grande Dame, ins rechte ein 2000-er Dom Pérignon, ganz außen Dom Ruinart 1998. Er stellt die Flaschen zurück in die Kühler und sagt: »Ab jetzt bedient Ihr euch bitte selbst«. Oh, kein Problem. »Was haben wir denn da in den Dosen?«, fragt einer neugierig in die Stille. Also: Wir verkosten fünf Sorten Zuchtkaviar aus dem Hause Prunier.

Gutes Gewissen und ein Teufelskreis Die Prunier-Störe stammen aus dem Bordelais. Das Unternehmen züchtet sie in offenen Aquakulturen an den Ufern der Gironde, der Garonne und der Dordogne. Erst nach acht Jahren sind die bis zu drei Meter langen Riesenfische schlachtreif. Heute sind solche Aquakulturen besonders wichtig für die Produktion, denn die Familie der Störe im Kaspischen Meer ist vom Aussterben bedroht, ihr Bestand ist um neunzig Prozent geschrumpft. 1998 wurden sie ins Washingtoner Artenschutzabkommen aufgenommen. Biologen befürchten, in zwanzig Jahren könnte der wild lebende Stör verschwunden sein. Für 2009 gab es aufgrund der akuten Bedrohung keine vom Abkommen geregelte Fangquote – damit war jeder Fang illegal. Zwischen achthundert und tausend Tonnen Kaviar werden weltweit pro Jahr verspeist, schätzen Experten. Doch der Schwarzmarkt blüht, und das Verbot treibt die Preise in absurde Höhen, was den illegalen Fang noch lukrativer macht. Ein Teufelskreis. Rund neunzig Prozent des verkauften Rogens sei illegal gefangen, beklagen Naturschützer. Diese Ware ist allerdings meist von minderer bis miserabler Qualität. Wilde Störe werden im Meer gefangen, in großen Aquarien mit perfekter Wassertemperatur an Land transportiert, dort geschlachtet und der Rogen mit höchster Präzision innerhalb von nur zehn Minuten zu Kaviar verarbeitet und abgefüllt, damit das außergewöhnliche Aroma erhalten bleibt. Den Schwarzfischern gelingt es in der Regel nicht, auf dem nötigen Niveau zu arbeiten. Den Preis kassieren sie dennoch. Denn die Dosen kann ja niemand vor dem Kauf zur Kontrolle öffnen. Unser Gastgeber nimmt den Hornlöffel vom Teller und taucht ihn ins schwarze Gold. Außer mit Gold darf Kaviar niemals mit Metall in Berührung kommen, weil er sofort beginnt, dessen Geschmack anzunehmen. »Ist kein Horn zur Hand, nehmt einen Plastiklöffel, der schadet wenigstens nicht.« Er löffelt vorsichtig von innen nach außen und gibt einen Klacks auf den Handrücken, als sei es Schnupftabak. In unsere fragenden Gesichter sagt er: »Das ist die beste Technik: Von der Hand in den Mund. Die Hand ist die aromaneutralste Fläche zum Kaviargenuss, außer Ihr habt sie vorher mit Lavendelcreme eingerieben.« »Keine Eier als Unterlage?«, fragt der Kaufmann. Kurze, klare Antwort: Eier sind out. Der Kaufmann guckt betroffen. Wir sollen pur genießen. Etwas Brot wird dazu gereicht, ein paar milde Blini, etwas Crème Fraîche. Sonst nichts? Sonst nichts. Wir löffeln, lecken die Hand und trinken. Die Gesichter sind konzentriert. Ein zweiter Löffel, ein zweiter Schluck. Was geschieht?

geschwächten deutschen Unternehmen war das nicht möglich. So konnte Prunier 1921 einen Vertrag mit der Sowjetunion über die weltweiten Exklusivrechte am Kaviarimport abschließen. In diesem Jahr berichtete ein Stammgast des Restaurants dem Eigentümer Emile Prunier, es gäbe große Mengen Süßwasserstöre in der Gironde. Nur habe noch niemand ihren Wert entdeckt: Man esse das Fleisch, der Rogen lande aber als Abfall im Fluss, erzählte er. Prunier war wie elektrisiert. Ein ehemaliger Offizier des Zaren mit dem englischen Namen Alexander Scott half ihm, innerhalb weniger Monate im Bordelais eine Zucht mit neun Verarbeitungszentren aufzubauen. So wurde Prunier der Pionier des französischen Kaviars. In seinem Restaurant bot er fortan Kaviar an, der erst vierundzwanzig Stunden zuvor das Wasser verlassen hatte. Das ist bis heute so geblieben. Die Sorte »Paris« zeugt von dieser Tradition.

Versuchsanordnung 2 Prunier Tradition

Wir diskutieren noch immer das erste, für alle etwas überraschende Ergebnis des Experiments. »Ich fand die Champagner alle total klasse«, ruft einer euphorisch, »das ist doch Kult, ehrlich.« Die Gelasseneren in der Runde argumentieren diplomatisch und entspannt dagegen, was viel mit dem Champagner in den Gläsern zu tun haben mag. Zwei neue Dosen stehen auf dem Tisch: Prunier Tradition. Dieser Kaviar ist der Klassiker des Hauses und macht etwa fünfundvierzig bis sechzig Prozent der Produktion aus. Er schmeckt salziger als die »Paris«-Auslese, mit weniger Milch- und Fettaromen, dabei intensiv nach Meer, sehr rund und voll. Und wieder ist es der Dom Pérignon, der wie ein Vergrößerungsglas das Pure des Kaviars detailliert, verfeinert, verstärkt. Die cremige Eleganz des Champagners verbindet sich ohne Kanten mit der salzigen Harmonie. Ein Erlebnis. Die Grande Dame empfinden dagegen manche als leicht metallisch, andere erleben sie frisch, mit Feinheit und sich gut ergänzenden Briochenoten. Der Dom Ruinart und sein etwas schlankeres Aromenspektrum hat mit der kräftigen Salzigkeit etwas Probleme, obwohl er durchaus harmonisch dazu schmeckt. Und Krug? »Wenn du eine Birne aufschneidest, Salz drauf streust und reinbeißt, ist das auch kein Spaß«, sinniert einer der Medienleute. Die üppige Frucht des Krug, das üppige Salz der Tradition-Auslese – es bleibt schwierig.

Das Salz, der Rogen und das Gummiband

Versuchsanordnung 1 Prunier »Paris«

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er Kaviar ist nach einem Rezept der Familie hergestellt und hat einen sehr niedrigen Salzgehalt. Das Salz dient weniger der Konservierung als dem Aroma. Der Fang behält vollständig sein Öl und ist maximal zwei Wochen alt. Entsprechend mild ist sein Geschmack: Die pure Essenz von Fisch und Meeresfrüchten. Die Salznoten kitzeln die Zunge angenehm zart, kontrastiert von etwas Fett und einigen Brotnoten. Nach kurzer Diskussion über die Aromenempfindung scheint der Fall gelöst: Champagner zum Kaviar ist wunderbar, aber nicht zu jedem Champagner. Der einmütige Favorit ist Dom Pérignon. Seine Frische, die Noten nach Brot und etwas Hefe, die elegante leicht salzige Mineralität verstärken die Aromen des Kaviars um ein Vielfaches. Seine Feinheit und Länge wiederum zerstören die Zartheit des Kaviars nicht. Der Dom Ruinart ist ebenfalls passend, hat aber nicht die salzige Mineralität, um den Genuss intensiv zu steigern. Die Grande Dame von Veuve Clicquot macht ebenfalls eine gute Figur, die Brotnoten passen schön zur Salzigkeit des Kaviars, aber es ist etwas zu viel Länge und Frische im Mund. »Unfallfreier Genuss«, bringt es der Werbemann auf den Punkt, »aber ohne Steigerungsrate«. Und nun der Krug. Keiner sagt was. »Naja«, kommt es von rechts. »Nee, das geht so nicht«, sagt leise der Winzer. Die Frucht des Krug ist zu dominant, wirkt mit Kaviar spitz, sein Salz erzeugt am Gaumen metallische Noten. »Der zerbrochene Krug«, philosophiert der Medienmann und gießt sich Dom Pérignon nach.

Kaviar und der Lauf der Welt Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Prunier bereits einer der wichtigsten Lieferanten von Kaviar, Meeresfrüchten, Austern und Fischen an Hotels und Restaurants in ganz Europa. Dem Unternehmen gehörten Austernfarmen und ein Fischdampfer. Doch bald folgten stürmische Zeiten: 1906 kam die Austernkrise, weil der Ausbruch einer Typhusepidemie von der Öffentlichkeit mit giftigen Austern begründet wurde. Das Restaurant blieb bald leer, die Gäste hatten Angst, sich vergiften zu können. 1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurden sämtliche Abkommen der russischen Kaviarexporte gestoppt, die vor allem deutsche Firmen geschlossen hatten. Die neue Sowjetunion wollte neue, bessere Verträge aushandeln – und Vorauszahlung in einer Goldwährung. Den durch den Krieg

Sofort nach dem Fang des Störs wird der Rogen – es sind bis zu achthundert Gramm pro Tier – gesalzen und in die Dose gefüllt. Nun beginnt der Reifeprozess, der das Aroma sich erst entfalten lässt – der Flüssigkeitsaustausch zwischen dem sehr fein geriebenen Salz und dem Korn. Zwei Wochen dauert es, bis sich die Kapillaren des Kaviars zu öffnen beginnen und Salz aufnehmen. Erst bei diesem Vorgang wird der eher graue Rogen langsam dunkel bis schwarz. Dazu verwendet Prunier die um 1870 erfundene, bis zwei Kilogramm fassende Gleitdeckeldose, die mit einem horizontal angebrachten Gummiband versiegelt wird. In den ersten drei Tagen werden die Dosen mit einem Gewicht beschwert, damit das überflüssige Öl des Rogens am Gummiband aus der Dose heraustropft. In den folgenden Wochen drückt der Kaviarmeister immer wieder sachte auf den Deckel, um diesen Prozess – und so den Geschmack – zu verfeinern. Kaviar aus einer geöffneten Dose bleibt gekühlt maximal fünf Tage haltbar.

Versuchsanordnung 3 Prunier »St. James«

Die St.-James-Auslese entstand erstmals 1932 anlässlich der Eröffnung eines Prunier-Restaurants in der feinen Londoner St. James Street. Er wird nach einem persischen Verfahren hergestellt, zwei Monate gereift und mit kleinsten Mengen Borax (Natriumtetraborat) gesalzen, was zugleich als Konservierungsstoff wirkt. Es verleiht dem Kaviar einen präsenten, kräftigen, jodigen Geschmack. Das Ergebnis dieser Anordnung unterscheidet sich nur in Nuancen von der vorigen. Dom Ruinart verstärkt den St. James diesmal fast so fein und kräftig wie der Dom Pérignon, die Grande Dame bleibt weiter schön, ist aber diesmal ein bisschen zickig. Und Krug mit seiner puren Kraft kann zwar gut gegen die jodige Aromenessenz des St. James drücken, dringt aber nicht durch. Auf dem Tisch glänzen einige kleine schwarze Perlen. »Jetzt passt aber mal auf«, mahnt der Verlagsmann mit strenger Stimme, »ihr könnt ja beim Frühstücksbrötchen krümeln, aber doch nicht beim Kaviar.« »Schmeckt Zuchtkaviar eigentlich sehr viel anders als Kaviar vom wilden Stör?«, fragt der Fabrikant in die Runde. Er traut sich was. Wer – außer ihm, dem Mutigen, – hätte sich sonst als Nicht-Experte geoutet? Der Gastgeber rettet die Situation: »Manchmal schon, es kommt eben ganz auf die Ware an.« D E G U S T A T I O N

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Der wahre Preis der Ware

Zwischenruf: Und was ist mit Rosé?

Während in den Süßwasseranlagen meist sibirische Störe der Familie Acipenser baerii aufwachsen, leben im Kaspischen Meer die sehr selten gewordenen Verwandten Beluga und Ossietra. Die Zuchttiere werden in der Regel nach acht Jahren geschlachtet, während wilder Stör zwanzig bis vierzig Jahre alt sein kann, bevor er gefangen wird. Auch findet er andere Nahrung als Tiere in offenen Anlagen. Daher schmeckt dieser Kaviar durchaus gehaltvoller und intensiver als Zucht-Kaviar. Wer auf dieses Quentchen Aroma nicht verzichten will, muss allerdings deutlich höhere Preise zahlen – und setzt sich dem Risiko aus, illegale Ware zu kaufen, die zudem auch noch miserabel schmecken kann. Doch sehr oft schmeckt auch Zuchtware modrig, fischig und klumpig. Kaviarproduktion ist ein sehr sensibles Handwerk, das viel Wissen und Erfahrung benötigt. Andererseits hat bester Zuchtkaviar in Blindverkostungen den Beluga bereits übertroffen.

Dieses kleine Experiment haben wir mit dem herrlichen Moët & Chandon Rosé Vintage 2003 und den Resten in den Dosen gemacht. Die kleine Runde war nach den ersten Verkostungsläufen zu einem schnellen Urteil gelangt: Das wird nichts. Denn die Gerbstoffe des Pinot Noir, Bestandteil eines jeden Rosé-Champagners, und das Salz, Bestandteil eines jeden Kaviars, prallen aneinander ab. Der Kaviar – gleich welche Sorte – schmeckt metallisch, der Champagner fast bitter. Wir haben etwas gelernt.

Versuchsanordnung 5 Prunier »Malossol«

Versuchsanordnung 4 Prunier »Héritage«

»Wann treffen wir uns eigentlich nächste Woche? Zum Nachverkosten?«, ruft es von der Stirnseite. Alle lachen, keiner antwortet, denn wir haben bereits die Héritage-Auslese im Mund. Da verbietet sich das Scherzen. Nur etwa acht bis zehn Prozent der Prunier-Produktion ist qualitativ so gut, dass sie zur »Héritage«-Auslese verarbeitet wird. Dieser Kaviar ist sehr hell und bietet ein großes Korn. Emile Prunier verkaufte ihn selbst in seinem Restaurant nur selten. Auch er wird nach alter persischer Methode hergestellt. Er schmeckt kraftvoll, ist intensiv wie eine Meerbrise, mit kaum Jod- und wenig Milch- und Fettaroma. Dieser Kaviar teilt die flüssigen Begleiter in zwei Gruppen: geht und geht nicht. Dom Pérignon geht, diesmal ist die Cremigkeit ein tragendes Element. Dom Ruinart ist dezent, verliert etwas eigenes Aroma, wirkt aber durchaus verstärkend. Die Grande Dame und ihr Charme wird vom mundfüllenden Charakter des Kaviars überrumpelt, und der Krug bleibt hart.

Die Dosen gehen und kommen. Unser Gastgeber hebt den Zeigefinger, was sonst nur selten geschieht: »Wir sind schon fast am Ende unserer Verkostung.« Verblüfft sehen wir uns an. Der Rausch der Aromen verlangt nach mehr. »Nun kommt die letzte Auslese: Malossol. Viel Vergnügen.« Wir zelebrieren noch einmal, federleicht und geübt, das Ritual zwischen Dose, Hornlöffel, Handrücken und Lippen. Der Malossol ist ein nur leicht gesalzener Kaviar, sein Name kommt aus der russischen Sprache und bedeutet übersetzt: leicht gesalzen. Der Salzanteil liegt dabei zwischen knapp drei und vier Prozent. Sein Geschmack ähnelt dem des heute geschützten Beluga. Er ist trotz der Namensgebung kräftig und intensiv, mit viel Jod und einer dichten Essenz aus Meer und Meeresfrüchten. Wieder ist nach Schnuppern, Nippen, Schlecken und kurzer Besprechung die Reihenfolge gefunden: Wieder ist Dom Pérignon mit seiner Cremigkeit und Mineralität der perfekte Begleiter.

