Emerging Artists 2016

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l l a h c S und Raum

EMERGING ARTISTS 2016


A RT —

ISTS

Franzisk a Opel Franziska Opels kleine Kulturgeschichte oder Wie ist der Plural von Venus? von Bastiana Stutterheim

04—19 LAURA FRANZMANN Feed A Line von Holly Hunter

20—35 ANGELA ANZI Über den Eigensinn der Dinge. Die Welt tönt. von Wiebke Schwarzhans

36—51


L L A H C S und Raum

EMERGING ARTISTS 2016


VO R —

WO RT Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher, die Protagonistinnen der diesjährigen Emerging Artist Ausstellung machen den Raum zu ihrem Thema. Besser gesagt, sie arbeiten für Räume. Die Objekte treten mit diesen in Wechselbeziehung und verändern unsere Wahrnehmung. Nehmen Sie sich dafür Zeit, denn „jede Darbietung formt das Dargebotene, gestaltet und verbindet es, prägt das Sehen und Denken.“1 Es handelt sich hier nicht mehr nur um die gesteigerte Präsenz des Raumes an sich, sondern die Objekte treten auf subtile Weise in Interaktion. Und trotzdem entsteht eine merkwürdige Umkehrung, indem die Kunst nun den Raum „rahmt“, wie es von Brian O’Doherty für den idealen visuellen Ausstellungsraum proklamiert wird.2 Sie hat nun die Freiheit sich gänzlich zu entfalten.

Was muss die Kunst im 21. Jahrhundert für Erwartungen erfüllen? Sie sollte einen fesseln, empfinden und nicht zur Ruhe kommen lassen. Allein dieses lässt Bedeutung entstehen und das hoffentlich ganz unabhängig von großen bekannten Künstlernamen. Johann Wolfang von Goethes „Faust“ rückt hier mit seiner Aufforderung „Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch“ wieder ins Blickfeld und zeigt die zeitlose Kraft der Worte.3 Schall und Rauch sind nur flüchtige Erscheinungen und haben keinen bleibenden Wert, denn das einzige was wirklich zählt, ist das Gefühl selbst. Kunst ist nie absolut. Sie lebt allein von der Empfindung und der Wahrnehmung der Betrachter. Eine geistige Inbesitznahme von Kunst erfordert immer eine intensive Beschäftigung mit ihr, denn so wird der Betrachter belohnt, mit ihr zu sympathisieren oder ihr etwas entgegenzusetzen. 4 5 Diese Erkenntnis hat sich die Moderne in ihrem komplexen Dialog erarbeitet.

Angela Anzis Arbeit braucht Zeit - Zeit um in Ihre reiche Gedankenwelt einzudringen, denn ein rascher Blick wird nicht genügen. Ein Glück. Sie gibt sich unterschiedlichen Medien hin, wie Videos, Installationen und Performances und tritt mit diesen und weiteren Objekten in deren Umgebung in Interaktion. Die in Luzern geborene Künstlerin studiert derzeit im Master Zeitbezogene Medien an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste bei Prof. Jeanne Faust und ist für den HISCOX Kunstpreis nominiert. In der Emerging Artists Ausstellung zeigt sie die Arbeit „Hilfestellung an Objekten 2“. Diese Installation mit Performance hat ein Eigenleben: aufeinandergestapelte Ton-Körper, oder besser Resonanzkörper, die durch eingelassene Subwoofer in Beziehung miteinander treten. Mit für das menschliche Gehör nicht mehr vernehmbaren aber fühlbaren tiefen Sinustönen beschallt Anzi in ihrer Performance leichte Materialien, versetzt diese dadurch in Bewegung und lässt sie hörbar werden. Wiebke Schwarzhans, die sich Anzis Arbeit in diesem Katalog gewidmet hat, findet die Worte: „Sichtbar bleibt die Form der Dinge (...) die sich durch Ihre Hilfestellung transformieren“. Die Objekte erscheinen oft ungewohnt und erleichtern es so, sich gänzlich auf Ihre eigene Bildsprache einzulassen. Anzi schafft einen konkreten Entfaltungsraum, indem Sie mit den ungewöhnlichen Formen spielt und uns „zwischen vermeintlicher Sinnlosigkeit und wiederständiger Sinngebung“ in Ihre Welt entführt. 02


