Fine Das Weinmagazin 1|2012-Leseprobe

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Deutschland · Österreich · Schweiz ·

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WEI NMAGA ZIN

Dom Pérignon 2003 Stuart Pigott: Deutscher Sauvignon Blanc?

Die Tenuta San Guido

Weingut Bernhard Huber

Die Weinschlösser im Rheingau

Luciano Sandrone

Kirchspiel: Dreimal Riesling

Fass und Wein: Die Kunst der Küfer

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1/2012

Seite 28 Westhofener Kirchspiel

Seite 36 Luciano Sandrone aus Barolo

Seite 50 Die Weinschlösser im Rheingau

Seite 60 Sassicaia - Ein Besuch auf der Tenuta San Guido

Seite 118 Jüdische Spuren in der Weingeschichte

Seite 130 Das Weingut Bernhard Huber in Malterdingen


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I N H A LT Seite 94 Château Angélus

Seite 78 Sofia Thanisch

Seite 44 Dom Pérignon 2003

Seite 14 Domaine Comte Georges de Vogüé

Seite 100 Die Kunst der Küfer

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FINE Editorial

Thomas Schröder

14

FINE Bourgogne

Domaine Comte Georges de Vogüé

28

FINE Rheinhessen

Westhofener Kirchspiel

36

FINE Piemont

Luciano Sandrone

44

FINE Champagne

Dom Pérignon 2003

50

FINE Rheingau

Reinhartshausen, Vollrads und Johannisberg

60

FINE Toskana Sassicaia

70

FINE Das Große Dutzend

Alejandro Fernández

76

FINE Weinwissen

Die Kaltmazeration

78

FINE Frauen im Wein

Sofia Thanisch

84

FINE Wein & Speisen

Jürgen Dollase bei Andreas Krolik

94

FINE Bordeaux

Château Angélus

100

FINE Weinwissen

Die Kunst der Küfer

112

FINE Die Pigott Kolumne

Sauvignon Blanc

116

FINE Reiner Wein

Anne Zielke über Aquarellmalerei

118

FINE Wein und Zeit

Jüdische Spuren in der Weingeschichte

126

FINE Luxus

Was kostet die Welt?

128

FINE Die schönen Dinge

Susanne Kaloff: Der Weinkühlschrank

130

FINE Baden

Weingut Bernhard Huber

140

FINE Das Bier danach

Bernd Fritz: Starkbier und Starckdeutsch

144

FINE Selbstgespräch

Michael Klonovsky

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FINE Abgang

Ralf Frenzel F I N E

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Kirchspiel: Eine Lage, Drei

Die Erste Lage bei Westhofen in Rheinhessen bringt grosse trockene Rieslinge hervor Text: Till Ehrlich Fotos: Christof Herdt und Guido Bittner 28

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Winzer, Neun Jahrgänge

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iese drei Güter haben im letzten Jahrzehnt den Namen Kirchspiel zum Inbegriff feinster Rieslinge gemacht. Mainz-Gonsenheim zu einer verdeckten Vergleichsprobe von neun Jahrgängen Hier entstehen einige der besten trocknen deutschen Rieslinge. Es war die Generation der Eltern, die in den achtziger Riesling Großes Gewächs aus der Lage Westhofener Kirchspiel in Rheinhessen und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts ihre Betriebe eingeladen. In der Vertikale standen die Weine der drei wichtigsten VDP-Wein- auf kompromisslose Spitzenqualität umstrukturiert haben; ihre Nachfolger können heute die Früchte dieser Aufbauarbeit güter dieser Lage, Wittmann, Keller und K. F. Groebe. Die Identität der einzelernten: Sie spielen in der Champions League des Rieslings mit. nen Weine und ihre Jahrgänge waren den Verkostern nicht bekannt. Dabei steht das Handwerk im Mittelpunkt, die Interpretation

Diese Verkostung war ein Tabubruch. Fine hatte ins Restaurant Buchholz in

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des Rieslings und die stilistischen Feinheiten. Die drei Güter sind Konkurrenten, und so stellte sich die Frage: Wie groß sind die Unterschiede? Besonders die jungen Winzer Philipp Wittmann und Klaus-Peter Keller sind exponierte Vertreter ihrer Generation im deutschen Spitzenweinbau. Sie sind seit mehr als einem Jahrzehnt medial präsent, und ihr Qualitätsanspruch ist in der Weinszene bekannt. Die Probe bot nun die Gelegenheit, ihre Gewächse aus dem Kirchspiel für sich sprechen zu lassen, zusammen mit denen von Friedrich Groebe, der sich ebenfalls schon seit vielen Jahren für Spitzenriesling aus dieser Lage engagiert, jedoch weniger bekannt ist.

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ie alle historischen Weinbergslagen ist auch das Kirchspiel ein Ort ­lebendiger Geschichte. Die Lage ist immer da, doch die Winzer kommen und gehen. Im Lauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte kann etwas entstehen, aufgehen und auch wieder untergehen. Im Moment erlebt das Kirchspiel eine Hochzeit, weil hier Winzer am Werk sind, die eine genaue Vorstellung von dem haben, was sie dort tun, und weil sie eine Idee von dem Wein haben, der in dieser Lage wächst. Die erste Erwähnung der Lage als »Kyrs­bühel« stammt aus dem späten Mittelalter. Im 19. Jahrhundert wurde die Bedeutung des Kirchspiels für den Weinbau in mehreren Werken erwähnt, wobei der Zusammenhang von Bodenbeschaffenheit und Bukett hervorgehoben wurde. 1930 ­wurden die vierundvierzig Hektar der historischen Lage bei der Reichsbodenschätzung als Güteklasse Eins klassifiziert. Bis heute ist das der Kern des

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Kirchspiels geblieben. Die Reben wachsen auf kühlen Tonmergelböden; im tief­gründigen Untergrund dominiert Kalkstein. Das Kirchspiel öffnet sich zum Rhein hin und ist durch eine Hügelkette vor Kaltluft geschützt. Die frühe Morgensonne begünstigt eine langsame und frischebewahrende Reifung der Trauben. Die Vorfreude auf eine interessante Verkostung war bei allen Gästen entsprechend hoch, wie auch die Erwartungen, da besonders die trocknen Kirchspiel-Rieslinge von Klaus Peter Keller seit Jahren von einem Teil der Weinkritik regelmäßig zu den besten Gewächsen Deutschlands gekürt werden. Als der erste Flight mit seinen neun ­Weinen blind eingeschenkt wurde, gab es zunächst Protest am Tisch: So werde man den Weinen doch nicht gerecht – ohne Kenntnis von Jahrgang und Winzer könne man die Gewächse des Kirchspiels weder verstehen noch beurteilen.

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esonders für die anwesenden Winzer war es eine Herausforderung, ihre Weine, die zum Teil schon gereifter waren, in einer s­ olchen Wettbewerbssituation zu erleben. Doch je weiter die Verkostung fortschritt, desto ruhiger wurden sie. Denn die Sprache des Rieslings war deutlich: ­komplex, würzig, lebendig und intensiv. Auch das Aromen­spiel war unabhängig von Intensität und Reife bei fast jedem Wein vielschichtig ausgeprägt, nie offensichtlich oder gar einseitig. Das Niveau der Weine war qualitativ sehr hoch und ausgeglichen. Sie lagen eng beieinander, was Speku­ lationen darüber, welcher Wein von w ­ elchem Winzer und aus welchem Jahrgang stamme, stark erschwerte.

Es gab Unterschiede in Reife, Geschmack, Konzentration, Finesse und Potential. Doch wie stark waren diese Differenzen auf die jeweiligen Jahrgänge und die Stilistik der einzelnen Weingüter zurückzuführen? Bei dieser Frage war jeder auf seine eigene Wahrnehmung zurückgeworfen. Für manche Verkoster war die Grundsituation – gedämpftes Tageslicht im Fachwerk­giebel – eine gewisse Herausforderung. Durch die Lichtverhältnisse war man verstärkt auf Riechen und Schmecken angewiesen – ohne den scharfen, schnellen Blick. Gerade bei reiferen Jahrgängen substantieller Weine sind die Spuren und ­Stufen ihrer Entwicklung in Duft und Geschmack oft nicht vordergründig wahrnehmbar. Nach den anfänglichen Protesten, die im Nachhinein wie Ausweichmanöver erschienen, wurde bald klar, dass im Mittelpunkt des Geschehens die Weine in ihrer Autonomie standen – eine Überraschung auch für jene, die es gewohnt sind, solche Herausforderungen anzunehmen.