Die Erkenntnis eines Experiments Es ist spät geworden. Zeit für ein Resümee. Was bleibt? Wir haben Kaviar in seiner puren Kraft erleben können. Ohne roten Teppich, ohne Goldschmuck, ohne Oho und Aha. Nur ein Holztisch und hervorragender Champagner, das hat genügt. Das Experiment hat uns die Augen geöffnet, warum Kaviar etwas so Einzigartiges ist: Er ist die Essenz von Meer und Fisch, von Austern und Meeresfrüchten. Konzentriert und intensiv. Die Kraft der Tiefe. Kaviar braucht keine Ergänzung, keinen Begleiter, ist sich selbst genug. Und doch begleitet ihn Champagner in Perfektion – wenn es denn der richtige unter den hervorragenden ist. »Ist noch was in der Flasche drin?«, unterbricht der Hotelier den Strom der Gedanken. Der Winzer nickt, füllt schweigend das Glas, das seines Nachbarn und gönnt sich selbst den allerletzten Schluck. Wir erheben das Glas auf den Gastgeber. Langsam ebbt der Rausch des Meeres ab. Zurück bleiben penibel geleerte Dosen, fast leere Flaschen und die Erkenntnis: Die Reduktion auf das Beste ist die Krönung des Ganzen. Oder in einem Wort: Kaviar. >

Zum Kaviar fünf große Champagner: Dom Ruinart Vintage 1998, Krug Grande Cuvée, Dom Pérignon Vintage 2000, Veuve Clicquot La Grande Dame Vintage 1998 und Moët & Chandon Rosé Vintage 2003. Jeder für sich ein Hochgenuss – beim Kaviar freilich schieden sich dann die Geister.

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N A T U R A

Küchenmodell Design ART NATURA Lachs-rot, Fronten in Echtholzfurnier mit horizontalem durchgehenden Maserungsverlauf. Furnier mit reliefartiger Struktur. Oberflächen in Bicolor Lachs-rot mit schwarzen Akzenten. Arbeitsplatten und Umfeld, filigran, 13 mm stark. Arbeitsplatte Edelstahl, Umfeld Schichtstoff Edelstahl. Unterschränke und Oberschränke öffnen und schließen sich elektronisch und komfortabel durch Antippen der Front. Gasgrill und Kochstellen von La Cornue. Das große allmilmö-Küchenbuch erhalten Fine-Leser kostenlos unter: fine@allmilmoe.com Weitere Informationen finden Sie unter www.allmilmoe.com

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+ Der Mythos darf besichtigt werden

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Ein neuer Stall für das weisse Pferd

Text: GREGOR WOLFF

Fotos: JOHANNES GRAU

Cheval Blanc. Sein 1947-er ist eine Ikone, der 1921-er ein Mythos, der

1982-er ein Gigant. Was gibt es über ein Château zu erzählen, das solche

Jahrhundertweine hervorgebracht hat? Dessen aktuelle Jahrgänge regelmäßig zum Teuersten zählen, was man aus Bordeaux bekommen kann?

Die Ansammlung von Superlativen langweilt – nach dem zehnten Weltrekord schaltet man die Olympia-Fernsehübertragung genervt ab. Genug

ist genug. Für großen Wein gilt das ebenso. Also Cheval Blanc, aber anders.

Die Sache wäre komplizierter, wenn das berühmte Gut in St. Emilion

im jahrhundertealten, generationenübergreifenden Familienbesitz wäre.

Dann wäre es still, und allein die Weine müssten sprechen.

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och es gibt etwas Glamour, von dem man berichten kann: Seit ein paar Monaten gehört Château Cheval Blanc zur Hälfte dem Luxuskonzern Louis Vuitton Moët Hennessy, kurz LVMH. Inhaber des Gutes sind der dreiundachtzigjährige belgische Milliardär Baron Albert Frère und Bernard Arnault, laut »Forbes«-Magazin der reichste Franzose mit einem geschätzten Vermögen von 16,5 Milliarden Euro. Den beiden gehört übrigens auch die Mehrheit an LVMH. Arnault ist der Aufsichtsratschef des Luxuskonzerns und – so viel Glamour muss sein – auch der Trauzeuge von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und Carla Bruni. Arnault und Frère haben also die Hälfte ihres schönen Châteaus aus ihrem Privatvermögen ins Konzernvermögen übertragen. 1998 hatten die beiden das Gut mit sechsunddreißig Hektar bester Weinberge für umgerechnet 155 Millionen Euro von der Familie Fourcard-Laussac gekauft, der das Gut seit 1832 gehörte. Was die Herren erlösten, bleibt ihr Geheimnis. Über Cheval Blanc zu schreiben, heißt, über große Summen zu schreiben. Beispielsweise bei Auktionen: Im Juni 2009 kamen im renommierten Londoner Auktionshaus Sotheby’s rund tausend Flaschen Cheval Blanc der Jahrgänge 1900 bis 1995, bestens gepflegt und nur in der Originalkiste, unter den Hammer, die alle im Keller des Châteaus gelagert waren. Die zweihundertsiebenundachtzig einzelnen Lots (Angebote) erlösten zusammen knapp 1,1 Millionen Dollar – und damit das Doppelte dessen, was die Experten des Auktionshauses geschätzt hatten.

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Auf Cheval Blanc verweht ein kühler, kräftiger Wind die vielen Nullen dieser Summen. Tag und Nacht bewegt er das Laub in den Weinhügeln und die Tischdecken auf den Terrassen der Weingüter. Dieses Klima hält die Trauben trocken und gesund. Das helle Gutsgebäude von 1860 mit spitzem Türmchen, weißen Fensterläden, einer Kapelle und großer Aussicht in die Umgebung wirkt auf Fotos wesentlich größer als es in Wirklichkeit ist. Zwischen ihm und der eleganten Orangerie stehen hölzerne Gartenstühle im Schatten von Sonnenschirmen, die im Wind flattern. Man blickt über die Weinberge hinüber zum nahen Château Figeac, das bereits in Pomerol liegt; das Dach gleich hinterm Hügel daneben gehört zu Château Pétrus. An der engen Zufahrtstraße steht ein verbeultes Schild, auf dem vor vielen Jahren jemand mit Pinsel und Schablone den Namen des MillionDollar-Châteaus aufgemalt hat. Folgt man ihm, steht man kurz darauf an der verschlossenen Sicherheitsglastür am Haupteingang des Gebäudes. Sie öffnet sich nur, wenn man der kratzigen Stimme aus dem Lautsprecher antwortet, man sei angemeldet, oder wenn man auf einem silbernen Ziffernblock den richtigen Sicherheitscode eingibt. Im oberen Stockwerk besitzt Generaldirektor Pierre Lurton ein mit hellem Holz getäfeltes Büro mit Aussicht. Auf dem großen Schreibtisch stapeln sich Akten, Zeitschriften und Kopien. Durch große Fenster blickt er auf die Weinberge, die die Gründerfamilie Fourcard-Laussac zwischen 1832 und 1871 kaufte; fünfzehn Hektar davon stammen aus dem Besitz von Château Figeac und anderen Gütern der Nachbarschaft. Erste Erfolge mit ihrem Wein erzielte


Ohne Sattel hoch zu Ross: Piere Lurton im Park vor Château Cheval Blanc

die Familie auf den Weltausstellungen 1862 in London und 1867 in Paris, die Zukunft des Gutes war gesichert. Die Abbildungen der Medaillen zieren noch heute das Etikett. Nichts veränderte sich seitdem – bis 1998 Frère und Arnault ihre Unterschrift unter den Kaufvertrag setzten. Die einundvierzig Hektar großen Weinberge des Gutes mit im Schnitt fünfundvierzig Jahre alten Reben tragen die etwas irritierende Vierfach-Klassifikation Premier Grand Cru Classé A. Sie steht auf derselben Elite-Stufe wie die von Mouton-Rothschild im Médoc. Das schlichte »Grand Cru« zeichnet in anderen Regionen die besten Lagen aus. Hier ist das aber etwas anders und nicht eben einfacher: Denn Saint Émilion Grand Cru bezeichnet nur eine Appellation contrôlée, deren Weine bestimmte, nicht allzu hohe sensorische Qualitäten erreichen. Die Bezeichnung erteilt jährlich eine Verkostungsjury; hunderte Güter schreiben sie aufs Etikett. Deutlich höherwertig sind die Grand-Cru-Classé-Weine, in die derzeit fünfundvierzig Güter eingestuft sind. Nun folgt mit den Premier Grands Crus Classés B die Top-Liga: Zu deren dreizehn Gütern gehören renommierte Namen wie Château Angélus, Château Pavie oder der Nachbar drüben am Hügel, Château Figeac. Die Spitze der Premier Grand Cru Classé A besetzen nur Château Ausone – und Cheval Blanc. Rund um das Weingut wächst zu fast sechzig Prozent Cabernet Franc, der dem berühmten Wein des Hauses seinen speziellen Charakter verleiht. Er steht zu vierzig Prozent auf sandigen Kiesböden, in derselben Fläche auf sandigem Lehm mit fester Tonschicht darunter

und zu etwa zwanzig Prozent auf Sandboden. Auf diesen Untergründen gedeiht die Sorte nirgendwo sonst im Bordelais in solch einer guten Qualität. Dazu kommt Merlot, mit rund siebenunddreißig Prozent die zweite wichtige Sorte, daneben gedeiht ein wenig Malbec und Cabernet Sauvignon. Seinen Wein beschreibt Lurton so: »Elegant wie Seide, sehr finessenreich, aber mit etwas Kühle, Minze und sehr viel Frische.« Die Familie des Generaldirektors gehört zu den wichtigsten des Bordelais. Mit ihren drei Zweigen herrschen die Lurtons über fünfundzwanzig Châteaux; Pierres Mutter trägt den Mädchennamen Lafite. In den dreißiger Jahren kaufte sein Großvater François die Hälfte von Château Margaux, tauschte seine Anteile 1947 aber gegen Château Clos Fourtet. Seine Großonkel André und Lucien kauften mit wenig Kapital, viel Kredit und einer Menge Zuversicht allein in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als ein Dutzend Châteaux. Viele waren in miserablem Zustand, denn der Zweite Weltkrieg, die Wirtschaftskrise und der zerstörerische Frost von 1956 hatten Spuren hinterlassen. Sie waren aber billig zu haben – und wurden später ein sehr gutes Geschäft. »Alle Lurtons arbeiten im Weingeschäft, sie sind auf der ganzen Welt aktiv«, erzählt er und streckt die Beine nach einem langen Arbeitstag aus, »die Mitglieder meiner Familie waren meine Geschäftspartner. Ich habe sehr lange und eng mit meinem Vater und meinem Onkel gearbeitet. Von ihnen habe ich Diplomatie und Fingerspitzengefühl gelernt, denn unsere Familienstruktur ist sehr komplex. Sich darin zu bewegen, ist nicht einfach.«

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Die Fähigkeit zur Diplomatie war ihm auch nützlich, als er den neuen Eigentümern des berühmten Gutes vorgestellt wurde. Lurton arbeitete bereits seit 1991 als Geschäftsführer im Gut; bis Frère und Arnault ihn nach dem Kauf zum Generaldirektor machten. 2004 übergaben sie ihm auch die Verantwortung für das etwa eine halbe Autostunde entfernte Château d’Yquem. »Ich wollte Arnault und Frère bei einem Meeting erklären, wie die Kunst der Assemblage funktioniert«, erzählt Lurton, »sie sollten wissen, was sich hinter dem Geheimnis von Cheval Blanc verbirgt. Also bereitete ich alles vor, um es ihnen genau vorzuführen.« Doch Baron Frère hatte wenig Geduld und noch weniger Interesse: »Was wollen Sie damit? Warum muss ich das alles wissen?«, herrschte er Lurton an. Arnault, selbst Weinkenner, musste beschwichtigen. Erst danach durfte der Generaldirektor den beiden das Prinzip erklären. Er machte es kurz: »Ich schenkte ihnen also etwas Wein ins Glas und sagte: Hier haben wir Cabernet Franc, bitte versuchen Sie. Hier haben wir Merlot, bitte probieren Sie auch. Ich bringe das nun im Verhältnis 55 zu 45 zusammen. Bitte versuchen Sie jetzt das Ergebnis.« Sie probierten, und Lurton beendete seinen kurzen Vortrag. Frère hatte verstanden, der Diplomat seine Mission erfüllt. Trotz seiner Reisen quer durch die Welt – etwa nach Argentinien, wo er in der Bodega Terrazas de los Andes den Malbec »Cheval des Andes« erzeugt (Fine 2/09) – betrachtet es Lurton auch heute noch als wichtigste Aufgabe, die Arbeit zuhause im Château zu überwachen und im Keller zu arbeiten: »Ich sehe meine Rolle als Weinmacher«, betont er. Fünf Önologen sind dort für die jährlich etwa sechstausend Kisten Cheval Blanc und zweitausendfünfhundert Kisten des Zweitweins Petit Cheval verantwortlich. Doch Lurton betont: »Wein entsteht im Weinberg. Im Keller geht es nur ums Fine-

erklärt er das Vorgehen. Auch auf spontane Gärung verzichten die Önologen, da sie so der Vermehrung der gefürchteten Brettanomyces-Hefen (Bret) vorbeugen. Nach der Gärung etwa läuft der frische Wein, bewegt allein durch die Schwerkraft, in einen unterirdischen Tank, wo er sacht von den Resten der Hefe getrennt wird. Abgepresst wird nur der Rest im

Tank, »den wir aber nur zu ein bis maximal fünf Prozent im Cheval Blanc verwenden«. Diesen Wein verwenden sie im Petit Cheval – »aber nur, wenn die Qualität stimmt.« Im Fass wird der Wein alle drei Monate abgezogen, um ihn vollständig zu klären. Dies geschieht auf denkbar einfache Weise. Man braucht: zwei Mann, ein volles Fass, ein leeres, eine Taschenlampe und einen Aquariumschlauch. »Einer saugt den Wein mit dem Mund durch den Schlauch an und hält ihn in die Öffnung des leeren unterhalb liegenden Fasses. Durch den Unterdruck läuft der Wein nun aus dem vollen Fass heraus. Der zweite Mann beobachtet mit der Taschenlampe sehr genau, wann der herausfließende Wein anfängt, trüb zu werden. Das geschieht, wenn die Flüssigkeit sich dem Bodensatz nähert. Dann wird der Schlauch sofort herausgezogen und das Umfüllen gestoppt.« Mit dem Wein des nächsten Barriques aus der Parzelle wird das Fass bis zum Rand gefüllt und verschlossen. Die Weinreste mit den Hefebestandteilen sammeln die Weinmacher in einem separaten Holzfass, das später ebenfalls geklärt wird und – bei ausreichend guter Qualität – im kleinen Cheval Verwendung findet. Es ist eine mühsame Arbeit: »Wir schaffen nur etwa fünfunddreißig Fässer am Tag«, berichtet der Öno-

In bemessener Menge verlassen die begehrten Flaschen die Keller von Château Cheval Blanc: Sechstausend Kisten müssen für den Weltmarkt genügen. tuning.« Doch niemand, der den Keller betritt, würde vermuten, dass hier einer der besten und teuersten Weine der Welt entsteht. Es geht nicht einmal hinab, denn der Keller liegt überirdisch in einem Anbau des Gutshauses, erkennbar aus den sechziger Jahren. Der Eingang ist hinten, also geht’s erst einmal ums Gebäude herum. Auf engem Raum drängen sich hier die Stahltanks, selbst die Betontanks aus früheren Jahrzehnten finden noch immer Verwendung. Bei vielen größeren Familienbetrieben in Rheinhessen sieht es nicht anders aus. Auf herbstbunten Standardfliesen stapeln sich nebenan, indirekt beleuchtet, die Barriques in mehreren Reihen. Hier ruht alles, was Cheval Blanc vom Jahrgang 2008 anbieten wird. »Unsere Technik ist sehr unspektakulär und schon ein klein bisschen altmodisch«, erklärt Pierre Olivier Clouet fast entschuldigend. Der junge Weinmacher hat in der Normandie ein Studium der Agrarwissenschaften absolviert und ein Weinbau-Studium an der renommierten Ecole du Vin in Bordeaux drangehängt. Sofort nach seinem Abschluss bekam er den Job als Önologe bei Cheval Blanc. Eine spektakuläre Karriere. »Wir haben unsere Weinberge in zweiunddreißig Parzellen eingeteilt, weil sie sich aufgrund ihres Terroirs aromatisch sehr unterscheiden«, erzählt er, »jede Parzelle wird einzeln in einem separaten Tank ausgebaut. Erst nach dem Ausbau entscheiden wir, ob und wie viel davon in die Cuvée des Cheval Blanc eingeht.« Das Team erzeugt nur etwa fünfunddreißig Hektoliter pro Hektar; um den Ertrag zu begrenzen, werden die Trauben im Sommer geteilt. Zwanzig Monate reift der Wein in neuer französischer Eiche, damit er »Struktur und Tannin« erhält: »Wir lieben Eiche«, sagt Clouet. Von der Gärung bis zum Fass wird der Wein höchstens »ein-, zweimal und sehr vorsichtig« gepumpt, »damit wir jede Oxidation vermeiden«, (%