Franziska Opel schafft Spannungsräume. Sie hat 2014 ihr Diplom mit Auszeichnung an der Hochschule für bildende Künste bei Prof. Wigger Bierma und Matt Mullican abgeschlossen und erhielt ein Jahresstipendium der Karl H. Ditze Stiftung. Sie ist in der Ausstellung durch die Arbeit „SEDUCTION“ vertreten: Eine kreisrunde Scheibe rotiert gleichmäßig in einer Endlosschleife, auf der drei Arme mit geballten Fäusten mitrotieren, die mittels eines Projektors auf die Scheibe geworfen werden. Opel bedient sich hier des keltischen Symbols einer Triskele, (von griech. „dreibeinig“) – drei radialsymmetrisch angeordneten Formen, die von einem Mittelpunkt ausgehen. Kraftvoll strotzen die Fäuste einem förmlich entgegen. Immer wieder bedient sich Opel bedeutungsvoller Symbole, die sie in ihre Formen und gleichfalls eigene Bildsprache übersetzt. Sie sind einem „eindeutigen Kontext entzogen und doch auf eine obskure Herkunft verweisend, verwirren uns die eingefrorenen, erstarrten Gesten und randomisierten Mimiken, die Chiffren und Zeichen.“, wie es Bastiana Stutterheim in ihrem Text formuliert und damit auf die Vieldeutigkeit Opels Arbeit hinweist.

5 Peter Weiss, Die Ästhetik des Wiederstands, Frankfurt am Main 1983, S. 53.

4 Rauterberg 2015, S. 24.

Ihre Isabel Deimel

3 Johann Wolfgang von Goethe, Faust – Der Tragödie erster Teil, Tübingen 1808, Vers 3415.

Begeben Sie sich, liebe Besucher, in die Ausstellung und lassen Sie sich ein auf die Erlebnisräume dieser drei Künstlerinnen.

2 Brian O’Doherty, Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, San Francisco 1976. S. 15 ‑23.

Mein besonderer Dank geht sowohl an diese drei Künstlerinnen, die mich mit Ihren Arbeiten stark inspiriert haben als auch an die Autorinnen, für ihre intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten und insbesondere der Kunststiftung Christa und Nikolaus Schües, die diese Ausstellung nun zum 4. Mal großzügig unterstützt und möglich gemacht haben.

1 Hanno Rauterberg, Die Kunst und das Gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik, Berlin 2015, S. 24.

Laura Franzmann verknüpft ihre Arbeiten mit Ihrer Umgebung, die einen „Hauch des Häuslichen“ mitbringen und damit in der Stille ihrer selbst ruhen. Ein heller Teppich mit amorphen Strukturen, welche durch eine feine Stahlkonstruktion erhöht werden, zieht den Blick an. Nicht wie bei Theas Djordjadzes Abhängigkeit von Rationalem und Rohem, findet hier eher ein weicher Dialog der Objekte mit der Umgebung statt. Gezeigt wird ihre Dualität und weniger eine Spannung zwischen Ihnen. Franzmanns Arbeiten erinnern an vertraute Formen, die verzerrt und aus ihrem Kontext gerissen wurden. Immer wieder taucht der Teppich auf als Urform des Gemütlichen. Doch anstatt ihn betreten zu können, wird man auf Abstand gehalten. Immer wieder fädelt sich eine Linie durch ihre Objekte und wird so selbst zum Objekthaften. Holly Hunter untersucht in ihrem Text Franzmanns Linie, versucht sie zum Sprechen zu bringen und entblößt sie als Zeichen, welches zwischen zwei Dimensionen hin und her springt. Laura Franzmann arbeitet derzeit an ihrem Master mit dem Schwerpunkt Zeitbezogene Medien bei Prof. Matt Mullican und ist ebenfalls für den HISCOX Kunstpreis 2016 nominiert.


FRANZISKA

OPEL

Franziska Opels kleine Kulturgeschichte oder Wie ist der Plural von Venus?