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ies galt nicht nur für die Wahrnehmung, ­sondern auch für die Beurteilung und die sachgerechte Bewertung der Weine. Hier ­müssen einige Missverständnisse geklärt w ­ erden. Trockne Rieslinge kommen, unabhängig von Terroir und Jahrgang, anders in Balance als beispielsweise trockne Weine aus Burgundersorten. Sie »­brauchen Stoff und Fülle, die Fruchtsäure sollte gut eingebunden sein«, heißt es im aktuellen Gault Millau Wein-Guide. Das ist gewiss


Blind verkostet, aus Karaffen eingeschenkt: Beherzt stellen sich die drei rheinhessischen Winzer Philipp Wittmann, Klaus-Peter ­Keller und Friedrich Groebe im Mainzer Restaurant Buchholz mit ihren Rieslingen aus dem Westhofener Kirchspiel dem Urteil der Verkoster.

nicht falsch, doch es greift zu kurz. Denn ob ein trockner Riesling außergewöhnlich ist und damit »groß« genannt werden kann, hängt weniger vom so genannten Stoff, der Konzentration und ­seinem Körper ab, sondern von der Balance und Stimmig­keit. Ohne Finesse kommt die Komplexi­ tät nicht positiv zur Geltung, der Wein mag zwar geschmacklich kraftvoll sein, weil er konzentriert ist, aber die subtile Spannkraft, der Tonus, fehlt. Riesling lebt nicht allein von der Konzentration, sondern von seinem komplexen Spiel, zu dem auch seine natürliche Restsüße beiträgt. Und Fülle bedeutet eben nicht alkoholische Wucht, sondern Entfaltung von Intensität im inneren Volumen, das von Komplexität, Geschmackstiefe und Dauer bestimmt ist. Ein allgemeines Problem bei trocknen deutschen Rieslingen ist, dass einige Erzeuger immer wieder der Versuchung erliegen, fehlende Harmonie und mangelnde Substanz mit Restsüße zu kaschieren. Daher genügt es nicht, dass die Fruchtsäure lediglich gut eingebunden ist. Sie muss so proportioniert sein, dass sie die Restsüße als verdeckten Zwischenton subtil zum Ausdruck bringt, ohne sie banal und offensichtlich wirken zu l­ assen. Die Kirchspiel-Verkostung hat gezeigt, dass dies hier in geeigneten Jahren wie 2002 und 2008, die weder zu kühl noch zu heiß waren, gelingen kann. In diesem glücklichen Fall orchestriert die Fruchtsäure den grundlegenden Geschmackston des Rieslings. Dabei gibt es keine Regeln, sie kann subtil im Hintergrund wahrnehmbar sein oder fokussiert und ungebändigt im Zentrum stehen. Wie auch immer sie den Geschmack organisiert, trockner Riesling erlangt durch Feinheit, Eleganz,

Spiel, Komplexität und Intensität seine Relevanz und Größe, nicht durch Überkonzentration, Alkohol-Power oder banale Süße-Säure-Harmonien, die dann als »Frucht« gepriesen werden. Und natürlich muss sich Größe auch im gereiften Zustand beweisen. Jungweine haben immer ihre Reize, doch erst wenn ein Wein in der Zeit sein Potential erfüllt, beweist er Wert und Klasse. Als am Ende der Verkostung die Auflösung bekannt gegeben wurde, war deutlich: Die Klasse

der Lage war wie ein roter Faden als ein Gemeinsames in den Weinen erkennbar geworden. Die Weine der drei Winzer lagen recht eng beieinander, und ihr insgesamt hohes Niveau verteilte sich je nach Jahrgang auf die drei Güter. Ein signifikanter Qualitäts- oder gar Klassenunterschied zwischen den drei Erzeugern war nicht erkennbar. Heraus ragten die kühleren, langsamer gereiften Jahrgänge wie 2002 und 2008; schwächer sind warme Jahrgänge wie 2003 und 2006.  >

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Der Padrone hebt das Glas: Luciano Sandrone hat eine k­ ostbare Flasche geöffnet, die ­siebenhundertneunundneunzigste von ­eintausendfünfhundertsiebzig Flaschen seines Barolo vom Jahrgang 1978.

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Text: Rainer Schäfer Fotos: Rui Camilo

Mit dieser Übung tut sich Luciano Sandrone schwer.

ebbt Sandrones tiefe Stimme ab. Der Winzer ist ­keiner,

Er hat einige der prächtigsten Barolos erzeugt, er

der gern viel redet und wenig dabei erzählt. Ein Wort

gilt als einer der besten Winzer Italiens und wird in

aber verbindet seine Sätze: ­Perfezione. ­Perfektion, das

­vielen Ländern hofiert. Aber diese Aufgabe kann er

ist es, was seine Arbeit und den ­Charakter ­seiner Weine

unmöglich bewältigen: Mit einem einzigen Wort soll

auszeichnen soll. ­Sandrone freilich ist ein bescheidener

er ­beschreiben, was den Barolo, den piemontesischen

Mann ­geblieben, er weiß, dass man sich dem p ­ erfekten

König der Weine, ausmacht. Sandrone, sechsund­sechzig,

Barolo nur an­nähern kann, Jahr für Jahr. Auch wenn

blickt streng über den Rand s­ einer Brille. Er hebt an

andere in ­Ekstase dahinschmelzen vor seinen ­Weinen –

zu einem kurzen Vortrag, lässt Begriffe s­ chwirren wie

­Sandrone will immer noch ein Quäntchen mehr an

Tannine, Frucht, Struktur. Aber nach wenigen Sätzen

Qualität herauskitzeln.

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B Am Tisch in der Azienda Agricola Sandrone am Rand des Städtchens Barolo ­sitzen

neben dem Winzer sein Bruder Luca und seine Tochter Barbara. Die Interview­

fragen hat sich Sandrone vorab ins Italienische übersetzen lassen, er will vor­bereitet sein. Das Papier hält er zwischen den Fingern wie einen Staatsvertrag. Wer bei

­Sandrone eine Mischung aus italienischer Lässigkeit, Dampfplauderei und schnell

vergänglichem Gefälligkeitscharme erwartet, wird enttäuscht. Ober­flächliche

­Gesten schenkt er sich, dafür zeigt er eine große Ernsthaftigkeit im Gespräch, die auch sein Ringen um den Barolo bestimmt.

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erfezione: Schwächen sind nicht zugelassen in diesem Ent­ wurf. Arbeit und noch einmal Arbeit, das ist die Keimzelle der Entwicklungsgeschichte, die den Namen ­Sandrone zum Synonym für magische Barolos werden ließ. »Du musst auf deiner Haut spüren, dass du arbeitest. Jeden Tag«, sagt ­Barbara Sandrone, einundvierzig, die in erster Linie das Weingut ver­ waltet. Um Keller und Weinberge kümmern sich Luciano und Luca, zwei grundverschiedene Brüder, die gut harmonieren. Luca kam etwas später in die Familie, genau zweiundzwan­ zig Jahre nach Luciano, er ist vierundvierzig. Wenn der ath­ letische Luca nicht im Weinberg »die Reben trainiert«, ist er auf dem Rad unterwegs, er fährt gern Rennen. Luca gilt als ausgeglichen, Luciano kann auch mal laut werden. Aber wie

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in jeder guten italienischen Familie hat eine Frau im Streit­ fall das letzte Wort: Mariuccia, Lucianos Ehefrau. »Sie ist sehr präsent«, sagt Barbara, die wie ihre Mutter Herzlichkeit ver­ strömt. Die Männer sind verschlossener und zurückhalten­ der. Vielleicht auch ein Schutzreflex, um das zu meistern, was über die Familie hereingebrochen ist, seit Luciano Sandrone 1990 der Cannubi Boschis geglückt ist. Ein gigantischer Wurf, Sandrone wurde über Nacht zum bewunderten Star unter den Barolista. Dieser Wein war ein piemontesisches Manifest: ein Barolo wie Seide, fein und geschliffen, tief und geheimnisvoll. Anhand der Vita seines Erzeugers lässt sich die Geschichte vorzüglich erzählen, wie das Piemont vom Armenhaus zu einem Mekka der Weinwelt heranwuchs. Wein spielte nur