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Traditionsbewusst, in großer Ruhe liegt Château Cheval Blanc in der Weinlandschaft von St. Emilion. Seine Weine sind als Premier Grand Cru Classé A klassifiziert, in St. Emilion das höchste der Gefühle. loge. Alle drei Monate wird bei Cheval Blanc während der achtzehnmonatigen Fassreife gesaugt, gepumpt und geleuchtet. Doch Versuche haben gezeigt, dass der Wein so am besten seine Aromatik entwickeln kann. Der kleine Nachteil: »Wir brauchen fast doppelt so viele Barriques, als wenn wir den Vorgang von einem Standard-Pumpsystem mit Tank erledigen lassen würden. Das ist sehr teuer. Doch die Sache ist es wert. Die Weine bleiben dichter und komplexer.« Die Cuvée erledigen die fünf Weinmacher nach sechs Monaten Fassreife gemeinsam mit Generaldirektor Lurton: »Es gibt keine Vorgaben, wie die Anteile der Rebsorten sein sollen oder wie viele Flaschen wir erzeugen. Es muss am Ende ein typischer Cheval Blanc sein.«


Danach reift die Cuvée ein weiteres Jahr im Holz. Klebt schließlich das legendäre Etikett auf der Flasche, erlöst sie – seit dem Jahrgang 2005 – über 400 Euro. 2006 lag der Subskriptionspreis bei 480 Euro, und der 2007-er kostet bereits um 500 Euro. Diese Entwicklung bewertet Lurton sehr nachdenklich: »Das ist ein großes Problem der großen Weine. Wer einen hervorragenden Wein trinken will, muss dafür ordentlich etwas hinlegen«, räumt er offen ein. »Cheval Blanc beispielsweise ist eine Luxusmarke – sehr teuer und sehr rar. Lasse man sich aber von den manchmal irrationalen Gesetzen des Sammlermarktes nicht beeinflussen, könne man »durchaus einen Spitzenwein für weniger Geld bekommen«. Das Jahr 2000 etwa sei nach seiner Ansicht »kein besonders gutes Jahr gewesen, aber ein begehrter Jahrgang für Snobs, schwerreiche Russen und Amerikaner.« Er bevorzuge dagegen den 98-er. Das sei »ein großer Wein, der im Verhältnis viel günstiger zu haben ist«. Und 2008? »Das wird ein Jahr für Kenner«, orakelt er. Es macht neugierig, lässt aber sehr viel Raum für Interpretation. Dieses Spiel beherrscht Lurton perfekt. Der Gutsdirektor sucht etwas zerstreut eine Mappe. Er findet sie erst, nachdem er den Raum und seine Ablagen einmal durchforstet hat, irgendwo zwischen großformatigen Coffeetable-Books. Auf bunten Bildern zwischen einer Klarsichthülle befindet sich der ausgearbeitete Plan der Revolution in St. Emilion. Denn Pierre Lurton lässt einen neuen Keller für Cheval Blanc bauen. Das alleine ist noch kein Grund, gleich die Revolution auszurufen, wie er es mit großer

Geste tut. »Die werden mich alle ein wenig für verrückt halten«, ruft er aber, und seine Hand zeigt im Kreis weit über die Hügel der Region, wo die anderen Châteaux in der Abendsonne zu sehen sind. Der graue Anbau des »Chai«, in dem Pierre Olivier Clouet und seine Kollegen den Wein ausbauen, soll ersetzt werden durch ein Bauwerk, das, so viel ist sicher, für Gesprächsstoff sorgen wird. Erdacht hat es der Pariser Stararchitekt Christian de Portzamparc.

Ein neuer Keller entsteht, ein »Monument des neuen Bordeaux« Das von weitem erkennbare Monument des »neuen Bordeaux« wird eine schräg in den Himmel ragende Betonrampe, die sich unterhalb der Mitte einmal um sich selbst dreht und so eine Helix bildet. Oben an der Kante entsteht eine Plattform, von der aus die Besucher einen grandiosen Rundblick auf St. Emilion und Pomerol genießen können. Etwa zehn Millionen Euro soll der siebentausend Quadratmeter große Neubau samt Landschaftspark kosten. »Ein ganz normaler, gut ausgestatteter Keller kostet doch fast dasselbe«, kommentiert Lurton die Summe mit lässiger Handbewegung. Neu ist, dass Park und Aussichtsplattform für Weintouristen zugänglich sein sollen. Es wäre das erste der sonst gegenüber Publikum sehr reservierten Top-Chateaux, das die Pforte in das Reich der großen Weine zumindest einen Spalt weit öffnet. Der Mythos darf besichtigt werden. Der Wein bleibt, was er ist. Ein großer Wein. Seit mehr als hundertfünfzig Jahren. >

Pekka Nuikki und Ralf Frenzel verkosten die besten Jahrgänge Cheval Blanc 1921 Château Cheval Blanc (2007 / 2015 ›‹ 17 D 30 min / G 2 h) Verkostung siehe: »Die zehn begehrtesten Weine«, Seite 40

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1929 Château Cheval Blanc (2007 / 2010 ›‹ 13 D 1 h / G 1 h) 96 P Das letzte Mal tranken wir diesen prächtigen Château Cheval Blanc beim Abendessen in der Domaine de Chevalier. Wir verkosteten ihn blind. Es war relativ einfach, den Jahrgang zu schätzen. Er besaß die ganze charakteristische Süße und den Charme des Jahrgangs 1929. Immer noch sehr frisch und himmlisch. Eine Stunde dekantiert. Überaus harmonisch und ausgewogen. An der Nase reichhaltige Aromen von reifer Frucht, Tabak und Mineralien. Vollmundig mit einer fabelhaften Ausgewogenheit zwischen herrlichen, reichen Fruchtgeschmacksnoten, einer seidigen Textur und gerade genug Griff, um ihn lebendig zu erhalten. Großzügige Noten von weißer Schokolade und geschmeidigem Kaffee im Abgang. Trinken Sie ihn jetzt. 1947 Château Cheval Blanc (2007 / 2030 ›‹ 53 D 2,5 h / G 2 h) Verkostung siehe: »Die zehn begehrtesten Weine«, Seite 38

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1949 Château Cheval Blanc (2005 / 2015 ›‹ 23 D 45 min / G 1,5 h) 95 P Ein superstarker Wein aus diesem extremen Jahrgang. Die verregnete und kalte Blütezeit verringerte den Leseertrag. Darauf folgte eine extreme Hitzewelle von 43 Grad Celsius und später Gewitter. Während der Weinlese wurde das Wetter doch noch schön. Es wurde (wieder einmal) ein superber Cheval-Blanc-Jahrgang. Gute Château-Abfüllung mit Füllhöhe bis zur oberen Schulter. 45 Minuten dekantiert. Tiefes, intensives und leuchtendes Mahagonirot. Eine reichhaltige Nase aus reifen, dunklen Beeren und Pflaumen, dazu Gewürze mit Mineraltönen. Die reifen Fruchtnoten machen den Geschmack sogar noch süßer und stehen im Einklang mit dem mäßigen Säureanteil und den reifen, weichen Tanninen. Langer, eleganter und üppiger Abgang. Jetzt sehr verlockend, doch er wird sich auch noch ein paar Jahre halten. 1950 Château Cheval Blanc (2005 / 2012 ›‹ 21 D 30 min / G 1 h) 98 P 1950 ist ein in Bordeaux wenig geschätzter Jahrgang, und das auch in vielen Fällen zu Recht. Doch in Pomerol, St. Emilion und Teilen von Graves war dies ein hervorragender Jahrgang. Der 1950-er Cheval Blanc ist sehr reichhaltig, konzentriert und jugendlich. Es gibt zahlreiche verschiedene Händlerabfüllungen dieses Weins – die meisten sind ausgezeichnet. Er braucht nur eine kurze Dekantierungsdauer und sollte innerhalb von etwa einer Stunde getrunken werden. Die vorliegende Nicholas-Abfüllung war in hervorragendem Zustand. Füllhöhe bis zum Hals. Vor der Verkostung 30 Minuten dekantiert. Was für eine Farbe – leuchtender und jugendlicher als der 1982-er Château Cheval Blanc. Sehr umfangreiche und offene Nase mit einem exotischen Bukett aus reifer Frucht, Karamell, Minze und Zeder. Der Cheval Blanc 1950 ist immer noch ein herrlich süßer, üppiger und vollmundiger Wein mit edlen, weichen Tanninen. Diesmal zeigte er mehr Textur, Struktur und Konzentration als der berühmte 1947-er. Extra langer und vieldimensionaler Abgang. Es ist sehr schwer, ihm zu widerstehen. 1952 Château Cheval Blanc (2005 / 2020 ›‹ 14 D 2 h / G 2 h) 97 P Das muss das beste Preis-Leistungsverhältnis sein, das sich bei einem Cheval Blanc finden lässt. Der Jahrgang war in Bordeaux allgemein ein guter, doch ganz besonders auf der rechten Seite. Der warme Frühling und heiße Sommer von Juni bis Ende August sorgte für einen guten Vegetationsverlauf für die Reben. Nur der kalte September zerstörte die Träume von Spitzenqualität. Dieser Wein war bei jeder Degustation köstlich. Schon das

volle, klare Ziegelrot verrät die Reichhaltigkeit des Weins. Die kräftige, doch elegante Nase enthüllt reife dunkle Früchte, hauptsächlich schwarze Johannisbeeren, Bitterschokolade, Kaffee und Gewürze. Ein fast vollmundiger Geschmack. Sehr üppig, fleischig, mit einer samtigen Textur. Die Tannine sind sanft, aber fest, und der Abgang ist sehr ausgewogen. Der Wein lässt sich jetzt perfekt trinken, doch er besitzt die richtigen Eigenschaften, um sich noch mehr als ein Jahrzehnt zu halten. Aber warum warten, wenn er eindeutig nicht mehr besser wird? 1953 Château Cheval Blanc (2006 / 2015 ›‹ 16 D 2 h / G 2 h) 95 P Die Flasche war in einem ausgezeichneten Zustand. Füllhöhe bis zum Hals. Nur eine halbe Stunde vor der Verkostung dekantiert, was eindeutig zu kurz war. Der Wein muss mindestens zwei bis drei Stunden vor dem Trinken atmen. Erstklassige, leuchtende und sogar jugendliche Farbe. Abgerundetes, reichhaltiges, reifes Bukett. Zuerst ein überraschend bescheidener und einfacher Wein, auch wenn er von Anfang an sehr elegant und stilvoll war. Doch nachdem er drei Stunden im Glas geatmet hatte, veränderte er sich völlig. Reichhaltig und vollmundig mit jeder Menge Früchte und Kraft. Ein sehr ausgewogener, überzeugend vornehmer und grandioser Wein. Geduld zahlt sich hier aus. Viele Male aus verschiedenen Flaschen verkostet – mit ähnlichen Ergebnissen. 1964 Château Cheval Blanc (2005 / 2020 ›‹ 21 D 1 h / G 2 h) 95 P 1964 brachte eine der größten Lesen seit dem Zweiten Weltkrieg hervor. Der Jahrgang wird überall als ein sehr guter angesehen, vor allem im südlichen Médoc und auf der rechten Seite. Das Château Cheval Blanc war in diesem Jahr eines der erfolgreichsten Weingüter von Bordeaux. Eine sich mäßig entwickelnde, intensive gelbbraune Farbe. Üppige und zurückhaltende Nase mit süßen Fruchtaromen, Zeder und Gewürzen. Die reifen Tannine zeigen am Gaumen von mittlerem Körper immer noch einen guten Griff und eine mineralische Note. Die Menge der sich verflüchtigenden Säure verleiht der reifen Traube und dem zarten Abgang eine attraktive Kante. Der Wein mit seinem bescheidenen Alkoholanteil von 12 % Vol. bietet immer noch eine angenehme und vollmundige Eleganz. 1982 Château Cheval Blanc (2006 / 2025 ›‹ 4 D 2,5 h / G 3 h) 98 P Bei diesem beachtlichen Jahrgang reifte die außergewöhnliche Mischung für den Cheval Blanc auf ideale Weise. Die Mischung bestand aus 60 % Cabernet Franc, 34 % Merlot, 1 % Cabernet Sauvignon und 4 % Malbec. Diese Kombination brachte einen Wein hervor, der eine kräftige kirschrote Farbe und eine äußerst elegante, charmante und vielseitige Nase aus Schokolade, Mokka, reifen Johannisbeeren und Andeutungen von Toffee hat. Der mittlere Körper am Gaumen ist zwar sehr zart und edel, doch konzentriert. Ein vollmundiger Wein mit lebhafter Säure und mineralischem Charakter, intensiver Fruchtigkeit, unterstützt von kompakten, reifen Tanninen. Im nachhaltigen Abgang dominieren Geschmacksnoten von geröstetem Kaffee und Schokolade. Seine immense Konzentration und harmonische Ausgewogenheit garantieren ein langes Alterungspotenzial dieses köstlichen Weins. 1990 Château Cheval Blanc (2006 / 2010 ›‹ 27 D 3 h / G 3 h) 98 P Ausgezeichnete Magnum. Drei Stunden dekantiert. Trübes, dunkles Rubinrot. Kräftiges und zugleich diskretes Bukett aus reifer Frucht, Kaffee, Minze und Mineraldüften. Ein wunderbar reichhaltiger, vollmundiger, mächtiger und konzentrierter Wein mit Schicht um Schicht reifer, exotischer Frucht. Der 1990-er Cheval hat einen überwältigend vollen Körper. Er ist gut ausgewogen, rein und hat vielleicht ein wenig mehr Tannin als der 1989-er. Ausgezeichneter Griff und nachhaltiger, aufregender, recht tanninhaltiger Abgang.

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Klima & Lage

»Haut-Brion hat die Anpassung schon hinter sich« Interview: UWE KAUSS!Foto: GUIDO BITTNER

Der Weinbau-Experte Professor Hans Reiner Schultz, Direktor der Forschungsanstalt Geisenheim, über die Kardinalfragen des Klimawandels, das Glück des Bordelais und die Optimumskurve großer Weine Professor Schultz, Sie beschäftigen sich seit Anfang der neunziger Jahre mit Weinbau und Klimawandel. Wann haben Sie denn wahrgenommen, dass sich etwas verändert? Bereits während meines Studiums habe ich mich mit Agrar-Meteorologie beschäftigt. Damals war viel mehr als heute das Thema Ozonloch und UV-Strahlung ein wichtiges Thema, obwohl die UV-Belastung heute viel höher als noch vor dreißig Jahren ist. Zu Beginn der neunziger Jahre kamen die ersten wissenschaftlichen Modelle und Diskussionen über den Klimawandel auf. Mich hat das Thema interessiert, da Weinbau eine sehr langlebige Kultur ist. Wer heute Rebstöcke pflanzt, will in vierzig Jahren noch ernten können. Doch sie gehören zu den klimatisch sensibelsten Kulturen in der Landwirtschaft.

Welche Rolle spielt dabei das Bordelais als eines der größten Anbaugebiete der Welt und zugleich der Heimat ganz großer Weine? Es gibt Regionen, in denen über Jahrhunderte immer dieselben Sorten kultiviert wurden. Da fängt es an eng zu werden, wenn man in die Zukunft blickt. In den Diskussionen wird immer gesagt, man müsse dann halt ans Klima angepasste Sorten pflanzen. Aber das ist nicht einfach, wenn eine Region so spezialisiert ist wie Burgund oder das Bordelais. Berechnet man die Klimaaufzeichnungen seit Beginn der verlässlichen Datenreihen, beim Wein etwa vom 18. Jahrhundert an, so findet man kontinuierlich ansteigende Temperaturwerte, am stärksten seit den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Bordelais war daher ein interessanter Ansatzpunkt für Forschungen. Mein Freund Greg Jones von der University of South Oregon fiel bereits damals auf, dass sich dort sehr viel verändert hat, obwohl die großen Châteaux, betrachtet man deren Philosophie, ja ausdrücklich nichts anders machen wollen. Schon beim Cool-Climate-Symposium 1999 in Melbourne wurde das Thema sehr intensiv diskutiert, es entstanden viele wissenschaftliche Publikationen.