Bastiana Stutterheim TEXT

04


24Hrs open 2015 Folie auf Glas je 160 x 140 cm


06


Dreamcatcher 2015 Folie auf Glas 90 x 205 cm


08

On the ground / am boden 2016 Gras und gebogenes Stahlblech 210 x 140 cm

Franziska Opel sucht den Betrachter zu verunsichern, indem sie poetische, verwirrende, herausfordernde Bilder anbietet. Einen Schwall an widersprüchlichen Assoziationen auslösend, erzählt sie uns von der abendländischen Kulturgeschichte als einer Kultur von Machtstreben und Revolte, Unterdrückung und Aufbegehren, emblematischer Behauptung und symbolischer Verdunkelung. Von erstarrten Symbolen und deren neuerlicher Besetzung. Von der Verschiebung der Kontexte, in deren Aktualisierung doch Archaisch-Urwüchsiges eingeschrieben bleibt. Von einer Genese des Kulturellen, in der wir Propheten und Unterworfenen genauso begegnen wie Herrschern und Verführern. In der sich immer neue Bilder generieren für die doch gleichen Phantasien von Triumph und Besetzung. Von Gegensätzen und Widersprüchen, deren Spiel und Ringen die Geschicke des Menschen bestimmt, auch immer wieder Neues (er)schafft. Dieser Spannungsraum ist Opels Spielfeld.


So verwundert es kaum, dass Franziska Opel ihre Bild- und Kunstwelt bevölkert mit Chiffren, Gesten und Symbolen. Einem eindeutigen Kontext entzogen und doch auf eine obskure Herkunft verweisend, verwirren uns die eingefrorenen, erstarrten Gesten und randomisierten Mimiken, die Chiffren und Zeichen. Optisch buhlt diese Kunst mit opulenter Geste um Aufmerksamkeit, um sich im nächsten Moment doch wieder in Reduktion, Askese und Zurückhaltung zu üben. Zwischen formaler Beschränkung (etwa auf die immer wieder eingesetzten Grundfarben Rot, Blau, Gelb, dazu Weiss und Schwarz) und einem barocken Formwollen bewegen sich die Arbeiten Opels. Es gibt eine weitere formale Konstante in Opels Arbeiten: Die Poesie und immer wieder die Sprache. Erzählen ihre Arbeiten uns doch auch vom ewigen Ringen des Künstlers um Ausdruck und Aussage, autonom und trotzig gegen jegliche Vereinnahmung: Kunst als Trutzburg, als Ort der Erkenntnis und Reflexion – auch Reflexion der eigenen Grenzen –, Poesie gegen die Sprachlosigkeit und den Zweifel.

Franziska Opel mag Schwellensituationen, wie in der Installation „GOOD“ (2012), in der sie den tunnelartigen Durchgang zur Galerie Genscher bespielt; in der Arbeit „24 hours open“ (2015) sind es die Werbekästen der Kölner U-Bahnstation Ebertplatz, die zum Gallery Space mutieren. Orte sind das, die eher als Durchgänge, notwendige Stationen auf dem Weg irgendwohin denn als Orte an sich wahrgenommen werden. Immer wieder finden wir uns in Opels Arbeiten konfrontiert mit einem Drinnen oder Draussen, gelegentlich sogar einem Blick durchs Guckloch. Und letztendlich stehen wir dann auch vor der Entscheidung Hineingehen oder Draussenbleiben. Hineingehen bedeutet: der Neugier nachgeben, eintauchen in eine Bildwelt, die verführerisch schön, anregend und verwirrend, unheimlich bedrohlich zugleich ist.

Opel erzeugt ein Geflecht an Assoziationen, Bedeutungen, Interpretationsmöglichkeiten, in das sich der Betrachter bald verstrickt. Wie genau soll die Arbeit nun gelesen werden? So überfrachtet treten uns die Symbole entgegen, so bedeutungsschwanger und dicht, dass uns bald nur übrig bleibt, eine eigene Reflexion anzustrengen, denn seitens der Künstlerin ist eine eindeutige Entschlüssellungsschablone nicht zu erwarten. Gerne möchte man dem Drang nachgeben, die Symbole endgültig zu entschlüsseln und einer Bedeutungseindeutigkeit (in Form einer Aussage) zuzuführen, das Kunstwerk also verstehen. Solch eine finale Ausdeutung der Opelschen Sujets und Symbolwelten würde jedoch der Intention der Künstlerin zuwider laufen. Erst jenseits des Primats einer abgeschlossener Erklärung entwickeln sich Diskurs und Dialog. Nur wo Ambivalenz und Mehrdeutigkeit Platz haben, entkommen wir dem dramatischen Chiaroscuro zu Gunsten eines gedanklichen Sfumato, indem sich auch die Mischtönen entfalten.


