Emerging Artists 2019

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asana fujikawa

METAMORPHOSEN VON INGA DREESEN

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emilia kubacki

WOGEN VON LARA BADER

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malte stienen

IM RISIKORAUM DER REALITÄT VON BELINDA GRACE GARDNER

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vorwort


Liebe Besucherinnen und Besucher, seit Beginn der industriellen Revolution vor rund 200 Jahren greift der Mensch in biologische, geologische und atmosphärische Prozesse auf der Welt ein. Die Auswirkungen der Eingriffe werden auch noch in Tausenden von Jahren zu spüren sein. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Wissenschaftler diskutieren, ob das geochronologische Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf das Klima geworden ist, Anthropozän (zu Altgriechisch Ánthropos, deutsch ‚Mensch‘ und kainós, ‚neu‘) benannt werden soll. Auch wenn die Betitelung für unser Zeitalter damit noch nicht geklärt ist, geht es im Kern um eine Botschaft, wie wir auf der Welt leben wollen, welche Ressourcen wie genutzt werden und wie wir letztlich lernen müssen, im Einklang mit der Natur zu leben. Die Ausstellung der Emerging Artists nimmt sich jedes Jahr zur Aufgabe, jungen aufstrebenden Künstlern eine Plattform zu geben, die sich mit den spannenden Themen unserer heutigen Zeit auseinandersetzen. Die Hamburger Künstlerinnen und Künstler der Hochschule für bildende Künste Hamburg in diesem Jahr greifen in ihren Arbeiten die Thematik des Anthropozän vielfältig auf und regen zu einer tieferen Befragung des Zusammenlebens auf der Erde an. Die aus Japan stammende Hamburger Künstlerin Asana Fujikawa verknüpft in ihren Druckgrafiken, Plastiken und Bildern verschiedenste Einflüsse, darunter Erzählungen aus der griechischen und japanischen Mythologie, mündlich überlieferte Geschichten und aktuelle Politik. Das Material Ton hat für sie etwas ur-mütterliches und damit eine materialsemantische Funktion. Die Themen, die sie derzeit beschäftigen, sind stark durch die Mensch-Natur-Beziehung inspiriert und machen sowohl auf humorvolle als auch berührende Art und Weise auf sich aufmerksam. Asana Fujikawa hat ihren Master of Fine Arts an der Hochschule für Bildende Künste bei Prof. Matt Mullican mit dem Studienschwerpunkt Zeitbezogene Medien 2016 abgeschlossen. Emilia Kubacki setzt sich mit den Sehnsüchten, Illusionen und Grenzen zwischen Natur und Künstlichkeit auseinander. Gerade die Schichtungen in der Polyurethan-Wandarbeit wogen zeigt Parallelen zu den Schichtungen im Polareis, die der niederländische Meteorologe Paul J. Crutzen entdeckte. Jede Schicht beinhaltet unterschiedliche Rückstände, die Rückschlüsse auf vorherige Zeitalter zulassen und ein Bild des Ganzen vermitteln. Ebenso lässt sich bei ihr ein Spiel mit der Wahrnehmung erkennen, ob mittels der Motive der idealisierten Werbewelt oder optischer Täuschungen, womit sie mit tradierten Wahrnehmungsgewohnheiten bricht und uns neue Perspektiven aufzeigt. Emilia Kubacki hat ihren Master 2018 bei Prof. Anselm Reyle mit dem Studienschwerpunkt Malerei und Zeichnen an der HFBK Hamburg erworben. Der Medienkünstler Malte Stienen beherrscht das Aufzeigen der virtuellen Realität und ihren zweifelhaften Versprechungen par excellence. Automatisierte Skulpturen, die mit Hashtags programmiert sind und wortwörtlich „Angst“ erzeugen, VideoLoops von Sehnsuchtslandschaften begleitet von einer sonoren Computerstimme, oder videogenerierte Avatare, die sich für den Weltuntergang präparieren – sie alle zeugen von virtuellen Wirklichkeiten. Das pointierte Verwenden medialer Reize und Manipulationen irritiert, birgt zwischen den Zeilen jedoch den Wunsch einer globalen Besinnung. Malte Stienen hat bei Dr. Belinda Grace Gardner und Prof. Matt Mullican 2017 den Master of Fine Arts an der HFBK Hamburg mit dem Studienschwerpunkt Zeitbezogene Medien absolviert. Diesen drei Künstlerinnen und Künstlern gebührt diese Ausstellung und ihnen gilt mein besonderer Dank. Sie haben mir die Vielfalt inspirierender Thesen aufgezeigt und haben mir neue Denkanstöße gegeben. Der Kunstmäzen Heiko Harms und die Quirin Privatbank haben die Ausstellung großzügig unterstützt und begleitet und auch Ihnen möchte ich von ganzem Herzen danken. Ich wünsche viel Spaß beim Entdecken! Ihre Isabel Deimel

