Chantal romani 2012

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Was ist Reisen?
 Ein Ortswechsel?
 Keineswegs!
 Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile.
 Anatole France

la strada del sole – la strada dritta



la strada del sole – la strada dritta…

Mit dem PfeiferMobil von Milano bis Napoli und im Zickzack-Kurs zurück - August und September 2012. Zwei Monate unterwegs sein zu können erschien mir im Vorfeld als eine geraume Zeit. Im Nachhinein muss ich sagen, es hätte gerne noch ein wenig weiter gehen können… Ich war sehr gespannt auf die Erfahrungen die ich machen würde, alleine “en route” zu sein. Kurz vor der Abreise, erfasste mich dann aber doch ein bisschen ein mulmiges Gefühl. Es ist (ja) nun wirklich ein grosses Auto und dann noch “alleine” auf weiter Strecke… Doch ich begriff schnell, dass es keine Wahl gab. In den kleinen, verwinkelten Dörfern lernte ich innert kurzer Zeit, das Wohnmobil sicher und kratzfrei um die Ecken oder rückwärts die Strasse hinunter zu manövrieren. Der Härtetest kam dann in Neapel. Dummerweise war die Autobahn gesperrt und man musste durch die Stadt fahren. Seit dieser Erfahrung kann mich, was das Verkehrsaufkommen und das Ignorieren jeglicher Strassenverkehrsregeln anbelangt, so schnell nichts mehr erschüttern oder aus der Ruhe bringen. Als ich diese Situation unbeschadet überlebte, war alles andere absolut machbar. Die Jahreszeit war für die Projektidee nicht nur optimal. Italien ist im August im Ausnahmezustand. Die Städte sind mit Touristen überfüllt und die Einheimischen ziehen meist aus. Sie fand ich unter anderem auf den Campingplätzen wieder. Der Alltag kehrt erst im September wieder zurück. Dann aber umso intensiver. Italien wird dann wieder zu Italien: Die Orte, die Läden und die Fabriken nehmen die Arbeit von neuem auf. Auf dieser Reise und ich glaube auch, gerade weil ich alleine unterwegs war, konnte ich viel über die italienische Seele, das Leben und ihre Gedanken erfahren. Es erwies sich als sehr unkompliziert, mit den Menschen in Kontakt zu treten und zu erfahren, was sie bewegt. Die Strecke von Napoli bis Milano hat mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Viele Klischees wurden bestätigt; die meisten jedoch schnell abgebaut. Sobald man jedoch ein wenig “offizieller” mit der Kamera und dem Mikrophon unterwegs ist, änderte sich die Haltung: „Man möchte nicht, dass…“, „es bleibt unter uns…“. Der Grund war immer ein anderer: die Kirche, die Linken, die Rechten, die Mafia oder die anderen “Signori”. Spannend blieb und war es trotzdem. In meiner Arbeit beschäftige ich mich oft mit den Sehnsüchten, den unwillkürlichen Reflexen und den faktischen Möglichkeiten des urbanen Menschen, sich Freiheiten und Freiräume zu erschaffen, um seine schmale Privatsphäre in den öffentlichen Raum hinein zu verlängern. Diesen Beobachtungen ging ich auch auf dieser Reise nach. Auch unscheinbare und belanglose, für mich jedoch fesselnde Momente, konnte ich beobachten und zeitweise auf Foto oder Videoaufnahmen festhalten. Daneben war ich gegenüber den politischen Äusserungen sowie Statements sehr aufmerksam. Ich las viel worüber die nationale sowie internationale Presse schrieb und was die Menschen auf der Strasse beschäftigt. Die wirtschaftliche Krise, die Erdbeben, die Politik, die Korruption, die Schattenwirtschaft? Mich interessiert, wie sich die Menschen in ihrem Umfeld bewegen, was sie beschäftigt, welche sichtbaren oder unsichtbaren Linien ihre Bewegungen zeichnen, welche Existenzen sie sich aufbauen, und was dadurch sichtbar wird und welche Spuren hinterlassen werden. Ich versuchte, nicht nur an der Oberfläche zu verweilen und mich auch nicht nur auf die, sicher unglaublichen und wunderbaren Kulturgüter, denen ich unweigerlich begegnete, zu konzentrieren. Es war eine Herausforderung und manchmal schwierig, mit dem Blick nicht hängen zu bleiben. Aber im “Zwischenraum“ fand ich viel Spannendes für meine Arbeit und mein Denken. Gleichzeitig bin ich wunderbaren Menschen begegnet, die mich für einen kurzen Moment an ihren Gedanken und Leben haben teilhaben lassen. In den zwei Monaten habe ich viel Material gesammelt und bin nun dabei, dieses mit dem bereits vorhandenen Material, welches ich seit Jahren aus und über Italien sammle (v.a. Ton-, Video-, und Textdokumente), zusammenzufügen.


Die begonnene Arbeit aus dem Jahr 2008, worauf ich durch Medienberichte und eigenen Beobachtungen vor Ort aufmerksam geworden bin (es ging um die Attacken auf Minderheiten, die u.a. bis heute anhalten), konnte ich nur teilweise weiter voran bringen. Damals fing ich an, verlassene Siedlungen, Häuser, stille Orte, deren Leben sich im Sichtbaren und Versteckten gleichzeitig zeigt, zu filmen und zu fotografieren. Die Orte und die Menschen sollten eine Stimme bekommen. Das Video soll aufzeigen, was einmal war, was hätte sein können und was heute ist. Fiktion und Realität treffen aufeinander und können nicht immer voneinander getrennt werden. Doch nun konnte ich für diese Arbeit und über das Leben rechts und links der “Strada“ einiges mehr erfahren. In einem zweiten Schritt, da die Bildaufnahmen jetzt vorhanden sind, möchte ich noch die Gespräche zu Ende führen, resp. fertig sammeln und aufnehmen. Dazu benötige ich allerdings noch ein bisschen mehr Zeit. Diese Nord-Süd-Verbindung wird mich also noch eine Weile beschäftigen. Obwohl für mich Italien kein unbeschriebenes und unbekanntes Land war und ist, war diese Spurensuche für mich sehr lehrreich. Ich habe einiges, was die Geschichte und die Mentalität sowie die Art der Problematik betrifft und ich zeitweise vorher nicht einordnen konnte, erfahren. Dies natürlich vor allem auch weil ich von Norden bis Süden den Alltag, die Rituale an den verschiedenen Orten beobachten und mich mit den Menschen austauschen konnte. Ich habe viel über ihre Hoffnungen, Wünsche, aber auch über ihre Ängste und Resignation erfahren. Wie Goethe bereits sagte: Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen. Wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht. Ich bin der Otto Pfeifer Stiftung sehr dankbar, dass ich diese Möglichkeit erhalten durfte und ich habe die Zeit im PfeiferMobil ausserordentlich genossen. Chantal Romani, Okt. 2012 www.chroma7.ch







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