Welche Faktoren haben sich denn laut Ihren Erkenntnissen verändert? Die Durchschnittstemperatur des Bordelais ist um etwa ein Grad Celsius gestiegen. Früher hat man diesen Jahresdurchschnitt zur Betrachtung herangezogen, aber die ist

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für Reben ja nicht relevant. Es kommt auf die Zeit zwischen April und Oktober an. Aber vor allem während der Vegetationsperiode ist es dort heute deutlich wärmer als vor dreißig Jahren. Die Jahrgänge sind kontinuierlich besser geworden. Betrachtet man aber die Vorhersagen, so wird es allerdings in Zukunft im Sommer deutlich zu trocken.

und können zeigen, dass wir heute – bei genau gleicher Bewirtschaftung wie damals – Trauben mit fast zwanzig Grad höherem Oechslewert ernten. Im Bordelais ist diese Zunahme etwas geringer, weil die Ausprägung umso stärker ist, je mehr man nach Norden geht. Am 50.%Breitengrad ist die Zunahme sehr viel deutlicher spürbar als am 47. Aber die Veränderung ist ein Fakt.

Viele Winzer beobachten eine scharfe Trennung der Jahreszeiten: Feuchte Winter, trockene und heiße Sommer. Welchen Einfluss hat das auf den Wein?

Viele Winzer sehen sich als Gewinner der Klimaveränderung.

In manchen Regionen mag das zutreffen, aber man muss vorsichtig sein. Irgendwo in Südeuropa verläuft eine fließende Grenze. Folgt man den Prognosen, werden viele südliche Regionen künftig weniger Niederschläge im Winter und zugleich weniger Niederschläge im Sommer verzeichnen. Das größte Problem, das auf uns zukommt, ist nicht die höhere Temperatur. Reben kommen mit einem heißeren und einem kühleren Jahr gut zurecht. Nur: Warme Luft kann Feuchtigkeit deutlich besser halten als kühle. Die aktuellen Klimamodelle zeigen, dass in Deutschland und Frankreich, und damit auch im Bordelais, die Variabilität der Temperatur drastisch zunehmen wird. Schlagartige Abkühlungen führen dann zu sintflutartigem Starkregen. Statistisch ist das bislang nur schwer abzusichern, aber die Tendenz zeigt klar, dass wir uns auf beide Extremsituationen einstellen müssen: Sehr lange Trockenphasen und schlagartige, extreme Niederschlagsereignisse. Die Schadens- und Fäulnisrisiken steigen in solchen Szenarien massiv an.

Über die Genauigkeit der Prognosen gibt es eine große Diskussion unter Klimaforschern und Kritikern. Wie ist Ihre Ansicht? Sämtliche für den Wein relevanten Klimamodelle haben eine große Unbekannte: Selbst die regionalisierten Berechnungen auf zehn mal zehn Kilometer können hervorragend die Entwicklung der Temperaturen prognostizieren. Sie können aber regionale Veränderungen des Wasserhaushalts nur unzureichend beschreiben. Im Sommer 2007 ist England fast abgesoffen, und in denselben Tagen hatten die deutschen Trauben Sonnenbrand. Die Grenze, in der das Klima in die eine oder andere Richtung ausschlägt, ist aber bislang nicht definiert. Es kann sein, dass die Veränderung für uns positiv ausgeht, es können aber ebenso diese unvermittelt umschlagenden Wetterbedingungen entstehen. Dann haben wir alle ein Problem.

Viele Winzer nicht nur im Bordelais behaupten, die Klimaveränderung sei Panikmache. Wie begegnen Sie dem? Wir arbeiten mit sehr genauen Daten desselben Weinbergs über einen Zeitraum von fünfunddreißig Jahren

Es gibt eine Optimumskurve für großen Wein. In den vergangenen fünfzig Jahren haben wir uns aus einem suboptimalen Bereich sehr langsam in einen optimalen bewegt. Nur: Über dem Optimum folgt wieder ein Suboptimum. Der Charakter der Weine hat sich bereits verändert – gewollt oder ungewollt. Der Kunde ist dem gefolgt und hat seinen Geschmack angepasst. Der Alkoholgehalt vor dreißig Jahren beispielsweise war viel geringer als heute. Das Bordelais hat aber eine recht breite Optimumskurve. Das Glück des Bordelais ist es, dass Sorten wie Cabernet Sauvignon und Merlot eine große Spannbreite von Anbaubedingungen tolerieren. Sie vertragen eine Menge Wärme, obwohl die Weine damit einen anderen Charakter erhalten. Insofern wird sich im Bordelais tatsächlich zunächst nichts grundlegend ändern.

Was müssen die Winzer tun, um die Komplexität eines großen Weins zu erhalten? Ich glaube, die Weine haben sich bereits verändert. Das geschieht sehr langsam und schleichend. Uns ist das nicht bewusst, einfach, weil wir ja keine richtige Referenz besitzen. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Alles Gegensteuern, etwa bei der Ausrichtung der Rebzeilen im Weinberg, dämpft das Problem nur. Auf den Status von vor dreißig Jahren wird ein Winzer seinen Weinberg niemals zurückbringen. Die große Herausforderung des Bordelais wird aber vor allem sein, die hohen pH-Werte ihrer Weine nicht noch weiter steigen zu lassen. Auch das hat sich schleichend bereits verändert. Denn mehr Wärme während der Traubenreife führt zu weniger Säure. Das macht einen Wein mikrobiologisch problematisch und nicht sehr lange lagerfähig. In der Vergangenheit gab es dieses Problem fast nicht. Doch durch die höheren Sommertemperaturen müssen sich die Châteaux damit auseinandersetzen, zudem benötigen sie viel höhere hygienische Standards im Keller als früher. Sie dürfen dem Wein mittlerweile Säure zusetzen, und nur, um den pH-Wert zu stabilisieren. Ob zugesetzte Säure nach vierzig Jahren Lagerung irgendwelche Auswirkungen auf das Aroma hat, weiß man allerdings noch nicht. Zur Philosophie von Pétrus oder Cheval Blanc gehören zudem eher 12,5 als 13,5 Prozent Alkohol, sie sind eher filigran als wuchtig. Es wird in Zukunft eine große Herausforderung für die Güter sein, diesen Stil so weiter zu verfolgen. >


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Unsere Winzer gehen ihre eigenen Wege. Und das kommt an. Die Neugier f端hrte sie zu Weing端tern in aller Welt, ihre Heimatliebe wieder nach Rheinhessen. Jetzt machen unsere Winzer ausgezeichnete Weine jenseits ausgetrampelter Pfade. Unsicher waren sie sich nur, ob man das in wenigen Zeilen vermitteln kann. Mehr Wissenswertes unter www.rheinhessenwein.de


Vollender des Barbaresco Angelo Gaja ist heute auf der Höhe seiner Winzerkunst

Mit dem charismatischen Blick eines Condottiere und dem Gemüt eines sanften Patriarchen: Die Via Torino von Barbaresco ist das Reich von Angelo Gaja. Hier ist er verwurzelt.

Text: SUSANNE REININGER

Fotos: JOHANNES GRAU

»Si, tutto Gaja!« Die Piemonteserin in der bunt gemusterten

Täler winden, bis man schliesslich angekommen ist. Hinter

Kittelschürze zeigt mit einer ausladenden Armbewegung über

dem Ortsschild von Barbaresco macht die Strasse eine steile

eine imposante Hügelkette mit streng gescheitelten Wein- Linkskurve und geht in die Via Torino über, die Hauptstrasse

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Hängen. Die Bauersfrau deutet auf eine Erhebung mit einem

des Hügeldorfs. Rechterhand eine Kirche, eine Trattoria, ein

Turm: Barbaresco. Der Torre di Barbaresco, das Wahrzeichen

Postamt und ein unscheinbares Backsteingebäude mit grau-

des Städtchens, sei ein guter Orientierungspunkt und nur

blauem Metalltor. Der darauf zurollende Traktor, dessen

einen Katzensprung entfernt. Kaum hat sie die Empfehlung

Anhänger ein halbes Dutzend Kisten mit Lesegut geladen

ausgesprochen, zieht sie sich in ihr Haus zurück und wartet

hat, und das Messingschild mit der Aufschrift »Gaja« signali-

hinter dem Küchenvorhang, bis der fremde Wagen vom Hof

sieren: Ziel erreicht! Der Traktorfahrer hupt zweimal, das

verschwunden ist. Ein Katzensprung, das wird schnell klar,

Metalltor faltet sich ächzend zur Seite und gewährt Ein-

bedeutet in der norditalienischen Langhe-Region schmale,

lass in das Reich des wohl berühmtesten Winzers Italiens:

kurvenreiche Strassen, die sich endlos über Kämme und durch

Angelo Gaja, Jahrgang 1940.

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or neunundvierzig Jahren übernahm er das 1859 von seinem Urgroßvater Giovanni gegründete Familienunternehmen und baute es dank seiner Qualitätsphilosophie zu einem internationalen Spitzen-Weingut aus. Gaja produziert den klassischen Barbaresco D.O.C.G. und fünf Einzellagen-Weine aus der Nebbiolo-Rebe: Sori San Lorenzo, Sori Tildin und Costa Russi aus der Barbaresco-Gegend sowie Sperss und Conteisa aus dem Barolo. Weine aus diesen Lagen zählen zu den größten und teuersten der Welt. Selten sind sie für weniger als hundert Euro zu haben, Preise von zweihundert bis vierhundert Euro sind keine Seltenheit. Der amerikanische Weinkritiker Robert M. Parker bezeichnet den piemontesischen Winzer als »Italiens faszinierendsten und revolutionärsten Weinmacher«. Der Wine Spectator wählte Angelo Gaja 2008 zum »Man of the Year«. Kein anderer Winzer seines Landes errang so oft wie er die höchste Auszeichnung des italienischen Weinführers Gambero Rosso, die begehrten »drei Gläser« – bislang dreiundvierzig Mal. Als beste Jahrgänge der GajaWeine gelten 1961, 1971, 1978, 1982 und 1983, 1985, 1988 bis 1990. Bei den jüngeren Weinen werden die Jahre 1996, 1998 sowie 2005 bis 2007 als beachtenswert aufgeführt. »Ich hatte eben Glück, viel Glück!«, hält der Weinmacher seinem legendären Ruf entgegen und betont mit steter Beharrlichkeit, er sei schlicht ein »Artisan«, ein Handwerker. »Ich lebe und arbeite auf einem einzigartigen Flecken Erde: In Italien haben wir eintausendfünfhundert verschiedene Rebsorten, kein anderes Land der Welt hat so viele. Hier im Piemont ist die NebbioloTraube die Königin. Sie ist einmalig und versteckt sich hinter ihrer rauen Schale: viel Säure und viel Tannin. Mein Ehrgeiz war es, diese Eigenschaften zu zähmen, um all ihre Facetten zu entfalten.« Ein sinnierendes Lächeln, dann wird der Blick hinter seiner Goldrandbrille ernst. Angelo holt Luft und setzt erneut zum Erzählen an. Nun beruft sich der Pionier des italienischen Weinbaus lieber auf sein familiäres Erbe, auf mehr als einhundertfünfzig Jahre Gaja und damit auf

Der frische Charme der nächsten Generation: Gaia Gaja trägt die Tradition des Piemonteser Weinguts in die Zukunft. die Geschichte einer Piemonteser Familie, die ihren eigenen Weg ging, durch Beharrlichkeit und Eigensinn den Mitstreitern immer einen Schritt voraus war. So unterhielt Urgroßvater Giovanni eine kleine Trattoria und bewirtschaftete zugleich zwei Hektar Rebfläche. Denn er wollte seine Gäste nicht nur mit gutem Essen bewirten, sondern auch mit eigenem Wein. Wem dieser mundete, der konnte eine Ration im Glasballon mit nach Hause nehmen. Andere Weinbauern hingegen verkauften ihre Trauben lieber an die Weingroßhändler, die Negozianti. Während die Nachbarn von deren Preispolitik abhängig waren und kaum auf einen grünen Zweig kamen, fand Giovannis Wein mehr und mehr Abnehmer. So gab er die Gastwirtschaft auf, kaufte vom Ersparten noch ein wenig Rebfläche hinzu und gründete 1859 ein Weingut. Als einer der ersten Winzer Italiens füllte Urgroßvater Gaja seinen Wein nicht nur in Fässer, sondern auch in Flaschen ab.

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em Gründervater Giovanni folgte Sohn Angelo in der zweiten sowie dessen Spross Giovanni in der dritten Generation. Giovanni kaufte gezielt Lagen hinzu. Denn er arbeitete nicht nur als Weinbauer, sondern auch als »Geometra« – als Landvermesser und Landschaftsarchitekt. Zudem war er sechzehn Jahre lang Bürgermeister von Barbaresco. So erfuhr er als einer der ersten, wenn jemand seinen Grund und Boden verkaufen wollte. Dieses Wissen brachte ihm manche Lage zum Schnäppchenpreis ein. Unter der Ägide des weitsichtigen und umtriebigen Giovanni wurde Gaja zu einem der Spitzengüter Italiens. Sein Barbaresco, den der Piemonteser Winzer mit Beharrlichkeit ebenso teuer anpries, war nun auf Augenhöhe mit dem »großen Bruder« Barolo aus den großen Lagen in Brunate, Cerequio, Rocche di La Morra und Cannubi. Gajas Jahrgang 1961 wird als Höhepunkt für den Barbaresco jener Region bezeichnet.

Ein großer Wein soll ruhig auch einen kleinen »difetto« haben: Das gibt ihm erst seine wahre Identität.

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Im dunstigen Licht, über den weingrünen Hügeln des Piemont: Barbaresco ist die Heimat der ausdrucksstarken Weine von Angelo Gaja.

Doch das Flaggschiff von Gaja verließ nie die heimatliche Region. »Als ich unseren Vigneto im Jahr 1961 von meinem Vater übernahm, hatte er für ihn mit fast einundzwanzig Hektar Rebfläche die perfekte Größe; aus dem Ertrag wurden etwa sechzigtausend Flaschen im Jahr produziert. Doch die Kundschaft beschränkte sich vorwiegend auf den Nordwestteil Italiens, das Piemont sowie auf die Lombardei, Ligurien und ein Eckchen von Rom«, erinnert sich Angelo. Deshalb betraute ihn sein Vater mit der Aufgabe, den Wein in die Welt hinauszutragen. Um die Einzigartigkeit seines Weins zu betonen, entwarf Giovanni bereits 1937 ein Etikett, auf dem nicht das Anbaugebiet, sondern der Erzeuger im Mittelpunkt stand: Ursprünglich rot, dann in weißen Lettern auf schwarzem Untergrund prangte »GAJA« auf dem Label. Im Laufe der Jahrzehnte diversen Moden angepasst, in den Siebzigern verziert mit Silberstreifen, blieb das Basisdesign mit den vier Buchstaben jedoch stets gleich. In den Achtzigern ließ Angelo Gaja dem Wein ein schlichtes Gewand in Schwarz-Weiß verpassen. Es ziert noch heute den Barbaresco D.O.C.G. und andere Spitzenweine des Guts. »Das war nicht einfach nur Marketing, das war revolutionär«, kann sich Angelo heute noch begeistern. Auch dem Wein seines Vaters zollt er »höchsten Respekt«: Aus der Nebbiolo einen hochwertigen Barbaresco zu vinifizieren, sei damals nicht leicht gewesen. »Es gab noch keine Stahltanks, keine kontrollierte Gärung, keine !)

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kleinen Fässer. Auch die Kellerhygiene war eine ganz andere als heute. Erst 1964 gab es endlich fließendes Wasser in unseren Häusern und eine Kanalisation.« Dafür sorgte sein Vater als Bürgermeister.