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asana fujikawa

VON INGA DREESEN


Es waren einmal zwei Gruppen von Menschen, die lebten in der Nähe eines Waldes. Die eine Gruppe bestand aus Arbeitern, die mit Latzhosen bekleidet in den Wald gingen. Doch im Wald wuchsen Eiben – ganz besondere Bäume, die ein starkes, ja sogar tödliches Gift in sich trugen. Als die Arbeiter mit den Eiben in Kontakt kamen, begann eine Metamorphose und es wuchsen ihnen Äste aus dem Kopf, dem Rücken und den Armen. Die Männer verwandelten sich Stück für Stück in Bäume. Von Angst gepackt versuchten sie zu fliehen, doch jede Rettung kam zu spät. Voller Verzweiflung formten die Männer aus der Erde des Waldes kleine Figuren als Seelenbehälter, die ihre menschlichen Seelen bewahren sollten, wenn die Körper ganz an den Wald verloren gingen. Die andere Gruppe von Menschen bestand aus zwei Mädchen, die in einer glücklichen Liebesbeziehung lebten. Im Wald sammelten sie Schnecken oder jagten kleine Tiere, die sie mit Genuss töteten. Eines Tages, als sich die beiden liebten, rochen sie einen herrlichen Duft. Er kam aus einer Blume, die aus ihren verbundenen Körpern gewachsen war. Dieser wunderschöne Duft vermischte sich mit einem atemberaubenden Gestank. Er kam von den Füßen der Mädchen, die im Liebesakt auf eine Schlange getreten waren und diese getötet hatten. Die beiden waren betört von der einzigartigen Geruchsmischung und sahen voller Offenheit und ganz ohne Angst der kommenden Metamorphose entgegen. So könnte das Märchen lauten, das Asana Fujikawa einigen ihrer Kunstwerke zu Grunde legt. Die in Hamburg lebende Künstlerin mit japanischen Wurzeln verknüpft in ihren Radierungen, Keramiken und Malereien eigens ausgedachte, bisher nur mündlich überlieferte Geschichten mit griechischer Mythologie, japanischen Sagen und aktueller Weltpolitik.

Ein Waldmensch versucht, während seiner Metamorphose seinen Arm abzuschneiden_2016 Keramik 35 x 27 x 23 cm Credits Martin Meiser