Barolo eine Nebenrolle, als Luciano Sandrone sich in den 1960er Jahren für einen Beruf entscheiden musste. Das Piemont war kaum in der Lage, seine Bewohner zu ernähren. Viele zogen weg, in die Städte. »Alle wollten in Turin bei Fiat unter­ kommen, die Weinberge hatten sie vergessen«, sagt Sandrone. Ihn zog es trotzdem zum Wein, bei den Marchesi di Barolo etablierte er sich als Kellermeister. »Aber er hat etwas ver­ misst, er träumte von eigenen großen Weinen«, weiß seine ­Tochter Barbara. Im engen Keller seines Hauses begann er erste Weine zu keltern, zunächst für den Hausgebrauch. Was ihn antrieb: Er suchte nach einem Weg, wie die oft verschlos­ senen Baroli aus der Nebbiolo-Traube schneller ihren Cha­ rakter entfalten könnten. Fast alle Weinbauern verkauften ihre Trauben an wenige Weinmacher, der Umschlagplatz war die Piazza Savona in Alba. Auch Sandrone war manchmal dort, er fiel auf, weil er keinen Kaffee trank, stattdessen ein Gläschen Glühwein vorzog. Ein Italiener, der keinen Kaffee mag? Impossibile. ­Sandrone wurde immer aufgezogen: »Luciano, trink endlich mal K ­ affee.« Der fiel aus dem Raster, nicht nur bei der Getränkewahl. ­Sandrone sah sich nach eigenen Rebflächen um, als der Weinbau kurz vor dem Kollaps stand. Das Qualitäts- und Preisniveau der Weine aus Barolo war Anfang der 1970er Jahre auf einen Tiefstand abgesackt. Damals erwarb Sandrone eine Parzelle in der Lage Cannubi Boschis mit kalkhaltigem Lehmboden. Keiner konnte ahnen, dass Weine aus diesem Filetstück den piemontesischen Weinbau umkrempeln sollten. Heute ist es beinahe unmöglich, sich in diese Spitzenlage einzukaufen. Die Sandrones halten dort inzwischen beinahe drei Hektar ­Fläche. Cannubi ist ein Pilgerort des internationalen Wein­ tourismus geworden. Tausende starren jedes Jahr erwartungs­ voll auf ­diesen Hügel, als ob der sich gleich erheben und sein Geheimnis preisgeben könnte. Heute erscheint es unvorstellbar, dass Sandrone schlecht geschlafen habe, als aus dem Jahrgang 1978 seine ersten fünfzehnhundert Flaschen Barolo zum Verkauf anstanden.

Die Familie hält zusammen: Wie Luciano Sandrone haben sich auch sein Bruder Luca, seine Tochter Barbara und seine Ehefrau Mariuccia ihre bäuerliche Mentalität erhalten. In ihrem Weingut am Dorfrand von Barolo wird die Tradition geachtet und der Fortschritt nicht verschmäht.

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Piem Mit Winzern wie Domenico Clerico und Roberto ­Voerzio ­grübelte er darüber nach, wie sie ihre Weine nur los­schlagen ­könnten. Als auf der Vinitaly in Verona 1981 ein amerikani­ scher H ­ ändler fast das gesamte Kontingent abnahm, began­ nen S ­ andrones Zweifel zu schwinden. Aber erst nach dem Ausnahmejahrgang 1990 verließ Sandrone die ­Marchesi, Luca stieg 1992 in den Betrieb ein, Barbara, damals noch als Flug­ begleiterin unterwegs, zwei Jahre ­später. Luciano ­Sandrone wuchs schnell zu einer Persönlichkeit, die auch im Streit ­Haltung zeigte, der zwischen Modernisten und Traditionalis­ ten losgebrochen war. Er zählte zu einer Gruppe von ­Winzern, die das Erbe ihrer Väter auf den Kopf s­ tellten. Es gibt nicht wenige, die ihn für einen Revolutionär h ­ alten. »Unfug«, sagt er. Sandrone sieht sich als »modernen T ­ raditionalisten«, ein ­Etikett, mit dem er sich wohlfühlt. Mit ­Winzern wie Elio Altare führte er die neue Schule des Barolo an, die darauf abzielte, charmantere Weine zu erzeugen und nicht die ­ruppigen Baroli, die sich erst nach zwanzig Jahren öffneten – wenn überhaupt. Die Erträge im Weinberg wurden radikal begrenzt, die Maischezeiten extrem verkürzt, um das Auslösen der beim Nebbiolo oft harten und bitteren Gerbstoffe zu verhindern.

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Der Ausbau der Weine sollte nicht mehr in alten, schlecht gepflegten Holzfudern erfolgen. Dafür wurden auch ­Barriques aus dem Ausland eingeführt, ein Affront für die Traditionalisten und sehr unitalienisch. Und die Ursache, warum ganze Familien auseinandergerissen wurden: Väter enterbten ihre Söhne, weil die sich für das kleine Eichenfass entschieden h ­ atten. Inzwischen ist der Krieg der Stile ausge­ fochten, er hat zu der Erkenntnis geführt, dass ­mehrere Wege zu einem guten Barolo führen können. »Wir ­dürfen nicht unsere ­Wurzeln vergessen. Aber es ist dumm, auf moderne ­Technik zu verzichten«, sagt Luciano Sandrone, der das ­seltene Zusammenspiel überlieferter Weisheit und ­moderner Kompetenz beherrscht. Was erzkonservative Barolista als Tradition verkauften, seien oft einfach nur überalterte Prak­ tiken. Lange Zeit hätten die Bauern ihren Wein nebenbei gemacht und ihn wochenlang vernachlässigt. »Wenn das ­Tradition sein soll, dann ist es eine schlechte.« Was Sandrone von den extremen Modernisten unterscheidet, ist seine Ver­ weigerung der ­Barriques. Er verwendet Fünfhundert-LiterTonneaux aus französischer Eiche, überwiegend gebrauchte. Es sind »Behälter, die den Wein nicht formen«. Sie helfen, ihn zugänglicher zu machen, ohne seinen Lagencharakter


mont Das Rebland ruht im Schnee: Doch die lebendigen Farben der Etiketten lassen Eleganz und Glut der Weine von Luciano Sandrone erahnen.

zu entstellen. Barrique, das ist für ­Sandrone Burgund, aber »Barolo muss piemontesisch s­ prechen. Unser Wein muss die Umgebung ausdrücken. Du musst ihn probieren und wissen, wo du bist.« Im Nebeldunst verstecken die Langhe ihre Reize, nur lang­ sam geben sie ihre Hügel frei, Kette für Kette. Die Rebzei­ len scheinen auf ihre Hänge gestanzt wie von einer riesigen Nähmaschine. Die Sandrones haben mit großer Umsicht und zäher Hartnäckigkeit ein Lagenportfolio von siebenundzwan­ zig Hektar zusammengepuzzelt, das verschiedene Facetten des Nebbiolo zeigt. Im Roero, in der Gemeinde Vezza d’Alba, bewirtschaften sie den Valmaggiore, ein mächtiges Amphi­ theater aus Sand. Wie eine Rampe erhebt sich der Wein­ berg, hier wird Arbeit zur Plackerei. »Man muss Artist sein und ein bisschen verrückt, um hier Wein zu erzeugen«, sagt Luca Sandrone. Da entfaltet der Nebbiolo seine weibliche Seite:. »In Barolo zeigt er sich wie ein Boxer, in Vezza d’Alba wie eine Ballerina.« Auf dem Rückweg nach Barolo deutet Luca Sandrone auf Weingüter, die häufig den Besitzer wechseln. Geschäfts­ leute versuchen, auch im Barolo-Gebiet mit Weinbau schnelle ­Rendite zu erzielen. Das sei aber unmöglich, sagt

Luca ­Sandrone, »man darf das Piemont nicht mit der ­Toskana verwechseln«. Die Nebbiolo-Rebe gilt als empfindlich, man müsse sich um sie kümmern wie um ein Kind. Einige Zuge­ wanderte haben aufgegeben, auch wegen der schweren Arbeit. »Es ist kein sehr steiniger Boden hier. Aber die Steine, die wir haben, sind sehr hart«, sagt der Önologe mit einem die­ ser Leitsprüche, die typisch sind für die Familie und die sich erst richtig erschließen, wenn man durch die steilen, schwer zugänglichen Weinberge klettert. »Du brauchst eine bäuer­ liche Mentalität, um hier zu bestehen«, sagt Luca Sandrone. Heute versuchen sich viele am Barolo, nicht jede der Abfül­ lungen verdient den Namen. Wenn sich am Wochenende die Barolista auf der Piazza Savona treffen, bei einer Tasse Kaffee, dann fehlt einer. ­Luciano Sandrone mag »das Getratsche nicht«, er geht l­ ieber allein angeln, Bachforellen, um in Ruhe über seine Weine nach­denken zu können. Er verabschiedet sich, er hat viel geredet, für seine Verhältnisse. Er will noch mal raus in den Weinberg, er liebt es, müde zurückzukommen, mit dem Gefühl, vielleicht noch ein wenig näher an sein Ziel gerückt zu sein: an Weine, aus denen große Hingabe spricht. Und viel Perfezione.  >

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T a s tin g

Rainer Schäfer verkostet dreizehn Weine von Luciano Sandrone 2011 Dolcetto d’Alba

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Tankprobe. Ein noch ungestümer Dolcetto d’Alba mit guten Anlagen. Seine Trauben stammen aus fünf Weinbergen in Barolo, Monforte d’Alba und Novello. Ein Wein, der nach der Füllung durch Lagerung gewinnen wird.

