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UNTERWEGS MIT DEM PFEIFER MOBIL FEBURAR & MÄRZ 2016

BEGEGNUNGEN AN DER GRENZE ÜBER GRENZERFAHRUNGEN UND GRENZGÄNGER


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REISETAGEBUCH | GRENZE, SCHWEIZ | 2.2. - 28.3.2016


02.02.2016 28.03.2016

GRENZWEGE


UNTERWEGS MIT DEM PFEIFER MOBIL | 2.2. - 28.3.2016

2. Februar 2016, die Reise entlang der Schweizer Grenze beginnt. Der rote Faden meiner Fahrt mit dem PfeiferMobil bildet die 1899 Kilometer lange Landesgrenze, die ein Gebiet umschließt, dass sich im Zwiespalt der Ein – und Ausgrenzung immer wieder neu definieren muss. Ich will erfahren, inwiefern die auf dem Papier abstrakte Eigenschaft einer Grenze etwas zu trennen, in der Wirklichkeit bestand hält. Ich nehme die zum Teil zur Linie geronnene Historie zum Anlass, mich auf die Suche zu machen nach Grenzgeschichten und Grenzgängern, mit dem Ziel, sichtbare Spuren und Repräsentanten einer an sich unsichtbaren Sache aufzuspüren. Galt mein Interesse zunächst dem Einzelbild mit dem Ziel, in einer einzigen Fotografie unterschiedliche Aspekte der Grenzthematik einzufangen, so wuchs mit dem Unterwegssein mein Interesse an den durch die Grenze hervorgebrachten Geschichten und Erzählungen, seinen sie noch so lokal und persönlich, oder im Gegensatz dazu weltbewegend und von öffentlichem Interesse. So wurde das fotografische Bild nicht mehr zu einem alleinigen Informationsträger, sondern viel mehr zu einer Markierung und zum Zeugen einer Sache, die sich dahinter verbirgt. Schnell habe ich realisiert, dass sich entlang der Schweizer Grenze manche Geschichten gleichen und überregional anzutreffen sind. Fast könnte man annehmen, die Schweizerinnen und Schweizer seien ein Volk von Schmugglern, da man bis in die Gegenwart auf unzählige Berichte des illegalen Warentransports trifft. Von der Wiedereingliederung des Steinbocks bis hin zu einem prall gefüllten Kofferraum mit Fleisch – Schmuggelgeschichten lassen als Grenzgeschichten Rückschlüsse zu auf das, was sie bezeichnen und bringen so einen Gemeinschaftscharakter zum Ausdruck. Genauso erzählen Grenzorte, auf eine stumme und oft triste Weise, von der lokalen Bedeutung der Grenze heutzutage wie damals in der Vergangenheit. Mir war es, während ich mich tagelang in verlassenen, menschenleeren Ortschaften aufgehalten habe, als ob sich das Land nach Innen zurückgezogen hätte, anstatt sich gegen Außen hin zu öffnen. Ein Phänomen, das ich jeweils auch auf der gegenüberliegenden Seite der unsichtbaren Linie beobachten konnte. Die Grenze macht das eine vom anderen unterscheidbar – oder eben doch viel eher: Sie behauptet diese Unterschiede. Während zweier Monate konnte ich mich durch das PfeiferMobil auf eine Vielzahl von Grenzgeschichten einlassen und mit Grenzgängern in Kontakt treten. Manche Momente glichen persönlichen Grenzerfahrungen – in anderen wiederum entstand mit der Arbeitsmethode der Selbstbegrenzung durch das Wohnmobil Neues und Unerwartetes. Ich ging zu Beginn davon aus, dass zwei Dinge durch eine Grenze voneinander getrennt werden und so Kontur und Gestalt erhalten. Doch bin ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher – den es bleibt ein Restbereich des Diffusen oder eben Unsichtbaren – was wiederum die meisten der von mir vorgefundenen Grenzgeschichten erst brisant und erzählenswert macht. Von den Zwergen aus Samnaun zum ermordeten Soldaten Flückiger – von Pietro Caminadas Größenwahn zu einer verschwundenen Fußballmannschaft – nach Abschluss meiner Reise beginne ich nun die gesammelten Grenzgeschichten visuell und schriftlich aufzuarbeiten. Auf den folgenden Seiten sollen einige wenige Auszüge aus meinem Reisetagebuch einen Eindruck meiner Reise vermitteln. Ich möchte mich an dieser Stelle bei der Otto-Pfeifer-Stiftung für das einzigartige Stipendium und diese außergewöhnliche Reisemöglichkeit herzlich bedanken.

* -

Haben sie etwas dabei, das sie nicht haben dürfen?

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Nein! was denn?

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Cannabis?

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Nein.

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Ihre Papiere, bitte! Was fotografieren sie da?