METAMORPHOSEN

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Drei zarte Strichätzungen erzählen die Geschichte der beiden Mädchen, welche auf dem ersten Blatt umgeben von stinkenden Schuhen, Seelenbehältern und einem getöteten Tierchen im Bett liegen. Während um sie herum Blumen wachsen, ist vor ihrem Fenster einer der halb verwandelten Arbeiter zu sehen. Die mittlere Radierung zeigt die beiden Protagonistinnen Hand in Hand bei der Schneckensuche. Am Wegesrand steht ein kleiner, an einen japanischen Tempel erinnernder Schrein. Auf der dritten Grafik ist die geheimnisvolle, gleichermaßen erschreckend wie zauberhaft wirkende Metamorphose der Arbeiter zu erkennen. Ihre Fluchtversuche stellen sich angesichts der aus den Körpern brechenden Äste und Blätter als aussichtslos dar. Eine Plastik der Serie Ihre Füße riechen bestialisch, die Blume duftet paradiesisch knüpft ebenso an diese Geschichte an und zeigt zwei weibliche Figuren im genussvollen Liebesakt, bei dem eine Blume aus ihren Körpern wächst. Während ein Mädchen eine Schlange zertritt, beißt ihr die Partnerin in die Schulter. Themen wie lesbische Liebe und Sexualität, Fetische, Religion, tief verwurzelte Ängste vor Veränderungen, gewaltvolle Handlungen sowie ein geheimnisvolles Zusammenleben von Mensch und Natur werden spürbar. In Fujikawas Werk sind es oftmals Frauenfiguren, die das stärkere, genießende und tabubrechende Geschlecht verkörpern. Das Material Ton nimmt bei diesem Empowerment eine besondere Rolle ein. Fujikawas Keramiken sind einerseits äußerst filigran und kleinteilig gearbeitet, andererseits blitzt an einigen Stellen die grobe Struktur der erdigen, mit Händen geformten Substanz durch die glänzende Glasur. „Für mich ist Ton ein mütterliches Material, das mich an meine Kindheit in Japan erinnert.“, berichtet die Künstlerin. Ton, aus der Natur stammend und von Gottfried Semper als der „Urstoff“ schlechthin bezeichnet, hat eine lange Kulturgeschichte. Schon zu Urzeiten diente er unter anderem zur Herstellung von Gefäßen, bis heute ist er als Grundstoff von Backsteinen und Ziegeln allgegenwärtig. Im Kontext der westlichen Künste wurde Ton lange Zeit als niederes Material eingeordnet und erst spät als eigenständiges Ausdrucksmittel wertgeschätzt. Im Hinblick auf Fujikawas Waldmenschen ließe sich über das Material Ton auch eine Verbindung zum biblischen Sündenfall knüpfen. Demnach schuf Gott Adam aus „einem Erdenkloß“, also aus einer tonähnlichen Masse. Adam wurde von der sündhaften Eva, die sich mit der Schlange vereint hatte, durch eine Frucht vom Baum der Erkenntnis verführt, was die Vertreibung aus dem Paradies nach sich zog. Fujikawas Figuren spielen mit eben solchen Narrationen von verbotener Lust, Verführung, Geheimnissen und paradiesischen Vorstellungen. Pflanzen wie Bäume und Blumen verkörpern in Fujikawas Kunst Bedrohung und Schutz zugleich. So zeigt eine großformatige, mit japanischer Gansai-Tusche gemalte Arbeit auf Papier eine nackte, gefesselte Frauenfigur, deren Kopf vollends von großen Blüten verdeckt wird. Der Komplementärkontrast der magentafarbenen Blüten mit den leuchtend grünen Blättern kreiert eine surreale Stimmung, die auch durch die schwebende Körperhaltung der Nackten getragen wird. Die Schere in ihrer Hand deutet darauf hin, dass die Frau sich aus den Bändern, welche an die japanische Fesselkunst Shibari erinnern, befreien könnte. Doch vielleicht ist sie trotz des exponierten Körpers und verdeckten Kopfes nicht unglücklich in ihrer Position – vielleicht dient die Blume sogar als Refugium vor einer feindlichen Umwelt. Asana Fujikawas Werke treten stets in einen Dialog mit den Betrachtenden, die individuelle und unterschiedlichste Assoziationen zu den Arbeiten haben. Traditionelle japanische Materialien und althergebrachtes Handwerk werden mit westeuropäischen Sichtweisen und persönlichen Erfahrungen der Künstlerin verknüpft, woraus berührende, humorvolle und gleichermaßen ernstzunehmende Werke entstehen.