2010 Dolcetto d’Alba

86 P

Luciano Sandrones Dolcetto d’Alba wird im Stahl vergoren und ausgebaut. Er zeigt ein leuchtendes Rubinrot mit violetten Reflexen. In der Nase ­bietet er den fruchtigen Duft von Marasca-Kirschen und Waldbeeren. Am G ­ aumen würzige Noten von Pfeffer und Lakritz sowie ein wenig Mandel. Ein gut strukturierter und ausgewogener Dolcetto, der nicht zuviel an Säure und Alkohol tragen muss.

2010 Barbera d’Alba

88+ P

Ist erst auf die Flasche gekommen, braucht noch Zeit, um sich zu finden. Zeigt weniger Fruchtaromen als der 2009er, die Säure ist präsenter. Attrak­ tiver, aber noch verschlossener Wein mit dichter Textur. Die klare Struktur, die Sandrones Weine auszeichnet, ist schon zu erkennen. Ein Barbera, der zeigt, dass es lohnt, sich um die lange vernachlässigte Rebsorte zu kümmern.

2009 Barbera d’Alba

88 P

Dieser Barbera stammt aus Parzellen in Novello und Monforte d’Alba. Er wurde in Fünfhundert-Liter-Fässern aus französischem Holz ausgebaut – in je zur Hälfte gebrauchten und neuen. In der Nase rote und schwarze ­Beeren, Pflaume, viel Kirsche und sanfte Holztöne. Im Mund ausdrucks­ starke Fruchtaromen, die sich mit würzigen Kaffeenoten und harmonischer Säure verbinden. Ein geschmeidiger Wein aus einem sonnigen Jahrgang.

2009 Valmaggiore Nebbiolo d’Alba

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Der Valmaggiore in der Roero-Gemeinde Vezza d’Alba ist ein von der Natur steil aufgehäufter Sandberg, eine Lage, in der es im Sommer sehr heiß werden kann. Die hohe Stockdichte von neuntausend Reben pro Hektar ermöglicht einen niedrigen Ertrag und verleiht dem Wein einen besonderen Charakter: üppig, aber immer elegant und sehr fruchtig. Zeigt eine gute Ausgewogen­heit zwischen Säure und einladenden Gerbstoffen, langer und weicher Abgang. Viel Potential.

2006 Valmaggiore Nebbiolo d’Alba

91 P

In diesem Nebbiolo klingt auch der gute Barolo-Jahrgang 2006 an. ­Filigrane Struktur, Kaffeearomen, reife Kirschen, Veilchen im Hintergrund, von einem leichten Kräuterton untermalt, seidiges Tannin, Schmelz, fast zärtliche Säure. Die feminine und großzügige Seite des Nebbiolo, der sonst gern den h ­ arten Kerl markiert.

2004 Valmaggiore Nebbiolo d’Alba

91 P

In der Nase rote eingelegte Frucht, dezente Äthernoten, florale Anklänge von Veilchen. Am Gaumen reife rote Frucht, Kirsche, Pflaume. Ein n ­ obler ­Nebbiolo, sauber strukturiert, mit gut integrierter Säure und runden ­Tanninen: eine elegante Erscheinung. 42

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2008 Le Vigne Barolo

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Mit dem Le Vigne hält Luciano Sandrone die Tradition im Piemont hoch, Weine aus unterschiedlichen (in diesem Fall vier) Parzellen in Barolo, Novello und Monforte d’Alba zusammenzuführen. Er variiert die Anteile der einzelnen Lagen Jahr für Jahr. In der Nase Anklänge von Veilchen und ein Hauch von Teer, am Gaumen Kirsche, Pflaume, Gewürze. Der Le Vigne entfaltet die dem Barolo eigene Komplexität spielerisch. Edel, reich und tief.

2007 Le Vigne Barolo

94 P

Sattes Rubingranat. In der Nase schwarze Frucht, kraftvoll auch im Mund, schwarze Kirsche und Brombeere, etwas Teer, Gewürze, zerstoßene Blumen. Ein konzentrierter und beeindruckender Wein, ausgewogen mit anhalten­ dem Volumen und straffem Tannin, im langen Abgang Fruchtnoten von ­weicher Pflaume, Gewürz- und Mentholnoten.

2003 Le Vigne Barolo

92 P

Wurde vierundzwanzig Monate in französischen Tonneaux ausgebaut, davon ein Viertel neues Holz. Helles Granatrot, rote Früchte und etwas Trüffel in der Nase, eingelegte Veilchen, am Gaumen reich und saftig. Trotz des ­heißen Jahres nicht zu viel Volumen. Weiches, schmeichlerisches Finale, aber ohne den Druck, der den Cannubi Boschis auszeichnet.

2008 Cannubi Boschis Barolo

94+ P

Der Cannubi Boschis ist einer der großen Einzellagenweine im BaroloGebiet; der aus dem Jahrgang 1990 verhalf Luciano Sandrone zu Welt­ ruhm. Zum ersten Mal vinifizierte Sandrone ihn 1985 als Einzellage und führte damit das Konzept der Cru-Weine in den Langhe ein. Der erste Schluck wirkt wie ein Espresso am Morgen, sehr dominant, dieser Barolo will Aufmerksamkeit. Kirsche, Veilchen, Brombeere und Gewürze in der Nase, f­ ordernde Säure, am Gaumen würzig. Viel Druck im Abgang, g­ roßes Potential.

2007 Cannubi Boschis Barolo

96 P

Dunkles Rot, in der Nase eine beeindruckende Gewürz- und Frucht­ konzentration, satte Kirsche, Veilchen, Teer und Leder. Explodiert gerade­zu im Mund, perfekte Balance zwischen Frucht, schon weichen Tanninen und Säure. Sehr präsent und fordernd, kernige Dichte, im Finale druckvoll. Eine große und kraftstrotzende Persönlichkeit, die zeigt, warum Barolo eines der sinnlichsten Versprechen im Glas sein kann.

2003 Cannubi Boschis Barolo

94 P

Granatrot. Äthernoten in der Nase, Aromen von Pflaumen, Veilchen, Erd­ beeren und Kirschen. Verbindet die Kraft dieses Sonnenjahrs mit Ele­ ganz. Harmonisch und seidig, aber nie langweilig, sehr tief und konzent­ riert. ­Weiche Tanninstruktur. Ein Beleg für Luciano Sandrones innovativen Geist und seine bewahrende Noblesse.  >


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P2003 érignon glücklicher Richard Geoffroy:

»Dieser Jahrgang macht mich

als alle anderen zuvor« Text: Caro Maurer mw Fotos: Guido Bittner und Johannes Grau

Dieser Jahrgang verlangte Opfer. Und in der Champagne gleich doppelt: Zuerst im Frühjahr durch Hagel und Frost, die die Blüten an den Rebstöcken dezimierten. Dann kam

die große Hitze – mitten zur besten Ferienzeit. Während sich andere am Strand darüber

freuen konnten, hatte Richard Geoffroy keine ruhige Minute mehr. Jeden Tag ließ sich der Kellermeister von Dom Pérignon die aktuellen Daten nach Südfrankreich mailen: Die

Zuckerwerte stiegen und stiegen, die Säure fiel und fiel. Mitten im August brach G ­ eoffroy schließlich seinen Urlaub ab, ließ die Familie zurück und fuhr allein nach Hause in die

Champagne. Keinen Tag zu spät. Am 25. August 2003 gab er das Startzeichen für die Lese.