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as erste Jahr von Angelo Gaja auf dem elterlichen Weingut war zugleich auch das letzte, in dem fremdes Lesegut zugekauft wurde. Seitdem werden bei Gaja ausschließlich Trauben aus eigenem Bestand verarbeitet. Außerdem verordnete er den Reben einen Radikalschnitt: »Als ich Vaters Weingut übernahm, wurde zwischen den Rebzeilen noch Gemüse angepflanzt, Bohnen und Weizen. Zuvor ließ man noch vierundzwanzig, fünfundzwanzig Reben am Stock«, erläutert Gaja. Um mehr Qualität zu erhalten, halbierte er die Anzahl. »Wir waren die ersten im Piemont, die das getan haben, und die anderen Weinmacher raunten: ›He, bist du verrückt? Das wird schief gehen!‹«, erzählt er mit einer jungenhaften Freude. Es ging nicht schief. Und weil fünfzig Prozent noch nicht genug waren, sich im Frühjahr noch immer zu viele Augen ausprägten, führte er 1991 den systematischen Rebschnitt im Frühling ein. »Ein Weingut braucht Innovation und neue Energie. Das ist nicht so einfach zu erklären, und viele Konsumenten haben eine zu romantische Vorstellung von der Weinherstellung«, sinniert der italienische Weinpionier. »Die Leute glauben, dass Tradition das A und O sei, und gerieten sicher in schiere Verzückung, wenn ich

behauptete, ich würde Wein machen wie zu Urgroßvaters Zeiten.« Aber auch nicht alle modernen Techniken seien brauchbar. Als bodenständiger Handwerker müsse man in der Lage sein zu erkennen, »was einen Wein wirklich besser macht und was nur Kosmetik ist.« Sein Weinmacher Guido Rivella, der ebenfalls einen hervorragenden Ruf genießt, wäge sehr genau ab, »was unsere Qualität wirklich nach vorne bringt«. Begierig auf der Suche nach neuen Lösungen und Techniken verbrachte Angelo ein Jahr an der renommierten Hochschule für Weinbau in Montpellier, besuchte die berühmten Anbaugebiete im Burgund und bereiste Kalifornien. Dort beeindruckte ihn die Experimentierfreudigkeit von Robert Mondavi. Dieser habe bewiesen, dass man unter Verwendung französischer Methoden Frankreich durchaus ebenbürtig sein könne. Auch die Zeit im Burgund hat seinen Horizont enorm erweitert. In Beaune habe er »zum ersten Mal eine wirkliche Weinkultur« erlebt. »Man sah sie in den Gesten der Sommeliers, die im Restaurant den Wein kredenzten«, erzählt er mit begeisterter Miene, »das hat dem Wein eine zusätzliche Dimension verliehen.« Diese Erfahrung hat Gaja nachhaltig geprägt, wurde ein Teil seiner Verkaufsstrategie: »Restaurants sind sehr wichtig für Premium-Weine, denn dort wird der Wein zelebriert«, betont er und fügt hinzu: »Du kannst niemanden zwingen, ein Zehn-Gänge-Menü zu essen, aber du kannst dort einen großen Wein öffnen und ihn genießen.«


D.O.C.G.« für seine Einzellagen. »Hier im Piemont gibt es keinen anderen Spitzenwein als die Nebbiolo«, sagt der Abtrünnige, »und erst heute können die Leute den Schritt nachvollziehen, den wir gehen mussten. Inzwischen haben wir das Image des Barbaresco runderneuert. Heute ist er unser Flagship-Wein.« Angelo Gajas Barbaresco ist eine Cuvée aus vierzehn verschiedenen Nebbiolo-Lagen, die separat verarbeitet werden: So bringe zum Beispiel der Bricco di Neive einen »distinktiven Charakter nach Pflaume, Marmelade und Birne«, der Pajorè »stark ausgeprägte Tannine«, der Roncaglietta hingegen sei »sehr elegant und perfekt für einen Blend«. Es sei das Konzept von Vater Giovanni gewesen, »die Facetten von verschiedenen Nebbiolo-Lagen zu einem komplexen Wein zu vereinen«. Dass Sohn Angelo in seiner ungebremsten Experimentierfreude allerdings am Südhang unterhalb seines Wohnhauses in Barbaresco zweieinhalb Hektar Nebbiolo-Reben herausreißen ließ, um Cabernet Sauvignon zu pflanzen, betrübte den Vater anfangs sehr. Doch auch dieses Experiment gelang. Angelo taufte die heute sehr begehrte Cuvée aus fünfundneunzig Prozent Cabernet Sauvignon, drei Prozent Merlot und zwei Prozent Cabernet Franc humorvoll auf den Namen »Darmagi«, was so viel heißt wie »schade«.

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it dem Kopf voller neuer Ideen machte sich Angelo zu Hause enthusiastisch an die Arbeit: So adaptierte er den in Kalifornien längst üblichen Ausbau der Weine im Barrique, um das Tannin der Nebbiolo geschmeidiger zu machen. Seither baut er seine Weine nach einer Vinifikation im Stahltank bis zu einem Jahr in kleinen Fässern aus, anschließend folgt ein weiteres Jahr im großen Holzfass aus slowenischer Eiche. Bei der Verarbeitung im Stahltank folgt er den traditionellen Maischestandzeiten von rund zwei Wochen, jedoch bei kontrollierter Gärung. Der Traubenmost seiner Einzellagen wird zunächst eine Woche bei 28 Grad und zwei weitere Wochen bei 18 Grad Celsius vergoren. Das Konzept, das Angelo in der Heimat den Ruf als Pionier der Einzellagen einbrachte, war der getrennte Ausbau der Nebbiolo-Trauben aus besonderen Einzellagen wie Sori San Lorenzo, Sori Tildin und Costa Russi. »Nach 1978 hatten wir diese drei Barbarescos als Einzellagen und vier Barbarescos ohne Einzellagen. Doch nach zehn, fünfzehn Jahren fingen unsere Kunden an, unsere Einzellagenweine viel mehr zu schätzen«, berichtet Gaja mit anschwellender Stimme: »Sie bezeichneten unseren Barbaresco als ›herkömmlichen‹ Wein, mein Gott! Sogar in angeblichen Blindverkostungen bewerteten sie die Einzellagen wesentlich besser. Das betrübte mich.« Angelo zog seine Konsequenzen: Er verzichtete 1996 auf die streng klassifizierte Herkunftsbezeichnung »Barbaresco

uch wenn Angelo schon immer gern mit französischen Rebsorten experimentierte, wurde ihm durch seine Reisen in andere Länder schnell bewusst, »dass die Nebbiolo wirklich etwas ganz Besonderes war. Aber mit namhaften französischen Weinen konnte sie nicht konkurrieren«, räumt er ein. Doch nun könne sich auch sein Barbaresco D.O.C.G. »durchaus mit den großen Weinen im Burgund und im Bordelais messen.« Mittlerweile produziert das Familienunternehmen rund dreihunderttausend Flaschen im Jahr. Achtzig Prozent des Ertrags verkauft Gaja in sechsundfünfzig Länder. Der Familie gehören rund hundert Hektar Weingärten, darunter die besten Lagen im Gebiet des Barbaresco und des Barolo. Dort kaufte Angelo 1988 eine zwölf Hektar große Spitzenlage in Serralunga und nannte sie Sperss, was im Piemontesischen »Nostalgie« bedeutet. Derzeit sind die Gajas die größten privaten Weinbergbesitzer der Gegend. »Wir haben kein Interesse, noch weiter zu expandieren«, bekräftigt Angelo. »Als Handwerker verkaufen wird das, was wir selbst hergestellt haben.«

»Mein Großvater und mein Vater haben meinen Erfolg gesät, sie hatten dieselbe Auffassung von Weinbaukunst und mir so den Weg bereitet«, sagt Angelo Gaja, »aber dabei ließen sie mir auch meinen Freiraum. Und ich weiß, dass ich verpflichtet bin, für meine Kinder zu arbeiten und ihnen ihre eigene Ernte zu ermöglichen.« Die Zeit dafür ist schon gekommen. Ende 2007 übergab Angelo das Tagesgeschäft an die fünfte Generation. Die trägt schlichte, diamantene Ohrstecker, bändigt das haselnussbraune Haar gern zu einem Pferdeschwanz und ist dezent geschminkt. Wenn Gaia Gaja lacht, ist es das Lachen ihres Vaters. Der Vorname der Erstgeborenen bedeutet im Italienischen ebenso »Freude« wie »Mutter Erde«. Die um zwei Jahre jüngere Rossana zeigt sich ein wenig zurückhaltender, aber nicht minder selbstbewusst. Gaia und Rossana haben wie die Generationen zuvor auf der Weinbauschule im nahe gelegenen Alba studiert, jedoch wie ihr Vater und Großvater eine zweite Ausbildung absolviert: Gaia ist Ökonomin, Rossana diplomierte Psychologin. Welcher seiner Weine würde den Charakter ihres Vaters Angelo am ehesten widerspiegeln? Da muss die junge Psychologin nicht lange überlegen: »Der 99-er Barbaresco! Zehn Jahre lang war dieser Wein nur sehr schwer zu verstehen: Egal, wie viel man davon im Glas hatte, er gab einfach keinen Duft preis. Sein Aroma blieb verschlossen hinter einem Panzer aus Tannin. Doch nun entpuppt er sich als ein facettenreicher, großartiger Wein.«»Ja genau, das ist ein typischer Charakterzug unseres Vaters«, ruft Gaia dazwischen. »Brütet er an einer Idee, nimmt er sich viel Zeit, wägt genau ab. Du weißt einfach nicht, was in ihm vorgeht. Kommt er dann zu einem Ergebnis, explodiert er förmlich.« Angelo reagiert mit einem sonoren, herzhaften Lachen auf die psychologische Analyse seiner Töchter: »Ja, wir Piemonteser sind eben anders als die Toskaner, wir sind zunächst sehr verschlossen.« Angelo hält inne: »Eigentlich verkaufen wir Träume. Wenn wir Jahrgänge verkaufen wie 2004, 2005 oder 2006, verkaufen wir ›Babys‹. Dieser Wein kann sich noch nicht verständlich machen. Aber man muss Vertrauen haben. Er wird seine Persönlichkeit erst nach zehn, fünfzehn oder dreißig Jahren voll entfalten.« Die öffentliche Seite ihres berühmten Vaters Angelo wird als »charismatisch« beschrieben, sein »außerordentliches Talent« als Geschäftsmann, Redner und

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Entertainer bewundert, der sich durch vehemente Gestik und Fortissimo Aufmerksamkeit verschaffen kann. »Man könnte meinen, dass jemand, der ein so großer Darsteller ist wie mein Vater, eine Primadonna ist. Das ist er ganz und gar nicht«, kontert Gaia, »er ist ein Familienmensch.« Angelo Gaja beginnt seinen Tag mit sieben Tageszeitungen, zitiert gern aus Artikeln und hat schon vor Jahren den Fernseher aus dem Haus der Familie verbannt. Jedes Wochenende steigt er mit seinem jüngsten Spross Giovanni aufs Rad und bricht zu einer Tagestour über die Langhe-Hügel auf. »Das ist für mich Freizeit, die genieße ich sehr«, sagt Angelo. »Ohne Handy, nur ich und mein Rad, so nehme ich die Umgebung intensiv wahr, und ich kann in Ruhe nachdenken.« Ach ja, Papas Faible für Pullover im markanten Muster seines Freundes, des Modedesigners Ottavio Missoni, habe »einen rein praktischen Zweck, die Tarnung von Weinflecken«, sagt Gaia und grinst. Mit einem väterlichen Lachen folgt prompt die Richtigstellung: »Ich mag ganz einfach den Mix an Farben und Mustern. Ich kleide mich gerne so, dass ich als Italiener erkannt werde.« Die Leute seien offener für das, was er vermitteln wolle, wenn er sie gut unterhalte. »Da muss ich die Courage haben, als Entertainer auf die Bühne zu springen, und ich muss wiedererkennbar sein.« Angelo Gaja – ausgebildeter Önologe und Ökonom – beherrscht souverän die Spielregeln der Weinwelt: Ruhm und Auszeichnungen, Entertainment und Originalität sind wichtig, damit sich der Wein

gut verkauft. Doch in seinem Piemonteser Reich, das sich hinter dem Tor der Via Torino Nummer 18 verbirgt, spiegelt sich nichts vom Glamour des »Angelo nazionale« wider. Der hufeisenartige Gebäudekomplex ist schmucklos und in traditionell-rotem Anstrich gehalten. Hier zählen Produktion und Geschäft, Weinmachen und Verkaufen. Der betonierte, spärlich bepflanzte Innenhof entbehrt jeglicher Winzer-Romantik. Rechterhand der Wirtschaftstrakt mit dem drei Stockwerke tiefen Weinkeller, der bis zur gegenüberliegenden Straßenseite reicht. Linkerhand die Verwaltung mit den Büros und zwei Degustationsräumen, zu der ausschließlich Geschäftskunden Zutritt haben. Lediglich im Foyer des Gebäudeteils, in dem Geschäftspartner empfangen werden, liegen Publikationen

aus, in denen jüngst über den weltberühmten Weinmacher berichtet wurde – einige mit dessen souveränem Lächeln auf dem Titel. Und wie schätzt der Artisan seinen neuesten Jahrgang ein? 2009 soll ein »ganz spezielles Jahr« werden, prophezeit Gaja. Er glaubt nicht, dass ein großer Wein die Verpflichtung haben müsse, perfekt zu sein. Perfektion sei etwas, »was nach Manipulation im Keller riecht«. Ein großer Wein sollte sich einen kleinen »difetto« erlauben. »Dieser Fehler verleiht dem Wein seine Identität, macht ihn einzigartig und unverkennbar: Hm, dieses kleine Quentchen, ha, das ist doch ein Gaja! Es gibt viele Weine, die sind ganz wunderbar, doch sie könnten überall auf der Welt entstanden sein. Doch nur hier ist das Land der Nebbiolo.« >

Die zwölf besten Gaja-Weine 2005 Sori Tildin (2010 / 2030

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D 1 h/ G 2 h)

95 P

In der Nase Himbeeren, Kohle und Teer. Am Gaumen Beeren, Wachholder, etwas Kohle mit intensivem Tanningerüst. Dabei elegant, seidig und leichtfüßig.

1998 Sperss (2002 / 2020

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D 2 h/ G 2 h)

92 P

Mäßig intensive, rubinrote Farbe mit Ziegelrottönen. Das Bukett explodiert im Glas und verströmt darunterliegende, aromatische und parfümierte Aromen. Veilchen, reife, dunkle Beeren und einige Kräuteraromen mit einem Hauch von gerösteter Eiche und Bitterschokolade. Sehr intensiver Biss am Gaumen. Die kompakte Säure und üppigen, jungfräulichen Tannine sind gut ausbalanciert. Das fleischige, vollmundige Mundgefühl und der hohe Alkoholgehalt transportieren den Nachgeschmack in großartige Länge.

1997 Sori Tildin (2010 / 2018

›‹ 2

D 1 h/ G 1,5 h)

›‹ 1

D 1 h/ G 1,5 h)

96 P

Duft nach schwarzer Johannisbeere und Kräutern. Im Mund Rosmarin, Johannisbeeren, mediterrane Kräuter, viel Kohle. Sehr dicht, rund und komplex mit wunderbarem Nachhall.

1996 Sori Tildin (2010 / 2025

94 P

Verhaltene Nase nach antikem Holz. Im Mund Kaffee, Espresso, Kakaobohne. Sehr homogen und kompakt. Schöner, intensiver Nachhall.

1989 Barbaresco Sori San Lorenzo (2004 / 2015 4 D 1,5 h/ G 2 h)

95 P

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Mittelintensives Kirschrot. Zarte, würzige Nase mit Kirschen, dunklen Beeren und floralen Aromen – hauptsächlich Veilchen. Die rassige Säure und die festen Tannine beweisen im Mund Biss und wollen gar nicht mehr loslassen. Am Gaumen wandern die mittelintensiven Fruchtnoten weiter und gleichen den rassigen Geschmack des Weins aus. Der zarte, nachhaltige Abgang betont die Tannine und blumigen Aromen. Der ausgewogene Wein trinkt sich jetzt superb, wird sich jedoch auch noch weitere zehn Jahre gut halten.

1985 Barbaresco Sori San Lorenzo (2005 / 2019 6 D 1 h/ G 1,5 h)

96 P

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Leuchtendes, mäßig helles gelbbräunliches Rot. Lebhafte florale Nase mit Aromen von Brombeeren, Kirschen, Gewürzen und einem Hauch von Wachs. Die rassige Säure mit weichen Tanninen verleiht dem Wein eine vitale Struktur. Süße, fruchtige Geschmacksnoten von Wurzelgemüse und reifen Kirschen. Sein seidiger, langer Nachgeschmack wird durch blumige Aromen betont.

1982 Barbaresco Costa Russi (2010 / 2015

›‹ 1

D 1,5 h/ G 1,5 h)

96 P

Aromen nach Beeren. Tolle Struktur, kraftvolles Tannin, dazu ein paar Honignoten und eleganter Nachhall. Ein wunderbar gealterter Wein. Perfekt.

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1979 Barbaresco Costa Russi (2010 / 2013

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D 1,5 h/ G 1 h)

95 P

In der Nase Mahagoni und Brombeere. Im Mund Teer, Kaffee und Bleistiftnoten. Tolle Mineralität, feine Komplexität. Sehr elegant und dicht.