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Ein Waldmensch - Das Ende der Phase der Metamorphose_2016 Keramik 32 x 21 x 21 cm Credits Martin Meiser



Seelenbehälter eines Katers_2017 Keramik 6x 10 x 2 cm Credits Stephan Vavra

Seelenbehälter, der ziemlich leise atmet_2017 Keramik 20 x 11 x 4 cm Credits Stephan Vavra


Ein Waldmensch, der mit einer Schnecke zusammen lebt_2016 Keramik 37 x 15 x 20 cm Credits Martin Meiser

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Waldmensch (links)_2016 Edition5/10 Radierung 37 x 52 cm

Ein schlafender Seelenbehälter_2016 Keramik 6 x 25 cm Credits Stephan Vavra


Waldmensch (rechts)_2016 Edition5/10 Radierung 37 x 52 cm

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Die singende Gรถttin_2017 Keramik 27 x 19 x 17 cm Credits Stephan Vavra

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Auf dem Wasser musst du ständig aufpassen, dass du regelmäßig atmest_2016 Keramik 30 x 28 x 13 cm Credits Stephan Vavra

Ihre Füße riechen bestialisch, die Blume duftet paradisiesch II_2017 Keramik 40 x 23 x 23 cm Credits Stephan Vavra


asana fujikawa geboren 1981 in Tokio

STUDIUM 2016

Master of Fine Arts an der HFBK Hamburg bei Prof. Matt Mullican

2003

Diplom Europäische Kunst und Lehramt an der Nagoya Zokei University in Aichi (Japan) FÖRDERUNG UND STIPENDIUM

2019

Stipendium Künstlergut Prösitz, Grimma

2017

Förderausstellung mit Katalog, 50 Hertz. und Nationalgalerie Berlin, Berlin

2017

Stipendium Stadttopferei Neumünster, Neumünster AU S S T E L L U N G E N

2019

Figuren der fließenden Welt Asana Fujikawa / David Hockney Georg Kolbe Museum, Berlin

2018

Jahresgabe 2018, GAK. Gesellschaft für aktuelle Kunst, Bremen

2018

Further Thoughts on Earthy Materials, GAK. Gesellschaft für aktuelle Kunst, Bremen

2017

Rundgang 50Hertz. Emma Adler. Asana Fujikawa. Susanne Keichel. Cosima zu Knyphausen Eine Förderausstellung der Nationalgalerie gezeigt im Unternehmenssitz von 50Hertz, Berlin

2017

Asana Fujikawa, Künstlerhaus Stadttöpferei, Neumünster

2016

Wasser. Und Licht. Eine Ausstellung von Asana Fujikawa und Florian Tenk, Nachtspeicher23, Hamburg

2016

Asana Fujikawa, Metamorphose, Master Abschluss Ausstellung, HFBK Hamburg

2015

Asana Fujikawa. Auge um Auge, Licht um Licht, bluesleeve select, Hamburg

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(Detail) Die singende Gรถttin_2017 Keramik 27 x 19 x 17 cm Credits Stephan Vavra


emilia kubacki

WOGEN wogen III_2018 Polyurethan, Lavasand, Salz auf Leinen 21,5 x 21 cm

VON LARA BADER

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Auf den ersten Blick erscheinen die Arbeiten der Serie wogen (2018) von Emilia Kubacki wie fragmentarische Stücke von Landschaftspanoramen: Waagerecht ineinanderfließende Farbschichtungen erinnern an weite Wasserlandschaften mit Horizont, zumal die Farbgebung denen idealisierter Landschaftspostkarten ähnelt. Die glänzende Oberfläche verführt das Auge der Betrachtenden. Hingen die Objekte nicht senkrecht an der Wand, man könnte meinen, es handele sich um Wasser. Doch bei näherer Betrachtung kommen Zweifel auf. Deutlich zeichnet sich die Struktur des Leinens hinter der dicken transparent pastellig eingefärbten Schicht ab, deren Oberfläche so sehr glänzt, dass der oder die Betrachtende sich selbst darin spiegelt. Nicht nur, dass das Medium durch das klare Zutage-Treten seiner Struktur auf sich selbst verweist, auch die Betrachtenden werden beim Schauen auf sich selbst zurückgeworfen. Es scheinen die ganz großen, essenziellen Themen zu sein, die Emilia Kubacki hier in ihrem Werk verhandelt.