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Das Atomkraftwerk.

-

Aha, wieso?

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Weil ich es hässlich finde.

-

Wieso fotografieren sie das Atomkraftwerk?

-

Nun, eigentlich fotografiere ich die Luft über der Grenze, wenn sie es genau wissen wollen. Wie sie sehen, hängt der Rauch genau über dem Rhein, also über der Grenze.

-

Wieso fotografieren sie die Luft?

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Für ein Projekt über die Schweizer Grenze.

-

Ist das ihr Hobby?

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Nein...Eher mein Beruf.

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Aber das ist doch kein Beruf, die Luft über der Grenze zu fotografieren.

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Nun...

-

...Sie sehen die Grenze so im Bild ja nicht einmal. Könnte ja irgendwo sein.

-

Stimmt. Haben sie eine Grenze schon mal gesehen?

* Gespräch mit einem Polizeibeamten der Kantonspolizei Aargau anlässlich einer Personenkontrolle in der Nähe des Kernkraftwerks Leibstadt.

REISETAGEBUCH | AUSZUG #02


#42 Von Beurnevésin steigt die Straße leicht an. Gleich nach dem Schweizer Zollhaus, noch vor dem Französischen Grenzposten, liegt auf der rechten Seite der Fussballplatz der Union Sportive Pfetterhouse. Auch während der Deutschen Besatzungszeit von 1940 – 1944 fanden dort Spiele statt. Doch während vier Jahren galten in dem Dorf ganz eigene Fussballregeln. So wurde weniger gegen eine gegnerische Mannschaft gespielt, als mit einer Besatzungsmacht. Denn es galt, die Deutschen zu überlisten. Die Jungen Männer aus Pfetterhouse schlossen ein Pakt mit ihren Bekannten aus Beurnevésin und einigen gelang so, völlig unbemerkt, die Flucht in die Schweiz. Denn das eine Tor - das Tor zur Freiheit - stand damals genau auf der Grenze.

CECI EST UN GARDIEN DE FOOT

Die Regeln waren einfach. Auch zu Kriegszeiten waren die Spiele gut besucht und das Publikum versammelte sich um das Spielfeld. Sprechchöre erklangen, es wurde geflucht und geklatscht. Im angrenzenden Wald, direkt hinter dem einen Tor, versteckte sich jeweils ein Schweizer und wartete, bis der Ball ins Dickicht geflogen kam. Dann ging es schnell: Kaum kam der Französische Torwart dem Ball nachgelaufen, wurde hinter einem Busch das Trikot getauscht und während der eine die restliche Spielzeit als falscher Torhüter absolvierte, flüchtete der andere ins Nachbarsland. Wie viele es waren die sich so der Musterung durch die Wehrmacht entziehen konnten, ist nirgends niedergeschrieben. Auch ranken sich bis heute eine große Anzahl von Legenden um diesen Fussballplatz. Vielleicht entstammt auch diese der Fantasie eines Pfetterhouser – so richtig konnte mir das keiner sagen. Doch so ähnlich hat es sich zugetragen. Bestimmt.

REISETAGEBUCH | AUSZUG #42


Stein am Rhein. Es regnet. Entlang der Grenze versammeln sich die Grenzbewohner. In schattigen Seitentälern oder feuchten Flussgebieten. Ich brauche Strom, habe keine andere Wahl als einen Campingplatz anzusteuern. Camping Grenzstein.

DER SPAZIERGANG #43 Man konnte sie über mehrere Wochen beobachten - die elegant gekleidete Frau des Zöllners M. - wie sie die Strecke vom Schweizer Zollhaus hinunter ins Französische Dorf Pfetterhouse ging. Mit einem Korb oder einer Tüte unterm Arm, als ob sie ihre täglichen Einkäufe jenseits der Grenze tätigen würde. Dabei, das wusste jeder, ging es um einige Kilo Fleisch und ihren geizigen aber gesetzeskonformen Ehemann.