Venus 2015 VIDEOSTIL Die Arbeiten Opels werfen den Betrachter letztendlich auf sich selbst zurück, auf die eigenen Interpretations- und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Immer wieder tritt einem das „Ich“ als neuralgischer Punkt in den Arbeiten Opels entgegen, wird das agierende Subjekt „I“ (Ich) mit dem wehrlos-rezeptiven „Eye“ (Auge) gleichgesetzt. Auch auf unsere Verführbarkeit weist sie uns hin, sich unter den Symbolen der Macht oder der Gemeinschaft zu versammeln. So nehmen Opels Arbeiten nicht selten die Ästhetik und den kämpferischen Habitus totalitärer Propaganda auf, spielen mit ihrer manipulativen Anziehungskraft. In totalitären Systemen werden Symbole auf eine Bedeutung reduziert, eingeengt. Opel geht es dagegen um das Öffnen der Symbole, um ein Bekenntnis zu Mehrdimensionalität und Ambivalenz.

In der Kleinen Gesellschaft für Kunst und Kultur inszenierte Franziska Opel 2015 den Kampf zwischen Macht und Sexus, zwischen Hure und Heiligkeit, zwischen Kultur und Pop. Wer hier die Oberhand gewinnt und behält, bleibt offen, wie in vielen anderen Arbeiten Opels. Mit der Kleinen Gesellschaft für Venus – so der Ausstellungstitel – bekennt sich die Künstlerin auch zur weiblichen Perspektive. Das Schaufenster des ehemaligen Ladenlokals funktioniert Opel zur Projektionsfläche für ihre Videoarbeit „HARD WORKING GIRLS“ um. Unbewegt bleibt die grafische Einfassung des fünfminütigen Loops. Formal erinnert ihr Aufbau zunächst an die digitale Variante eines Kirchenfensters. Doch bei genauerem Hinsehen wird man schnell irritiert: Rosette oder Kleeblatt? Ist eine Motivik wie Herz und Kreuz nun dem klerikalen Bereich entlehnt oder entstammen sie einem Deck Spielkarten? Und wen meint dieses „Hard Working Girls“ denn nun eigentlich? 10


Venus 2015 installationsansicht Funny Games PVC Letter und UV-Prints auf Dibond 675 x 180 cm

Im Zentrum der Projektion steht eine diashowartige Abfolge bekannter Venusdarstellungen. Doch keine einzige Venus zeigt uns Opel zur Gänze. In sanften Einund Ausblenden fokussiert sie auf Details der Darstellungen – Schenkel, Brüste, Hände, Po – und präsentiert uns vom jeweiligen Zeit- und Kunstgeist idealisch und doch nie identisch geformten Körperteile. Wie angestrahlt wirken die Figuren, durch den schwarz eingefärbten Hintergrund Raum, Zeit und jeglichem Kontext enthoben. Darüber rotieren drei vertikale Buchstabensäulen, die neben „Hard Working Girls“, dem Titel der Arbeit, durch Ein- und Ausblenden einiger Buchstaben immer wieder neue Wortkombinationen ergeben: „Hard Girls – Hard Working Girls – Hard Work – Work – Work Girls – Working Girls – Hard Working Girls – Hard Girls – His – I“.

Zurück zur Titelfrage: Wie ist der Plural von Venus? Venüsse? Der deutsche Duden, der als zweite Wortbedeutung (bildungssprachlich) Frau von großer Schönheit listet, kennt keinen Plural von Venus. Franziska Opel schon.


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Wappen Waffen 2015 lackierte Nyloprintplatten mit Metallinlay je 40,5 x 24,6 cm


Good 2012 Styrodurletter je 100 x 100 cm

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16


MadBadSad 2014 Mural 300 x 340 cm


C—

V

geboren 1984 STUDIUM 2007 – 2014 2012

Diplom (mit Auszeichnung) an der HfBK Hamburg bei Wigger Bierma und Matt Mullican Jahresstipendium der Karl H. Ditze Stiftung für Diplomstudierende

EINZELAUSSTELLUNGEN 2016 2015 2014

Schwarze Sonne – backwards into the future. Galerie Hinten, Chemnitz Kleine Gesellschaft für VENUS – eine Ausstellung von Franziska Opel Kleine Gesellschaft für Kunst und Kultur, Hamburg 24 HRS OPEN ComeTogether Project 5,25 qm, Köln WALK IN & Never F.O.RGET Diplomausstellung HfbK, Hamburg