1978 Barbaresco Costa Russi (2004 / 2010

›‹ 2

D 30 min/ G 1 h) 93 P

Eine schöne Flasche. Dreißig Minuten dekantiert. Offene, klare und reife Nase, bei der die Aromen von Leder und Kakao dominieren. Am Gaumen zeigt der Wein großzügige dunkle, reife Frucht und weichen Gerbstoff. Er ist zwar reichhaltig, ihm fehlt jedoch ein gewisser Charme. Auch ist er nicht so gut ausbalanciert wie erwartet. Weder zu kurz noch unangenehm, doch er hielt sich im Glas nicht gut. Ein immer noch sehr guter, doch kein großartiger Wein.

1974 Barbaresco (2007 / jetzt

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D 30 min/ G 1 h)

94 P

Dieser Glücksgriff war in vorzüglichem Zustand. Eine Stunde dekantiert. Die Farbe war blasser und heller als erwartet, doch das Bukett war sehr intensiv, komplex, würzig und rein. Statt eines starken Barbaresco Angelo Gaja war dies ein wirklich eleganter und weicher Wein. Vielschichtig mit süßer Frucht und Gerbstoff, die von Vollmundigkeit und Extrakt ergänzt werden. Sehr ausgewogen und nicht annähernd so hart und robust wie der 1967-er Jahrgang. Er besitzt eine gute Länge und einen wunderbaren Nachgeschmack – die reine Trinkfreude.

1967 Barbaresco Sori San Lorenzo (2007 / 2010 5 D 30 min/ G 1 h)

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Beide Flaschen waren wie neu. Eine Stunde dekantiert. Dieser erste Sori-San-LorenzoJahrgang ist unbedingt unter den erstklassigsten Weinen einzuordnen. Das beste und herrlichste Bukett, das wir jemals bei einem italienischen Wein vorgefunden haben. Es ist wunderbar duftig und mit Mineralien, exotischen schwarzen Früchten, getoasteter Vanille, Trüffeln und einem Hauch von weißer Schokolade angereichert. Trotz seiner vollmundigen und üppigen Persönlichkeit stilvoll und elegant. Extrem nachhaltig und abgerundet. Samtige Tannine und ein reifer, fruchtiger Nachklang. Ein gefühlvoller Wein mit viel Stärke und Eleganz. Jetzt zu trinken.

1961 Barbaresco (2007 / jetzt

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D 30 min/ G 1 h)

95 P

Mäßig blasse, leuchtende, rubinrote Farbe. Die Nase ist sehr intensiv, komplex, würzig und einwandfrei. Statt eines starken und massiven Barbaresco war dieser Wein wirklich elegant und abgerundet. Vielschichtige, süße Frucht und saftige Tannine, die von Reichhaltigkeit und zuckerfreiem Extrakt überdeckt werden. Ausgewogener Wein mit guter Länge und einem herrlich harmonischen Nachklang. Äußerst anregend für den jetzigen Trinkgenuss!


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BEGEHRTESTEN W E I N E D E R W E LT Keine alltägliche Unternehmung: Die Weinkenner und -liebhaber, die Verkoster und Genießer von FINE haben unter der Leitung von Ralf Frenzel und Pekka Nuikki alle ihre über Jahre und Jahrzehnte gesammelten Erfahrungen gebündelt und sich in einem Buch Rechenschaft gegeben über die tausend besten Weine, die zu trinken sie das Privileg gehabt haben (erschienen bei Tre Torri). Wer will, mag es ein Ranking nennen: Vor allem aber ist es eine Liebeserklärung an die unfassbar herrlichen Wein-Wunder der Welt. Hier präsentieren wir die absolute Spitze: die zehn besten Weine, die je gemacht und verkostet wurden. Text und Fotos: PEKKA NUIKKI

Nr. 1

1961 Château Latour (Pauillac) (2007/2030 ×%73 D 1,5%h/G 3%h)

Der fantastische Château Latour 1961 erhielt einstimmig den höchsten Rang. Dies ist ein wirklich einzigartiger, klassischer und vollkommener Wein. Der Château Latour 1961 wurde von uns über 70 Mal verkostet und erhielt nur acht Mal weniger als fehlerfreie 100 Punkte! Kein einziger der circa 60%000 Weine, die wir degustiert haben, kann mit dem hervorragenden und makellosen Ergebnis des Château Latour 1961 mithalten. Auch wenn das Jahr 1961 nicht perfekt war, so waren es doch die Weine! Auf einen verregneten Winter folgte ein ungewöhnlich warmer Februar. Die Natur wachte schon in den ersten Februartagen auf – das heißt einen Monat zu früh. Die erste Märzhälfte war sehr warm. Am 10.%März zeigten sich die ersten zarten Blätter. Der April war unbeständig und zum größten Teil zu kalt. Dadurch wuchsen die Reben langsamer. Auch die letzten Maitage waren sehr kühl, und am 29.%Mai gab es einen Kälteeinbruch. Die Blüten erfroren und gleich darauf vertrockneten die nicht tragfähigen Reben. Dreiviertel der Lese wurde dadurch zerstört. Im Mai hatte es noch nie Frost gegeben. Der Juli war im Großen und Ganzen kein guter Monat. Statt Regen oder Sonne brachte er nur einen bewölkten Himmel. Auch in den ersten drei Augustwochen bekamen die Weinberge zu wenig Sonne und Regen, doch ab dem 24.%August wurde das Wetter schön und hielt sich bis zum

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28.%September (es war fast so trocken wie im Jahr 1949). Am 29.%und 30.%September regnete es. Die Weinlese erfolgte bei starker Hitze vom 19. bis 28.%September, was die Vinifizierung erschwerte. Wie erwartet wurde es eine kurze Lese mit geringem Ertrag. Die letzte Flasche Château Latour 1961 wurde der romantischen Erinnerung an unsere früheren Verkostungserlebnisse gerecht. Die ideale Dekantierungsdauer scheint 1,5 Stunden zu sein. Der Wein hat eine wunderschöne, vollreife dunkelrote Farbe, die am Rand beinahe orange ist. Die Nase ist rein und offen und klassisch – ein Bouquet aus perfekt aufeinander abgestimmten Aromen. Seine Fruchtigkeit ist überwältigend vollmundig. Dieser himmlisch satte, feste, noch recht tanninhaltige, vollmundige, sehr nachhaltige und superfruchtige Klassiker verhalf unserem gut ausgebildeten Geschmackssinn zu neuem Leben. Vollkommene Balance und Struktur. Die Zeit stand still. Unsere Geschmacksempfindungen in diesem Augenblick lassen sich kaum beschreiben. Was wir an diesem Goliath am meisten schätzen, ist sein erstaunlicher und endloser Abgang. Nicht nur war das Mundgefühl so, als würde man flüssige Seide trinken, sondern der vornehme Abgang des vielschichtigen Cabernet blieb eine Ewigkeit am Gaumen erhalten. Der beste Wein, der uns je begegnet ist. Wir verneigen uns zutiefst vor ihm.

Nr. 2

1945 Château Mouton Rothschild (Pauillac) (2007/2025 ×%34 D 2%h/G 2%h)

Der Château Mouton Rothschild 1945 wurde schon mehr als dreißig Mal von uns verkostet und hat nur sieben Mal keine runden 100 Punkte erhalten. Sein Gesamtergebnis ist fast so einmalig und vollkommen wie das des Château Latour 1961. Obwohl die Château-Mouton-RothschildWeine von 1926, 1949, 1959 und 1961 gewöhnlich einwandfrei sind, hatten die 1945-er schon immer etwas Besonderes an sich, das wir nur schwer ohne starke Emotionen beschreiben können. Vielleicht ist dieses Etwas der unglaublich nachhaltige und vollmundige Nachgeschmack, der immer wieder zurückkehrt. Vielleicht ist es auch die Tatsache, dass es sich um den »Siegesjahrgang« handelt, der den Sieg des Guten über das Schlechte und die Freiheit symbolisiert. Auch wenn wir es nicht sicher sagen können, so wissen

Nr. 3

wir doch, dass der Château Mouton Rothschild 1945 unvergleichlich ist. Der 1945-er Jahrgang wurde in den vergangenen zwölf Monaten neun Mal verkostet. Jedes Mal war ein ganz besonderer Augenblick für uns und unsere Freunde. Die letzten beiden Flaschen befanden sich in einem außerordentlich guten Zustand und hatten einwandfreie Etiketten. Die Füllhöhe war fast Abfüllniveau, und beide Flaschen wurden zwei Stunden vor der Verkostung dekantiert. Eine tiefe, dunkle und reiche Farbe. Reine, weit offene, äußerst süße Nase mit Aromen von schwarzer Johannisbeere, Kaffee und Eukalyptus. Alle Teile harmonierten in vollkommener Ausgewogenheit, die dieser so außergewöhnliche, hochkonzentrierte, luxuriöse und reichhaltige Wein mit seinem mächtigen, ewig anhaltenden Nachklang mitbringt.

1945 Romanée-Conti Domaine de la Romanée-Conti (Côte de Nuits) (1995/2020 ×%4 D 1%h/G 3%h)

Die Wurzeln dieses Weins reichen bis ins späte Mittelalter zurück. 1945 ist der letzte Jahrgang der Romanée-Conti aus den uralten Pinot-Noir-Rebstöcken, die bis ins Jahr 1585 zurückgehen. Diese Reben und ihre Ableger produzierten über 360 Jahre lang hervorragende Trauben. Der Beschluss des Aufsichtsrats der Domaine de la Romanée-Conti, die historischen Reben zu erneuern, war daher sehr unerfreulich. Doch leider blieb ihm keine andere Wahl: Die äußerst schädliche Reblaus (Phyloxera), die in Vosne-Romanée im Jahr 1882 zum ersten Mal aufgetaucht war, hatte schließlich auch die Weinberge in Romanée-Conti und Richebourg befallen. Während die meisten anderen Winzer ihre Reben schon Jahrzehnte vorher mit widerstandsfähigen amerikanischen Rebstöcken veredelt hatten, war die Domaine de la Romanée-Conti der Reblaus über 60%Jahre lang mit Schwefelkohlenstoff erfolgreich zu Leibe gerückt. Doch anscheinend forderte der Zweite Weltkrieg nun seinen Tribut. Es mangelte an allem – sogar an Schwefelkohlenstoff.

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Schon während des Kriegs ging es mit den Weinbergen abwärts. Im Jahr 1945 wurden die Reben des Romanée-Conti auf Vorschlag des neuen Partners Henri Leroy hin nach der 1945-er Lese herausgerissen und 1947 durch veredelte Klone ersetzt. Zum Glück brachte diese letzte Ernte den Wein von legendärer Qualität hervor. Die Weinlese war zwar hervorragend, doch leider gering. Es ist daher sehr schwierig, diesen Jahrgang noch aufzutreiben. Allein von diesem Wein wurden nur 608 Flaschen abgefüllt. Gut aussehende Flasche mit 3 cm Füllabstand. Eine Stunde dekantiert. Der Wein hat eine sehr tiefe, dunkle, volle Farbe. Die einzigartig exotische Nase weist orientalische Gewürze, schwarze Trüffeln und viel Tiefe auf – sehr temperamentvoll! Am Gaumen ein vollmundiger, extrem konzentrierter und robuster Wein. Vollmundig, intensiv und ohne Alterserscheinungen – dieser Wein wird sich ewig halten! Hervorragend auf eine gute, altmodische Art. Der beste Burgunder, den wir jemals verkostet haben.

1947 Château Cheval Blanc (St. Emilion) (2007/2030 ×%53 D 2,5%h/G 2%h)

Auch wenn der Château Cheval Blanc 1947 von uns schon bei über 50 Anlässen verkostet wurde, hat er nur 27 Mal fehlerfreie 100 Punkte erreicht. Seine Erfolgsquote fällt vor allem wegen der vielen verschiedenen Händlerabfüllungen, die es von ihm gibt, von der des Château Latour 1961 und des Château Mouton 1945 ab. Der Château Cheval Blanc 1947 wurde aus außergewöhnlich reifen Trauben mit besonders hohem Zuckergehalt hergestellt. Die Mischung besteht aus ungefähr zwei Dritteln Cabernet Franc und einem Drittel Merlot. Mit der Lese wurde bis zum letzten Moment gewartet, und so erhöhte sich der Alkoholanteil auf zwei Volumenprozent über dem Durchschnitt.

100!P

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Eine gute vom Château abgefüllte Magnum. Füllhöhe Halsuntergrenze. Ausgezeichnetes Aussehen mit einer tiefen, dunklen, reifen Farbe. Stark ausgeprägtes Aroma von Schokolade und Ledernoten; die Nase erinnerte an Portwein. Reich und reif mit großartigem Extrakt. Das Aroma der fast überreifen Frucht war so verlockend, dass es uns schwer fiel, zu widerstehen und nicht gleich die ganze Flasche auszutrinken. Ein solches Überraschungspaket noch einmal zu finden wäre eine echte Herausforderung! Und dann der zelebrierte Nachklang … Wir können ihn noch zwei lange Tage und Nächte fühlen. Eine vollkommene, übersinnliche Erfahrung.


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Nr. 5

1900 Château Margaux (Margaux) (2005/jetzt ×%15 D 1%h/G 2%h)

Der Jahrgang 1900 kann als der beste Jahrgang aller Zeiten in Bordeaux bezeichnet werden. Es war ein absolut perfekter Jahrgang, der langlebige Weine hervorgebracht hat. Die Trauben des Château Margaux verwandelten sich in reinstes Gold. Der Ertrag bestand aus beinahe 30%000 Kisten, fast genauso vielen wie 1982. Dieser monumentale Wein gilt unter vielen Weinliebhabern als Wein des Jahrhunderts. Das dreimalige Verkosten im letzten Jahr hat uns davon überzeugt, dass der Wein etwas Verzaubertes hat. Hervorragend aussehende Château-

Nr. 6

100!P Abfüllung. Gute obere Schulter. Eine Stunde dekantiert. Eine immer noch erstaunlich intensive gelbbraune Farbe. Vielseitige und reiche Aromen strömen aus dem Glas – schwarze Johannisbeere, Toffee, Aromen, die an Ställe erinnern. Ein intensiver Geschmack von mittlerem Körper mit einer etwas stärkeren Säure, die zusammen mit dem seidigen Tannin für eine tolle Ausgewogenheit sorgt. Die reife Fruchtigkeit wird angenehm mit samtigen Tanninen kombiniert. Ein unglaublich langes Finish mit Walnussnoten. Seine hervorragende Komplexität, Jugendlichkeit und edle, maskuline Struktur machen diesen Wein sensationell. Er scheint immer noch ein hohes Reifepotenzial zu haben.

1921 Château d’Yquem (Sauternes) (2006/2030 x%18 D 45%min/G 3%h)

Die Lese von 1921, der letzte Jahrgang, den der Besitzer des Châteaus d’Yquem, Comte de Lur-Saluces, in Fässern verkaufte, dauerte 39 Tage. 45 Minuten gekühlt dekantiert behielt der Wein nach dem Öffnen 3 Stunden lang seine besten Eigenschaften. Flasche in einem guten Zustand. Château-Abfüllung mit einer Füllhöhe bis zur oberen Schulter. Sehr dunkle tiefgoldene Farbe, wenn auch nicht so dunkel wie die Originalabfüllungen desselben Jahrgangs, die wir schon

100!P

früher verkostet hatten. Frische, lebhafte, honigartige Nase mit einem Hauch von Crème brûlée und Kaffee. Eine herrliche Mischung aus Geheimnis und Eleganz. Ein köstlicher Wein, bei dem alle Komponenten stimmen. Ideale Mischung aus Säure und Süße. Sehr cremiger, schmaler, doch gleichzeitig wunderbar leichter und lebhafter Wein – eine fantastische und seltene Kombination. Klarer, weicher und unglaublich langer Nachklang. Ein echter Château d’Yquem in Spitzenqualität.