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D P Im Park vor der Abteikirche von Hautvillers: Zwei Seelen wohnen in der Brust von Richard Geoffroy, dem ingeniösen Kellermeister von Dom Pérignon – Skepsis und Begeisterungsfähigkeit. Der Jahrgang 2003 ließ ihn Außergewöhnliches wagen. Vom Ergebnis ist er selber berauscht.

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eute weiß Richard Geoffroy: Alle Opfer haben sich gelohnt. Der 2003er Dom ­Pérignon ist ein herausragender Wein geworden: von eindrucksvoller Intensität, Dichte und Struktur. »Seit den zweiundzwanzig Jahren, die ich für Dom Pérignon arbeite, war dies der Jahrgang, der mich am meisten herausgefordert hat«, gesteht der Kellermeister. Und deshalb sei er auch viel sentimentaler, wenn es um den Wein ginge als normaler­weise: »Der 2003er macht mich glücklicher als alle Jahrgänge zuvor.« Mit Sicherheit auch deshalb, weil Geoffroy gerade erlebt, wie begeistert das Ergebnis in der ganzen Welt aufgenommen wird. Nach Präsentationen in ­London, Mailand, Chicago und Hongkong zieht er eine Zwischenbilanz: »Ich glaube, die Menschen ­spüren und schmecken, wieviel Liebe und Energie in ­diesen Wein eingeflossen sind.« Seit 1990 ist Richard Geoffroy Chef de Cave bei Dom Pérignon, und im Rückblick waren da einige schwierige Jahrgänge wie 1996 beispielsweise mit einem sehr wechselhaften Sommer. Aber er hat gerade aus solchen Ausnahmesitua­tionen gelernt, sich im Keller der Natur anzu­passen. »Wir sind immer besser geworden dadurch«, so ­Geoffroy. Und dieses Gefühl verspürt er beim 2003er noch intensiver: »Er hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. Das Ergebnis hat uns noch mehr Selbstvertrauen für den nächsten Jahrgang gegeben.« Dom Pérignon – das ist ein Name, der verpflichtet. Es ist die Prestige-Cuvée aus dem Hause Moët & Chandon – und einer der berühmtesten Champagner der Welt. Es sei dahingestellt, ob Pierre Pérignon (1638 bis 1715), der Kellermeister der Abtei von Hautvillers, tatsächlich die Méthode champenoise erfunden hat, also die zweite Gärung eines Weins in der Flasche durch das Zusetzen von Zucker und Hefe. Oder ob dies doch ein Engländer war – und Dom Pérignon nur als Urheber für den klassischen ChampagnerVerschnitt gelten darf. Moët & Chandon jedenfalls betont gern die erste Version. Unbestritten jedoch ist, dass Dom Pérignon, neben dem ­Cristal aus dem Hause Roederer, 1936 die erste PrestigeCuvée war, die auf den Markt kam und damit ein ganz neues Segment begründete. Als Moët sich

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entschloss, den Wein nach dem Benediktinermönch zu nennen, wurde der Mythos quasi auf dem Etikett manifestiert.

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s war ein gewagtes Unternehmen, in den wirtschaftlich unruhigen Jahren der Vorkriegszeit solch ein Luxus-Produkt zu präsentieren, d ­ oppelt so teuer wie die besten Jahrgangs­champagner. Doch Dom Pérignon entwickelte sich zu einem grandiosen Erfolgskonzept: nur aus den ­besten Jahrgängen, immer nur aus den Trauben der ­gleichen Lagen, strengste Auslese in Weinberg und Keller. Und dann natürlich der Verschnitt: Dom Pérignon steht für die perfekte Balance von Chardonnay und Pinot Noir, um die Dominanz einer der beiden klassischen Champagner-­ Rebsorten auszuschließen. Auf der Suche nach der vollkommenen Harmonie für den Jahrgang 2003 wich Geoffroy von der ansonsten gängigen Halbe-halbe-Lösung ab – und räumte dem Pinot Noir mit sechzig Prozent mehr Spielraum ein. »Die Assemblage«, sagt er, »ist immer die schwierigste Entscheidung. Durch sie wird der einzigartige Stil von Dom ­Pérignon geprägt. Für den 2003er mussten wir jedoch

außerhalb der Schubladen denken.« Dafür hatte schon die Natur gesorgt: Durch den Hagel und den Frost im Frühjahr war die Ernte beim Chardonnay sehr gering, nur zwanzig Hektoliter pro Hektar. Und die Trauben waren sehr konzentriert und reichhaltig. Das verlangte nach einer ­größeren Menge Pinot Noir als Ausgleich. »So hat der Wein zu seiner natürlichen Balance gefunden.« Bei der Lese Ende August war die Perspektive noch eine andere gewesen. »Wir w ­ ussten, dass in diesem Jahr nicht Zucker das Kriterium für den richtigen Lesezeitpunkt war, sondern die phenolische, also die aromatische Reife.« Auch die Säure galt als wichtiger Faktor, aber, so G ­ eoffroy, »wegen der Säure hatte ich nie ­Bedenken. Das erschien mir eher als Hysterie.« Viele seiner Kollegen wurden von der schnellen Reife jedoch schlicht überholt – und haben hinterher Säure zugesetzt. Eine falsche Entscheidung, meint Geoffroy, die jeden Wein aus seinem natürlichen Gleichgewicht bringt. Andere Tatsachen bereiteten ihm in jenem Spätsommer viel mehr Sorgen. Die Temperatur der Trauben beispielsweise. In einem normalen Jahr beträgt sie rund zwanzig Grad Celsius bei der Lese; Technik, um die Trauben zu kühlen, ist


P2003 im Keller deshalb erst gar nicht installiert. Doch damals waren es gut zehn Grad mehr. Das hätte vor allem für die Farbe des Weins Konsequenzen haben können, denn Pinot Noir ist eine rote Traubensorte. Die Farbstoffe, die Anthocyane, sitzen in der Schale. Die Trauben mussten also schnellstmöglich auf die Presse, um längeren Schalen­ kontakt zu vermeiden. Um eine pure Aromatik zu erhalten, werden die Grundweine von Dom Pérignon immer in Stahltanks vergoren und dabei Sauerstoff­kontakt jeglicher Art vermieden. Es wird also reduktiv gearbeitet, und 2003 war dies noch wichtiger als sonst. Das Resultat war für Geoffroy dennoch überraschend: In dem Wein fand sich hinterher eine sehr mineralische, fast salzige Note, die er bei diesen Voraussetzungen nicht erwartet hatte. Und während andere anschließend den sonst üblichen biologischen Säureabbau vermieden, um die verbliebene Säure im Wein zu erhalten, ließ der Herr über den Keller von Dom Pérignon seine Weine alle die malolaktische Gärung durchlaufen, bei der die spitzere Apfelsäure in die weichere Milchsäure umgewandelt wird. Das sorgte für Textur und das richtige Mouthfeel, das volle Gefühl im Mund. Sieben Jahre lang blieb der Dom Pérignon Jahrgang 2003 dann auf der Hefe, um die typischen Champagnernoten wie Biskuit und Nuss zu entwickeln. Im Frühjahr letzten Jahres w ­ urden die Flaschen degorgiert und mit der Liqueur

d’expédition die Dosage zugesetzt, die immer eine kleine Menge Zucker enthält, zum Ausgleich der Säure. Mit bis zu fünfzehn Gramm Restzucker gilt ein Champagner als »brut«. Doch genau hier unterscheidet sich der 2003er von den anderen Jahrgängen. Die Fruchtreife war so üppig, dass sich Geoffroy entschied, die Dosage so niedrig wie nur möglich anzusetzen: mit nur etwa sechs Gramm Restzucker. Der Chef de Cave glaubt sogar, dass Dom Pérignon in warmen Jahren noch besser ist, »weil er die Kraft hat, den Exzess der Natur auszubalancieren«. Auch 2002 war ein sehr reifer Jahrgang, erinnert er sich, der Chardonnay war sogar fast überreif. Aber im Dom Pérignon 2002 manifestiert sich das nur durch eine aparte Reichhaltigkeit, die keinen Moment lang aufdringlich wirkt.