VERÖFFENTLICHUNGEN (AUSWAHL) 2014 Praline Materialverlag – Hamburg 2012 MOND-TAG mit Mitko Mitkov 1% of ONE Verlag Variationen 1% of ONE Verlag 2010 Roter Mund Materialverlag, Hamburg Der Glanz wirft seinen Schatten Materialverlag, Hamburg 2009 Du & Ich Materialverlag, Hamburg

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Seduction 2014 Projektion auf Mdf Scheibe oder Wand und Styrodur Propeller Nase MaĂ&#x;e variabel


LAURA

F R A N Z M A NN

Feed A Line

TEXT

Holly Hunter,

dem Englischen von 20

Ăœbersetzung aus

Sebastian Engelmann


Pour of tor and distance 2014 Skulptur Kunstfell, Gips 120 x 40 cm


littoral Ground PLan I - II 2015 ground plan I-II Skulptur Stahl,Lack, variable MaSSe

1. Ich erinnere mich an eine bestimmte Erfahrung von Synästhesie, von doppelter Wahrnehmung. Ich war damals sehr müde und ein Geschmack wurde als Textur auf meiner Zunge manifest; die Textur bildete eine Linie. Ich sah die Linie nicht aber sie war da, auf meiner Zunge. Ihr Rhythmus ging über in ein Gefühl im Mund, das zwischen einer intensiven Glattheit und brutaler Rauheit oszillierte. Es war eine völlig unverfälschte Frustration, die sich aus der Tatsache speiste, dass die Linie keine Form annehmen wollte, während sie zwischen Horizont, Kontur und Grenze umschwenkte, manchmal durch den Raum schwebte und sich manchmal als quantisierte Fläche an der Oberseite meines Mundes abzeichnete. Im dem Moment, in dem ich sie auf ihre Position versuchte festzulegen hatte sie sich bereits verändert. Sie war zugleich unendlich schnell und unsagbar langsam, vollkommen ohne Veränderung.

2. Eines Nachts regnete es heftig als ich durch die Stadt mit dem Fahrrad nach Hause fuhr. Meine Brillengläser waren nass vom Regen. Die Lichter der Ampeln wurden zu farbigen Linien, die sich über die Straße zogen. Sie leuchteten hell auf und Spuren von gelbem Licht flossen von einer Seite der Straße zur anderen, verbanden sich als ich an ihnen vorbeifuhr mit den roten Bremslichtern in unmöglichen Winkeln. Durch die Gläser meiner Brille bekamen die Straßenschilder und Richtungspfeile neue Bedeutung, sie verbanden sich zu neuen Zeichen – das alles durch meine vermittelte Sichtlinie. Die Straßen die ich doch so gut kannte zeigten sich mir als etwas völlig Neues. Sie wurden zu einem Diagramm aus Relationen, eine Ansammlung von miteinander verbundenen Formen die zwischen der zweiten und dritten Dimension umsprangen. 22


In Laura Franzmanns Arbeit schwingt die Linie zwischen Repräsentation und Darstellung. Es befindet sich auf der Spitze meiner Zunge, ich kann es jedoch nicht ausspucken. Ich bin mir nicht sicher wie es aussieht. Ist es ein „st-st-st“ oder fühlt es sich nur an wie die Form dieser Buchstaben? Geht die Karte dem Gelände voraus oder ist es anders herum? Die Linie weigert sich als etwas binden zu lassen. Sie ist zugleich verzweifelt sich nicht binden zu lassen und aufgeladen mit Referenzen.