Eine Markierung. Die Begegnung mit einem Dauercamper, der mich mit großen Augen anstarrt und kaum mehr Atmen kann, als ich ihn freundlich frage, wo ich meine Scheisse aus dem Wohnmobil entleeren kann. Er zeigt nur immer in einem mir nicht verständlichen Dialekt auf seinen Wohnwagen. Er scheint seit Tagen nicht mehr gesprochen zu haben. Die Grenze ist ein Ort der Einsamkeit. Mir ergeht es nach drei Tagen Grenzaufenthalt, Schnee und Regen kaum besser. Das einzige Gespräch führte ich mit einer spanischen Coiffeuse, die mir ausschmückend von ihrem Buch „The Book of my Life“ erzählte. Es hat 1000 Seiten. Jede Seite steht für eine Jahreszeit und so werden vier Seiten pro Jahr ausgefüllt. Ich wünsche ihr ein langes Leben. Als sie mir auch noch den Bart zurechtstutzen will und mir Komplimente macht, ziehe ich von dannen. Am Abend eine einfache Mahlzeit im Wohnmobil. Ich muss leise lachen, passend zum Thema, werden meine Mahlzeiten immer grenzwertiger. In der Nacht liege ich wach. GoogleMaps meint, dass ich direkt auf der Grenze liege. Am nächsten Morgen, als ich darauf warte, die nächsten 20 Rappen in den Schlitz des Waschmaschinenautomaten zu lassen, eine weitere Begegnung. Ein Herr erzählt mir von seiner Grenzerfahrung. Auch er ist mittlerweile Dauercamper, davor arbeitete er während 30 Jahren im Sicherheitsdienst. Er erzählt: Anfang der Neunzigerjahre hat er den Platzspitz mit bewacht und geräumt. Mehrere Male hätten ihn die Spritzen getroffen und sich in seinen Körper gerammt. Danach jedes Mal das dreimonatige Warten auf den Befund des Aids-Tests. „Man sieht nach kurzer Zeit nichts mehr... aber man kann infiziert sein, oder nicht...“

C AMPING GRENZSTEIN

#05

Das Schweizer Ehepaar vom Zollhaus oberhalb von Pfetterhouse nahm wie jedes Jahr im benachbarten Ausland am Dorffest teil. An diesem einen Sonntag in den 70er Jahren, stand ein ganz besonderer Preis zuoberst auf dem Tombola – Gabentisch. Ein halbes Schwein. Wie alle anderen, kauften auch sie sich ihre Lose und siehe da, das Ehepaar durfte den Hauptpreis ihr eigen nennen. Schnell wurde getuschelt und getratscht im Dorf. Was für ein teurer Gewinn für die beiden, mussten sie das Fleisch natürlich verzollen. Doch der Zöllner M. kam allen zuvor. Er liess das Schwein in einem Kühlfach des Französischen Grenzpostens verstauen, worauf seine Frau jeden Morgen – elegant gekleidet und mit einem Korb oder einer Tüte unterm Arm – die Strecke von Zollhaus zu Zollhaus ging, für einen reichlich gedeckten Mittagstisch.

REISETAGEBUCH | AUSZUG #43

REISETAGEBUCH | AUSZUG #05


GRENZVERLÄUFE

#36

#23

Dass das Restaurant am Ende des Weges auf italienischem Boden stand, jedoch keine Straße durch das eigene Land dorthin führte - daran hatten sich schon alle gewöhnt. Als jedoch der Vater des Wirts an einem Sommermorgen verstarb, löste sich die unsichtbare Grenze auf einmal von der Landschaft und wurde als unüberwindbares Hindernis mit allen Konturen deutlich sichtbar. Der Beerdigung im zwei Autostunden entfernten Chiavenna stand wenige Meter vom Haus entfernt eine auf dem Reißbrett entworfene Linie gegenüber. Die administrativen Hürden für einen Leichentransport durch die Schweiz, waren nicht abzusehen. Doch es eilte, die Tage waren heiss und ein toter Mann lag aufgebahrt im Wohnzimmer. Stundenlang plagte sich der Wirt mit allen möglichen Gedanken herum. Gegen Ende Nachmittag fasste er einen Entschluss. In der Dämmerung wurde der tote Vater vorsichtig auf den Beifahrersitz gepackt und so drapiert, als ob er schlafen würde. Zu zweit fuhren sie los. Lange ging alles gut, dann doch eine Kontrolle. Zwei Pässe, ein hellwacher und ein schlafender Mann. Die Grenzbeamten flüsterten, um den alten Mann nicht zu wecken und der Wagen setzte seine Fahrt, wieder auf italienischem Boden, das Tal hinunter fort.

Ich bin auf eine kurze Pressemitteilung aus dem Sommer 2015 aufmerksam geworden: Der tote Wolfsrüde, der im Juni in der Nähe von Lahr (Ortenaukreis) neben der A5 gefunden worden war, ist aus der Schweiz gekommen. Das Land bereitet sich auf weitere Wölfe vor. Ein wildes Tier hat die unsichtbare Grenze übertreten.

#12 Man kann von hier die Kondensstreifen der vorbeifliegenden Flugzeuge sehen. Zürich muss nicht allzu weit sein. In der Moderne angekommen, dienen Flughäfen schon längst als Orientierungspunkte. Kondensstreifen als Markierungen. Von da nach dort. Von einer Grenze zu einer anderen. Ich möchte wegfliegen, diese Grenze verlassen. Sie ist immer gleich. Gleich unsichtbar.