zurückgekommen. Und ich hatte den Willen.« Manchmal sei es mit dem Champagner-Machen eben wie im Sport: Die richtige psychologische Einstellung und Taktik ist entscheidend. Richard Geoffroy ging bei diesem Wettbewerb sozusagen als erster durchs Ziel. Der 2003er hat die Länge, die Intensität und die Nachhaltigkeit, um der Dom-Pérignon-Geschichte eine weitere Berühmtheit hinzuzufügen. Ohne dabei den typischen Stil des Hauses zu verleugnen. Sicher, sagt Geoffroy, es ist ein »Borderline«-Dom-Pérignon, ein Grenzfall, der die stilistischen Möglichkeiten voll ausschöpft, sie vielleicht sogar ein bisschen erweitert. Doch er reflektiert immer noch beides: neben der Einzigartigkeit des Jahrgangs auch den unverkennbaren Charakter des Dom Pérignon. Nach 2000 und 2002 ist der 2003er bereits der dritte Dom Pérignon, der seit der Jahr­ tausend­wende präsentiert wird. In den achtziger Jahren beispielsweise gab es insgesamt nur fünf Jahrgänge. Wird dieses erste Jahrzehnt also eine glorreiche Dom-Pérignon-Dekade? »Ich halte nichts von künstlicher Verknappung. Warum soll ich limitieren, wenn alle Voraussetzungen für einen Jahrgangschampagner gegeben sind? Ich möchte niemanden um einen großen Wein betrügen.« Normalerweise gebe er ja keine Prognosen ab, betont Geoffroy, aber diesmal, »warum eigentlich nicht?«. Ja, es wird auch einen Dom Pérignon 2004 geben. Grund zur Vorfreude.  >

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it dieser Erfahrung hat Geoffroy die Entscheidung, 2003 überhaupt einen Dom Pérignon zu produzieren, deshalb schon ­früher gefällt als üblich. Normalerweise wartet er damit bis zur Assemblage, aber hier wusste er es vom ersten Moment an, als er aus dem Sommer­urlaub zurückgekehrt war und in den Weinbergen stand: »Mir schwante, dass es so bei dem großartigen Jahrgang 1947 gewesen sein muss. Der war noch reifer als der 2003er. Und ich wusste, vor mir lag die Möglichkeit, auch eine solche Legende zu erschaffen. Ich war zum richtigen Zeitpunkt

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Caro Maurer MW verkostet Dom Pérignon 2003

2003  Dom Pérignon

In der Nase faszinierend. Neben den vertrauten Eindrücken von Biskuit und Cashewkernen schickt er Andeutungen von Kampfer, weißem Tabak und ­rauchige Noten vorneweg, sehr apart, aber auch sehr typisch – bis zu dem Moment, in dem man den ­ersten Schluck nimmt. Denn der ist schlicht überwältigend, so intensiv, fast schon exzessiv im Ausdruck. Er fl ­ utet den Mund mit einer ausschweifenden Fülle von ­Eindrücken: Zitronat, Quitte, Apfel, Orangenblüten, ein Anflug von Ingwer – und dahinter eine leicht salzige Note. Die Säure wirkt

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wie in Seide gewickelt. Der Extrakt­reichtum und die Fruchtkonzentration sorgen trotz der ­niedrigen Dosage von sechs Gramm Restzucker für süße Augenblicke. Und dennoch: Der Wein verliert bei aller Opulenz nie seine Fasson. Die dichte Struktur hat den Körper im Griff, lässt nur an den richtigen Stellen Rundungen zu. Die Länge: gewaltig. Wenn ihm etwas fehlt, dann ein wenig von der grazilen Leichtigkeit der früheren Jahrgänge. Der 2003er definiert sich über seine eindringliche I­ ntensivität. Anders, aber mächtig gut.

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Die Kunst der Küfer

Mythos Wein und Mythos Wald »Weinfässer sind konstruiert wie die Kuppeln der Kathedralen« Text: CHRISTIAN VOLBRACHT Fotos: JOHANNES GRAU

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Wer das Hohe Lied des Weins anstimmt, muss auch das Lob des F ­ asses singen. Ohne das Eichen­fass, das Barrique, sind die e ­ delsten Weine u ­ nserer Zeit nicht mehr denkbar. In den Wein­bau­gebieten um Bordeaux liegen Güter und Fass­machereien dicht beieinander. Wenn die Lese beendet ist und der Most in den F ­ ässern gärt, beginnt das noch immer mysteriöse Zusammenspiel von Wein und Holz. Zwar wird das Holzfass schon seit zweieinhalb Jahrtausenden als B ­ ehälter und Transportmittel genutzt, aber erst in den letzten fünfzig Jahren wurde

es zum bewusst eingesetzten zentralen Werkzeug beim Ausbau der Weine. Die Qualität des Holzes und der Grad der Toastung, wie die Fässer also über offenem Feuer angeröstet werden, sind für die aromatische Tiefe, die Farbe und das Alterungspotential der Weine mit entscheidend. ­Winzer und Keller­meister nutzen diese Erfahrung seit langem, seit fünfund­zwanzig ­Jahren nimmt sich auch die Forschung des Themas intensiv an. Wir w ­ ollen die Kunst der Küfer kennenlernen, wollen wissen, wie weit die Wissenschaft gekommen ist und was erfahrene Weinmacher davon halten.

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In der Küferei von Château Margaux: »Wenn das Holz dominiert, dann war das ein Fehler«, weiß der Oenologe Jacques Boissenot, und Paul Pontallier, Direktor von Château Margaux, bekräftigt: »Die wichtigste Eigenschaft der Fässer sind Diskretion und Zurückhaltung.«

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Der Oenologe hat die Arbeit hier im schwierigen Bordeaux-Jahrgang 1964 begonnen, als während der Erntezeit plötzlich Regen einsetzte. Er vertraut nach fast fünfzig Jahren im Weinberg weit mehr seiner Erfahrung, seiner Nase und seinem Gaumen als den Ratschlägen der Wissenschaftler und Fassmacher. »Alle Crus haben eine Persönlichkeit, ihren eigenen Charakter, den man bewahren muss. Margaux, das ist, als ob es murmelt, gleitet, fließt, Latour, das ist wie Horn und Pauke.« Und die passenden Fässer könne man nicht so leicht finden. »Man geht eine Wette ein, es ist nicht sehr wissenschaftlich.


Wenn das Holz dominiert, dann war das ein Fehler. Holz ist ein Naturprodukt, niemand weiß vorher, wie es sich entwickelt. Man schmeckt es erst nach einem Jahr oder achtzehn Monaten richtig. Das ist Teil der Geheimnisse des Weins.« Natürlich empfiehlt auch Boissenot verschiedene Toastungs-Grade, stärker für schwere Weine, schwächer für leichtere. »Und es gibt Jahrgänge, die das Holz besser vertragen als andere, oft sind es die kleinen Jahre. Sie haben eine größere Lösungsfähigkeit.« So habe 1997 das Holz sehr gut integriert, während 2003 oder 2004 es schlecht vertrugen. »Man riecht das

Tannin des Holzes dann viel stärker, es wird fast staubig, trocken. Aber leider übertreiben die Leute noch immer. Sie meinen, wenn der Verbraucher Holz riecht, dann denkt er, es sei ein großer Wein.« Wenn die Verbindung von Holz und Wein eine Ehe ist, dann ist sie sehr traditionell. Die Eiche darf nur eine dienende Rolle spielen, macht auch Paul Pontallier deutlich, der Direktor von Château Margaux. Der graumelierte, leger-schick gekleidete Weinmacher, der das Gut seit dreißig Jahren führt, doziert wie ein Fassexperte. Spitz merkt er an, er habe seine Dissertation