Deswegen versucht sie mit semiotischen Referenzen zu verwirren und die Idee, dass sie etwas bedeutet auf die Spitze zu treiben. Die Linie schätzt den menschlichen Körper gering. Sie selbst gehört einer anderen Ordnung an. Sie widersteht Gefühlen, will nicht geliebt werden. Sie will objektifiziert werden. Die Linie will Unabhängikeit, kann sich aber nicht selbst aus ihrer Potenzialität entlassen. So greift sie ihre Endpunkte und lädt diese gewaltsam mit Bedeutung auf. Ich frage die Linie: Warum berührst du meinen Körper auf diese Art? Die Linie vibriert stumm. Ich werde wütend, gehe rabiater mit der Linie um. Und ihr Material summt ärgerlich. Ich schieße ein Foto von der Linie, stelle es auf der Fläche still und wage zu denken, dass sie nun ruhig bleibt. Aber in dem Moment, in dem ich meinen Blick vom Bildschirm abwende, spricht etwas in meinem peripheren Sichtfeld. Es zerfließt wie Schrift auf einem weißen Blatt Papier. Der Raum selbst ist nun ein Stück gefaltetes Papier, über das sich die Linie zieht. Linie, was versuchst du mir zu sagen? Die Linie ist so stur. Bist du nun Darstellung oder Design? Ist das ein Plan oder eine Handlung? Spielend manifestiert sich die Linie in verschiedenen Texturen. Sie verkleidet sich als Innenausstattung, gibt vor geschichtet zu sein, obwohl sie sich nur selbst gegen ein anderes Set an Referenzen presst. Sie wird komplett in Narrativen der Konsumption hineingezogen, kann auf diese Art aber nicht gehalten werden. Sie kann nicht in ein statisches Zeichen umgewandelt werden. Indem sie versucht keine Gefühle zu zeigen, offenbart die Linie alles. Die Konturen von modernen Bauprojekten sprechen eine Sprache, die ihre Funktionalität und die Sozialpolitik sowohl übersteigt, als auch diesen vorangeht. Ihre Architektur verhält sich wie ein räumliches Diagramm, das Bewegung und Handlungen auf ebendiese Bewegung zur selben Zeit beschreibt. So umgeben die Linien eines Gebäudes den Körper nicht nur, sondern treten in diesen ein. Laura Franzmanns Linie fließt durch Netzwerke aus Interaktion aber verweigert sich den Kreislauf zu schließen und so lesbar zu werden. An keiner Stelle kann man sich sicher sein ob sie ein Konzept, eine Aktualisierung oder eine Beschreibung von bereits vorhandenen Formen ist. Sie spielt auf dieser Art mit unserem Zwang alles zu deuten. Ihre Linie entzieht sich dem Zugriff, trotzdem stets verlockend nah.


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Kurvenblatt 2015 Skulptur Porzellan, Holz 120 x 53 x 53 Cm


Delineation / littoral ground plan III

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Delineation 2015 Installation pulverlackierter Stahl 256 x 151 cm


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2016 Wolle 200 x 80 cm


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2015 Installation handgetufteter Teppich, Metall, Lack, Glas 190 x 140 cm 140 x 60 x 45 cm 60 x 60 x 15 cm Credits Edward greiner


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2016 Installation Teppich, Metall,Lack, Schaumstoff, Stoff 220 x 220 cm 85 x 43 x 37,5 cm 71 x 11,5 cm


C—

V

geboren 1990 STUDIUM seit 2015 2016 2010-2015

Master of Fine Arts an der HfbK Hamburg bei Prof. Matt Mullican Goldsmiths University of London Department of Art Bachelor of Fine Arts an der HfbK Hamburg bei Prof. Matt Mullican

STIPENDIEN / NOMINIERUNGEN 2016

Nominierung für den HISCOX Kunstpreis

2015/16

Art School Alliance, Internationales Austauschprogramm der HfbK Hamburg Goldsmiths, University of London

2014/15

Projektförderung des Freundeskreises der HfbK Hamburg

GRUPPENAUSSTELLUNG 2016

„Die Pythien“ – Mundsburgtowers, Hamburg Jahresausstellung - HfbK Hamburg

2015

„ASA Open Studios“ - Karolinenstraße 2a, Hamburg Absolventenausstellung der HFBK Hamburg Bachelor of Fine Arts, Hamburg

2014 2013 2012 2011

„The Logic of Magic“ - Frappant, Hamburg „Open Class“ – Münzviertel, Hamburg Jahresausstellung - HFBK Hamburg Jahresausstellung - HFBK Hamburg „Objekte“ - Elektrohaus, Hamburg „Spring Lerche Spring“ - HfbK Galerie, Hamburg

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Im Wasser ein Stein und ein Kreis Skulptur Kupfer 100 x 75 cm


ANGELA

ANZI

ร ber den Eigensinn der Dinge. Die Welt tรถnt.

Wiebke Schwarzhans Text

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Performance in Chandolin 2015


Eine Berglandschaft. Ein Unwetter kündigt sich mit aufziehenden Nebelschwaden und dichten Schneewolken an. Eine Person hockt in einem Feld aus Steinen. Ein Teil des Nebels färbt sich zunehmend orange. Was dort geschieht, bleibt rätselhaft. In der Performance Chandolin (2015) interveniert Angela Anzi in diese gebirgige Szenerie. Wir müssen unseren Augen trauen und der Dokumentation der Künstlerin, da kein menschliches Publikum anwesend war. Allein die Steine und Berge können das Geschehen bezeugen.