Das flutende Ganze im fragmentarisch Einzelnen – ein Konzept der Romantik, das sich in wogen deutlich wiederfinden lässt. Durch die Spiegelungen werden die Betrachtenden selbst zum Teil des Kunstwerks sowie der damit assoziierten Landschaft. Über 200 Jahre nach Caspar David Friedrichs Der Mönch am Meer (1808–1810) belebt Emilia Kubacki in ihrer Abschlussarbeit 2018 an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg die romantische Landschaftsmalerei wieder, indem sie die Frage nach der Stellung des Subjekts in der Weite des Raums auf neue Weise aufwirft. Erst in der Begrenzung des Fragmentarischen zeigt sich die Unendlichkeit der Natur. Die wellenartige Schichtung der Farben evoziert ein multiples Schweifen des Blicks hin zur Trennlinie zwischen den im Bild angelegten zwei Hauptfarben, die die assoziierte Landschaft in Himmel und Wasserfläche teilen. Doch der Blick wandert nicht nur über die frontale Oberfläche, vor allem die Materialität des Werks regt die Betrachtenden an, sich davor zu bewegen und es von allen Seiten anzuschauen. Die Grenzen zwischen Plastik und Malerei verschwimmen. Wie eine Schnittkante geben die Seiten die zeitliche Abfolge des Herstellungsprozesses preis und verleihen ihm Sichtbarkeit. Die klaren Trennlinien zwischen den einzelnen Schichten des auf Leinen angebrachten Polyurethans an den Seiten verweisen auf Trocknungsprozesse und Phasen des Wartens, ebenso wie auf Momente der Aktion, in denen neue Schichten entstanden. Neben die räumliche Dimension tritt die der Zeitlichkeit. Die Farbschlieren, die sich durch die Ebenen ziehen, muten an wie eingefrorene Bewegung und verweisen ihrerseits auf den Prozess der Herstellung. Das sich in den Gießschichten brechende Licht setzt die wellenartigen Farbstrukturen in Bewegung. Je nach Lichteinfall entstehen neue Schatten, sodass sich die Oberfläche in Bewegung zu setzen scheint, sobald die Betrachtenden ihren Standpunkt davor verändern. Ganz bewusst hat Kubacki in die letzte Gießschicht eine klare Bruchkante gesetzt, in der sich das Licht besonders stark bricht und die den Kreislauf öffnet zu einer sich ständig perpetuierenden Bewegung. Das Spiel mit der Wahrnehmung der Betrachterschaft ist zentral im Schaffen der jungen Künstlerin. Während sie sich in ihren anderen Arbeiten vor allem mit dem rein optischen Phänomen der Stereoskopie auseinandersetzt – dem Erzeugen eines räumlichen Eindrucks zweidimensionaler Abbildungen, der physikalisch nicht vorhanden ist – hinterfragt Emilia Kubacki in wogen die Wahrnehmung des physisch realen Raums. Dabei greift sie zentrale Theorien der Romantik auf, mit denen sie sich schon in ihrem ersten Studium der Literaturwissenschaften beschäftigte. Durch das Unterbrechen der Farbschichtungen mittels feiner Linien aus Salz oder Lavasand, wird der Eindruck vermittelt, ‚echte‘ Natur werde innerhalb der Arbeit konserviert – ähnlich wie in Schaukästen zu Gesteinsschichtungen in naturwissenschaftlichen Museen. Diese Impression wird jedoch von der deutlich erkennbaren Struktur der Leinwand und die sich darauf abzeichnenden Farbflecken gestört, die das Medium der Malerei in den Fokus rücken. Emilia Kubacki führt uns so vor Augen, dass wir das Gesehene rein aus unserer Sehgewohnheit der horizontalen Farbschichtung heraus als Landschaft charakterisieren, die im Grunde jedoch nichts als Abstraktionen sind. Das Erkennen wird als Erzeugnis erlernter kultureller Praxis enttarnt. Wir projizieren unsere Idealvorstellung von Landschaft, die heutzutage nicht zuletzt durch Werbeplakate und die alltägliche Bilderflut stark beeinflusst ist, auf die abstrakten Farbflächen. Mit dem Einarbeiten mineralogischer Spuren setzt Emilia Kubacki dem Spiel mit der Wahrnehmung die Spitze auf.