REISETAGEBUCH | AUSZUG #12

REISETAGEBUCH | AUSZUG #23 & #36


GRENZORTE | 2.2. - 28.3.2016


LA BOUCHE COUSUE

#39 Ein Dorf, irgendwo im Jura. Ein kleiner Fleck am Rande der Schweiz. Früh und spät donnern Autokolonnen entlang der Hauptstrasse. Gestresste Frontaliers auf ihrem Weg hin zur Arbeit und zurück nach Hause. Ich suche nach einem Stellplatz mit Strom. Es ist schon längst dunkel. Eine Begegnung mit drei Bauern. Einer nimmt mich mit. Durch die Nacht folge ich seinen Rücklichtern über Feldwege entlang der Grenze zu seinem Hof. Am nächsten Morgen bei Tageslicht erkunde ich die Umgebung. Von aussen würde man nicht ahnen, dass in der verlebten Scheune, durch eine Konstruktion von Containern geschützt, der Bauer und seine Frau leben. Ich bleibe drei Tage. Am zweiten Abend kommt Besuch. Ich werde zum Essen eingeladen. Nach anfänglicher Zurückhaltung vor mir, dem Fremden, entsteht ein lebendiges Gespräch. Irgendwann, es ist schon spät, ist vom ermordeten Soldaten Rudolph Flückiger die Rede, der 1977 tot auf französischem Territorium aufgefunden wurde. Ich erinnere mich wage an Zeitungsberichte und einen Fernsehbeitrag über den bis anhin ungelösten Fall. Ich horche nach, erfahre mehr und anderes, als ich im Nachhinein durch eine Recherche im Internet erfahren werde. Kurz bevor der geheimnisvolle Besucher wieder von dannen zieht, nickt er bedächtig mit dem Kopf: Sicher, er und viele andere wüssten mehr, als jemals an die Öffentlichkeit gekommen sei. Aber wieso, nach all diesen Jahren, schon fast vergessene Geister rufen? So sei es eben, hier bei ihnen. Er werde für immer Schweigen. Der Mund. Eine Grenze. So denke ich, bevor der Besucher in der Dunkelheit verschwindet. Wir werden uns nie mehr wiedersehen. Zur Erinnerung ein Portraitfoto. Ich verspreche ihm, sein Bild nur in Ausschnitten zu verwenden.

REISETAGEBUCH | AUSZUG #39


BLINDER PASSAGIER | SCHLEPPER FLÜCHTLING | IMMIGRANT #26 In Chiasso holen mich tagesaktuellen Grenzgeschichten ein. Ich fahre mit dem eigenen Haus während zwei Monaten umher. Was für Luxus im Vergleich zu all den Geschichten und Menschen, denen man auch im Süden der Schweiz begegnen kann.


#53

#34 Mit 2113 Metern ist der Splügenpass nicht besonders hoch, erklärt mir der Oberstufenlehrer E. im Hotel Post in Andeer. Dieser Umstand spielte mitunter dann auch eine Rolle für eine tollkühne Idee vor über hundert Jahren. Pietro Caminada, Ingenieur und Städteplaner, stellte 1907 ein transalpines Wasserwegprojekt vor, um den Pass mit Schiffen zu überqueren und so den Güterverkehr zwischen Nord und Süd zu revolutionieren. Vielleicht war es die Angst vor der tollkühnen Idee, die rasante Entwicklung des Automobils oder das fortgeschrittene Alter Caminadas, dass dieses Projekt nie zustande kam. Doch anhand von E. s Ausführungen beginne ich über Grenzen (oder ihren Sinn) und die Geschichte des Handels und der Globalisierung nachzudenken. Die Grenze, so sagen denn auch die Menschen im Schamsertal am Hinterrhein, hätte man hier schon immer gespürt, obwohl sie von Auge aus nicht zu sehen sei. Der Verkehr brächte den Süden mit in den Norden und umgekehrt.

Am Ende meiner Reise treffe ich auf L., Fernfahrer aus Chavannes – de – Bogis. Wöchentlich steuert er die Region rund um Marseille an, von Fos-sur-Mer über Martigues bis nach Marseille um für ein französisches Speditionsunternehmen Waren in die Grenzregion Genf zu fahren. Ich beschliesse mitzufahren, um den Gegenvorschlag zu Caminadas Warentransport-Idee zu dokumentieren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt meiner Reise sind Grenzen zu undurchsichtigen Konstrukten geworden. Container mit Waren aus der ganzen Welt werden umgeschlagen und von Flugzeugen, Schiffen und Lastwagen in der Welt verteilt, da der Handel schon längst keine Grenzen mehr kennt.

WO HÖRT DIE GRENZE AUF? WO BEGINNT DIE GRENZE? REISETAGEBUCH | AUSZUG #34

REISETAGEBUCH | AUSZUG #53



BEGEGNUNGEN AN DER GRENZE © 2016 CHRISTIAN KOCH


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