zum Thema Wein und Holzfass schon lange vor Vivas verfasst. »Der Hauptgrund zur Benutzung von Barriques ist physikalisch, nicht chemisch«, sagt Pontallier. »Das Fass bildet ein äußerst günstiges Milieu für die langsame Oxidierung des Weins. Darin kann er seine chemischen Eigenschaften entwickeln. Das Holz gibt Aromen und Tannine ab, die sich sehr harmonisch mit den Bestandteilen des Weins verbinden können.« Aber alles hänge vom Wein ab. »Wir haben hier den Vorteil, Rotweine von einer Finesse und einer aromatischen Intensität zu haben, die man auf keinen Fall verstecken oder überdecken soll«, schwärmt er. »Im Gegenteil, wir wollen die Aromen der Traube erhalten und fördern. Deshalb ist die wichtigste Eigenschaft eines Fasses für mich Zurückhaltung, Diskretion.« Ein kleiner feiner Seitenhieb trifft die Konkurrenz: »Was für Château Margaux gilt, muss nicht für andere Weine richtig sein, in Bordeaux, Kalifornien, Australien etcetera«, sagt Pontallier. »Die haben ganz andere Aromen, und da ist es manchmal von Interesse, sie durch Holzaromen zu überdecken oder sie mit Holzaromen zu vermischen. Dann muss man ganz andere Fässer wählen als bei uns.« Auf der anderen Seite des Hofes arbeitet noch immer der Küfer Thierry Garneau in der kleinen Tonnellerie des Gutes. Mit alten Geräten stellt er einige Dutzend Fässer pro Jahr her. »Wir machen zwar nicht viele und keine besseren Fässer, aber es ist eine schöne Tradition«, sagt Pontallier. Wie die meisten führenden Weingüter benutzt Margaux Barriques verschiedener Provenienzen und Hersteller, aus dem Allier, den Vogesen, Russland und Ungarn. »Diese Variabilität ist eine Quelle der Komplexität für den Wein«, gesteht Pontallier zu. »Bei neuen Lieferanten muss man zehn bis fünfzehn Jahre beobachten, wie sich die Fässer auf den Wein auswirken. Man muss vor allem geduldig sein, um die Konsequenzen abschätzen zu können. Kein Fass ist wie das andere, auch beim selben Hersteller nicht.« Letztlich ist die Erfahrung der Wein­ macher und ihrer Berater offenbar immer noch das wichtigste Element für die erfolgreiche Vermählung von Traubenmost und Eichenholz. »Es gibt keine festen Regeln, alles hängt vom Wein ab«, sagt auch Nicolas Vivas, der sich im Labor jetzt auf die Suche nach einer noch weitgehend unbekannten Generation von Hybrid­molekülen macht, die im Fass entstehen. Die intensive Forschung hat in fünfundzwanzig ­Jahren viele neue Detail­erkenntnisse, aber keine sicheren Rezepte gebracht. François Witasse lächelt etwas gequält: »Je mehr wir forschen, desto weniger wissen wir. Wir wollen Sicherheit, aber wir bekommen sie nicht.« >

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Was kostet die W Ein schlechtes Gewissen beim Genuss ist wie ein Haar Text: Susanne Kaloff

Es gibt Worte, die gefährlicher sind als andere. Wer sich ihnen nähert, muss aufpassen, dass er nicht darüber stolpert. Oder sich an ihnen verschluckt. Luxus ist so ein Wort. Einfach auszusprechen, aber die Fallhöhe: unberechenbar. Die M ­ enschen mögen es nicht, es ist, als hafte ihm etwas Ordinäres an, wie zu pralle Brüste in einem zu engen Kleid. Es ist zu viel, viel zu viel, um damit entspannt umzugehen. Man schämt sich ein wenig, wenn man ihn hat, den Luxus, und wenn man ihn nicht hat, auch. Mit seiner Anwesenheit, wie auch mit ­seiner völligen Abwesenheit, lässt sich gleicher­maßen kokettieren. Ein extra­ vagantes Phänomen, dem wir von nun an eine regelmäßige Kolumne widmen.

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as Wort, mit dem ich groß wurde, war nicht Luxus, s­ ondern Ver­ geudung. Meine Mutter sagte häufig: »Das ist Vergeudung, wenn ihr den Rand vom Käse so dick abschneidet.« Oder »Was für eine Vergeudung!«, wenn meine Schwester und ich unser Jäger­schnitzel im Ausflugslokal nicht aufaßen. Das Wort Luxus fiel eher selten, und wenn, dann in einem ironischen Kontext. Dann benutzten wir es als Adjektiv und sagten: »Oh, wie luxus!«, mit so einer gespielten Feine-Leute-Stimme, und aßen Erdbeer­ kuchen mit Sahne im Liegestuhl im Garten und lachten eine Spur zu laut. Und die Erwachsenen ­scherzten: »Pfff, was lacostet die Welt, Geld spielt

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keine Rolex«, hahaha, und ich verstand nur Bahnhof. Was ich damit sagen will, ist nicht, dass ich unter ärmlichen Verhältnissen mit einem Blechlöffel im Mund groß wurde. Aber eben auch, dass ich meine Konfirmation nicht in der Sansibar auf Sylt feierte, sondern in einem Chinarestaurant an der Hauptstrasse des Nachbardorfs. Und, dass dieser Umstand, dieser Mangel an fettem Luxus, dazu geführt hat, dass ich empfindlich auf Fülle reagiere. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die ein etwas verklemmtes Verhältnis zur Üppigkeit hat. Diese Verspannung scheint – Achtung, jetzt kommt ein Klischee – etwas Deutsches zu sein. Als müssten wir alle ­leiden, etwas opfern, ein bisschen darben. Ackern, schuften, entbehren, alles, aber es uns bitte nicht einfach so gut gehen lassen. Glaubenssätze können einem das Genick brechen, weil sie sich über Jahre, Jahrzehnte und Generationen hinweg ins Hirn f­ ressen. Es steht uns nicht zu, schwelgerisch zu leben. Interessanterweise gilt im Wirtschafts­wunder-Deutschland nicht das P ­ rassen als Luxus, sondern der blanke Besitz. Einer der Glaubenssätze heißt zum Beispiel: Das Geld nicht zum Fenster hinauswerfen. Todsünde sozusagen. Auf der anderen Seite die andere, gänzlich ungeile Sünde: Geiz. In d ­ iesem Spannungsfeld bewegen wir uns, zwischen Verschwendungssucht, dem Rausschleudern von vorhandenem oder geliehenem Geld und einer etwas schmallippigen Bescheidenheit. Bescheiden zu sein ist so etwas wie ein Kulturgut, genügsam ist gut, zu z­ eigen, was man hat hingegen, ist billig. Was also tun, um das Wahre, Schöne, Gute im Leben zu genießen, ohne ein schlechtes ­Gewissen zu haben? Ein schlechtes Gewissen beim Genuss ist wie ein Haar im Mund: kann einem den ­besten ­Champagner versauen. Sicher ist vieles davon anerzogen, je nach dem, wie wir sozialisiert sind, was uns geprägt und ja, auch was uns genährt hat. Um das Gute vom ­Schlechten zu unter­scheiden, oder eher das Gute von dem weniger Guten, braucht man erstmal das Empfinden, was ­Qualität ist. Eine Synapsen-­Schulung, die überhaupt erst ermöglicht, das Feine vom ­Groben zu ­trennen. Dass Quantität Qualität meist ausschließt, hat sich ja bereits rum­gesprochen, dennoch kauft ein

Großteil der Menschen in Discount­märkten ein, und nicht nur, weil sie sich anderes nicht leisten können, sondern weil es immer auch um diese Ich-bin-doch-nicht-blöd-Mentalität geht, diese Angst, über den Tisch gezogen zu werden. Als sei man, hoho, ein Fuchs, wenn man an jeder Ecke spart. Eine höhere Summe für etwas Hoch­ wertiges hinzublättern, wird nicht etwa als WinWin-­Situation empfunden, sondern als ein ganz schlechtes Geschäft. Luxus verspricht etwas, und wenn wir dafür schon mehr bezahlen, möchten wir wenigstens, dass sich dieses Versprechen auch einlöst.