(Detail) wogen (still)_2018 Polyurethan, Lavasand, Salz auf Leinen 53 x 81 cm

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wogen (Tryptichon III)_2018 Polyurethan, Lavasand, Salz auf Leinen 46 x 27 cm

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wogen (still)_­2018 Polyurethan, Lavasand, Salz auf Leinen 53 x 81 cm


wogen (still)_2018 Polyurethan, Lavasand, Salz auf Leinen 53 x 81 cm


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Sei still und weine nicht_2019 Acryl auf Leinwand 120 x 150 cm Credit Matthias Schwarze


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Les Yeux Doux_2018 (Detail mit Postkarte 4 und 15) KĂźnstlerbuch 10,5 x 14,8 cm


Les Yeux Doux_2018 Künstlerbuch aufgeklappt 10,5 x 14,8 x 2 cm


emilia kubacki geboren 1984 in Rybnik

2018

STUDIUM Bachelor of Fine Arts an der HFBK Hamburg bei Prof. Anselm Reyle, Prof. Thilo Heinzmann und Prof. Gregor Hildebrandt

2011

Magister Literaturwissenschaften und Geschichte an der Leibniz Universität Hannover G R U P P E N AU S S T E L L U N G E N

2019

Raum & Zeit, Bräuning Contemporary, Hamburg

2019

Shady Matter, Bräuning Contemporary, Hamburg

2018

Constructed Realities, Ok-Terrain e.V., Hamburg

2016

Elektrohaus, Hamburg

2015

Wir nehmen das Pferd von hinten – Klasse Hildebrandt stellt aus, Konzulat, Berlin

2014

The Logic of Magic – Constructing Enigmatic Systems, Frappant e.V., Hamburg

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Alice`s revue_2019 Spiegelinstallation MaĂ&#x;e variabel Credit Matthias Schwarze


malte stienen

VON BELINDA GRACE GARDNER

IM RISIKORAUM DER


Der Kollaps verbindlicher Wertesysteme, übergeordneter Narrativen und traditioneller Institutionen hat, so der französische Philosoph und Medienkritiker Paul Virilio, ein tiefsitzendes Klima der Unsicherheit erzeugt, dem sich niemand mehr entziehen kann.(1) Zuvor durch konkrete Ereignisse (Kriege, Hungersnöte, Epidemien) ausgelöst, ist Furcht, laut Virilio, heute ein „Environment, eine Umgebung, eine Welt“, die von staatlicher Seite aus wiederum orchestriert, verwaltet und gemanagt wird.(2) Dieser umfassenden, sich in ihrer Ungreifbarkeit noch weiter steigernden Wahrnehmung der Bedrohung ist der Hamburger Medienkünstler Malte Stienen auf der Spur, ganz spezifisch in seiner automatisierten Skulptur Untitled (Angst) von 2013. Stienen hat ein Computerprogramm entsprechend programmiert, bei Inbetriebnahme all jene Twitter-Botschaften weltweit zu erfassen, in denen das Wort „Angst“ erscheint. Diese werden ohne zeitliche, örtliche oder autorenbezogene Hinweise auf lose aneinanderhängenden Zetteln einer Kassenbon-Rolle ausgedruckt. Die anonymen Äußerungen wachsen am Fuß der Apparatur zu einem papierenen Haufen kollektiven Unbehagens an. Stienens Arbeit fängt das dialektische Spannungsverhältnis zwischen individueller Nuancierung und allgemeinem Ausdruck eines menschlichen Grundgefühls ein, das jeweils seines Kontexts enthoben zwischen den Sphären des Persönlichen und des Abstrakten oszilliert.