In den Installationen mit dazugehörender Performance wie in Hilfestellungen an Objekten 1 und 2 (2013 & 2015) wird das Eigenleben der Dinge herausgekitzelt. Die Dinge werden im Wortsinn animiert (von frz. animer: beleben, beseelen, erregen und lat. anima: Lufthauch, Atem, Seele, Leben). Ihre Fähigkeit zu agieren, zu tönen, zu singen tritt in Erscheinung. Dann wieder der Sound von Maschinen, die Luft produzieren oder kaum wahrnehmbare Töne, bis aus dem maschinellen Noise ein Gesang der Dinge kippt. Die Materialien klingen. Sie produzieren nicht nur Formen im Raum – die sich wie Zeichnungen in diesen einschreiben – sondern sie formieren sich zu einem wunderlichen Konzert. Ein widersprüchliches Orchester befindet sich bei Hilfestellungen an Objekten 2 im Ausstellungsraum: die massiven, fast majestätischen Türme aus Ton, die in ihrer Form Kaminen ähneln. Auf ihnen bewegen sich die zarten Materialien aus Papier, dünnem Holz und Folien flirrend und flatternd. Unerwarteterweise ist es aber Schall, der das Material in Schwingung versetzt. In die Türme sind Subwoofer eingelassen, die Sinustöne zwischen 10 und 30 Hertz wiedergeben. Diese Frequenzen bewegen sich unterhalb und an der Hörschwelle des menschlichen Gehörs. Die Wahrnehmung wird hier auf produktive Weise erweitert: Man fühlt den Schall und beginnt das Material zu hören. 38

Abhörungen 2014 Videoloop 6 Min.53 HD Stereo

Eine andere Landschaft mit anderen Zeugen: An der Küste Südenglands stehen massive Konstruktionen aus Beton. Zum Meer hingewandt weisen sie eine große Wölbung auf. Die Sound Mirrors, auch Hohlspiegelmikrophone genannt, sollten am Anfang des 20. Jahrhunderts Flugzeuge und Flugschiffe noch außer Sichtweite hörbar machen, verstärkten jedoch ebenso den Klang von Wind und Meeresrauschen. Nur bedingt nützlich und schon während des Zweiten Weltkriegs ganz vom Radar abgelöst, schauen die monumentalen Objekte seither ohne Sinn und Zweck aufs Meer. Dass solch ein Sound Mirror in dem Video Abhörungen (2015) auftaucht ist kaum verwunderlich: Versinnbildlicht er doch geradezu die Fragestellungen, denen sich Anzi widmet. In ihren Videos, Installationen und Performances tauchen oftmals Personen auf, die mit eigentümlichen Objekten in ihrer Umgebung in Interaktion treten. Die Handlungen der Figuren mit den Dingkonstruktionen werfen Fragen auf und bringen Sinnverschiebungen hervor. Auf den ersten Blick entzieht sich das Sinnhafte, es verbleibt vorerst im Rätseln darüber. Doch die präzisen Formen und ungewöhnlichen Vorgänge bieten einen konkreten Entfaltungsraum für das Eigensinnige der Dinge. Dieses Spiel zwischen vermeintlicher Sinnlosigkeit und widerständiger Sinngebung führt auf ungewöhnliche Wege der Wahrnehmung, in denen Realität und Phantasie fast ununterscheidbar in Beziehung treten.


In Angela Anzis Arbeiten wird die Welt als Resonanzraum begriffen, den es mit allen Sinneskanälen zu untersuchen gilt. Sichtbar bleibt die Form der Dinge, während sie sich schwingend wandeln. Durch ihre Hilfestellungen transformieren sich die skulpturalen Arbeiten und bringen immer wieder Ungeahntes zum Vorschein. Indem sie in den Performances die Objekte an ihre Grenzen treibt – durch Schall animiert, durch Körperkraft beschleunigt, durch Luftdruck sich wölbend fast bis zum Bersten – wird auch der Begriff des Kunstwerks erweitert. Davon sprechen Anzis Arbeiten während sie eindimensionale Sinnhaftigkeiten eines Besseren belehren. Denn das was uns vor Augen liegt sind weitere mögliche Spielarten des Sinnhaften, die Wahrnehmungsmuster zu unterwandern im Stande sind. Wie die Künstlerin es selbst so treffend beschreibt: Ein Moment in dem die Wahrnehmung aufknackt.