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as es also braucht, um Luxus wert­ zuschätzen, ist erst mal die Fähigkeit zu differenzieren. Was macht den Unterschied, was bekomme ich hier, was ich dort nicht kriege? Was ist mein Gewinn, wenn ich dafür mehr bezahle? Was ist an dem Fleisch vom Discounter schlechter als an dem vom Bio-­Schlachter? Eine ganze Menge – was glücklicherweise immer mehr Menschen begreifen. Der Trend, ­weniger Fleisch zu essen, dafür in besserer Q ­ ualität, ist nicht neu. Es wird vermehrt großen Wert auf gesunde Lebensmittel gelegt, den Sonntags­ braten gibt es dann eben nur noch am Wochenende (deshalb heißt er ja auch nicht Dienstags­ braten!), dafür zahlt man auch gerne das Doppelte. Man nennt das Bewusstsein, und es wird gesellschaftlich akzeptiert. Warum? Weil es sich um Grundnahrungsmittel handelt. Weil es vernünftig, erwachsen und okay ist, solange es sich um eine deutsche Kartoffel oder eine Rinderroulade dreht. Aber uiuiui, sobald Genussmittel ins Spiel kommen, wird die Nase gerümpft: »Naja, also wir sind nicht so die Champagnertrinker!« Und dazu moralinsaure Gesichter und die Behauptung, man habe das nicht nötig. Als würde Genügsamkeit per se zum besseren Menschen machen. Macht es nicht, höchstens zu einem Menschen, der nach einer ganzen Flasche fuseligem Sekt brüllende Kopfschmerzen bekommt. Wenn ich meiner Mutter sage, dass sie doch zu Weihnachten bitte Champagner kaufen solle, weiß ich genau, dass sie trotzdem nur wieder einen schlichten Sekt im


Welt? W im Mund: Über Luxus

Kühlschrank haben wird, wenn ich nach Hause komme. Das steckt so in ihr drin, und nicht, weil sie sich keinen Champagner leisten könnte (sie leistet sich doch auch ein schickes, neues, kleines, rotes Auto), sondern weil es ihr einfach vollkommen wurscht ist. »Ich kann mir das nicht leisten« ist eine bemerkenswerte Formulierung. Bei manchen trifft sie zu, bei einigen bedeutet sie aber in Wahrheit etwas komplett anderes: Ich lege k­ einen Wert drauf. Luxus ist nicht das, was zum Leben nötig ist, das wissen wir alle, das wusste schon Oscar Wilde. Von ihm stammt der provozierend kluge Satz »Man versehe mich mit Luxus. Auf alles Notwendige kann ich verzichten.« Was für ein Snob – fantastisch! Es geht im Leben nun mal glücklicherweise nicht nur um das Stillen der Grundbedürfnisse, sondern auch um eine emotionale Sättigung. Was man bekommt, wenn man sich etwas gönnt, ist ja nicht nur die Ware, sondern vor allem ein Gefühl von Wertigkeit, manchmal von Rausch, von Lebendigkeit, von etwas Donnern­ dem. Und manchmal bekommt man ein ganz neues Lebensgefühl für seine Piepen. Verpackungen spielen eine große Rolle, es geht nicht nur um das, was drin ist, sondern auch um das ganze wunderbare Gewese drum herum. Wenn eine Frau das türkisfarbene Tütchen sieht, die zehn ­Schleifen aufgedröselt und die Schächtelchen ausgepackt hat, und dann ist da nur ein mickriger Schlüssel­ anhänger drin, ist das fast egal, weil sie für einen Moment zum Frühstück bei Tiffany’s war. Oder eine Lippenstifthülle, die beim Zuschrauben ein sattes Klick macht, fulminant und schwer, das vermittelt Kostbarkeit. Ich weiß nicht, ob Chanel wirklich die haltbareren Lippenstifte macht, aber ich weiß, dass sie betörend nach Rosen duften, schon immer, und dass mich die schwarze Hülle mit den zwei ineinander verschlungenen Initialen glücklicher macht als fünf Lippenstifte aus dem Drogeriemarkt. Ja, das kann man Naivität nennen. Oder Unvernunft. Auf der anderen Seite kann es viel vernünftiger sein, etwas zu erwerben, an dem man sein Leben lang hat, weil ehrliches Handwerk dahinter steht anstatt Firlefanz. Naja, das trifft vielleicht nicht auf einen Lippenstift zu, aber auf

eine hochwertige Uhr, die nicht in T ­ aiwan zusammengedengelt wurde. Das ist nicht nur luxuriös, sondern auch nachhaltig. Luxus ist nie laut. Wer mit Champagner rumspritzt, lebt nicht im Luxus, sondern ist ein neureicher Armleuchter.

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ann wiederum: Ja, man kann sich von der Fülle, dem Konsum, dem Kommerz, dem Überangebot durchaus überfordert fühlen, beispielsweise im Supermarkt, ratlos vor zwanzig verschiedenen Wassersorten stehend. Da kommt der Wunsch auf, sich von all dem abzukehren: Man möchte weniger statt mehr. Und genau da geht es lang. Vielleicht nicht nach dem Mega­ pack greifen, sondern nach dem Erlesenen. Lieber nur ein schlichtes Butterbrot, aber eins, das ohne Chemie auskommt und schmeckt wie der Himmel auf Erden, vielleicht noch eine Prise von dem Fleur de Sel aus der Camarque drauf. Auch wer sich jemals eine Handtasche aus Kalbsleder von Céline gekauft hat, weiß, wovon ich spreche: Dieses Glück ist unbezahlbar – sie anzufassen, sie am Abend neben das Bett zu stellen, damit man sie ­morgens beim Aufwachen gleich wieder anschauen kann. Karl Lagerfeld soll mal gesagt haben: »Der Höhepunkt des Luxus ist es, nicht nach dem Preis zu gucken.« Nein, da bin ich nicht ganz d’accord. Es ist durchaus ein feines Gefühl, etwas auszu­ wählen, ohne Sorge zu haben, sich für diesen Spontan­kauf knietief in den Dispo zu sumpfen. Aber der wirkliche Höhepunkt des Luxus ist es ­meiner ­Meinung nach, auf jene Handtasche zu sparen (es darf auch gern die 2.55 von Chanel sein) und sie dann doch nonchalant bis respektlos in einem Straßencafé auf das schmutzige Trottoir zwischen ausgedrückte Kippen zu stellen, weil – und jetzt’s kommt’s – die P ­ ariserinnen das auch so machen. Das ungehemmte Leben mit dem Ausgesuchten, das schonungslose B ­ enutzen ist keine Achtlosigkeit, sondern Luxus im Alltag. Nichts für die ­Vitrine, sondern für die Realität. Es geht nicht darum, sich gelangweilt in eine Boutique zu quälen und Luxusdesignerware en passant mitzunehmen, als handle es sich um ein Kilo Calamari im Supermarkt. Es geht darum, die Augenblicke zu veredeln, die Tage, die Nächte, das was bleibt.

Zehn Kunstleder-Handtaschen zu besitzen, die minderwertig verarbeitet sind, veredeln nichts, sie verstopfen nur den Schrank und – schlimmer noch – das Leben. Luxus ist exquisit, es gibt ihn nicht vom Fließband, das Exklusive schließt immer auch etwas aus. Es geht um Zugehörigkeit und um Abgrenzung zugleich. Bestes Beispiel: Die Warteliste. Auf der steht man nicht nur für eine It-Bag unter Umständen ein dreiviertel Jahr, sondern auch für ein seltenes Uhrenmodell, wenn es nicht ohnehin schon vergriffen ist. Limitierung schürt immer die Begehrlichkeit. Das Prinzip des Sich-rar-Machens funktioniert nicht nur in der Liebe. Die Kehrseite der Medaille ist die Bestürzung darüber, dass man das, was man so sehr begehrte, nun tatsächlich hat, es nicht mehr begehren zu können. Das sind nun wirklich Luxussorgen. Das bewusste Nicht­ erreichen eines Ziels, das Träumen, das Anstreben ist manchmal entzückender als der plumpe Besitz. Ich werde vermutlich nie einen Porsche 911 Turbo, Baujahr 1978, Kupfermetallic, mit braun ­karierten Recaro-Sportsitzen und einem cognacfarbenen Armaturenbrett fahren. Auch gut.

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s gibt eine dumme Redensart: »Ein r­eicher Mann ist ein Mann, der drei Luxus­wagen vor der Tür stehen hat und von dem man trotzdem nicht weiß, ob er zu Hause ist.« Ich habe einen VW Lupo vor der Tür ­stehen und bin ­trotzdem nicht zu Hause, weil ich mit ­meinem rostigen Fahrrad in ein Café ­geradelt bin, um ­diesen Text zu schreiben. Es gibt frisch g­ erösteten Kona-Kaffee, eine Rarität aus Hawaii, ein ­Viertel Pfund kostet ein Vermögen. Er schmeckt f­ antastisch. Noch f­ antastischer aber ist die Zeit, die ich habe, um hier zu sitzen, die Freiheit: »Oh, wie luxus!« Sicher sind Zeit, Gesundheit und das Gefühl des Geliebtwerdens auch Luxus. Auf diesen Gebieten kann es ja nie füllig genug sein. Was man für all das braucht, um es wirklich zu genießen, ist Wertschätzung. Für das, was man hat. Und wovor man sich dringend hüten sollte, ist die Saturiertheit. Übersättigung ist in etwa das Gegenteil von Luxus. >

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