REALITÄT

Pro-Pa-Gan-Da_2019 Installationsansicht

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Während das Aufzeichnungsgerät des Künstlers gleichsam wertneutral und kommentarlos alle „Angst“-Bekundungen festhält, die über eine zuvor bestimmte Dauer im Twitter-Format von unbekannten Personen auf der ganzen Welt abgesetzt werden, nehmen die Betrachterinnen und Betrachter kraft der eigenen emotionalen Verfasstheit mit diesen Botschaften Verbindung auf. Stienen führt einerseits vor Augen, dass wir über gemeinsame menschliche Erfahrungshorizonte miteinander global vernetzt sind, die hier über das übergeordnete „Environment“ sowie die unterschiedlichen Begriffe der Angst kurzgeschaltet werden. Darüber hinaus verdeutlicht er ein Phänomen, das im Zuge der postindustriellen Revolution – und der damit einhergehenden „Katastrophe der Entwirklichung“(3) der Realität – zunehmend unseren digital durchdrungenen Alltag bestimmt: Im Zeitalter des Dauer-Postens von den diversen Fronten des (Privat-)Lebens nehmen wir, sofern in den sozialen Netzwerken aktiv, ständig an den Einkäufen, Essen, Maskierungen, Urlauben, Hochzeiten, Feier- und Krisenmomenten der anderen teil. Wir meinen sie augenblicklich genauso gut, wenn nicht besser, als die eigenen Erlebnisse zu kennen. Mehr noch: Über die visuelle Distribution, Entgegen- und Inbesitznahme werden die Erlebnisse der anderen zu den eigenen, und umgekehrt. Als Archäologe gegenwärtiger Bildwelten zapft Stienen die online in Umlauf befindlichen Images, Sprach- und Informationsfragmente aus einer Fülle von Quellen an, darunter Nachrichtenmedien, Instagram-Feeds, Stock-Fotos aus Internet-Datenbanken, Webauftritte und Plattformen von radikalisierten Subkulturen bis hin zu profitorientierten Großorganisationen wie dem USamerikanischen Waffenverband NRA, die im weiteren Sinne vor der schillernden Folie von Glücks- und Sicherheitsversprechen sowie -hoffnungen im weiten Feld der Furcht operieren. Vorgefundene generische Sehnsuchtslandschaften stehen im Zentrum des Video-Loops Untitled (as a human, part 1) aus dem Jahr 2016, die mit Easy-Listening-Lounge-Musik und einem von dem Künstler verfassten, von einer Computer-Stimme intonierten Text unterlegt sind. Einer Beschwörungsformel gleich, werden Wünsche durchdekliniert, die den damals meist genutzten Hashtags auf Instagram entnommen wurden: „I want to last / I want to be different / I want to be seen / I want to be real / I want to be happy / I want to be liked.“ In unserem immer mehr von visuellen Faktoren dominierten existenziellen Koordinatensystem wird das Menschsein gleichgesetzt mit dem Sehen und Gesehenwerden, eine Erkenntnis, die sich ebenfalls verbal in Stienens Arbeit niederschlägt. Die stilisierten Aufnahmen von Getreidefeldern, Fluss-, Berg- und Waldidyllen im saisonalen Wechsel sind von einer computergenerierten Meeresansicht gerahmt. Die Wirklichkeiten kippen fast nahtlos ineinander, sind kaum noch voneinander zu unterscheiden. Dem artifiziell-unheimlichen Mantra positiver Projektionen steht die Videoarbeit Untitled (terror 2016, part 1), 2017, gegenüber. Stienen vereint darin sämtliche Erwähnungen des Worts „Terror“ von direkt in die Kamera blickenden Tagesschau-Moderator*innen im Jahr 2016. In seiner verlangsamten Bewegtbild-Collage hat der Künstler den Ton durch Untertitel mit dem Begriff „Terror“ ersetzt. Das Ende der Zivilisation stellt die Computeranimation Prepper (benannt nach der gleichnamigen Szene, deren Angehörige sich auf den Weltuntergang präparieren) aus der Werkgruppe Pro|pa|gan|da von 2018 in Aussicht: Stienen lässt einen Avatar mit lakonischer Stimme eine Einkaufsliste mit Gegenständen zur Vorbereitung auf die ultimative Katastrophe verlesen, die parallel dazu schlaglichtartig aufleuchten. Die Flüchtigkeit der virtuellen Wirklichkeiten, aus denen der Künstler schöpft, stehen in gezieltem Kontrast zur haptischen Materialität seiner ästhetischen Gestaltungs- und Präsentationsmittel: Sie sind Vehikel der Erdung im Risikoraum einer Realität, die von der Vieldeutigkeit ihrer Bilder zunehmend usurpiert und überschrieben wird.