Nr. 7

1947 Château Pétrus (Pomerol) (2007/2015 ×%34 D 1,5%h/G 2%h)

1947 wurde auf dem rechten Ufer zu einem legendären Jahrgang. Schon die jungen Weine waren attraktiv und haben sich zum größten Teil extrem gut gehalten. Der 1947-er Pétrus ist ein vorzüglicher, sehr reichhaltiger Wein, von dem es viele Händlerabfüllungen gab; die meisten waren sehr gut. Er muss zwar dekantiert werden, doch dann entwickelt er sich im Glas sehr schnell und hält sich mehrere Stunden, wenn Sie sich so lange zurückhalten können. Eine interessante Kuriosität ist, dass sich dieser Wein kurz nach

Nr. 8

dem Krieg nur schwer verkaufen ließ. Der englische Importeur Avery’s of Bristol brauchte mehrere Jahre, um seinen kleinen Lagerbestand loszuwerden. OriginalAbfüllung, 1,5 Stunden dekantiert. Tiefe, dunkle Farbe. Seine angenehme, köstliche, intensive und reife Nase war eine Offenbarung. Der Geschmack war sehr intensiv, großzügig und stark fruchtig. Der Wein hatte die Textur eines Portweins – fast so reichhaltig wie Gelee. Ausgezeichnete Balance und Eleganz. Eine Weichheit und Abgerundetheit, die für den besten Pétrus typisch ist, der ganz aus Merlot besteht. Ein großer Wein, vornehm und besonders.

1961 Hermitage La Chapelle Paul Jaboulet Aîné (Rhône) (2007/2030 ×%15 D 3%h/G 2%h)

Im Jahr 1961 waren die Wetterbedingungen im Rhônetal wechselhaft. Der Winter war mild. Kaltes und regnerisches Wetter im Juni und Juli verringerten den Ertrag. Eine Trockenzeit im August und ein herrlich sonniger September brachten die restlichen Trauben zur vollen Reife. Jaboulets Weinberge Bessard und Le Méal brachten nur ein Viertel ihrer normalen Traubenmenge ein – ungefähr eine Tonne pro Morgen Land, die jedoch aus herrlich intensiven und konzentrierten Früchten bestand.

Nr. 9

... der »Siegerjahrgang«. Wir sind überzeugt, dass kein anderer sich mit dem 1945-er MoutonRothschild messen lässt …

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rein und sehr verführerisch. Noch herrliches Tannin vorhanden; eine schöne Ausgewogenheit von Beeren und Früchten. Ein sehr angenehmer, königlicher und äußerst vieldimensionaler Wein. Sein Nachklang hielt bis zum nächsten Morgen an – und bleibt uns bis heute in Erinnerung. Auch wenn es manchmal über 50 Jahre dauert, bis ein Wein trinkreif wird, hat sich das Warten hier gelohnt. Die vielen harten Urteile, die dieser Wein und Jahrgang in den frühen Zwanzigern erhalten hat, verwundern uns nicht mehr. Doch wir fragen uns, was für ein wirklich hervorragender Wein der Lafite in der Mitte des letzten Jahrhunderts gewesen sein muss, da er heute noch einer der allerbesten Weine ist – sogar im Alter von 130 Jahren!

1921 Château Cheval Blanc (St.%Emilion) (2007/2015 ×%17 D%30%min/G 2%h)

Das ist der Jahrgang, der den Cheval Blanc berühmt gemacht hat. ChâteauAbfüllung, ausgezeichneter Zustand, Füllhöhe Halsuntergrenze. Nur 30 Minuten dekantiert (wir hielten das Warten einfach nicht länger aus). Sehr dunkle, leuchtende Farbe mit einem Hauch von Bernstein am Rand. Eine riesige und äußerst reiche Nase – sie öffnete sich sofort mit den Aromen vieler exotischer Früchte, Schokolade-und Kaffeenoten. Ein unglaublich reicher und komplexer Wein. Sehr schwer, warm und vielschichtig. Voller süßer Frucht. Weiche, geschmolzene Tanni-

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Der Zustand der Flasche war gut; der Füllabstand betrug 2 cm. Sehr dunkle und jung wirkende Farbe. Eine gesunde, weit offene Nase mit Aromen von Leder und Trüffeln. Drei Stunden vor dem Servieren dekantiert. Der reichhaltige Geschmack war erstaunlich vielseitig und schwer. Vollkommene Harmonie und Balance. Immer noch ein ziemlich maskuliner und kräftiger Wein – der wahrscheinlich ewig halten wird. Eine beeindruckende Nachhaltigkeit. Wir schätzten uns sehr glücklich, diesen bemerkenswerten Wein erneut zu trinken – alle Flaschen waren echte Kostbarkeiten.

1870 Château Lafite-Rothschild (Pauillac) (2001/2012 ×%6 D 15%min/G 2%h)

1979 hatte ein Freund von uns diesen 1870-er Château Lafite für ca. £%900 auf einer Auktion ersteigert. Es war eine der 41 berühmten Flaschen, die fast ein Jahrzehnt im Keller von Glamis Castle geruht hatten. Der Wein war seinerzeit von Coningham in Schottland abgefüllt worden und wurde auf der Christie’s-Auktion am 24. Juni 1971 erstmals öffentlich angeboten. Der damalige Kaufpreis war £%83. Füllhöhe gute obere Schulter. Nur 15 Minuten dekantiert. Wie wir notierten, muss dieser Château Lafite bei seiner Geburt fast schwarz gewesen sein, da er immer noch eine tiefe, dunkelrote Farbe hatte. Die Nase war äußerst betörend – würzig,

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ne begleiten den Abgang. Der Wein war sogar noch besser als bei unserer ersten Verkostung einer Magnum aus ChâteauAbfüllung neun Jahre davor. Ein Wein, der noch schwerer, reichhaltiger und sinnlicher war als der erste, und schon damals hatten wir ihn für ein Meisterwerk gehalten. Die jüngste Begegnung – wieder mit einer im Château abgefüllten Magnumflasche – war den früheren Erlebnissen sogar noch überlegen. Dieser Wein war noch jugendlicher, reicher und vielschichtiger – unglaublich. Was für einen privilegierten Job wir doch haben! >


Riesling Erstes Gewächs. Einer der Großen Weine der Welt.

www.weingut-robert-weil.com


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Michael Klett allein mit einer Flasche Latour ’61:

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eute mache ich eine Flasche auf und trinke sie ganz allein. Château Latour 1961, der größte Jahrgang der Nachkriegszeit im Bordelais. Ich gebe ihr zwei Stunden in der Karaffe, seit einer halben steht sie auf meinem Tisch. Die Flasche ist ein Geschenk meines Vaters, aber sie war schon zweimal in meinem Besitz. Als ich sie zum ersten Mal Anfang der achtziger Jahre erhielt, war mir klar, dass er sich nicht leicht von ihr getrennt hatte. Ich merkte das Geschenkdatum in winziger Schrift an und offerierte ihm den noch immer herben Schatz zwei Jahre später. Das ging noch zweimal so. Am Ende blieb sie bei mir. Das Spiel war aus, mein Vater (1911–1998) gestorben. Die kleinen Notate auf dem Etikett bezeugen einen langen Vater-SohnAustausch über Wein. Fast alles habe ich von ihm gelernt. Das Verstehen deutscher Weißweine, roter und weißer Burgunder. Nur die Bordeaux sind meine eigene Eroberung.

Ich schenke mir das erste Glas ein, hebe es grüßend meinen nicht mehr anwesenden Vater, nehme das Bukett auf und den ersten Schluck – enorm, fabelhaft. So ein Purpur habe ich noch nie gesehen. Unglaublich. Der Wein ist immer noch jung, etwas Tannin ist noch da. Habe ich vielleicht zu kurz dekantiert? Noch ein bisschen Pfeffer ist zu spüren, der Hauch einer Süße, die an alten Madeira erinnert, ja Madeira, ich täusche mich nicht, aber es ist die fein brennende Süße und nicht der Alterston von Weinen, die man mit maderisierend bezeichnet. Wie seltsam, dass die Natur und meine willige Nase zwei Geschmacksnoten in einem Glas zusammenbinden. Der Anlass, alleine hier zu sitzen und den roten Nektar im Glas zu schwenken, ist nichts Eigenbrötlerisches, ich trinke eigentlich nie alleine, aber neulich hat sich herausgestellt, dass ich eine ganz erkleckliche Anzahl von Jahren zusammengehäuft habe, mit der Folge eines gewissen Bedürfnisses, mir Besinnung zu gönnen über das, was ich da alles hinter mich gebracht habe. Darüber gibt es allerhand zu sagen, aber diese vorzügliche Flasche hält mich im Augenblick an biographischen Gegenständen, die meine Taten, meine Niederlagen und meine Siege auf angenehme Weise begleitet haben: weinbestockte Landschaften, Ernteglück und Gärungsduft, das Vergnügen am Hamstern und Einkellern, klingende Gläser bei festlichen Stimmungen und alles, was passiert, wenn Nase und Gaumen animiert werden. Was also nun den Wein angeht, so kann ich auf zwei Initiationen zurückblicken. Mein Vater setzte eine Tradition in unserer Familie fort, nach welcher Kinder mit dem 13. Lebensjahr statt Trinkbecher gestielte Weingläser zum Essen aufgetischt bekommen. Von diesem Alter an haben sie ein Recht auf einen Anteil dessen, was abends oder am Sonntagmittag an Wein aufgetischt wird. Wie ich schon sagte, habe ich beinah alles, was man als Zecher und spürender, suchender Weinzahn lernen kann, von ihm gelernt. Darunter auch den einfachen, aber wichtigen Spruch des Heraklit: Nicht zuviel! Den habe ich wohl in mich aufgenommen, aber natürlich nicht immer beherzigt. Aber große Zech-Débauchen eignen sich nicht zur Beschreibung, )(

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eigentlich sind sie peinlich, und das Beste, was man sagen kann, ist, dass man entrückt war. Meine Initiation hatte mit deutschen Weißweinen, trockenen und vor allem süßen großen Beerenauslesen und Eisweinen begonnen. Später kamen Burgunder dazu. Die wirkten hitzig auf mich. Ich verstand, dass sie ihre große Zeit in den zugigen Schlössern des 18. Jahrhunderts hatten, als man sie zur Befeuerung des Gemüts und zum Heizen der Körperlichkeit nutzte. Mir waren sie zu heiß. Mein Vater dagegen, ein Vollsanguiniker, blühte auf, und so bedurfte es einer zweiten Initiation, die mir in meinen späten Zwanzigern zuteil wurde, als Folge einer schönen Freundschaft mit Michael Bömers, dem seinerzeit größten Weinimporteur in Deutschland und heutigen Herrn eines notablen Châteaus im Bordelais. Initiation und Schulung dauerten drei Jahre, gerade genug, um ein strammes Arbeitsleben mit der einfachen Freude zu bestehen, zehn Schlucke in einem Glas funkeln zu lassen – à propos, mein Latour. Die Zimmerwärme hat jetzt Duft und Geschmacksvarianten herausgeholt, die ich nie an Latour kannte. Ich habe das Gefühl, das ganze Zimmer riecht ein bisschen anders.

Einer der Höhepunkte meiner Lehrzeit war eine große Weinprobe in Bremen. Das Thema Latour und die umgebenden Weingüter, also Lynch-Bages, Pontet-Canet, HautBatailley, die beiden Pichons, Léoville-Las Cases und einige kleinere. Einer – war das Château Fonbadet? – schlug in einem Jahrgang den großen Latour in der Blindprobe. Im ganzen wirkten die umgebenden Châteaux mit ihren wunderbaren Weinen wie Hunde, die um einen mächtigen Löwen kläffen und ihm nichts anhaben können. Das große Spektakel war professionell und daher anstrengend. Drei Proben an einem Tag. Um neun Uhr morgens die erste, um elf die zweite und nachmittags um fünf die dritte. Man sah die Ermüdung, die dem Homo sapiens der Tag bringt. Die Geschmacksfähigkeit ließ nachmittags rapide nach. Die Probenergebnisse zu dieser Stunde wirkten wie ein Verwirrspiel, aber zum Mittagessen davor waren alle in high spirits. Wir saßen mit dem Kellermeister von Latour in einem Ausfluglokal im Bremer Bürgerpark. Er bat uns Deutsche, ihm einen frischen, blumigen Weißwein auszusuchen. Wir wählten Boxbeutel aus dem Baden-Badener Weinland und fanden den großen Weinzahn begeistert. «Il y a de bonnes choses partout », meinte er. Das große Weinerlebnis sei mit kleinen, gut gemachten Weinen ebenso zu haben wie mit den ganz Großen, es käme auf den Augenblick an. Dieser Frühjahrsglanz mit aufblühenden Rhododendren und den tauglitzernden Bäumen und dann diesem wunderbaren floralen Riesling. Ich glaube, gute kleine und mittlere Weine werden von ordentlichen Handwerkern gemacht, für große braucht es starke Sinnesmenschen, die natürlich auch noch über eine gute Portion klaren Verstands verfügen sollten. Der knorrige Médocquien lobte übrigens den

deutlichen Qualitätszuwachs an Rotweinen aus der Neuen Welt. Seither habe ich immer welche in meinem Keller. Nicht viel, aber genug, um mich mit der Frage zu beschäftigen, ob sie an Delikatesse und Komplexität an die Bordeaux, meine Lieblinge bei Tag und bei Nacht, herankommen. Das wird wohl nicht gelingen. Aber ich schätze die Weine der südlichen Halbkugel vor allem wegen ihrer Feurigkeit und ihrer berstenden Kraft, und immer interessant bleibt die kalifornische Finesse. Ich fülle nach – wunderbare Glyzerinarkaden im Glas, die Veränderung des Spiels bei zunehmender Adaption durch die Zimmerwärme ist faszinierend, es hat sich der Purpur vertieft, das tolle Nass wirkt jetzt glatter, wenn ich schlucke, besser, wenn es hinabsteigt wie Gott in Samthosen. Jetzt muss ich aber noch etwas nachtragen: die zeitweilige Begeisterung meines Vaters für weiße Burgunder. Dazu muss man wissen, dass dieser außerordentliche Mann über eine gehörige Nase verfügte, er hätte bei italienischen Nasenkönigswettbewerben durchaus Chancen gehabt. Das Schnuppern und Aufnehmen von Duftspielen, die aus dem Glas quellen, wirkte wie ein Ritus auf mich. Er konnte den Kopf hin und her neigen wie Vögel, denen die Körner schmecken, die sie picken. Eine gute Zeit lang ging es zuhause nur weiß zu. Montrachet! Ein Freund hatte ihm zum Sechzigsten eine Flasche Le Montrachet 1906 geschenkt. Wir tranken sie an einem warmen Sommerabend, wenige Tage nach seinem Fest. Die über sechzig Jahre hatten das Gewächs zu einem goldenen Duft- und Geschmacksfeuerwerk gemacht, seitdem beharrte er eigensinnig darauf, dass es sich hier um weiße Rotweine handle. Vielleicht hat er nicht ganz unrecht gehabt. Die besonderen Bedingungen, die Burgunder zu dem machen, was sie sind, also die unglaublich vielseitigen Bodenverhältnisse und die Neigung der Weinberge zum Orient hin, zur aufgehenden Sonne, was ihnen in heißen Jahren besonders bekommt, und schließlich die Holzreifung bringen doch genug zusammen, dass sich Ähnlichkeiten erriechen und erschmecken lassen. Auch ist der Chardonnay eine entfernter Pinot-Verwandter. Wo ich gerade wieder beim Weißwein bin: Ich erinnere mich eines herrlichen Besuchs in Carbonnieux in Graves. Sardellenkanapees und dieser vom lieben Gott eigentlich als Begleiter der Auster erfundene strahlende Sauvignon Blanc. Es war Herbst, der Wein war gerade eingebracht. Die Tage waren kühler als erwartet. Der Wein in den Stahltanks in der Nähe des geöffneten Tors wollte nicht so recht gären. Die resolute Hausherrin behalf sich mit einem kleinen Heizöfchen, das sie aus dem Badezimmer holte. Es stand wie ein kleiner runder Knirps vor dem riesigen Stahlkessel. Ein kleiner David, der dem Goliath Beine machte. – Das war anlässlich eines Besuchs bei Freunden, die mich auch zu Smith-Haut-Lafitte und Haut-Brion schleppten.