In den Arbeiten von Angela Anzi finden die Dinge eine Bühne. Sie zeigen ihre Potenziale: Sie können überraschend mehr als erwartet. Sie erweitern sich. Sie wachsen über sich hinaus. Sie können oftmals fliegen. Und auf eigensinnige Weise singen.

Die Dinge sind nicht stumm. Die Welt tönt.


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Abhรถrungen 2014 Videoloop 6 Min.53 HD Stereo


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Hilfestellungen an Objekten 1 2013 - 2015 Installation mit Performance Foamboard, Folien, Papiere, BlumentĂśpfe, Glasfaser, LĂźfter, Rohre, u.a. Credits Anna Mieves


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Hilfestellungen an Objekten 2 2015 Installationsansicht mit performance 5 objekte aus ton 80 - 240 cm x 40 x 100 cm Diverse andere materialien wie Papier und Folien Credits Anne Linke / Edward Greiner


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2011 Zeichnungen Bleistift auf papier 21 x 21 cm / 20,7 x 21 cm


Schlafende objekte 2011 blaue wandtafel auf stelzen im inneren des hauses: Objekte aus papier, led, ventilatoren Installation

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mobiles objekt fahrrad, papier, fiberglas, stahl, draht Credits Nils Loefke


C—

V

geboren 1981 in Luzern (CH) STUDIUM 2014 – 2017

Master of fine Arts an der HfbK Hamburg mit dem Schwerpunkt zeitbezogene Medien bei Prof. Jeanne Faust

2008 – 2014

Bachelor of fine Arts an der HfbK Hamburg in den Schwerpunkten zeitbezogene Medien u.a. bei Prof. Jeanne Faust sowie Bühnenraum bei Prof. Raimund Bauer

stipendien, nominierungen 2016

Nominierung für den HISCOX Kunstpreis

2015

Nominierung für den Berenberg Preis für Junge Kunst

Lobende Erwähnung für Lichtfänger am Body Art Festival, Turin

2014

Oktober in Hamburg nimmt Teil an der internationalen Wanderausstellung „your skin makes me cry“, initiert durch das Goetheinstitut und Olaf Stüber, Berlin

2013

Einjähriges Leistungsstipendium für ausländische Studierende Mitauszeichnung durch den/die KunstbeutelträgerIn im Auftrage der Hamburger Kulturbehörde für „Hilfestellungen an Objekten I“ Reisestipendium an die Goldsmiths University in London

EINZELAUSSTELLUNGEN 2015

„Hilfestellungen an Objekten 2“

Einstellungsraum, Hamburg

2011

„Schlafende Objekte“

Hühnerhaus Volksdorf, Hamburg

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Schlafende objekte 2011 5 Papierobjekte à ca. 250 x 150 CM Ventilatoren, led’s installation


2012—

2016

EMERGI NG A RT — ISTS

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2012

Grit Richter Stefan Sandrock Martin Bronsema Sven Kählert Ki Yoon Ko Igor Maier Low Bros

2013 2014

Jivan Frenster Paul Gregor Jorel Heid Alexandra Griess Isabell Kamp Nikola Gördes Stella Rossié We Are Visual Holger Wilkens

2015

Robert Vellekoop Jenny Schäfer Natalia Sidor

Mika Neu Verena Schöttmer Jana Schuhmacher


Fรถrderung

gestaltu ng

EIN KATALOG DER

AFFORDABLE ART FAIR HAMBURG 2016 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Abdrucks und der fotomechanischen und/oder digitalen Wiedergabe.


IMPRESS— Isabel Deimel Oliver Lähndorf

Kuratori n Isabel Deimel

Autoren

Holly Hunter, Wiebke Schwarzhans, Bastiana Stutterheim, Isabel Deimel

Abbi ldu ngen Courtesy of the artists

Gestaltu ng

Christoph Bruns, ON&ON

DRUCK

Seltmann Printart Lüdenscheid

Auflage, Papier 200, Profisilk

Schrift Rasmus, Averta

ISBN

978-3-946688-04-4

UM

HERAUSGEBER



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