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Untitled (as a human)_2017 Installationsansicht


Vgl. Paul Virilio (mit Bertrand Richard), The Administration of Fear, aus d. Franz. ins Engl. v. Ames Hodges, Los Angeles: Semiotext(e), 2012, S. 8. 2 Vgl. ebd., S. 14f. (Dt. Übers. d. Zit. d. Autorin). 3 Paul Virilio, Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung, aus d. Franz. ins Dt. v. Bernd Wilczek, München/Wien 2000 (franz. Orig.-Ausg. 1998 u. 1999), S. 29. 1


Pro-Pa-Gan-Da Stock 2018 Videostills


Untiteld (terror 2016 part 1)_2017 Videostill

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Pro-Pa-Gan-Da Trucker_2018 Videostill

Pro-Pa-Gan-Da Prepper_2018 Videostills


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Untiteld (terror 2016 part 2)_2017 Videostills Videostills, Text

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Rechts: Untiteld (as a human part 1)_2017 Videostills



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Untiteld (angst)_2013 Mediainstallation


malte stienen

geboren 1986 in Eckernförde

STUDIUM 2010

Aufnahme des Studiums der Bildenden Kunst an der HFBK bei Prof. Matt Mullican

2015

Bachelor of Fine Arts bei Prof. Matt Mullican und Prof. Heike Mutter

2017

Master of Fine Arts bei Matt Mullican und Dr. Belinda Grace Gardner G R U P P E N AU S T E L L U N G E N

2009

Gängeviertel/Speckstraße, Hamburg

2012

City-Hof Hochhäusern Projekt Hamburger Himmel

2012

Klasse Matt Mullican @ Wiensowski & Harbord, Berlin

2013

INDEX 2013 Kunsthaus, Hamburg

2013

Hiscox Kunsthaus, Hamburg

2014

HFBK@ Techniker Krankenkasse Zentrale, Hamburg

2015

Untiteld Tokonoma, Kassel

2015

Bachelor Ausstellung HFBK, Hamburg

2015

Hiscox Kunsthaus, Hamburg

2015

“Brave New Worlds” Affenfaust Galerie@uWerk Karoline, Hamburg

2016

“Wirklich jetzt!” Kunsthaus, Essen

2016

“Wirklich jetzt!” Museum Goch

2016

Festival “C-HR” Affenfaust@ C-HR Festival, Berlin

2017

“Knotenpunkt” Affenfaust@CitiyLeaks, Köln

2017

“Knotenpunkt” Affenfaust@Krudebude, Leipzig

2017

“Knotenpunkt” Affenfaust Galerie, Hamburg

2017

RE/Writing Reality flat1, Wien

2017

“Wer ist Wir?”@ Staatstheater Darmstadt

2019

Radical Twilight Frappant, Hamburg E I N Z E L AU S S T E L L U N G E N

2017

HFBK Hamburg Master Ausstellung

2018

Pro Pa Gan Da @ Paul Roosen Contemporary, Hamburg

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Untiteld (haul)_2015 Installationsansicht


emerging artists

2012—2018

2012

grit richter stefan sandrock martin bronsema swen kählert ki yoon ko igor maier low bros 2013

jivan frenster paul gregor jorel heid alexandra griess isabell kamp nikola gĂśrdes stella rossi we are visual holger wilkens


2014

mika neu verena schĂśttmer jana schumacher 2015

robert vellekoop jenny schäfer natalia sidor 2016

laura franzmann franziska opel angela anzi 2017

suse itzel daniel vier lorenz goldstein 2018

astrid ehlers anneke kleimann lars hinrichs


Fรถrderung

H EI KO

HARMS

Ein Katalog der AFFORDABLE

ART FAI R

HAMBURG

2019

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oliver lähndorf isabel deimel H E R AU S G E B E R

isabel deimel K U R AT O R I N

inga dreesen lara bader dr. belinda grace gardner isabel deimel AU T O R E N

courtesy of the artists ABBILDUNGEN

christoph bruns on&on G E S TA LT U N G

seltmann printart DRUCK

profisilk / adieu PA P I E R / S C H R I F T

978-3-946688-76-1 ISBN


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