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Ein zechanstrengender, aber vergnüglicher Vormittag. Die Freunde lebten in Labrède, in Graves. Der Herr des Hauses war Notar, der viele Transaktionen großer Weingüter besorgt und daran ordentlich verdient hatte. Ein fröhlicher, lebenszugewandter Westfranzose, Gefangener in Deutschland gewesen, wo er auf dem Land wie Gott in Frankreich gelebt hatte. Auch Geschichten über die mit ihren Reizen freigiebigen deutschen Bauersfrauen waren in den Strom der Erinnerungen eingewoben. Das Gelände um das behagliche Bürgerhaus war mit Reben bestockt. Es gehörte einstens zu den Weinbergen von Montesquieu. Der Sohn und Nachfolger stibitzte mir aus dem Safe des Alten ein notarielles Transaktionsdokument, das von dem Aristokraten und großen Gelehrten höchst selbst unterschrieben war. Montesquieu hat viel vielleicht Entscheidendes für die Verbreitung der Bordeaux-Weine in Europa getan. Nach seinem Grand Tour durch Deutschland, Skandinavien, England, Schottland, Spanien usw. sandte er seinen vielen Gastgebern kleine Fässer. Als er nachzuliefern begann, gegen Rechnung natürlich, wurde ein Geschäft daraus, und so ist es bis heute geblieben. Wieder fülle ich das Glas. Ich halte mich dauernd zurück, nicht zu schnell zu trinken. Der Wein ist jetzt ganz glatt, alle Tannine sind verschmolzen zu einem strahlenden Fluss, der mir in den Hals läuft. Etwas ganz Großes ist dieser Wein. Es muss mit den Säften zusammenhängen, die in einem sind. Eine körpereigene, immer geheimnisvolle Chemie, die es macht, dass so ein Wein nicht nur sensationell, also sinnesbefeuernd schmeckt, sondern man sich auch sofort «besonders» fühlt, herausgenommen aus der Wohl- oder Unwohlfühlerei. Mein Großvater, in dessen Haus ich heute lebe, soll, so mein Vater, nur Bordeaux und deutsche Weißweine im Keller gehabt haben, und immer gab es zu festlichen Anlässen Rauzan-Ségla. Burgunder waren also dem Sohn nicht vorgekommen, aber als er nach Ausbruch des Krieges und der Besetzung Frankreichs seinen ersten militärischen Auftrag bekam, nämlich das Hereinholen von Weinbeute in Gestalt von Burgundern, ereilte ihn schließlich sein Glück. Er versuchte auf dem Transport zwischen Dijon und München die 250-Lastwagen-Koordination dadurch herzustellen, dass er mit dem Motorrad die Kolonne auf- und abfuhr, um so nach dem Rechten zu sehen. Auf diese Weise stieß er nicht weit von Karlsruhe auf einen Lastwagen, der von der Autobahn abgekommen und die Böschung hinabgestürzt war. Zerbrochene Flaschen, rote Lachen im grünen Gras. Aus einem zerbrochenen Flaschensockel trank er, so sein späterer Bericht, seinen ersten Burgunder, und zwar einen Chambertin, worauf er immer während unserer Reisen im Burgund in dem Moment hinwies, wenn unser Auto an dem großen «Clos»vorbeibrummte. Über die Beutegier der Deutschen in Frankreich und die Listen der Franzosen, die ihre Kostbarkeiten der Requirierungsadministration zu entziehen versuchten, ist viel geschrieben worden. Ganze Bahntransporte verschwanden spurlos, weil sie auf wenig befahrene Seitenstrecken abgezweigt und dann versteckt wurden. Große Champagnerorders aus Berlin waren fast immer ein Signal, das großen deutschen Offensiven vorausging. Die Siegesfeiern mit Champagner waren also präzise miteingeplant. Nicht lange nach dem Vollzug des Burgundertransports wurde mein Vater nach Russland kommandiert. Von einem Freund aus den hohen Stäben war ihm eine Flasche vorzüglichen Beuteburgunders zugesteckt worden. Der junge Panzeroffizier schleppte sie von Quartier zu Quartier für einen großen Anlass, da wurde bei einer der größeren Panzerschlachten während eines weit vorgetragenen Angriffs sein Leibbursche schwer verletzt. Der Mann lag notdürftig verbunden in dem schnell aufgeschlagenen Zelt. Man wartete auf Ärzte. Das bleiche, allmählich gelb werdende Gesicht stand in auffallendem Kontrast zur gerade ausgepackten Burgunderflasche. Das muss zusammenkommen, fand mein Vater und flößte ihm das wärmende Getränk ein. Bald war das Gesicht wieder kräftig gerötet und der Kreislauf angekurbelt. Die Flasche hatte, so der bald eintreffende Arzt, den Mann unzweifelhaft gerettet. Gerade Burgunder vermitteln manchmal das Gefühl, dass sie Lebenskraft spenden, und es ist auch so, auch wenn rational betonte Menschen behaupten, es handle sich um die Wirkung von Alkohol – überhaupt diese Rationalität, sie wirkt einfach störend, bei dem Gedanken an ein Festgelage ))

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S E L B S T G E S P R Ä C H

oder eine stille Stunde mit Wein im Glas. Es hat sogar schon einmal jemand behauptet, die Rationalität sei eine Krankheit, die durch die Abwesenheit von kräftigen Rotweinen hervorgerufen werde. Habe ich da eben wirres Zeug geredet? Fängt der große Stoff an, mich anzutüttern? Man sollte ja mit der Rationalität nicht leichtfertig umgehen. Ohne sie ließe sich die Welt nicht zusammenhalten. Sie ist eben nur manchmal ein bisschen langweilig. Ach was, ich gebe mich jetzt den Wirkungen dieses unglaublichen Weines hin. Die Farbe scheint an Intensität noch zugenommen zu haben, oder hat sich die Farbmächtigkeit meiner Augen erweitert? Es ist wirklich dunkles Licht, Hölderlins Metapher für die Weine, die an Garonne und Dordogne gedeihen. Die Balance in dieser Phase des Trinkens ist fabelhaft. Was sich in meinem retronasalen Wahrnehmungsbereich abspielt, ist unbeschreiblich. Fluten von Aromen, die ich nicht benennen kann – beliebige Analogien, wie sie einem andauernd vorgeplärrt werden, sind ihrer nicht würdig. Ja, diese Weinsprache! Ich kenne keinen Fall, wo ich wiedergefunden hätte, was sich so ein Weinverkoster notiert hat. Das Beste, was man an diesem Vorgang ersehen kann, ist, dass Menschen verschieden sind. Schmecken lässt sich eigentlich nicht beschreiben. Auch die schriftstellerische Kunst ist hier am Rand ihrer Möglichkeiten. Und so behilft man sich mit einer im Grunde ja gut funktionierenden Sprachkonvention und verwendet Worte wie: Nase, Nachhall, Abgang, stahlig, weinig, blumig, mineralisch usw. Warum bin ich so versessen auf Wein? Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht auf das Glas am Abend freue. Die sorgfältige und umsichtige Erziehung meines Vaters kann es doch allein nicht sein, und dass ich in einem Weinberg zur Welt kam, wohl auch nicht. Meine Mutter scheute sich nicht, nach meiner Geburt immer wieder einmal ein Gläschen zu trinken; da sie mich, wie ich später hörte, lange stillte, war es vielleicht das? Wer weiß? Wie immer in Weinsachen, hatte ich mit dem Einrichten und dem Aufbau meines Weinkellers Glück. Zunächst einmal verfügt die von meinem Großvater ererbte Caverne über exzellente klimatische Bedingungen. Sodann zweigte mir mein Vater einen hübschen Lagerbestand gehobener Gewächse, die er von einem Weinhändler aus Saarbrücken erworben hatte, ab. Es waren notable Jahrgänge dabei. Wie 1934, 1943 und 1952. Ein Cos d’Estournel ist mir in Erinnerung, damals bekannt als Vin de garde, ein aus dem ersten der Jahrgänge wunderbar herangereifter Wein, etwas brüchig, aber von hinreißendem Charme, und dann ein schöner Lynch-Bages aus dem Nachkriegsjahrgang. Sodann war ich ein Gewinner der Baisse in der Mitte der siebziger Jahre. Da konnte ich zwanzig Kisten von Spitzenweinen per Telefon von einem insolventen Händler ergattern. Eine Flasche

Château Latour 1961: Für viele Kenner der größte Wein, der je produziert wurde

Cheval Blanc 1962 kostete soviel wie eine Woche davor eine Kiste. Heute sind drei Viertel des Kellers mit BordeauxWeinen gestopft. Darunter natürlich der traditionelle Rauzan-Ségla, der damit seit über hundert Jahren seinen Platz hat. So ein Keller ist aber auch eine Last. Ich brauche ihn nicht mehr, um auf Ideen zu kommen, was ich heute oder morgen trinken möchte. Ich übersehe auch viel, vergesse oft die hohen Reifezeitpunkte, die insbesondere bei kleineren Weinen so wichtig sind, und muss mich dann über die daraus folgende Qualitätsminderung ärgern. Manchmal denke ich, es wäre sinnvoll, ihn von einer Art Kellerbutler verwalten zu lassen, der einen Teil des Bestands durch Kauf und Verkauf umschlägt und der als Honorar einen Teil der Kreszenzen abbekommt. Eine andere Lösung wäre, mit einem kundigen Weinhändler ein Lieferarrangement zu treffen, das im Jahresrhythmus mit einer gewissen Vorplanung vorgesehen wird, was nicht ausgetrunken ist, nimmt er zurück. Es hätte allerdings den Nachteil, dass man sich nicht mehr viel alte Weine leisten könnte – na, wahrscheinlich ist es doch am Besten, ich lasse es, wie es ist, und strenge mich weiter an. Ich schenke mir nach, es ist nicht mehr viel in der Karaffe. Dieser Wein ist die ganze Strecke über, die ich ihn sinnierend trinke, absolut stabil geblieben. Das Massive, das dem Latour eignet, ist nicht gemindert oder hat sich gar verloren, und vor allem, dieser Wein in diesem Alter bringt das Kunststück fertig, Gedrungenheit und Eleganz zu verbinden. Er ist wie ein großes Kunstwerk, mächtig und leicht zugleich. Von den fünf großen Jahrgängen des 20. Jahrhunderts, deren Latours ich im Laufe der Zeit auf großen Weinproben probieren konnte, scheint mir nur der Jahrgang 1929 stärker gewesen zu sein, aber was ist schon Erinnerung von Geschmackserlebnissen. Überhaupt große Jahrgänge auf Weinproben! Ein paar Fingerhüte in winzigen Gläschen. Auf einer der Schickeriaproben vor ein paar Jahren konnte ich noch die Jahrgänge 1865, ’70 und ’75 probieren mit Cheval Blanc, Lafitte, Léoville-Poyferré und natürlich Latour. Weil sie so alt waren, nehmen sie einen prominenten Platz in der Erinnerung ein und laden zu historischer Synchronisation ein: 1870, ein heißer Sommer und ein kurzer, heißer Krieg, der schreckliche Weiterungen zwischen den Europäern hatte: Dem Gedeihen der Trauben konnte er wegen seiner Kürze nichts anhaben. Ansonsten bleibt im Gedächtnis nicht mehr als eine bezaubernde rote Soße, die exotisch duftet und etwas ist, das nicht zum Durstlöschen da ist. Auf jeden Fall müssen die Weine vor der Phylloxera-Katastrophe doch noch andere Kaliber gewesen sein als das, was wir vom Jahrhundert der großen Kriege kennen. Ernst Jünger erzählte einmal, er habe teilgehabt an dem Kaffeekränzchen einiger wohlgestellter adliger französischer Damen. Im Mittelpunkt der zierlichen Debatte stand Château Ausone. Man stritt darüber, ob der Jahrgang ’64 besser gewesen sei als ’65. Jünger mischte sich ein und sagte, er habe gerade kürzlich an einem der großen Diners von Joseph Breitbach in Paris Ausone ’64 zu trinken bekommen und sei sehr beeindruckt. Darauf die Damen: «Mein Herr, wir sprechen von den Jahrgängen 1864 oder ’65». Ja, nun ist die Flasche zur Neige. Ich schaue mir noch einmal die Geschenknotate zwischen Vater und Sohn an. Welch liebes, schönes Wechselspiel. Von seinem Tod hatte ich auf einer Reise erfahren und konnte am selben Abend nicht mehr heimkehren. Am folgenden Abend fand ich in seinem Haus eine halb geleerte Flasche Grands-Echézeaux von Mollard aus dem Jahr ’76. Ich trank meinen seidigen Teil zu Ende. Es war wie immer, wenn wir miteinander zechten, nur dass er nicht mehr da war. Der langgezogene Besinnungstrank mit Château Latour 1961, der gerade hinter mir liegt, ließ doch immer wieder die Idee aufscheinen, wie es denn mit einer schönen Zigarre wäre. Sagen wir, eine zehn Jahre alte Montecristo Maduro im Churchill-Format. Dazu ein, zwei Gläschen Madeira, nämlich Malmsey Vintage von Cossart. Schon lange war mir Madeira durch meine Beschäftigung mit Talleyrand aufgefallen. Dieser gerissene Aristokrat soll mehr über gute Speisen und Getränke geredet haben, als über alles andere, seien es Frauen, Politik oder Intrigen, was mir immer bewiesen hat, dass diese zu den alltäglichen Fragen der Selbsterhaltung gehörenden Dinge eigentlich gar nicht so unwichtig sind, wie viele tun. Talleyrand soll auf seine alten Tage nur noch Madeira getrunken haben. Vielleicht wird es mir auch einmal so ergehen, aber bis dahin ist es noch eine Weile. >


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Abgang

Geniessen heisst unterscheiden

G

enuss – das kann so vieles sein. Und genießen kann ein Mensch auf die vielfältigste Weise. Wie schön ist ein früher frischer Sommermorgen, ein Strandspaziergang, ein Sonnenaufgang in den Bergen. Wie wunderbar der Duft eines noch warmen Brotlaibs, wie köstlich der Geschmack eines Butterbrots mit jungem Schnittlauch! Wie anregend ein Gartenabend mit Freunden bei ein wenig Schinken, Käse, einem einfachen Wein und fröhlichem Gespräch. Für solch sinnliche Lebensmomente braucht es nur ein offenes Gemüt und die Bereitschaft, sich auf Welt und Menschen einzulassen. Von den französischen Restaurantkritikern Gault und Millau geht die Legende, dass sie sich zu Beginn ihrer verdienstvollen Tätigkeit, als sie noch nicht bekannt und berühmt waren, in den hehren Tempeln der Kulinarik von den berühmtesten Köchen zu deren Verblüffung zunächst ein Spiegelei zubereiten ließen. Nur wer das scheinbar Einfache perfekt

beherrsche, so war wohl ihre Hypothese, wäre auch in der Lage, das Komplizierte zu vollbringen, das Küchenwunder, wenn alles, auch das Kühnste, gelingt. Dann aber beginnt, mit der Kunst der Köche, auch die Kunst des Genießens, die viel mit Unterscheidung, mit Differenzierung, viel dann auch mit Neugier und Erfahrung zu tun hat. Das elaborierte, das verwandelte Produkt schätzen zu können – dazu bedarf es bei Küche wie Wein nicht nur der Fähigkeit zu sinnlicher Wahrnehmung, sondern auch der Lust an der Reflektion. Kurz, es bedarf nicht nur eines feinen Gaumens, sondern auch eines klugen Kopfes, der sich auch nicht daran stört, dass seine Leidenschaft für das Unerhörte, das Allerbeste von schlichteren Naturen für überspannt gehalten wird. Sei’s drum. Ein solches Bekenntnis zu Premium-Qualität legt Fine Das Weinmagazin seit Jahren in jeder seiner Ausgaben ab, wenn seine Autorinnen und Autoren sich mit großer Passion, kritischer Erfahrung und dem Respekt des Kundigen vor den Leistungen der großartigsten Winzer, den Objekten ihrer Leidenschaft, den herrlichsten Weinen der Welt, nähern. Fine will freilich auch die Stimme der großen deutschen Weine in der Welt sein, eine Haltung, die sich auch in den ungewöhnlichen, von einer nicht nur internen Öffentlichkeit durchaus wahrgenommenen Verkostungen zeigt, wie »Hundert Jahre Riesling« (in dieser Beilage nachzulesen), Assmannshäuser Höllenberg Spätburgunder von 1959 bis 1921 oder den jetzt kommenden Tastings »Fünfzig Jahre Bernkasteler Doctor« und der großen Probe von einundzwanzig Jahrgängen Trockenbeerenauslese von Robert Weil gegen einundzwanzig Jahrgänge Château d’Yquem. Wir schätzen uns glücklich, mit dieser Magazin-Beilage für Wein und Genuss in der FAZ uns den Leserinnen und Lesern dieser Zeitung empfehlen zu dürfen. Vielleicht ist es etwas vermessen, aber wir empfinden diese Verbindung als eine Assemblage der hohen Qualitäten. Im Dezember hoffen wir, Sie mit einer weiteren Cuvée Prestige an dieser Stelle überraschen zu können. Ralf Frenzel Herausgeber Fine

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